Die Akten der Ars Obscura - Anika Ackermann - E-Book

Die Akten der Ars Obscura E-Book

Anika Ackermann

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Beschreibung

Ich bin Aurora »Scarface«. Einst ein aufstrebender Stern am Himmel der Ars Obscura, jetzt tief gefallene Agentin. Alles, was ich will, ist ein ruhiger Job und Zeit, um meine Wunden zu lecken. Sollen sich die anderen um die Crae kümmern, die die Welt der Sterblichen aufmischen. Mit dieser Einstellung überstehe ich gerade mal die erste Woche in London, ehe mir sämtliche Vorsätze um die Ohren fliegen: dank meiner persönlichen Neigung, mich in Schwierigkeiten zu bringen, der Halbwahrheiten, mit denen mein Chef Adriel mich hergelockt hat, und meines übellaunigen Arbeitskollegen Caspian, der es zur Kunstform erhoben hat, mich mit Blicken zu töten. Auf einer Skala von persönliche Hölle bis Vollkatastrophe – wie toll wird der Neustart meines Lebens wohl werden?

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Seitenzahl: 560

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Die Akten der Ars Obscura

Dunkelwanderer

Anika Ackermann

Copyright © 2021 by

Drachenmond Verlag GmbH

Auf der Weide 6

50354 Hürth

http: www.drachenmond.de

E-Mail: [email protected]

Lektorat: Stephan Bellem

Korrektorat: Michaela Retetzki

Layout: Stephan Bellem

Umschlagdesign: Alexander Kopainski

Bildmaterial: Shutterstock

ISBN 978-3-95991-525-0

Alle Rechte vorbehalten

Inhalt

Soundtrack

Auszug aus den Akten der Ars Obscura

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Auszug aus den Akten der Ars Obscura

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Auszug aus den Akten der Ars Obscura

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Auszug aus den Akten der Ars Obscura

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Danksagung

Cursed Wings – Fluch und Gabe

Die Seele eines Spukhauses

Drachenpost

Für London.

Du warst gut zu mir.

Und nach all der Zeit bist Du es noch.

Soundtrack

Whatever (Remastered) – Oasis

Wrecked – Imagine Dragons

Scars To Your Beautiful – Alessia Cara

OK Not To Be OK – Marshmello, Demi Lovato

Prisoner – Miley Cyrus (feat. Dua Lipa)

Girls Like Us – Zoe Wees

Cry About It Later – Katy Perry

Demons – Imagine Dragons

Wonder – Shawn Mendes

Control – Zoe Wees

Wonderwall (Remastered) – Oasis

Angels Like You – Miley Cyrus

Lose Somebody – Kygo, OneRepublic

Auszug aus den Akten der Ars Obscura

§1 DEFINITION

(1) Die Ars Obscura, auch AO genannt, ist eine Organisation, die einzig dem Zweck dient, die menschliche Welt vor den Schrecken jenseits der Grenze zu schützen. Dahinter liegt das Jenseits (= Anderwelt, Himmel/Hölle, oder aber im Sprachgebrauch der Crae: Asterin).

(2) Die AO versteht sich als Zusammenschluss der sog. Awares, jener Sterblichen, die in die Existenz Asterins eingeweiht sind, und setzt sich aus Agenten, Wächtern und Mitgliedern im passiven Dienst zusammen.

(3) Das Motto der AO lautet: Fides, fortitudo et occultum (dt. Zuverlässigkeit, Mut und Verschwiegenheit).

§2 GEHEIMHALTUNG

(1) Gemäß AO erfolgt die Einteilung der Individuen in Awares, die Eingeweihten, und Unawares, jene Sterbliche, die keine Kenntnis von Asterin und dessen Bewohnern haben.

(2) Agenten und Wächter der AO verpflichten sich, Sterbliche vor einem Wissen zu bewahren, das ihre Weltanschauung nachhaltig verändern könnte. Dabei erfolgt die Eliminierung überirdischer Gefahren nach Möglichkeit im Verborgenen.

(3) Jeglicher Zuwiderhandlung folgen strenge Konsequenzen bis hin zum Ausschluss als Mitglied der AO.

§3 SCHUTZMAßNAHMEN

(1) Unawares sind in ihrer Unwissenheit zu belassen.

(2) Die Weltentore dienen einerseits als Schutz vor dem Eindringen widernatürlicher Existenzen ins Menschenreich. Andererseits tragen sie Sorge dafür, dass die andere Welt vor sterblichen Blicken geschützt ist. Berechtigt, sich einem Weltentor zu nähern, sind einzig und allein ausgewählte Mitglieder der AO.

1

Augen, schwarz wie die Nacht, erkunden mein Gesicht. Hände auf meinem Mund. Sie ersticken meinen Schrei. Eine Dunkelheit, die meinen Angreifer wie ein Mantel umhüllt. Sie schließt mich ein, bis die Welt um uns herum in Schatten vergeht. Dann das Messer und ein heiß lodernder Schmerz, als er versucht, mir mein Auge aus dem Kopf zu schneiden.

Und gleich darauf regte sich in meinem Innern dieses schreckliche Gefühl von Verlust, das mich in den letzten Monaten gelähmt hatte. Ich schob es fort, denn in diesem Moment konnte ich das definitiv nicht gebrauchen. Dann ließ ich eine Strähne über das feine Netz vernarbter Linien fallen, die mein rechtes Auge umrahmten. Mein magisches Auge. Das Erbe meiner Familie. Fast hätte ich es verloren. Noch heute, sieben Monate später, spürte ich das Gewicht meines Angreifers auf mir. Die Erinnerungen ließen mich nicht mehr los. Auch nicht jetzt, da ich mich meinem Arbeitgeber gegenübersah.

Niemals.

»Und es handelt sich um eine vergleichsweise ruhige Tätigkeit?« Ich schüttelte den Kopf, um die Gedanken an jene Nacht, in der sich mein Leben für immer verändert hatte, zu verdrängen. Die Dunkelheit verwandelte sich in Dämmerung. Vor mir ragte das Verwaltungsgebäude des Friedhofs auf, vor dem mein Arbeitgeber stehen geblieben war. Darüber spannte sich ein kobaltblauer Himmel, an dem erste Sterne funkelten. Die Luft schmeckte nach Regen, feuchtem Asphalt und städtischem Verkehr. Vollkommen fremd. Was gut war, denn deshalb war ich hier: an einem fremden Ort, nicht an dem, wo mich die Erinnerungen überwältigen würden.

»Ich verspreche Ihnen, Miss Ambrose, dass Sie bereits Ende der Woche bereuen werden, mein Angebot angenommen zu haben.« Schneeweiße Zähne blitzten auf, als Adriel Ember Tenrys breit grinste. Seit meiner Kindheit stand ich im Dienst der Ars Obscura. Um ihren Direktor rankten sich zahlreiche Gerüchte. Lange Jahre hatte ich ihn nur als Verfasser des Vorwortes in den Akten der Agenten gekannt, bis er mich nach dem Zwischenfall in Reykjavík persönlich aufgesucht und mir einen neuen Job angeboten hatte. Zunächst hatte ich abgelehnt, war in den letzten sieben Monaten durch Europa gereist, um mein altes Leben hinter mir zu lassen. Nicht sonderlich erfolgreich, denn es klebte an meinen Fersen wie ein Schatten.

Also hatte ich Tenrys’ Angebot letztlich doch angenommen, um ihm vor einer halben Stunde zum zweiten Mal in meinem Leben die Hand zu schütteln. Das war mehr, als andere Mitglieder der Ars Obscura von sich behaupten konnten.

