Die Akte Rollmops - Hauke Lindemann - E-Book

Die Akte Rollmops E-Book

Hauke Lindemann

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Beschreibung

Kurz nachdem Staatssekretär Malte Reese seine alte Heimat besucht, verschwindet er spurlos. Jeder in Friedrichskoog weiß, dass er an der Schließung des Fischereihafens mitgewirkt hatte. Seitdem gehört es in der Gemeinde zum guten Ton, ihn zu verachten. Aber wie soll die ehemalige Kommissarin Liane Maschmann herausfinden, was geschehen ist, wenn praktisch der ganze Ort und sogar der Vater des Vermissten einen Grund hat, ihn zu hassen?

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Hauke Lindemann, geboren 1971 im schleswig-holsteinischen Rendsburg, ist Offizier der Bundeswehr und lebt mit Frau und zwei Töchtern in Elmshorn, wo er sich von der weiblichen Dominanz in seinem Haus überhaupt nicht unterdrückt fühlt.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig. Dieser Roman wurde vermittelt durch die Agentur Editio Dialog, Dr.Michael Wenzel (www.editio-dialog.com

© 2016 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: photocase.com/pepipepper Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch Lektorat: Saskia Römer eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-96041-116-1 Küsten Krimi Originalausgabe

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Für die drei Frauen in meinem Leben

Der verschwundene Sohn– Die Sache mit den Drohbriefen– Kaiser Wilhelm– Hasch mich, ich bin der Mörder– Kein Lebenszeichen

Am Ende ihres Armes spürte sie ein heißes Pochen. Neuerdings galten die ersten Gedanken nach dem Aufwachen der linken Hand. Unwillkürlich betastete sie den Verband. Eine Art Reflex, der in den vergangenen fünf Tagen klammheimlich von ihr Besitz ergriffen hatte. Die jahrzehntealte Gewohnheit, als Erstes nach der Uhrzeit zu schauen, hatte sich ohne große Gegenwehr auf Platz zwei der Prioritätenliste verdrängen lassen.

Die Hand pochte also mal wieder. Und es war halb fünf am Nachmittag.

Liane setzte sich auf, schlug die dünne Wolldecke beiseite und rieb sich das Gesicht. Zwei Stunden hatte sie auf der Couch verschlafen, obwohl sie am Morgen erst um halb zehn aufgestanden war. Dabei war sie gestern nicht mal auf dem Deich-Festival in Friedrichskoog-Spitze gewesen. Das erste Mal, dass sie aus freien Stücken darauf verzichtet hatte. Sie war sogar deutlich vor zwölf Uhr ins Bett gegangen. In letzter Zeit war sie irgendwie immer müde, obwohl sie im Grunde gar nichts zu tun hatte. Sie hatte keine Kinder, und ihr Mann Timo war einige Wochen zuvor an die türkisch-syrische Grenze in den Einsatz geschickt worden. Das hielt den Umfang ihrer häuslichen Pflichten in Grenzen, einfach weil niemand da war, der Dreck machte.

Massagepatienten hatte sie seit ein paar Tagen auch keine mehr. Deren Zahl war im vergangenen Jahr erfreulicherweise angewachsen, sodass ihr Terminkalender inzwischen immer gut gefüllt war. Wegen eines dummen Missgeschicks vor vier Tagen war sie jedoch gezwungen gewesen, sämtliche Termine der folgenden zwei Wochen abzusagen. Schnittwunde von einem zerbrochenen Glas in der Spüle, so lautete die offizielle Version. Dass sie sich die Hand aufgeschlitzt hatte, als sie beim Öffnen einer Kokosnuss mit einem großen Schraubendreher allzu ungeschickt ans Werk gegangen war, wusste nur der behandelnde Arzt.

Erneut betastete sie den Verband über der Verletzung am Handballen, die mit sechs Stichen genäht worden war. Als könnte sie den dumpf pochenden Schmerz, der während des Schlafens schlimmer zu werden schien, damit lindern.

Der Schatten eines Geräuschs riss sie aus ihrem Selbstmitleid. War da ein Klopfen gewesen? Sie legte den Kopf schief und lauschte. Doch statt aufzustehen und nachzusehen, ob jemand vor der Tür stand, blieb sie einfach sitzen. Missmutig starrte sie auf ihr Spiegelbild im ausgeschalteten Fernseher und legte sich die Wolldecke um die Schultern, weil es sie leicht fröstelte. Sie hielt inne: Was tat sie hier eigentlich? Wie schnell man doch träge und faul wurde, wenn man niemandes Erwartungen zu erfüllen hatte. Es war ein sonniger Nachmittag im Sommer, und sie saß müde, träge, kaputt und frierend auf der Couch. Ihr Kreislauf musste so richtig im Keller sein.

Sie zog sich die Decke noch etwas enger um ihre Schultern und dachte über die Zubereitung eines Tees nach, als sie erneut ein Klopfen hörte. Dieses Mal war sie sicher. Es stammte jedoch ganz eindeutig nicht von der Haustür, sondern schien eher von einem der Fenster zu kommen. Endlich siegte Neugierde über Phlegma, und Liane stand auf.

Sie blickte Richtung Terrassentür und bemerkte sofort den ins Haus fallenden Schatten einer Person, die sich die Nase an der Scheibe platt drückte. Sie ließ die Decke fallen und ging gleichermaßen überrascht wie neugierig zur Tür, um herauszufinden, wer da so dreist war, ungefragt ihr Grundstück zu betreten und in ihr Haus zu spannen. Als sie Walter Reese erkannte, wichen ihre leichte Verunsicherung und ihr verhaltener Ärger einem herzlichen Lächeln.

Das Ehepaar Reese und ihre Eltern hatte eine jahrelange Freundschaft verbunden. Ein sehr herzliches Verhältnis, ohne Streitereien. Walter und seine Frau Luise waren regelmäßig bei ihnen ein und aus gegangen. So waren es am Tag der Beerdigung ihrer Eltern, der inzwischen über ein Jahrzehnt zurücklag, vor allen anderen die Reeses gewesen, die mit Liane um die Wette geheult hatten.

Walter formte seine Lippen ebenfalls zu so etwas wie einem Lächeln. Liane blieb jedoch nicht verborgen, dass sich seine Augen offenbar nicht an diesem Vorgang beteiligen mochten.