Tenrys war jünger, als ich ihn mir vorgestellt hatte, kaum älter, als ich selbst es war. Aber mit seinem Kurzmantel mit Brokatmuster, dem bestickten Saum seines darunter hervorlugenden Pullovers und den Bundfaltenhosen kleidete er sich wie ein Mann aus einer anderen Zeit und nicht wie ein Mittzwanzigjähriger. Ich durchschaute es als eine Taktik, sich den Respekt der gesamten Organisation zu sichern, der er trotz seines Alters vorstand. Und es funktionierte. Meine Kollegen sprachen voller Ehrfurcht von ihm, während ich mich lediglich daran erinnerte, dass er und die AO mich nicht hatten schützen können, als es darauf angekommen war.

Mich nicht und ihn auch nicht.

»Versprechen Sie nichts, was Sie nicht halten können.« Meine Worte ließen das Grinsen auf seinem Gesicht zerbrechen. Wie Scherben fiel es von seinen Lippen.

Direktor Tenrys räusperte sich. »Ich verstehe Ihren Zynismus, Miss Ambrose. Das tue ich wirklich. Seien Sie versichert, dass ich untröstlich über das bin, was Ihnen in Reykjavík widerfahren ist.« Er kleidete sich nicht nur wie ein Mann aus einer anderen Zeit, er sprach auch so. Seine Fassade weckte einen Widerstand in mir, den ich verloren geglaubt hatte.

Beiläufig schob ich mir die Strähne, die meine rechte Gesichtshälfte bedeckte, zurück hinters Ohr. Normalerweise tat ich alles, um sie vor anderen Leuten zu verbergen. Vertuschte die Linien mit einer Schicht aus Make-up und einem Vorhang aus hellem Haar. Heute verzichtete ich darauf. Denn heute machte ich von den Spuren jener Nacht Gebrauch wie von einer Waffe. Sie sollten Tenrys an sein Versprechen erinnern: einen ruhigen Job ohne besondere Vorkommnisse. Als er mir das Angebot gemacht hatte, hatte ich an die Einöde der Bretagne gedacht oder an eine abgeschottete Insel, nicht aber an den Kensal Green in London. Doch nach anfänglichem Zögern hatte er mir versichert, dass der Job als Wächterin eine einsame Angelegenheit werden würde.

Als Wächterin dieses Friedhofes hatte ich nur einen einzigen Arbeitskollegen – und der war Agent im aktiven Dienst. Das bedeutete, er würde sich die Nächte mit Streifzügen durch das Einzugsgebiet des Kensal um die Ohren schlagen, während ich in der stillen Gegenwart der Toten zurückblieb, um meiner eigenen Aufgabe nachzugehen: die Grenze zu Asterin, zur Anderwelt, in der die dämonischen Wesen lebten, die die Ars Obscura als Crae bezeichnete, zu bewachen. Im Grunde genommen würde ich die Zeit absitzen, netflixen und meine Wunden lecken, während andere den Job machten, der mir damals den Arsch aufgerissen hatte.

Meine schlichte Geste erzielte genau die Wirkung, die ich mir erhofft hatte. Ich spürte den erschütterten Blick des Direktors auf meiner Narbe ruhen. In den letzten Monaten hatte das Starren anderer Leute ein Gefühl von Enge, Scham und Verletzlichkeit in mir ausgelöst, während ich es heute in Kauf nahm, um Tenrys damit an das zu erinnern, was mich der Dienst für die Ars Obscura gekostet hatte.

Ich hatte einen hohen Preis gezahlt. Aber das war nicht diese verdammte Narbe, auch wenn sie es war, die mich immer wieder an die schreckliche Nacht erinnerte. Als könnte ich der Erinnerung ohne sie entkommen.

Während Tenrys mich musterte, tastete ich vergebens in meinem Ausschnitt nach dem Amulett meiner Mutter. Ich ließ die Hand wieder sinken, denn den Talisman trug ich schon seit einer Weile nicht mehr. Trotzdem spürte ich noch immer sein Gewicht um den Hals.

Ich überspielte den kurzen Moment der Schwäche und gab vor, die Architektur zu bewundern. Das Gebäude war einem griechischen Tempel mit Säulen und dreieckigem Giebel nachempfunden. Hochmoderne Glaselemente brachen mit dem antik anmutenden Erscheinungsbild und entlarvten das Gebäude als schlichte Kopie.

»Der Tod ist das Tor zum Leben.« Ich zwang mildes Interesse und einen Hauch von Gleichgültigkeit in meine Stimme, obgleich ich innerlich brodelte. Dieser Ort versprach so viele Möglichkeiten, und etwas, das sich wie närrische Hoffnung anfühlte, rieselte mir als Schauer über den Rücken.

»Wie bitte?« Zwischen den penibel gezupften Brauen des Direktors erschien eine schmale Falte. Fahrig glättete er sich das Haar, das dieser Geste nicht bedurft hätte. Jede einzelne der blonden Strähnen war ordentlich drapiert. Schätzungsweise hatte er – oder vielmehr sein Stylist – seine Frisur mit so viel Haarspray fixiert, dass sie auch einem Orkan standgehalten hätte. Deshalb erkannte ich die Bewegung als schlichte Verlegenheit und unterdrückte ein Lächeln.

Ich deutete zu dem Giebel. »Mors ianua vitae. Der Tod ist das Tor zum Leben. Eigentlich müsste es ›Mors est ianua vitae‹ heißen. Das war dem Architekten wohl nicht bewusst.«

Die Mundwinkel des Direktors zuckten. »Man hat zugunsten der Harmonie auf est verzichtet. Drei mächtige Wörter. Mors ianua vitae. In einem dreieckigen Giebel.«

»Sie spielen auf die Heilige Dreifaltigkeit an«, bemerkte ich. »Das Thema ist mir mal in der Grundausbildung begegnet.« Damit bewegte ich ihn zu einem neuerlichen Lächeln, das seine Anspannung schwinden ließ. »Allerdings empfinde ich es als reichlich ironisch, sämtlichen Gebäuden eines christlichen Friedhofs die Form heidnischer Tempel zu geben.«

»Tatsächlich? Ist es nicht weitaus ironischer, dass dieser Friedhof ausgerechnet um ein Weltentor herum errichtet wurde?« Direktor Tenrys schritt auf das Gebäude zu. Die Tür hinter den prachtvollen Säulen schwang mit einem Surren automatisch auf und hieß uns im Innern willkommen. Tenrys’ Absätze klackerten auf dem schwarzen Marmor, das Geräusch hallte von den Decken wider.

»Eine Tarnung«, sagte ich und legte den Kopf in den Nacken, um die Fresken hoch über uns zu betrachten. Sie zeigten Szenen des Jüngsten Gerichts, des Höllensturzes und der Wilden Jagd. Unweigerlich musste ich mir die Frage stellen, ob diese Bilder der Fantasie des Künstlers entsprungen waren oder ob er der anderen Welt tatsächlich einen Besuch abgestattet hatte. Hier, so nah an der Grenze, war alles möglich. Wenn auch nicht unbedingt erlaubt.

»In der Tat. Eine äußerst wirkungsvolle Tarnung, um die Weltentore vor den Augen der Menschen zu verbergen.« Direktor Tenrys führte mich durch das Halbdunkel der Eingangshalle. »Der Kensal Green Cemetery gehört zu den Magnificant Seven, jenen Friedhöfen, die im 19. Jahrhundert errichtet wurden, um die Grenze zwischen unserer und der anderen Welt zu schützen. Ihre Architekten neigten dazu, einander übertreffen zu wollen. Aber wenn ich ehrlich sein soll, ist mir der Kensal Green mit seinem ehrlichen neoklassischen Baustil der liebste. Und natürlich wegen Freddie Mercury.«

Ich hob die Brauen. »Freddie Mercury?«

»Der Queen-Sänger.« Tenrys nickte. »Das war vor Ihrer Zeit, nicht wahr?« Er setzte ein unverbindliches Lächeln auf, das nicht kaschieren konnte, wie seltsam dieser Satz aus dem Mund eines Mannes klang, der kaum älter war als ich.

Tenrys führte mich durch die Eingangshalle. In regelmäßigen Abständen hingen an den Wänden elektrische Kerzen, deren künstliche Lichtkreise wir durchschritten. Vor einer Tür, die aussah, als führte sie in einen Tresorraum, blieb der Direktor stehen. Die Wände bestanden aus rauen, unbehandelten Sandsteinquadern. Spinnweben hingen in den Ecken und auf dem Boden lag ein dünner Teppich aus Staub, den Tenrys mit seinen Schritten aufwirbelte. Seine Augen funkelten wie die eines Kindes, das ein Geschenk auspackte, als er einen Zahlencode auf ein unscheinbares Display eintippte.

Der Blick meines magischen Auges huschte durch den Raum. Er unterschied sich nicht sonderlich von dem, was ich mit meinem menschlichen Auge sehen konnte. Sandsteinquader. Spinnweben. Staub. Doch um die Tür herum leuchtete ein goldenes Band. Rückstände von Magie. Aus reiner Gewohnheit klopfte mein Herz schneller. Ich zwang mich zur Ruhe. Das war nichts, was mich aus der Fassung bringen sollte. Nicht heute. Nicht an einem anderen Tag. Niemals wieder.

»1-8-3-2«, sagte Tenrys. »Merken Sie sich den Code.«

»Glauben Sie, dass sich ein Crae von einer Tür aus Stahl aufhalten lässt?«, fragte ich, während diese sich mit einem Zischen entriegelte.

»Nein, nicht, wenn er es darauf anlegt«, gab Tenrys ungerührt zu. »Aber sie hindert neugierige Menschen daran, etwas sehr Dummes zu tun.«

Ich nickte, denn ich dachte an die Pariser Schattenangriffe vor anderthalb Jahren, da durch die Unachtsamkeit eines Wächters aus dem Weltentor unterhalb der Glaspyramide des Louvre mehrere Crae entkommen waren. Sie hatten große Teile der Stadt und die berühmte Kathedrale Notre-Dame in Brand gesteckt. Später hatte sich herausgestellt, dass Sterbliche durch das Tor nach Asterin gereist waren, und bei dieser Erinnerung schlug mein Herz unwillkürlich schneller. Für jede sterbliche Seele, die auf die andere Seite ging, kam ein Crae in diese Welt. Ein natürlicher Vorgang, wenn jemand starb. Doch dasselbe geschah auch, wenn lebende Menschen sich Zugang zu Asterin verschafften. Und genau das war damals in Paris geschehen.

Tenrys sah mich über die Schulter hinweg an. In diesem Moment wirkte sein Blick müde und um Jahre gealtert. »Die Geheimhaltung dieser anderen Welt ist nach wie vor oberste Priorität der Ars Obscura. Insbesondere nach dem Zwischenfall in Reykjavík.«

Die Bedeutung seiner Worte lastete schwer auf mir. Meine Kehle fühlte sich auf einmal trocken an und meine Stimme klang kratzig, als ich fragte: »Sie glauben, dass es ein Unaware war?«

Unaware war die Bezeichnung der AO für Menschen, die keine Kenntnis darüber hatten, dass es mehr in diesem Universum gab als diese eine Welt, in der wir lebten.

»Keiner von uns würde Ihnen so etwas Abscheuliches antun«, versicherte Tenrys mir. »Das Unbekannte weckt ungeahnte Ängste in den Menschen. Es macht sie blind für Richtig und Falsch, treibt sie zu schrecklichen Taten an. Es muss ein Unaware gewesen sein, der – wie auch immer – von Ihren Fähigkeiten erfuhr und der Abnormität dessen, was er für die eigene Realität hielt, ein Ende setzen wollte.«

Wie mechanisch nickte ich. In den letzten Wochen hatte ich viel Zeit gehabt, um über den Zwischenfall nachzudenken. Ich hatte ähnliche Schlüsse wie Tenrys gezogen, denn in jener Nacht hatte ich mich nicht sonderlich unauffällig durch die Stadt bewegt. Aber diese Augen gingen mir nicht aus dem Kopf. Nachtschwarz. Nicht menschlich.

»Jedenfalls habe ich nicht vor, noch einmal in eine solche Situation zu geraten«, sagte ich. »Ich pflege keine engen Kontakte zu Unawares.« Und es war mir nicht schwergefallen. Das ewige Versteckspiel zehrte seit jeher an meinen Nerven. Nach dem Zwischenfall war ich aus dem Licht getreten und wandelte nun zwischen den Schatten. Menschliche Begegnungen – abgesehen von denen mit meiner Mitbewohnerin oder an der Kasse eines Supermarktes – mied ich. »Das Geheimnis der Ars Obscura ist sicher bei mir.«

»Ich weiß«, sagte Tenrys. »Andernfalls hätte ich Sie nicht für diese große Aufgabe ausgewählt.« Seine Worte schwebten noch in der Luft, da fügte er mit einem Zwinkern hinzu: »Für diese große, wenn auch wahrlich langweilige Aufgabe.« Ich kam nicht umhin, zu schmunzeln. Aber meine Mundwinkel erstarrten, als Tenrys die tresorartige Tür öffnete und offenbarte, was dahinterlag.

Das Atrium.

Bei diesem Anblick galoppierte mein Herz los und hängte mich beinahe ab.

2

Mein menschliches Auge erfasste das Ringen von Licht und Dunkelheit in einem Raum, dessen Gewölbe von Säulen getragen wurde. Er hatte die Größe eines Kirchenschiffes, ließ jedoch die erhabene Aura eines solchen Ortes vermissen. Stattdessen erinnerte er mich an den Schlund eines Monsters, in dem die Säulen nichts anderes waren als Fangzähne. Jene Teile des Raumes, die der Schein künstlicher Kerzen nicht erreichte, waren schwärzer als die dunkelste Nacht über London. Das alles sah ich mit meinem menschlichen Auge. Was ich mit meinem magischen Auge in dem Raum ausmachen konnte, war überwältigend. Londons Nachthimmel schien auf die Erde herabgestürzt zu sein und sich in die Keller des Kensal Green Cemeterys geflüchtet zu haben. Wie Sterne hingen unzählige glänzende Partikel in der Luft und schimmerten im Schein der künstlichen Kerzen. Der Luftzug, der uns voran durch die Tür eindrang, brachte sie zum Tanzen.

»Verraten Sie mir, was Sie sehen, Miss Ambrose.« Tenrys bedachte mich mit einem neugierigen, vielleicht auch neiderfüllten Blick. Das Diesseits war wie ein ungeschliffener Diamant, dessen Facetten das menschliche Auge nicht zu erfassen vermochte. Dessen musste sich der Direktor der Ars Obscura gewiss sein. Andernfalls hätte er niemals das Amt an der Spitze dieser uralten Organisation bekleidet.

»Mehr, als Sie sich vorstellen können.« Ich war eine Kuriosität. Selbst unter Agenten und Wächtern der Ars Obscura. Eine kurzweilige Laune der Natur. Denn ich kannte niemanden sonst, der in der irdischen Welt Magie sehen konnte. Crae waren nicht unsichtbar, wenn sie in das Reich der Menschen eindrangen, aber ihre Kräfte waren es. Wenn ein Feuerspinner Flammen beschwor, konnte ich diese sehen, während andere Agenten bloß der Handbewegung des Crae folgen konnten und nicht wussten, welche Teufelei ihr dämonischer Gegner heraufbeschwor. Gut, wer als Agent seine Ausbildung ernst genommen hatte, wusste es dank detailliertem Daemonicum der AO trotzdem. Dennoch genoss ich einen entscheidenden Vorteil und deshalb war ich für eine Organisation wie die AO von unschätzbarem Wert.

Ich trat an Tenrys vorbei durch die Tür. Der Duft, der mich im Atrium empfing, erinnerte an kalten Stein und Unendlichkeit. Ein Schauer jagte über meinen Körper, ehe mein Blick an dem Weltentor hängen blieb.

Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich Asterin so nahe kam. In der Vergangenheit hatte ich mich als Agentin mit jenen Geschöpfen herumgeschlagen, die der anderen Welt entflohen und in unsere Welt eingedrungen waren. Als Kriegerin an vorderster Front hatte ich viel einstecken müssen. Zu viel.

Das Weltentor wirkte unspektakulärer, als ich es mir vorgestellt hatte. Ein runder Rahmen aus schwarzem Stein, der je nach Lichteinfall blutrot oder violett schimmerte, umschloss eine Oberfläche, so glatt wie unberührtes Wasser. Sie barg eine Dunkelheit, wie ich sie nie zuvor gesehen hatte. Nicht schwarz, aber so tief und durchdringend, dass man sich darin hätte verlieren können. »Schwarzer Obsidian von den Liparischen Inseln.« Stolz klang in Tenrys’ Stimme, als hätte er das vulkanische Gestein von der Stiefelspitze Italiens nach London geschleppt. Jetzt erkannte ich, dass Symbole in die Obsidianquader geritzt und mit Gold ausgemalt worden waren.

»Was bedeutet das?«, fragte ich.

»Alles und nichts«, antwortete Tenrys vage. Er zupfte sich unsichtbare Fusseln von seinem Mantel, als müsste er seinen Fingern eine Aufgabe geben. »Es ist eine Sprache, die man diesseits des Tores weder spricht noch versteht.«

»Und was liegt dahinter?«

»Verderben.«

Die Bestimmtheit, mit der Tenrys sprach, machte mich misstrauisch. »Sind Sie etwa schon einmal durch das Tor gegangen?«

»Seien Sie nicht albern!«, sagte der Direktor der Ars Obscura schneller, als es glaubwürdig gewesen wäre. Einen Moment lang betrachtete ich ihn, aber der verräterische Ausdruck seiner Augen verschwand, bis ich glaubte, ihn mir eingebildet zu haben.

Ich trat dichter an das Tor heran und erkannte mein Spiegelbild darin. Es war eine düstere Version meiner selbst. Grobe Linien zeichneten die Narbe um mein magisches Auge scharf. Ich schob eine hellblonde Strähne ins Gesicht, um sie zu verbergen. Vor mir selbst. Ich konnte ihren Anblick nicht ertragen, denn sie erinnerte mich an alles, was ich verloren hatte. Es war eine Geste, die mir in den letzten Wochen in Fleisch und Blut übergegangen war. Mein Spiegelbild im Weltentor tat das Gegenteil. Mit einer demonstrativen Geste fasste es das Haar im Nacken zusammen und präsentierte mir das dunkle Netz aus Linien. Ich kämpfte gegen den Drang an, vorzutreten und die Hand nach seiner glatten Oberfläche auszustrecken, um sie zu kräuseln wie die eines Teiches, damit alles, was sich darin spiegelte, vor meinen Augen verschwamm.

»Zweifelsohne übt dieses Tor einen dunklen Reiz auf all diejenigen aus, die ihm gegenübertreten«, seufzte Tenrys. »Ich kann nicht leugnen, dass auch ich ein paarmal gegen seinen Sog ankämpfen musste. Sie werden sich an das Gefühl gewöhnen.«

»Das bezweifele ich«, murmelte ich mehr zu mir selbst als zu ihm.

»Niemand außer dem Wächter – also Ihnen – und den ranghöchsten Mitgliedern der Ars Obscura dürfen diesen Raum betreten«, beschwor Tenrys mich. »Alles, was zwischen diesen Mauern geschieht, wird aufgezeichnet und landet auf einem Server in meinem Anwesen.« Der Direktor der Ars Obscura hob die Hände. Seine Geste wirkte wie eine Geisterbeschwörung, tatsächlich deutete er lediglich auf die Ecken des Raumes, in denen Kameras installiert worden waren. Erst jetzt bemerkte ich ihr regelmäßiges rotes Blinken.

»Sie sichten sämtliches Material?«

»Nur, wenn Sie mich explizit auf etwas Ungewöhnliches hinweisen. Die Videoaufnahmen erinnern an Standbilder und sind schrecklich langweilig. Es ist Ihre Aufgabe, nicht dabei einzuschlafen.« Tenrys zwinkerte mir zu. Klar, denn ich hatte ihn um den eintönigsten Job gebeten, den die AO hergab.

»Sind übernatürliche Aktivitäten denn auf Filmaufzeichnungen sichtbar?«, fragte ich.

»Bedauerlicherweise ist die Technologie noch nicht so weit fortgeschritten.«

Ich drehte mich um meine eigene Achse und ließ sowohl meinen magischen als auch meinen nichtmagischen Blick durch den Raum schweifen. Sternenpartikel und Staub stoben gleichermaßen um mich herum. »Das ist also mein neuer Arbeitsplatz.« Ich seufzte bei dem Gedanken, dass ich die weiten Ländereien Islands gegen ein fensterloses Gewölbe getauscht hatte. »Gibt es hier unten wenigstens WLAN?«

Tenrys stieß ein gepresstes Lachen hervor. »Sie werden die meiste Zeit in Ihrem Büro zwei Stockwerke über dem Tor verbringen. Ich bin sicher, dass Sie die wenigen Male, die Sie hier unten sein werden, keine stabile Internetverbindung benötigen. Kommen Sie, ich zeige Ihnen Ihr Büro.«

Mit der Gewissheit, dass ich meine Arbeitszeit nicht unterirdisch würde fristen müssen, überkam mich ein Gefühl von Erleichterung. Ich kehrte dem Weltentor endgültig den Rücken zu und trat hinter Tenrys zurück ins Treppenhaus.

Der antik anmutende Rundbogen zu meinem Büro führte meine Erwartungen an den dahinterliegenden Raum in die Irre. Statt roher Sandsteinwände und schmalen Rundfenstern sah ich mich schwarzem Marmorboden und zwei Glaswänden gegenüber, die einen atemberaubenden Blick über den Kensal Green und die Stadt dahinter boten. Draußen spickten Hunderte Sterne den nächtlichen Himmel und malten das spärliche Mobiliar meines neuen Büros silbern an.

In der Mitte des Zimmers stand ein aufgeräumter Schreibtisch, der schon bald im Chaos meiner Arbeit versinken würde. Gegenüber ragten vier riesige Bildschirme auf, deren Oberflächen so schwarz wie das Weltentor waren. An der Wand, die an das Gebäude grenzte, lehnten hohe Regale, in denen sich ein paar verlorene Bücher fanden. Ich erkannte die Akten der Ars Obscura in fünf Bänden, eine Pflichtlektüre für meinesgleichen. Daneben hing ein Stadtplan von London. Es gab einen Ledersessel und einen Fußhocker. Auf einem niedrigen Schemel stand eine Kaffeemaschine. Die würde ich brauchen, denn am dünnsten war die Grenze zwischen Asterin und unserer Welt in der Dämmerung. Meine Arbeitszeiten hatten Direktor Tenrys und ich entsprechend vereinbart.

»Das Atrium können Sie über diese Monitore überwachen. Die Bilder, die Sie sehen, sind live, auch wenn sie wie Fotos anmuten. Wenn etwas fehlt, sagen Sie Bescheid. Ansonsten sind Sie frei, den Raum nach Ihren Wünschen einzurichten«, sagte er und wies um sich. Als es klopfte, ließ er die Arme sinken. »Das muss der Agent sein, mit dem Sie künftig zusammenarbeiten werden. Caspian, tritt ein!«

Eine große Gestalt duckte sich unter dem für sie zu niedrigen Türsturz hindurch und baute sich wie einer jener Riesen vor mir auf, mit denen ich in Reykjavík zu tun gehabt hatte. Als sich eine Wolke über den Himmel wälzte und den Mond freigab, sah ich in ein gemeißeltes Gesicht.