Als sie ihm die Tür öffnete, wandte er sich zunächst zurück und rief nach seiner Frau Luise. Erst dann nahm er Liane, die inzwischen nach draußen getreten war, zur Begrüßung in den Arm. »Hallo, mein liebes Kind. Gut, dass du doch zu Hause bist«, sagte er leise, bevor er die Umarmung löste und einen Aktenordner vom Terrassentisch aufnahm. »Tut mir leid, dass wir dich so überfallen. Wir haben zuerst ganz normal geklingelt, aber das hast du wohl nicht gehört. Deswegen haben wir es an den Fenstern versucht. Wir waren uns sicher, dass du zu Hause bist, weil das Garagentor oben ist.«

Walter Reese wirkte nun ein wenig verlegen. Mit einer Hand ordnete er seine immer noch vollen, aber feinen schlohweißen Haare. »Luise ist auch hier, die kommt jeden Moment. Na ja, wenn sie mich gehört hat. Ihre Ohren scheinen mir in letzter Zeit nicht mehr so gut zu funktionieren. Meine funktionieren noch, toi, toi, toi! Ich bin vier Jahre älter als sie, höre aber so gut wie ein Jagdhund.«

Luise Reese widerlegte ihren Mann, indem sie praktisch im selben Augenblick um die Ecke kam und ihn zurechtwies. »Du hättest doch auch eben ums Haus gehen können, anstatt hier so rumzubrüllen. Das muss doch nicht gleich jeder mitbekommen, oder?«, murrte sie leise, um gleich darauf Liane anzulächeln und sie ebenfalls kräftig zu drücken.

Liane bemerkte, dass sich auch Luise Reeses Lächeln ausschließlich auf die Mundpartie beschränkte, was bei der ansonsten immer fröhlichen alten Dame sogar noch stärker auffiel. Ihre Augen blickten ungewohnt ernst, sodass Liane erste Anzeichen vager Besorgnis in sich aufkommen spürte.

»Was ist passiert?«

»So mag ich das. Gleich zur Sache«, rief Walter aus und nickte ihr anerkennend zu. »Aber lass uns mal lieber reingehen«, schlug er vor und ließ den beiden Frauen mit einer entsprechenden Geste den Vortritt.

Nachdem er als Letzter das Haus betreten und die Tür hinter sich geschlossen hatte, sagte er mit fester Stimme: »Unser Malte ist verschwunden.«

Luise gingen die Worte ihres Mannes sichtlich durch Mark und Bein. Sie ergriff seine Hand und schmiegte sich mit sorgenvoller Miene an ihn.

Liane gab sich große Mühe, das Fatale an Walters Aussage zu entdecken, glaubte aber, dafür noch ein paar zusätzliche Informationen zu benötigen. Und etwas Koffeinhaltiges, denn ihr Verstand arbeitete so schwerfällig, als hätte er noch gar nicht mitbekommen, dass das Nachmittagsschläfchen vorbei war. »Das heißt was? Er meldet sich nicht bei euch und geht auch nicht ans Telefon, wenn ihr ihn anruft?«

»Du weißt doch, dass er bei uns zu Besuch ist?«, fragte Walter.

»Er war schon so lange nicht mehr da, fast ein Dreivierteljahr nicht. Und das, wo Kiel doch um die Ecke liegt«, erklärte Luise. »Ich hatte schon seit Wochen gebettelt–«

»Seit Monaten!«, warf Walter ein.

»…dass er endlich mal wieder nach Hause kommen soll. Und da wieder eine Veranstaltung vom Deich-Festival anstand, hatte er sich für dieses Wochenende entschieden. Gestern Vormittag ist er eingetroffen.«

»Aha. Nein, das wusste ich nicht. Und wie kommt ihr jetzt darauf, dass er verschwunden ist?«

»Wir sind ja eher Frühaufsteher«, begann Luise zu erklären. »Unser Malte bleibt aber gerne lange im Bett. Weiß der Teufel, woher er das hat. Weil er gestern feiern war, haben wir uns den ganzen Vormittag über leise verhalten, um ihn in Ruhe ausschlafen zu lassen. Als wir am frühen Nachmittag noch immer nichts von ihm gesehen oder gehört hatten, habe ich ein paarmal bei ihm geklopft. Und weil keine Reaktion kam, habe ich seine Zimmertür dann einen Spalt aufgemacht. Nur um mich zu vergewissern, dass es ihm gut geht.«

Mütter, dachte Liane und unterdrückte ein Gähnen.

»Und da sehe ich, dass er gar nicht da ist. Die Rollläden waren hoch und das Bett unberührt. Alles sah noch so wie zu dem Zeitpunkt aus, als er von Bodo, Krischan und Torben zum Deich-Festival abgeholt wurde.«

»Seine alten Kumpels?«

»Ja, Bodo und Krischan. Torben ist Krischans älterer Bruder«, bestätigte Luise. »Das sind die, die ihm noch geblieben sind«, fügte sie nachdenklich an.

Liane verkniff sich einen Kommentar und vermied direkten Blickkontakt. Malte Reeses schwieriges Verhältnis zu seiner alten Heimat zählte in Friedrichskoog zum Allgemeinwissen. »Malte ist doch ein erwachsener Mann, der alleine zurechtkommen sollte. Meint ihr nicht, dass ihr es mit eurer Sorge ein wenig übertreibt?«

Die Reeses musterten sie mit stummem Unverständnis.

Liane wurde verlegen und räusperte sich. »Habt ihr es denn mal bei seinen Kumpels versucht? Vielleicht ist er mit denen irgendwo versackt und hat dann kurzerhand bei einem von ihnen übernachtet.«

»Ach Kind, was für eine Frage! Wir sind vielleicht nicht mehr die Jüngsten, aber deswegen noch lange nicht senil«, wies Walter sie zurecht. »Die Idee hatten wir auch schon. Alle drei sagen aber, dass sie keine Ahnung haben, wo er abgeblieben ist. Gestern Abend, so gegen Mitternacht, haben sie ihn das letzte Mal gesehen. Auf einmal war er weg und kam nicht mehr wieder. Und bevor du fragst, wir haben es auch auf seinem Handy versucht. Da meldet sich aber niemand. Nicht mal diese Mailbox.«

Walter Reese war trotz seiner achtzig Jahre immer noch ein kerniger Typ und eine absolute Respektsperson für Liane. Außerdem war er ihrem Vater sehr ähnlich, sodass sie ihm nicht offen widersprechen mochte.