Die Schatten der Nacht schmiegten sich an den Agenten und trübten meine Wahrnehmung, aber das silbrige Mondlicht ließ seine markanten Züge sichtbar werden: hohe Wangenknochen, ein kantiges Kinn, dichte Brauen. Ein Blick aus dunkelblauen Augen, der mich an den Winter Islands erinnerte. Kalt und hart.

»Miss Ambrose.« Die Stimme des Direktors der Ars Obscura riss mich aus meinen Gedanken. Ich bemerkte, dass ich den Fremden angestarrt hatte. Blinzelnd wandte ich mich ab, aber sein Gesicht hatte sich unwiderruflich in meine Netzhaut gebrannt. Das und der finstere Blick, mit dem er mich bedacht hatte.

Tenrys kleisterte sich das perfekte Lächeln für Zahnpastawerbung aufs Gesicht und winkte den Fremden näher. »Darf ich Ihnen Caspian vorstellen, meinen treuen Freund und begnadetsten Agenten? Caspian, ich erzählte dir bereits von unserem Neuzugang. Das ist Aurora Eden Ambrose, die neue Wächterin des Weltentores.«

Normalerweise rief die Nennung meines Namens eine Reaktion bei meinem Gegenüber hervor, denn unter den Mitgliedern der Ars Obscura eilte mir mein Ruf voraus. Ich war der gefallene Stern am Himmel der Organisation, die gebrochene Kriegerin, Aurora Scarface. Aber Caspian sah mich an, als hätte er nie zuvor von mir gehört.

Dann verdunkelte sich seine Miene, falls das überhaupt noch möglich war. Anstatt mir die Hand zu reichen, verschränkte er die Arme vor der Brust und maß mich aus zusammengekniffenen Augen. Ich schob das Haar vor meine vernarbte Haut, als könnte ich mich dahinter verstecken. Sein Blick war mir erschreckend vertraut und zugleich vollkommen fremd.

Als keiner von uns beiden reagierte, räusperte sich Tenrys und fuhr sich durchs Haar. Die Geste wirkte seltsam unbeholfen, als erwartete er lange Strähnen. Aber seine Finger griffen ins Leere. Er ließ sie sinken und trommelte auf den Schreibtisch. »Sie haben ja noch genug Zeit, Freundschaft mit meinem besten Mann zu schließen«, scherzte er, verstummte aber unter dem Funkeln, mit dem dieser ihn bedachte. »Nun gut, Miss Ambrose, haben Sie noch Fragen?«

Ja, wer zur Hölle war Caspian? Und warum sah er mich so an, als würde er sich jeden Moment auf mich stürzen wollen? Unwillkürlich umfasste ich mit beiden Armen meinen Oberkörper. Ich brachte keinen Ton hervor und schämte mich für meine eigene Unzulänglichkeit. Früher, vor dem Zwischenfall in Reykjavík, hätte ich Caspian die Stirn geboten. Heute hämmerte mein Herz und drängte mich zur Flucht. Ich widerstand diesem Instinkt und schüttelte an Tenrys gewandt den Kopf. Zu mehr fühlte ich mich nicht imstande.

»Nun denn. Wenn Sie keine Fragen mehr haben, schlage ich vor, dass ich Sie nach unten begleite. Es ist schon spät und ich möchte Sie ungern Ihrer verbliebenen freien Zeit berauben.« Tenrys überließ mir mit einer galanten Geste den Vortritt. Ich zögerte nicht, denn ich sehnte mich danach, der Enge dieses Raumes und Caspians Nähe zu entkommen.

»Wenn Sie in den nächsten Tagen etwas brauchen, scheuen Sie sich nicht, darum zu bitten. Sie finden Caspians Büro gleich nebenan.«

»Er arbeitet hier?«, platzte es aus mir heraus.

Caspian, der uns gefolgt war, hob die Brauen, sagte jedoch nichts. Natürlich nicht.

»Gewiss doch«, bestätigte Tenrys. »Auf jedem Friedhof, der ein Weltentor verbirgt, sind zwei Mitglieder der Ars Obscura stationiert. Ein Agent und ein Wächter. Während Sie ein Auge auf das Tor haben …«, er zwinkerte meinem magischen Auge vielsagend zu, »… bekämpft Caspian jene Kreaturen, die es zu überwinden suchen. Wie ich bereits erwähnte, Sie werden nicht viel zu tun haben und sich alsbald wieder nach dem Außendienst sehnen.«

Ich überlegte, was schwerer wog: die Schatten meiner Vergangenheit, die noch immer auf mir lasteten, oder die Zusammenarbeit mit diesem übellaunigen Kerl, der aussah, als würde er lieber Jagd auf mich anstatt auf die Dunkelheit jenseits des Weltentores machen.

»Wer weiß«, antwortete ich mit einiger Verzögerung und zwang mich zu einem Lächeln.

Ein sanfter Ausdruck trat auf Tenrys’ Gesicht, als wären wir alte Freunde, nicht aber Vorgesetzter und Untergebene. »Es ist nicht die Zeit, die Wunden heilt. Es ist der Verstand. Sie werden über das, was geschehen ist, hinwegkommen, Miss Ambrose.«

Das Lächeln perlte von meinem Gesicht ab und ich spürte, wie etwas Schweres an meinen Mundwinkeln zog. Während wir die Treppe hinab ins Erdgeschoss stiegen, klammerte ich mich am Handlauf fest. Auf der untersten Stufe widerstrebte es mir loszulassen. Ich fühlte mich, als würde ich den Halt verlieren. Wieder einmal.

»Entschuldigen Sie. Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten.« Tenrys’ Worte hallten von den hohen Wänden wider und bohrten sich wie ein Stachel in mein Herz. Fast floh ich an ihm und Caspian vorbei aus dem Verwaltungsgebäude in die kühle Nacht und fragte mich, wer der Mensch war, der seit dem Zwischenfall in Reykjavík meinen Körper bewohnte. Denn ich war das nicht.

Auf dem Hof wurde Tenrys langsamer und zwang mich dazu, mich seinem Tempo anzupassen, obwohl ich am liebsten gerannt wäre. Seine Blicke wanderten über meinen Körper und verweilten länger auf mir, als der Anstand es erlaubt hätte. »Es ist mir eine Ehre, Sie in London willkommen heißen zu dürfen«, sagte er mit einem charmanten Lächeln, mit dem er mich nicht gewinnen konnte.

Caspian schien das ähnlich zu sehen, denn er schnaubte. Geflissentlich ignorierte Tenrys das Geräusch. Vermutlich war er die Überheblichkeit seines Agenten gewohnt. Ich hingegen erwog kurz, Caspian die Zunge herauszustrecken, besann mich dann aber eines Besseren. Immerhin würde ich mit diesem Kerl hier künftig noch viel Zeit verbringen.

Ich schüttelte Tenrys’ Hand und sagte mit so viel Ehrlichkeit, wie ich aufbringen konnte: »Ich freue mich, die Wache für dieses Weltentor zu übernehmen, Direktor Tenrys.«

Er verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Oh, nennen Sie mich doch Adriel. Als Direktor Tenrys komme ich mir unendlich alt vor.« Er lachte über einen Scherz, den ich nicht verstand. Unbeholfen fiel ich mit ein.

»Na schön, Adriel. Ich bin Aurora.«

Mein Vorgesetzter nickte mir wohlwollend zu, ehe wir uns verabschiedeten. Weil Caspian noch immer kein Wort gesagt hatte, tat ich, als wäre er gar nicht da, und drehte mich um.

Während Tenrys mich durch das Verwaltungsgebäude geführt hatte, hatte sich die Dämmerung in Nacht verwandelt. Mit all seinen Lichtern malte London orangefarbene Kreise in die Dunkelheit, die die Sterne am Himmel verblassen ließen. In Island hatten die Nächte anders ausgesehen – wie ein von Sommersprossen gezeichnetes Gesicht. Hier in der Stadt wirkte der Abstand zwischen den einzelnen Sternen riesig, manche schienen vollends erloschen. Trotzdem beruhigte mich ihr vertrauter Anblick. Die Nacht barg nicht nur Schrecken, sie bot auch Schutz. Flankiert von ihrer Finsternis und golden schimmernden Spuren vergangener Magie, die ich mit meinem magischen Auge sah, lief ich auf das Tor zur Harrow Road zu.

3

Mit einem feuchten Schwamm arbeitete ich das Make-up in meine Haut ein und beobachtete, wie die weit verästelte Narbe um mein magisches Auge allmählich verschwand, als wäre ich eine Gestaltwandlerin und keine gewöhnliche Frau. Gut, fast gewöhnlich, denn der Umstand, dass ich mit meinem rechten Auge Magie sehen konnte, hob mich dann doch von der normalsterblichen Bevölkerung ab.

Vor dem Zwischenfall in Reykjavík hatte ich keinen Wert auf Kosmetik gelegt. Eitelkeit war kein Charakterzug, den man sich als Agent der Ars Obscura im aktiven Dienst leisten konnte. Zumindest nicht, wenn man wie ich damals auf Crae der Stufen drei und vier spezialisiert war. Narben, die vom Kampf gegen jene Wesen erzählten, waren nicht unüblich, vielen der Agenten fehlten sogar ein oder mehrere Finger. Diesbezüglich hatte ich Glück gehabt, doch wenn ich darüber nachdachte, hätte ich gern ein paar Gliedmaßen geopfert, um damit den schrecklichsten Tag meines Lebens ungeschehen machen zu können. Stattdessen trug ich Make-up wie eine Maske, denn jedes Mal, wenn ich mir in einem Spiegel oder in einer Fensterscheibe begegnete, erinnerte mich mein Anblick an das, was ich verloren hatte. Also ließ ich die sichtbaren Spuren unter einer Schicht von Make-up verschwinden, obgleich ich damit die Narben auf meiner Seele nicht schmälern konnte.

Ich tuschte die Wimpern und bemalte meine Lippen, ehe ich einen kurzen Blick auf das Display meines Smartphones warf. Mein Herz machte einen Satz, als sich mir die Uhrzeit in grellen Ziffern entgegendrängte. Verdammt, ich war viel zu spät dran. Hektisch verschloss ich den Lippenstift, sprang auf und suchte zwischen den wenigen Umzugskisten nach meinen Stiefeln. Nicht viel hatte mich aus Island in meine neue Heimat begleitet, aber einen der Kartons würde ich heute mit ins Büro nehmen. Er beinhaltete Arbeitsunterlagen, Notizbücher und Lexika. Nachdem ich in meine Jacke geschlüpft war, umfasste ich besagten Karton mit beiden Händen und stolperte halb blind durch den Flur.

»Ziehst du schon wieder aus?«, hörte ich die kühle Stimme meiner Mitbewohnerin. Ich reckte das Kinn, um über den Karton hinweg nach ihr zu suchen. Sie lehnte mit verschränkten Armen in der Tür zum Badezimmer. Warum sie mir das leere Zimmer in ihrer Wohnung überlassen hatte, war mir ein Rätsel, denn es war ganz offensichtlich, dass sie mich nicht mochte. Vermutlich brauchte sie das Geld. Seit meinem Einzug hatte sie nur das Gespräch mit mir gesucht, um mir mitzuteilen, dass ich in der ersten Woche unseres Zusammenlebens den Putzdienst übernehmen müsse. Für mich war das okay, denn von Unawares hielt sich unsereins besser fern.

»Da drin sind ein paar Unterlagen und Material für meinen neuen Job«, entgegnete ich und steuerte auf die Tür zu.

Cassandra schnaubte. »Du bist besser vorbereitet, als ich es von einer Friedhofswärterin erwarten würde.« Sie machte keinen Hehl daraus, dass sie meine Berufswahl verachtete. Natürlich konnte ich ihr nicht sagen, dass ich das übernatürliche Tor zwischen unserer Welt und Asterin bewachte, und so musste ich ihren Spott über mich ergehen lassen.

»Ich möchte den Toten meinen Respekt zollen«, sagte ich vage. »Könntest du vielleicht …?« Meine Frage ging in einem Schnaufen unter, als mir der Karton beinahe aus den Händen glitt und ich meinen Griff um ihn verstärkte. Eine Kante drückte sich zwischen meine Rippen.

Cassandra strich sich das glänzende schwarze Haar aus der Stirn, dann setzte sie sich in Bewegung, um mir die Tür zu öffnen. »Viel Spaß mit den Toten!«

Der Abend senkte sich überraschend plötzlich auf London und hüllte die Stadt in einen goldenen Schleier. Die Fassaden der Hochhäuser glitzerten in der Ferne, das Licht spiegelte sich in den letzten Spuren eines Regenschauers. Wasser spritzte um mich herum auf, als die Sohle meines Stiefels in einer Pfütze landete.

»Verdammt!«, zischte ich. Kalte Nässe drang durch meine Strumpfhose und ließ mich frösteln. Mein erster Arbeitstag als Wächterin für Ars Obscura schien unter keinem sonderlich guten Stern zu stehen. Ich stellte den Karton auf einer niedrigen Mauer ab und begutachtete den Schaden. Dunkle Flecken sprenkelten meine Beine. Nichts, was ich jetzt würde ändern können. Ich strich darüber, ehe ich den Karton erneut anhob und meinen Weg fortsetzte. Inzwischen brannten die Muskeln in meinen Armen durch die unnatürliche Haltung und das Gewicht meines Arbeitsmaterials. Eine Pause konnte ich mir nicht erlauben. Ich war spät dran. Wenn ich mich nicht beeilte, würde ich den Sonnenuntergang verpassen.

Seit dem Zwischenfall in Reykjavík fiel es mir schwer, mich aus dem Sog des Schlafes zu befreien, denn er erlaubte mir Momente süßen Vergessens. Statt mich in den vergangenen Tagen in meiner neuen Heimat zurechtzufinden, hatte ich mich also in meinem winzigen Apartment verkrochen und die Decke über den Kopf gezogen. Deshalb fühlte sich jeder Schritt von meiner Wohnungstür hinab zur Tube Station und über die Kensal Green Station bis hin zu meinem neuen Arbeitsplatz fremd an.

Meine Lunge brannte, als ich den Friedhof endlich erreichte. Schweiß perlte auf meiner Stirn und mein Shirt klebte zwischen meinen Schulterblättern. Das Tor zum Kensal Green ragte hoch über mir auf. Die Sonne berührte die Wipfel der Bäume, als ich eilig hindurchschritt. Auf der anderen Seite erwartete mich eine dunkle Gestalt, die meinen rasenden Puls zum Stolpern brachte. Abrupt blieb ich stehen und musterte Caspian, der meinen Blick grimmig erwiderte. Ich fragte mich, ob er jemals lachte, und konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie ein Lächeln sein Gesicht verändern würde. Es wirkte wie das einer griechischen Skulptur. Ausdruckslos und für alle Ewigkeiten erstarrt.

»Du bist spät.« Es war das erste Mal, dass ich ihn sprechen hörte. Seine Stimme war tief, fast schon sinnlich. Wäre da nicht dieser gefährliche Unterton gewesen. Er verwandelte jedes Wort in eine Klinge, die tief in mein Fleisch schnitt.