»Hm. Okay, klingt erst mal nicht soo gut. Klingt zwar auch nicht unbedingt besorgniserregend, wenn ich so ehrlich sein darf, aber von eurem Standpunkt aus betrachtet, glaube ich, das nachvollziehen zu können. Und nun wollt ihr– ja, was wollt ihr eigentlich?«

Walter Reese verlor offenbar langsam die Geduld. »Ist das nicht offensichtlich? Mädchen, so lange ist es doch noch gar nicht her, dass du Polizistin warst. Wir wollen, dass sich jemand auf die Suche nach ihm macht.«

»Ja, das habe ich schon befürchtet«, murmelte Liane. »Okay, ihr könnt natürlich eine Vermisstenanzeige aufgeben. Allerdings nicht hier bei mir. Wie du gerade schon ganz richtig gesagt hast, Walter, ich war mal eine Polizistin. Jetzt massiere ich nur noch.«

Und neuerdings nicht mal mehr das, fügte sie in Gedanken an.

»Was soll das heißen? Schickst du uns etwa weg?«, fragte Walter entrüstet.

»N… nein, ich schicke euch natürlich nicht weg. Ihr seid hier immer willkommen und könnt so lange bleiben, wie ihr möchtet. Aber wenn es um eine verschwundene Person geht, muss man sich nun mal an die Polizei wenden«, führte Liane ruhig aus und blickte in zwei verwunderte Gesichter. »Ähm, der ich aber nicht mehr angehöre, seit– damals.«

»Liane Maschmann. Wenn das dein Vater wüsste, würde er sich garantiert schämen. Alte Freunde der Familie einfach wegschicken«, tadelte Walter sie und fuchtelte ihr dabei mit dem Aktenordner, dessen Bedeutung sich ihr mangels Interesse noch nicht erschlossen hatte, vor der Nase herum.

»Ich schicke euch doch gar nicht weg. Aber das ist nun mal Sache der Polizei, und mit der habe ich schon seit drei Jahren nichts mehr zu tun.«

»Diesen Unsinn werde ich mir nicht weiter anhören. Du warst hier mal für viele Jahre die oberste Polizistin. Und erst vor einem guten Jahr hast du diesen alten Verbrecher Greve zu Fall gebracht. Das weiß jeder hier im Ort, und darum gibt es auch keinen Grund für deine falsche Bescheidenheit. Es geht um unseren Sohn, und wir wollen dessen Schicksal nicht in die Hände von Amateuren legen. Punkt.«

Ihrem Respekt vor dem alten Mann zum Trotz mochte Liane die Spitze gegen Saalfeld und dessen Team nicht einfach so stehen lassen. »Das geht jetzt aber zu weit. Wenn ich mir einer Sache sicher bin, dann der Professionalität von Hauptkommissar Saalfeld. Er ist ein kluger und besonnener Polizist, der einen tadellosen Job macht. Ohne ihn hätte ich das mit Greve damals nicht hinbekommen. Ihr dürft mir darum bitte glauben, dass ihr bei ihm in den besten Händen seid.«

Walter machte eine abfällige Geste, als habe er noch nie einen solchen Unsinn gehört.

So langsam fühlte Liane sich fast persönlich angegriffen. »Sei nicht so ungerecht, Walter. Du kennst ihn doch bestimmt noch gar nicht, oder? Ich wette, dass du in dem Jahr, das er inzwischen hier ist, nicht ein einziges Mal mit ihm gesprochen hast.«

»Das habe ich sehr wohl«, erwiderte er prompt und unverkennbar trotzig.

»Du hast ihm einen guten Tag gewünscht, als er uns beim Spazierengehen entgegengekommen ist«, mischte sich seine Frau in das Gespräch. »Und du hast ihn dabei nicht mal richtig angesehen.«

Walter funkelte Luise böse an. »Was soll das jetzt? Waren wir uns vorhin nicht einig, dass wir zu Liane gehen? Die Idee stammt doch sogar von dir.«

»Wer was zuerst gesagt hat, ist jetzt nicht wichtig«, wich Luise aus. Sie wandte sich an Liane. »Tatsache ist, dass du für uns wie eine Tochter bist, und das nicht erst seit dem viel zu frühen Tod deiner lieben Eltern. Natürlich wissen wir, dass du keine Polizistin mehr bist. Aber wir wissen auch, dass du immer noch Verbindungen hast. Es geht um unseren Malte, Liane. Unseren Sohn. Als Kinder habt ihr euch doch trotz des Altersunterschieds so gut verstanden. Mütter merken sofort, wenn etwas nicht stimmt. Und wenn sogar ein harter Christ wie mein Walter ein ungutes Gefühl hat, ist doch spätestens der Punkt erreicht, an dem man sich zu Recht Sorgen machen darf, oder findest du nicht? Wir wollen einfach nicht, dass die unsere Anzeige aufnehmen, eine Akte darüber anlegen und dann glauben, ihre Schuldigkeit auch schon getan zu haben. Dieser Hauptkommissar Saalfeld weiß bestimmt, was er tut, aber uneingeschränktes Vertrauen haben wir nur zu dir. Du hast Einfluss auf ihn, und wir bitten dich– nein, wir verlangen von dir, dass du den geltend machst.«

***

So lud Liane das Ehepaar Reese in ihren kleinen Polo und fuhr mit ihnen nach Marne in die Bahnhofstraße. Hier war jetzt Saalfelds Dienstort, da die Polizeistation Friedrichskoog wenige Wochen zuvor geschlossen worden war. Sein Glück war, dass der Zeitpunkt der Schließung mit der Pensionierung des bisherigen Leiters der Polizeistation Marne zusammenfiel. So konnte er dort praktisch nahtlos übernehmen.

Als Liane ihren Wagen hinter der Polizeistation abgestellt hatte und das Gebäude betrat, das Ehepaar Reese in ihrem Windschatten, hatte sie ein ungutes Gefühl. Als hätte sie ihre Prinzipien verraten. Seit sich ihre Beteiligung an der Sache mit Bürgermeister Greve im Ort herumgesprochen hatte, waren schon mehrere Mitbürger an sie herangetreten, um sich ihren guten Draht zu Saalfeld in vielfältiger Weise zunutze zu machen. Sie war jedes Mal hart geblieben, hatte sich nicht vor den Karren spannen lassen und war stolz auf ihre konsequente Haltung gewesen. Dabei war es eigentlich nur eine Frage der Zeit gewesen, bis sie mit ihren guten Vorsätzen kurzen Prozess machen musste. Sobald sie von Menschen um Hilfe gebeten wurde, die in ihrer Wertschätzung auf den vorderen Plätzen rangierten, war es mit der Konsequenz vorbei.