Sein Blick glitt von dem Karton in meinen Armen und verweilte auf meinem Gesicht. »Immerhin hattest du genug Zeit, um dir das Gesicht zuzuspachteln.«

Ich presste die Kiefer aufeinander und wich seinen durchdringenden Blicken aus. Mein früheres Ich hätte einem Kerl wie Caspian die Stirn geboten. Doch alles, was ich herausbrachte, war: »Wo ist Adriel?« Meine Frage kam als ein Piepsen über meine Lippen, für das mich jene Aurora, die vor einigen Monaten noch einem ausgewachsenen Riesen gegenübergestanden hatte, ausgelacht hätte.

Caspian schien es ähnlich zu gehen. Er schnaubte und betrachtete den Karton in meinen Armen mit hochgezogenen Brauen, ehe er mir den Rücken zuwandte und den Weg entlangschritt. »Der hat Besseres zu tun, als deine Hand zu halten!«

Scham und Wut brannten in meinem Bauch. Am liebsten wäre ich umgekehrt und hätte Kensal Green, Caspian und dieses verdammte Weltentor hinter mir gelassen. Die andere Aurora, die seit dem Zwischenfall irgendwo tief in mir verborgen war, ließ mich jedoch die Hände zu Fäusten ballen. Wie gern hätte ich sie Caspian spüren lassen. Aber er war bereits zwischen den gestutzten Büschen verschwunden und der Karton sackte ein weiteres Stück nach unten. Also packte ich ihn fester und folgte ihm.

Ich stapfte den Weg zum Verwaltungsgebäude entlang und nickte dem Friedhofswärter Mr Chamberlaine zu, einem wettergegerbten Mann in Gummistiefeln und Latzhose, der mir entgegenkam und eine Schubkarre mit Grünschnitt vor sich herschob. Er riss die Augen weit auf, als mein Blick ihn traf, und floh in den Schutz hoch aufragender Grabskulpturen. Ich fragte mich, wie er wohl reagierte, wenn er dem übellaunigen Caspian begegnete.

Die Wut schwelte auch dann noch in meinen Eingeweiden, als ich mein Büro betrat. Den Karton stellte ich auf der leeren Schreibtischoberfläche ab und schüttelte meine brennenden Arme aus.

Sobald sich mein rascher Atem verlangsamte, wurde ich mir der Stille in dem Raum bewusst. Noch einmal sah ich mich in dem Büro um, in dem ich fortan viel Zeit verbringen würde. Das Gefühl in meinem Bauch konnte ich unmöglich deuten. Es bewegte sich zwischen Unbehagen, freudiger Erwartung und zu schwerem Mittagessen – ich hatte mir vor ein paar Stunden einen Burger in einem Take-away-Restaurant unweit meiner Wohnung geholt und diesen hastig in meinem Zimmer verschlungen.

Als ich den Riemen meiner Tasche über den Kopf zog und sie abstellen wollte, platzte der Reißverschluss auf und meine Habseligkeiten ergossen sich auf den Boden. In dem Moment ließ der Zorn von mir ab. Meine Schultern sackten nach unten und ich fühlte mich müde und ausgelaugt, als hätte ich nicht den ganzen Tag verschlafen. Auf allen vieren kroch ich durch den Raum, sammelte Kugelschreiber, Notizblock, Portemonnaie und Kosmetika auf. Als ich auf dem Hof unterhalb des Fensters eine Bewegung wahrnahm, erstarrte ich.

Mr Chamberlaine kehrte mit seiner Schubkarre zurück. An seiner Seite lief Caspian. Aber der Friedhofswärter schien sich nicht im Geringsten zu fürchten.

Caspian. In Gedanken sagte ich seinen Namen. Er passte zu ihm. Er war ungewöhnlich und klang rauchig, aber zugleich melodisch. Er drückte eine Stärke aus, die sein Träger demonstrativ zur Schau stellte, während er dem Friedhofswärter zur Hand ging und mit hochgerollten Ärmeln einen Grabstein über die Wiese trug, bis die Schatten der Dämmerung ihn verschluckten.

»Caspian.« Bevor ich dem Drang widerstehen konnte, seinen Namen auf meiner Zunge zu schmecken, hatte ich ihn laut ausgesprochen. Er klang in der Stille meines Büros nach, bis es mich lockte, ihn zu wiederholen: »Caspian!«

In dem Moment schob Caspian die Zweige beiseite und trat erneut auf den Hof. Er sah mich an, als hätte er mich gehört. Mir wurde peinlich bewusst, dass ich den Eindruck einer verrückten Stalkerin erweckte, wie ich da auf dem Boden hockte und in den Hof spähte. Ruckartig schnellte ich hoch, aber ein Hindernis hielt mich auf. Mit einem dumpfen Knall krachte ich gegen die Tischplatte über mir. Sterne tanzten vor meinen geschlossenen Lidern. Als ich die Augen das nächste Mal öffnete, war Caspian verschwunden.

Ich zog mich an meinem Schreibtisch hoch, dann nahm ich auf dem Stuhl Platz und tat, als wäre ich in die Unterlagen vertieft, die Adriel mir bereitgelegt hatte. In Wahrheit lauschte ich auf Geräusche außerhalb meines Büros. Und tatsächlich erklangen kurz darauf schwere Schritte, die vor meiner Tür innehielten. Ich wagte nicht zu atmen, starrte auf die Dokumente, bis die schwarzen Druckbuchstaben ineinander verschwammen.

Ein kurzer Moment verstrich, in dem ich mich fragte, was Caspian auf der anderen Seite der Tür trieb. Sein Klopfen fegte allerdings sämtliche Gedanken aus meinem Kopf und peitschte meinen Puls zur Eile an.

Er wartete nicht, bis ich ihm die Erlaubnis zum Eintreten erteilte, sondern stieß die Tür mit Schwung auf, sodass erst die Wand sie wieder stoppte.

Caspians Miene war hart, als sein Blick mich traf und kurz auf der Stelle verweilte, wo ich meine Narbe mit Make-up abgedeckt hatte. Er stieß ein Grummeln aus und funkelte mich an, als wäre ich es, die in sein Büro geplatzt war.

»Äh«, machte ich und runzelte die Stirn. »Kann ich dir helfen?«

Die geblähten Nasenflügel waren eindeutige Zeichen von Caspians Zorn und ich fragte mich ernsthaft, womit ich ihn auf mich gezogen hatte.

»Adriel will, dass ich dich einarbeite.« Die Art und Weise, wie er sprach, machte deutlich, dass Caspian etwas ganz anderes wollte. Zum Beispiel Abstand zwischen uns bringen: die Wand zwischen unseren Büros. Oder gleich einen ganzen Ozean.

»Schön«, sagte ich vorsichtig und nagte an der Innenseite meiner Wange. Eine Eigenschaft, die ich immer dann bereute, sobald ich Blut schmeckte. Abwartend musterte ich ihn, aber alles, was geschah, war, dass unsere Blicke sich kreuzten. Einen Augenblick lang verhakten sie sich, ehe ich mich abwandte und angestrengt die Maserung meines Schreibtisches betrachtete.

»Schön.« Caspian stieß hörbar den Atem aus, ehe er die Tür hinter sich schloss und auf mich zukam. Jede seiner Bewegungen drückte den Widerwillen aus, mit dem er sich Adriels Aufgabe widmete. Dann lehnte er sich gegen meinen Schreibtisch, sodass ich zu ihm aufsehen musste. Am liebsten wäre ich aufgestanden, aber was hätte das genutzt? Er hätte mich immer noch überragt.

»Das isländische Institut ist für seine hierarchische Strukturlosigkeit bekannt«, sagte er.

Ich öffnete den Mund, um zu protestieren. Nur weil wir in Island anders aufgestellt waren als hier, bedeutete das noch lange nicht, dass das Institut nicht strukturiert gewesen wäre. Aber Caspian wischte meinen Einwand mit einer einzigen Geste beiseite.