Kurz vor Saalfelds Büro liefen sie Polizeihauptwachtmeister Eschen über den Weg. Ausgerechnet! Er war eindeutig kein Fan von ihr. Dass er außerdem im Beisein der Reeses ungeniert die Augen verdrehte, als er sie erblickte, machte Liane zu allem Überfluss verlegen.

»Ist Hauptkommissar Saalfeld da?«, fragte sie ihn trotzdem. Das war, da sie nur noch wenige Meter von seinem Büro trennten, eine überflüssige Frage, noch dazu viel zu laut vorgetragen.

Eschen erwies sich einmal mehr als unsympathischer Griesgram, indem er so tat, als würde er die Zettel in seiner Hand nach hochbrisanten Fakten durchsuchen, und verschwand, ohne zu antworten, in sein Büro.

Peinlich berührt blickte Liane zu den Reeses. Die sahen sie irgendwie skeptisch an und vermittelten ihr so das Gefühl, eine Erklärung für das respektlose Verhalten des Hauptwachtmeisters von ihr zu erwarten.

Doch noch bevor sie etwas sagen konnte, wurde sie wieder einmal von Saalfeld gerettet.

»Ich bin da.«

Liane drehte sich um– und musste schmunzeln. Saalfeld stand mit verschränkten Armen gegen seinen Türrahmen gelehnt und entspannte die Situation allein durch sein offenes Lächeln. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, ob er sich dieser Gabe bewusst war und sie absichtlich einsetzte.

Zuletzt waren sie und Saalfeld dazu übergegangen, sich zur Begrüßung kurz in den Arm zu nehmen. Da sie aber regelrecht spüren konnte, wie sich die Blicke der Reeses in ihren Rücken bohrten, sah sie dieses Mal davon ab, blieb auf Distanz und hielt Saalfeld nur die gesunde rechte Hand hin.

Der zögerte kaum merklich, bevor er sie ergriff und »Schön, dich zu sehen« sagte.

Liane räusperte die Verlegenheit weg. »Das sind die Reeses. Ganz alte und enge Freunde meiner Familie.«

Saalfeld schüttelte Luise und Walter nacheinander die Hand.

Als die beiden keine Anstalten machten, dem Kommissar ihr Anliegen zu schildern, fügte Liane hinzu: »Sie möchten eine Vermisstenanzeige aufgeben– glaube ich. Ihr Sohn Malte ist nämlich seit gestern Abend verschwunden.«

Liane merkte, dass Saalfeld die Situation bereits durchschaut hatte. Seine Belustigung darüber konnte er nur mit Mühe im Zaum halten. Letzteres gefiel ihr überhaupt nicht.

»Wollen wir in mein Büro gehen?«, schlug er vor, um dann, ohne eine Antwort abzuwarten, vorauszugehen.

»Ihr Sohn Malte ist also verschwunden«, richtete sich Saalfeld an die Reeses. »Mich würde interessieren, wie alt er ist.«

»Im Dezember wird er dreiundvierzig«, antwortete Luise.

Saalfeld saß aufrecht hinter seinem Schreibtisch, die verschränkten Hände vor sich abgelegt. »Ja, mit so etwas in der Art habe ich, in Anbetracht Ihres Alters, auch gerechnet, wenn ich so direkt sein darf. Ist Ihr Sohn in irgendeiner Form schutzbedürftig oder auf bestimmte Medikamente angewiesen?«

»Was wollen Sie damit sagen?«, fuhr Walter hoch. »Halten Sie meinen Sohn etwa für einen Junkie?«

»Walter«, zischte Luise.

»Schon gut, Frau Reese. Nein, das tue ich natürlich nicht. Ich wollte nur wissen, ob Ihr Sohn zum Beispiel auf Insulin oder Psychopharmaka angewiesen ist, die ihm dann natürlich ärztlicherseits verschrieben wurden. Aber Ihre Reaktion auf meine Frage war recht eindeutig, sodass ich das wohl ausschließen kann.«

»Das können Sie in der Tat. Mein Sohn braucht so etwas nicht. Und er nimmt auch keine Drogen. Mein Malte ist Staatssekretär im Kieler Finanzministerium.«

Saalfeld lachte kurz auf. »Verzeihen Sie bitte, aber Sie glauben ja gar nicht, wie viele Koksnasen und schwere Alkoholiker es in Politikerkreisen gibt. So ein Posten schützt leider nicht vor Dummheiten dieser Art. Da habe ich schon so einiges gesehen.«

Liane konnte beobachten, wie Walter Reese das Blut in den Kopf schoss und die Adern an seinem Hals anschwollen. Sie wünschte, dass Saalfeld das nicht gesagt hätte, aber noch bevor Walter ihn darauf festnageln konnte, machte er unbeirrt weiter.

»Aber das tut jetzt nichts zur Sache. Ihr Sohn ist also bereits sehr deutlich im Erwachsenenalter und auch nicht auf die regelmäßige Verabreichung von Medikamenten angewiesen. Könnte man das so zusammenfassen?«

»Das könnte man«, bestätigte Luise schnell, bevor ihr Mann das Heft an sich reißen konnte. »Aber wir machen uns trotzdem allergrößte Sorgen um ihn«, setzte sie nach und erzählte Saalfeld alles, was sie Liane bereits mitgeteilt hatten.

Der hörte aufmerksam zu und nahm sich anschließend ein paar Sekunden Zeit, bevor er antwortete. »Bei allem Verständnis für Ihre Besorgnis, ich habe gerade nichts gehört, was Sie beunruhigen müsste. Wenn ich meine Eltern in Hannover besuche und abends mit meinen Leuten von damals um die Häuser ziehe, verbringe ich die Nacht so gut wie sicher nicht zu Hause. Wenn ich ehrlich sein soll, lege ich es sogar regelrecht darauf an. Mit mir als Sohn hätten Sie bestimmt Ihre wahre Freude.«

»Sie glauben uns nicht?«, fragte Luise kühl.

»Doch. Ich glaube Ihnen, dass Sie besorgt sind. Ich kenne das aus eigener Erfahrung. Immer wenn ich mit meiner Mutter telefoniere, stellt sie, ganz egal worüber wir uns vorher unterhalten haben, die klassischen Mutter-Fragen. Zum Beispiel, ob ich auch genug zu essen bekomme. Wenn ich sie dann mal wieder besuche, ist sie jedes Mal total entsetzt, weil ich ja viel zu dünn bin. Und es kommen auch immer diese mit heiligem Ernst ausgesprochenen Ermahnungen: nicht zu viel trinken, vorsichtig fahren, am besten grundsätzlich aus allen gefährlichen Situationen raushalten. Das sagt sie mir, einem siebenunddreißig Jahre alten Polizisten. Verstehen Sie? Eltern, die ihre Kinder lieben, können wohl nicht anders. Und dass Sie und Ihr Mann Ihren Sohn lieben, ist offensichtlich.«

Luise sah ihn böse an und bebte vor unterdrücktem Zorn. Liane legte ihr zur Beruhigung die Hand auf die Schulter. Aber auch Walters Miene ließ keine Zweifel an seiner Meinung über Saalfelds Worte aufkommen.

Saalfeld seufzte. »Das war nicht, was Sie von mir hören wollten, schon klar. Ich nehme Sie wirklich ernst, Herr und Frau Reese. Nicht zuletzt, weil Sie es geschafft haben, Liane für Ihr Anliegen zu gewinnen. Aber glauben Sie mir bitte, dass Sie im ganzen Land keinen Polizeibeamten finden würden, der die von Ihnen geschilderte Konstellation anders einschätzen würde. Um so etwas können wir uns einfach nicht kümmern. Nicht bei einem gesunden, erwachsenen Mann, und nicht nach nur wenigen Stunden Abwesenheit. Da liegen selbst in so kleinen Polizeistationen wie dieser hier dringlichere Fälle an. Liane wird Ihnen das sicher bestätigen.«

Walter lehnte sich vor und warf den Aktenordner auf Saalfelds Tisch.

»Was ist das?«, wollte Saalfeld wissen.

»Wir haben damit gerechnet, dass man uns nicht ernst nehmen wird. Lesen Sie. Dann reden wir weiter«, knurrte Walter.

Liane war ebenfalls neugierig, was der Ordner, den Walter die ganze Zeit mit sich herumgeschleppt hatte, beinhalten mochte. Sie trat an Saalfelds Seite und blickte ihm über die Schulter, als er den Ordner öffnete und zu blättern anfing.

Es handelte sich um gute zwei Dutzend DIN-A4-Zettel, die alle mit wenigen Worten und Sätzen in Großbuchstaben bedruckt und vereinzelt auch per Hand beschrieben waren. Ihr Inhalt variierte in Wortwahl, Ausdruck und Umfang. Wie ein roter Faden zog sich jedoch der Tenor durch die Texte, dass Malte Reese ein ehrloser Mistkerl und Heimatverräter sei, dem man nur das Schlechteste wünsche.

Nachdem Saalfeld alle Zettel gesichtet hatte, legte er die Stirn in Falten und sah kurz zu Liane, die von diesen Schmähungen aber nichts gewusst hatte, wie sie ihm mit einem überraschten Blick signalisierte.

»Die hat man Ihrem Sohn zugeschickt, nehme ich an.«

»Nein«, antwortete Luise. »Jedes Mal, wenn unser Junge uns besucht, haben wir spätestens am ersten Tag nach seiner Ankunft diesen Unrat vor unserer Tür gefunden. Unter der Fußmatte, an die Tür geklebt, auf der Fußmatte, beschwert mit einem Stein. Das spricht sich hier ganz schnell rum, wenn sein Auto vor unserem Haus steht. Wir vermuten, dass die das spätabends oder frühmorgens machen. Walter hat sich sogar schon mal eine ganze Nacht lang auf die Lauer gelegt, um einen von diesen Idioten in flagranti zu erwischen, aber da kam dann natürlich keiner.«

»Verstehe. Und was hat es mit diesem Unmut gegenüber Ihrem Sohn auf sich? Können Sie sich das erklären?«

Walter und Luise Reese sahen ihn ungläubig an.

»Sie wissen das nicht?«, fragte Luise verständnislos.

»Er ist doch erst seit einem Jahr hier. Wie sollte er?«, verteidigte Liane ihn.

»Er ist immerhin Polizist. Da hätte ich schon erwartet, dass er um Maltes Ansehen in der Bevölkerung weiß. Aber er wusste ja nicht mal, dass Malte für die Landesregierung arbeitet«, sagte Walter.

»Um Himmels willen, sei doch nicht so ungerecht. Nicht mal ich wusste von diesen Drohbriefen– wenn man sie denn so nennen will. Außerdem lebt Malte schon seit vielen Jahren nicht mehr in Friedrichskoog. Wie sollte Herr Saalfeld das also alles wissen, wenn du ihn nicht explizit darüber aufgeklärt hast?«

Saalfeld lehnte sich zurück. »Lass gut sein, Liane. Herr Reese ist besorgt, und ich möchte noch mal bekräftigen, dass ich das verstehe– im Gegensatz zu den Zetteln hier. Dass Ihr Sohn bei einigen im Ort nicht sonderlich beliebt zu sein scheint, habe ich nun begriffen. Aber woran das liegt, weiß ich noch immer nicht.«

»Die Kurzfassung lautet, dass es in den letzten Jahren zwischen uns –also den Kögern– und der Landesregierung in Kiel Streit um die Zukunft unseres Hafens gab. Es hingen einige Arbeitsplätze an dem Hafen, vorneweg die der Werftarbeiter und der Fischer. Der Landesregierung waren die Kosten für den Erhalt des Hafens aber von Anfang an zu hoch. Den Fischereibetrieb aufrechtzuerhalten wäre teuer geworden. Investitionen von über einer Million Euro wären nötig gewesen. Und die laufenden Kosten hätten noch mal fast eine weitere Million Euro pro Jahr betragen. Es wurden viele Gespräche geführt, eine Bürgerinitiative und eine Hafenbetriebsgesellschaft gegründet. Es gab auch Demonstrationen, sogar in der Landeshauptstadt. Aber letztlich hat das alles nichts gebracht. Das Aus für den Fischereihafen ist beschlossene Sache. Stattdessen soll er jetzt zu einer Art touristischem Highlight umfunktioniert werden. Alle Welt spricht nur noch vom Albig-Tümpel«, erklärte Liane.

»Ähm, danke für deine Ausführungen, aber das war jetzt schon fast beleidigend. Das ist mir natürlich alles bestens bekannt. Die Transparente, die Veranstaltungen, das Kreuz am Hafen, das Graffiti an der Mauer. Man kann hier nicht ein Jahr lang Polizist sein und nichts davon wissen«, entgegnete Saalfeld. »Worüber ich bisher allerdings tatsächlich nichts wusste, war die scheinbar unrühmliche Rolle, die ein gewisser ehemaliger Köger in dieser Angelegenheit zu spielen scheint. Zumindest interpretiere ich das jetzt mal so.«

»Was soll denn dieser Unsinn mit ehemalig? Malte ist hier geboren und aufgewachsen und somit immer noch ganz offiziell ein Köger«, wies ihn Walter zurecht.

Liane fragte sich mit wachsender Besorgnis, woher die extreme Reizbarkeit rührte, die selbst für den chronisch bissigen Walter Reese ungewöhnlich war. Saalfelds langer und tiefer Seufzer beantwortete ihr zumindest die unausgesprochene Frage, ob ihm das auch bereits aufgefallen war und was er davon wohl halten mochte.

»Sie haben aber recht«, bestätigte Luise. »Unser Malte gehört dem Finanzressort an, und er hat von Beginn an keine Zweifel an seinem Standpunkt in dieser Angelegenheit aufkommen lassen. Er hat sich nie gerechtfertigt, wenn wir ihn darauf angesprochen haben, dafür war er zu stolz. Aber so wie ich ihn kenne und einschätze, wollte er sich nicht nachsagen lassen müssen, dass er die berechtigten Interessen anderer Gemeinden den Interessen Friedrichskoogs unterordnet, nur weil dies zufällig sein Geburtsort ist. Wenn die Forderungen das zur Verfügung stehende Kapital übersteigen, muss man nun mal unliebsame Entscheidungen treffen. Malte ist jemand, der so etwas kann und seine Verantwortung sehr ernst nimmt. Jede Form von Klüngel ist ihm zuwider. Diese aufrechte Zielstrebigkeit habe ich schon immer an ihm bewundert.«

Saalfeld sah ihr fest in die Augen. »Mit anderen Worten: Sie glauben, dass diese Briefe hier ausschließlich von Kämpfern für den Erhalt des Hafens stammen und dass einer von ihnen Ihrem Sohn nun aus lauter Zorn und Enttäuschung etwas angetan haben könnte, nachdem die Landesregierung das Todesurteil für den Hafen gefällt hat?«

»So ist es.«

Saalfeld nickte und dachte kurz darüber nach. »Hat Ihr Sohn Sie seit der Entscheidung der Landesregierung schon mal wieder besucht? Dieses Wochenende nicht mitgerechnet.«

»Nein, davor war er zuletzt am Zweiten Weihnachtsfeiertag bei uns. Wir waren zwischenzeitlich einmal bei ihm in Kiel, zu Ostern. Aber das interessiert Sie, glaube ich, gar nicht, oder?«

»Nein, nichts für ungut«, murmelte Saalfeld und dachte erneut nach.

»Wir können Namen nennen!«, mischte sich Walter wieder ein. »Personen, die sogar schon meine Frau und mich angefeindet haben, obwohl wir bekanntermaßen Befürworter der Bürgerinitiative sind.«

»Ach was? Sie sind in Opposition zu Ihrem eigenen Sohn gegangen?«

Liane ahnte, dass Walter auch diese Bemerkung Saalfelds missfallen würde. Umso mehr überraschte es sie, dass Walter nicht zornig, sondern kleinlaut reagierte.

»Nun– ja. Das sind wir wohl. Ich war nicht besonders glücklich damit, dass er sich gegen seine Heimat gestellt hat, das muss ich schon zugeben. Ich habe auch mehrfach versucht, ihn zum Einlenken zu bewegen, aber das wollte er partout nicht. Wenigstens eine neutrale Haltung hätte er einnehmen können, und wenn er es nur für Luise und mich getan hätte, damit wir hier weiter in Frieden leben können. Aber auch darauf wollte er sich nicht einlassen. Malte ist ein sturer Hund, konsequent im Denken und Handeln, wobei er die Sturheit wohl von mir hat. Meine Frau hat das gerade ganz richtig auf den Punkt gebracht.«

Er sah nachdenklich zu Boden.

Für ein paar Sekunden sprach niemand. Luise drückte ihrem Mann die Hand, während Liane und Saalfeld sich vielsagende Blicke zuwarfen.

So abrupt, als wäre er aus einem ungewollten Sekundenschlaf erwacht, brachte Walter wieder Spannung in seinen Körper und sah Saalfeld erwartungsvoll an. »Also, wie sieht’s aus? Wollen Sie sich die Namen notieren?«

»Ich glaube, das ist nicht nötig, Herr Reese.«

»Einer von diesen Idioten war sogar so dämlich, seinen Drohbrief zu unterschreiben. Ich selbst kann es zwar nicht entziffern, aber meine Frau glaubt, dass da Michael Klüver steht.«

»Echt? Michael hat einen der Briefe geschrieben?«, warf Liane ein. »Sieht ihm gar nicht ähnlich. Er ist doch eher ein sanftmütiger Typ.«

»Woher willst du das denn wissen, Kind? Zählt er etwa zu deinem engeren Bekanntenkreis? Hast du regelmäßig mit ihm zu tun?«

»Nein. Aber ich bin mit ihm zur Schule gegangen. Bis zur sechsten Klasse. Oder bis zur siebten, das weiß ich nicht mehr genau. Da ist er dann auf die Realschule zurückgestuft worden. Aber er hat, so wie ich, den Ort praktisch nie verlassen. Ab und an begegnen wir uns halt mal zufällig. Ich denke, ich habe eine ganz gute Menschenkenntnis, und ich finde, dass so etwas nicht zu ihm passt.«

Saalfeld hatte zwischenzeitlich den Zettel mit der Unterschrift aus dem Ordner herausgesucht und gab ihn Liane.

»Ja, okay, das könnte Michael Klüver heißen. Aber vielleicht wollte ihn ja jemand in die Pfanne hauen und hat die Unterschrift gefälscht.«

»Auf wessen Seite stehst du eigentlich?«, fragte Walter ernsthaft aufgebracht. »Warum versucht du, den Kerl in Schutz zu nehmen, bevor man ihm auch nur einmal auf die Finger geklopft hat? Ich weiß ganz genau, dass dieser Klüver sich in der Bürgerinitiative engagiert. Er hat sich an der Demonstration in Kiel beteiligt. Er ist da auf einem der Fotos zu sehen, die sie auf dieser Internetseite veröffentlicht haben. Das sagt doch wohl alles, oder nicht?«

»Herr Reese, ich glaube, Liane will damit sagen, dass nicht jeder, der sich in der Bürgerinitiative engagiert, automatisch ein potenzieller Drohbriefschreiber oder sogar noch etwas viel Schlimmeres ist. Um jetzt mal einen Punkt zu setzen, bevor sich das hier noch weiter in die Länge zieht, möchte ich Ihnen und Ihrer Frau den Rat geben, sich noch ein wenig in Geduld zu üben und sich nicht verrückt zu machen. Ihrem Sohn geht es bestimmt gut. Er hat gestern Abend gefeiert, möglicherweise ein bisschen zu tief ins Glas gesehen und schläft nun irgendwo seinen Rausch aus. Vielleicht hat er ja auch… äh… ist er eigentlich liiert?«

»Nein. Unser Sohn ist alleinstehend«, antwortete Luise bedrückt.

»Na bitte!«, rief Saalfeld optimistisch aus. »Vielleicht hat er dann ja auf dem Fest eine nette junge Dame kennengelernt, mit der er die Nacht verbringen durfte und in deren Gesellschaft er nun einen romantischen Tag verlebt.«

Während Luise leise zu schluchzen begann, bahnte Walters Zorn sich seinen Weg nach draußen. »Das ist das Lächerlichste, was ich jemals gehört habe. Was für eine Art Polizist sind Sie denn? Und wofür werden Sie eigentlich bezahlt? Unser Sohn würde niemals so lange wegbleiben, ohne uns zu informieren. Dafür ist er viel zu verantwortungsbewusst. Er weiß ganz genau, dass wir uns dann Sorgen machen. Was fällt Ihnen ein, uns weismachen zu wollen, dass Sie das Verhalten unseres Sohnes besser beurteilen können als wir– seine Eltern.«

»Das will ich ja gar nicht. Ich sage nur, dass Ihr Sohn mit großer Wahrscheinlichkeit schon bald wieder unbeschadet zu Ihnen zurückkehrt. Vielleicht sogar jetzt in diesem Moment, wo wir hier miteinander sprechen. Es ist einfach noch viel zu früh, sich Sorgen um ihn zu machen. Diese Briefe hier bringen zwar Verachtung zum Ausdruck, aber es wird doch nirgends mit Gewalt gedroht. Wenn Sie darauf bestehen, eine Vermisstenanzeige aufzugeben, werde ich Sie nicht daran hindern. Aber da es sich nun mal um einen gesunden und normal entwickelten Mann in den Vierzigern handelt, der noch nicht einmal zwölf Stunden vermisst wird, hat das unterste Priorität.«

Liane sah, dass Walter vor Wut zitterte. Sie vermutete, dass er wahrscheinlich nur deswegen noch nicht komplett die Fassung verloren hatte, weil er inzwischen seine maßlos enttäuschte Frau in den Armen hielt.

»Liane?«, presste Walter mühsam hervor.

Sie spürte das volle Gewicht der Erwartungshaltung der Reeses auf ihren Schultern und fühlte sich so macht- und hilflos wie schon lange nicht mehr. »Ich wünschte wirklich, dass ich das jetzt nicht sagen müsste, aber Hauptkommissar Saalfeld hat recht, Walter. Unter diesen Umständen mit Ermittlungen zu beginnen und dafür dringlichere Fälle zu vernachlässigen wäre unverantwortlich. Ich verspreche euch, dass ich die Augen nach Malte offen halte, aber mehr kann man im Moment nicht tun.«

Walter sah sie verächtlich an und führte seine weinende Frau behutsam aus dem Büro, ohne noch ein weiteres Wort an Liane oder Saalfeld zu richten.

»Ich komme sofort nach«, rief Liane hinter ihnen her.

»Nicht nötig. Rede du ruhig noch mit deinem Polizistenfreund. Wir nehmen uns ein Taxi«, erwiderte Walter kalt.

»Aber–«

»Wir nehmen uns ein Taxi!«

»Du meine Güte«, murmelte Saalfeld. »Die sind aber geladen. Steht ihr euch wirklich nahe, oder ist das mehr so eine Erblast, die du nicht loswirst?«

»Nein, wir stehen uns wirklich nahe. Die Reeses haben praktisch zur Familie gehört, so eng waren sie mit uns. Und in den ersten Wochen nach dem Tod meiner Eltern waren es Walter und Luise, die mich aufgefangen haben.«

»Und warum nicht dein Mann?«

»Ach, mein Timo. In der Woche ist er ja nun mal nicht da, das war schon damals so. Und an den Wochenenden… egal. Es waren jedenfalls die Reeses, die sich trotz ihrer eigenen Trauer rührend um mich gekümmert haben, und das werde ich ihnen nie vergessen.«

»Dann kennst du ihren Sohn wohl auch ganz gut?«

»Seit Malte aus Friedrichskoog weg ist, eigentlich nur noch aus Erzählungen von den beiden. Das sind jetzt schon deutlich über zwanzig Jahre.«

»Und?«

»Was– und?«

»Na, komm schon. Glaubst du, dass ihm was zugestoßen sein könnte? Hältst du die Sorgen der beiden für gerechtfertigt?«

Liane wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte.

Sie selbst hatte als Polizistin etliche Male besorgte Eltern, Kinder, Ehepartner, Freunde und Bekannte in ähnlichen Situationen abgewimmelt. Nicht ein einziges Mal hatte es sich am Ende als Fehler erwiesen. Gerade nach Feiern, auf denen in der Regel reichlich Alkohol konsumiert wurde, neigten Menschen dazu, nicht unbedingt dort aufzuwachen, wo man es von ihnen erwartete– geschweige denn, wo sie es selbst erwartet hatten. Irgendwann traf es jeden einmal, das hatte auch sie schon am eigenen Leib erfahren. Saalfelds Verhalten war absolut gerechtfertigt.

Andererseits war Malte Reese tatsächlich ein ausgesprochen zuverlässiger Zeitgenosse. Schon als Jugendlicher war er in Sachen Verantwortungsbewusstsein eine Bank. Sein Übermaß an Vernunft war nicht altersgemäß gewesen und grenzte ans Spießige. Allein seinem Charisma und seiner Intelligenz hatte er es zu verdanken gehabt, dass er darüber nicht zum Außenseiter wurde. Nach allem, was ihr Walter und Luise in den letzten Jahren von ihm erzählt hatten, war diese Charaktereigenschaft durch seine Tätigkeit in der Politik sogar noch verstärkt worden. So erschien es ihr nur schwer vorstellbar, dass er seinen Eltern –speziell der chronisch besorgten Luise– nicht einmal einen klitzekleinen Hinweis auf sein Wohlergehen zukommen ließ. Dass die zahlreichen Drohbriefe die angespannte Gemütslage der Reeses weiter verschlimmerten, konnte Liane sehr gut nachempfinden.

»Nein. Ich schätze, dass du recht hast. Wenn es Malte gerade nicht gut gehen sollte, dann weil er zu viel getrunken hat«, hörte sie sich dennoch sagen.

Saalfeld lächelte sie an. »Danke. Es ist mir sehr wichtig, dass wir da einer Meinung sind, jetzt wo ich weiß, wie viel die beiden dir bedeuten.«

Liane lächelte zurück, hatte ihm aber kaum zugehört, weil ihre Gedanken schon einen Schritt weiter waren.

***

Auf der Heimfahrt hatte Liane darüber nachgedacht, direkt mit dem Auto zu Michael Klüver zu fahren. Aber das Wetter war gut, die Luft angenehm und viel Bewegung hatte sie an diesem Tag auch noch nicht gehabt. Also fuhr sie erst nach Hause, um dort aufs Rad umzusteigen.

Kurz nachdem sie sich wieder auf den Weg gemacht hatte, hörte sie aufgeregt rufende Stimmen hinter sich. Sie sah über die Schulter. Ein paar Jugendliche, zwei Jungs und ein Mädchen, winkten ihr zu und riefen etwas, was Liane nicht verstehen konnte. Einen der beiden Jungs konnte sie aufgrund seiner enormen Körpergröße, die ihn bedauernswert schlaksig wirken ließ, sofort als Kevin Junghans identifizieren, einen der besten Nachwuchs-Boßler, den die Vereinigten Köge zu bieten hatten. Seine beiden Begleiter erkannte sie auf die Entfernung nicht. Liane interpretierte das Rufen als Gruß, winkte kurz zurück und setzte ihren Weg fort.

Michael Klüver wohnte in der Koogstraße, nur wenige Meter neben der Hochzeitsmühle Vergissmeinnicht, einer über hundertfünfzig Jahre alten ehemaligen Kornmühle, die inzwischen zu einer begehrten Location für Trauungen umfunktioniert worden war. Als sie ihr Fahrrad langsam auf seine Auffahrt rollen ließ, erblickte sie ihn– und verzog das Gesicht. Michael Klüver hatte sich auf zwei alten stoffbezogenen Klappstühlen im Schatten der Hauswand ausgebreitet. Der Metallrahmen der Rückenlehne schob sich unter seine Schulterblätter. Seine Waden ruhten auf der Rückenlehne des gegenüberstehenden Klappstuhls, dessen Stoffbezug sich augenscheinlich kurz vor der endgültigen Auflösung befand. Allein beim Anblick dieser unnatürlichen Haltung tat ihr das Kreuz weh. Anscheinend hatte er gerade an seinem alten VWScirocco herumgeschraubt. Zumindest stand die Motorhaube offen, und auf dem Motorblock lagen ein ölverschmierter Lappen, eine Knarre und noch ein paar andere Werkzeuge.

Ein paar Meter hinter ihm hielt sie an und stieg vom Rad. Da er sie nicht zu bemerken schien, betätigte sie die Fahrradklingel. Klüver erschrak. Er hatte gerade einen tiefen Zug aus einer Bierdose genommen, den Kopf weit in den Nacken gelegt, und verschluckte sich. Bei dem Versuch, schnell aus der unbequemen Haltung hochzukommen und den Würgereiz zu bekämpfen, bewegte er sich so hastig und ungeschickt, dass er mit den beiden Stühlen umkippte und auf die Waschbetonplatten kullerte. Bei aller Tollpatschigkeit brachte er es jedoch fertig, keinen Tropfen seines Dosenbiers zu verschütten.

Als er sich hustend aufrappelte und der unverhofften Rettung seines Biers gewahr wurde, nahm er zur Belohnung gleich einen weiteren Schluck. Erst danach vermochte er Interesse dafür aufzubringen, wer der Besucher war, der ihn da gerade aufgeschreckt hatte. »Liane? Liane!«

»Hallo, Michael«, erwiderte sie lächelnd.

Er kam mit ausgebreiteten Armen auf sie zu. Sie wog kurz ab, ob sie sich an sein dreckiges und leicht verschwitztes Shirt drücken lassen oder sich doch lieber hinter ihrem Rad verschanzen sollte. Klüver und sie waren zwar einige Jahre zusammen zur Schule gegangen, aber darüber war keine Freundschaft entstanden. Letztlich brachte sie es aber nicht fertig, ihn vor den Kopf zu stoßen. Liane stellte das Rad auf den Ständer und ließ die Umarmung zu. Erleichtert stellte sie fest, dass ihr dabei wenigstens keine üblen Gerüche in die Nase stiegen.

»Wir sind uns aber schon lange nicht mehr über den Weg gelaufen, oder? Gestern Abend beim Deich-Festival habe ich dich jedenfalls nicht gesehen«, stellte Klüver fest.

»Ich war auch nicht da«, erwiderte sie und hielt ihm die verbundene Hand vor die Nase, als sei damit alles gesagt.

»Autsch. Was hast du gemacht? Sehnenscheidenentzündung?«

»Schnittwunde von ’nem kaputten Glas. Direkt am Handballen. Sechs Stiche.«

»Bäh! Hatte ich auch schon. Aber nicht am Handballen, sondern am Unterarm. Und nicht von ’ner Glasscherbe, sondern von ’nem Stück Wellblech. Und ich glaube, es waren acht Stiche nötig. Dann kannst du im Moment ja gar nicht– massieren? Du massierst doch, oder?«

Liane nickte belustigt.