»Das ist nichts, worüber ich mit dir diskutieren werde. Dabei handelt es sich um eine Tatsache, die dem Hauptsitz durchaus bewusst ist. Und sei versichert, wir suchen bereits nach Lösungen.«

Ich schluckte bei dem Gedanken an Skadi und die anderen. Steckten sie etwa in Schwierigkeiten? Dann räusperte ich mich. »Wollen wir wirklich die Unternehmensstruktur erarbeiten oder sollten wir uns nicht lieber auf meine Einweisung konzentrieren?« Je eher wir damit begannen, umso schneller war Caspian mich wieder los. Und ich ihn.

»Wie du die Monitore anschaltest, weißt du, oder?«

Die Grobheit seiner Worte ließ mich zusammenzucken und ich war drauf und dran, aufzustehen und zu verschwinden. Ich tat nichts dergleichen. Denn ich wusste, dass sich mir eine bessere Chance als die, die Adriel mir gab, nicht bieten würde.

Ich setzte ein süßliches Lächeln auf, ehe ich die Bildschirme anschaltete. Caspian quittierte das mit einem demonstrativen Klatschen, das mich erneut fast in die Flucht schlug. Mein Blut kochte und in mir wuchs der Wunsch, mein langjähriges Kampftraining an diesem Arschloch zu erproben. Aber so deutlich, wie sich die Muskeln unter seinem Hemd abzeichneten, wusste ich, dass ich in ihm einen harten Gegner finden würde, der die Mühe – und die blauen Flecken, die ich einstecken würde – nicht wert war.

Caspian atmete hörbar aus. »Auch wenn Adriel dir einen langweiligen Job versichert hat, ist das hier nichts, was du auf die leichte Schulter nehmen solltest.« Er betrachtete mich, ehe er den Blick auf einen Punkt jenseits der Fenster richtete. Ich fragte mich, ob es das Make-up war, das ihn zu diesen Worten veranlasste, oder die Narbe, die ich darunter versteckte. Was auch immer es war, diese Bemerkung empfand ich als übergriffig.

»Das ist mir durchaus bewusst«, fauchte ich. Meine scharfe Erwiderung entlockte ihm die Andeutung gehobener Mundwinkel, was in seinem Fall wohl einem Lächeln gleichkam. Vermutlich war dieser Mann zu mehr nicht fähig.

»Gut, also …« Caspian deutete mit dem Ruck seines Kinns auf den Computer. »Die Programme solltest du bereits aus Island kennen. Wir arbeiten mit der Daemonicum-Datenbank, dem Supernatural Scan und dem Obscura-Net.«

Die Daemonicum-Datenbank beherbergte das über Jahrhunderte hinweg gesammelte Wissen über die verschiedenen Crae-Arten, ihre Fähigkeiten und ihre Stärke. Es war wie eine Art Wikipedia – bloß für Monster. Auch der Supernatural Scan war mir noch aus Island vertraut. Er trackte crae’sche Aktivitäten auf der Erde, ähnlich wie es der Flight Radar mit Flugzeugen handhabte. Das Obscura-Net war eine Art Intranet, ein Portal, das ich definitiv meiden würde. Denn hier wurden sämtliche Neuigkeiten aus der Welt der Agenten und Wächter gesammelt. Und definitiv würde ich auf der Startseite auch auf meine eigene Geschichte stoßen. Allein der Gedanke verursachte mir Übelkeit.

»Diesen Teil können wir überspringen«, meinte ich. »Ich arbeite seit vielen Jahren für die AO. Eigentlich reicht es mir, wenn du mir die Tagesabläufe hier schilderst. Mit allem anderen komme ich zurecht.«

»Nach deiner pünktlichen Ankunft checkst du das Atrium«, begann Caspian und ich konnte mir ein Augenrollen nicht verkneifen. »Danach treffen wir uns zu einer kurzen Besprechung. Du bist für die Überwachung des Supernatural Scans verantwortlich und hältst mich über ungewöhnliche Aktivitäten im Einzugsgebiet auf dem Laufenden. Falls es zu crae’schen Übergriffen kommt und Unawares verwickelt sind, ist es deine glorreiche Aufgabe, dich mit den Behörden herumzuschlagen. Keine Sorge, das kommt selten vor. Zumindest, wenn du mit mir zusammenarbeitest, denn ich pflege meinen Job sauber zu erledigen. Im Alltagsgeschäft übernimmst du außerdem das Daemonicum, ergänzt es mit Informationen, die wir aus meinen Kämpfen gewinnen, und du dokumentierst sämtliche meiner Begegnungen mit Crae. Du unterstützt mich auch in der Friedhofspflege und drehst nachts ein, zwei Runden, um sicherzugehen, dass das Tor keine Crae anlockt, die in irgendeiner Art und Weise hier feststecken. Falls etwas ist, findest du mich in meinem Büro oder in den Trainingsräumen, die sind gegenüber vom Atrium. Wenn ich auf Streife in der Stadt bin, hab ich ein Handy dabei. Die Nummer findest du im Adressbuch des Mailprogramms.« Caspian klopfte auf einen der Bildschirme, der einen weitestgehend leeren Desktop zeigte.

»Wow, so ein langer Monolog und du hast das Arschloch in dir fast gar nicht durchblitzen lassen.« Die Worte waren mir entschlüpft, ehe ich sie aufhalten konnte. Caspians finsterer Blick ließ mich meine Unverfrorenheit sofort bereuen.

»Mach dich an die Arbeit!«, knurrte er und stieß sich mit einer eleganten Bewegung von meinem Schreibtisch ab.

»Was ist mit der Besprechung? Sollten wir damit nicht anfangen?«, fragte ich mit brüchiger Stimme, die mich als den Feigling entlarvte, der aus mir geworden war.

»Ich für meinen Teil finde, dass wir heute genug miteinander gesprochen haben.« Caspian verließ mein Büro, ohne sich noch einmal umzudrehen. Dann entfernten sich seine Schritte. Auf das Klicken einer Tür folgte Stille, die nur mein unregelmäßiger Atem und mein pochendes Herz brachen.

Möglicherweise war Caspian nicht das einzige Arschloch, das auf dem Kensal Green arbeitete. Und damit meinte ich nicht Mr Chamberlaine. Meine Bemerkung war unangemessen gewesen, dessen war ich mir bewusst. Aber etwas hatte dieser Mann an sich, das mich reizte.

Mit einem Seufzen wandte ich mich den Bildschirmen zu, über die Live-Aufnahmen aus dem Weltenraum flimmerten. Alles war ruhig.

Abgesehen von dem Hämmern in meiner Brust.

4

Als die Sonne vollends verschwunden war, drehte ich eine Runde über den Friedhof. Ich sagte mir, dass ich mich mit meiner neuen Umgebung vertraut machen müsse, aber in Wahrheit wollte ich einen größeren Abstand zwischen Caspian und mir schaffen. Die dünne Wand zwischen unseren Büros war definitiv nicht genug.

Abgesehen von einer zerdrückten Coke-Dose begegnete mir nichts Ungewöhnliches. Ich hob sie auf und entsorgte sie im nächsten Mülleimer. Der Duft von Regen, für den London zweifelhafte Berühmtheit erlangt hatte, hing in der Luft und in das ausgewaschene Grau des Himmels mischte sich Kobaltblau. Die Grabmäler ragten schief aus einer von glänzenden Tropfen benetzten Wiese. Efeu schlang sich um ihre Sockel.

Je tiefer ich in den Friedhof eindrang, umso mehr verstummten die Geräusche der Stadt. Ein Rascheln weckte meine Aufmerksamkeit. Ich reagierte instinktiv, wie ich es Hunderte Male als Folge auf etwas Verdächtiges getan hatte. Meine Hand ahmte die vertraute Bewegung nach. Sie tastete zu meiner Hüfte, auf der früher das Gewicht eines Waffengürtels gelastet hatte. Da war nichts mehr, womit ich mich im Angesicht unmittelbarer Gefahr hätte zur Wehr setzen können. Ich verwünschte mich für meinen Leichtsinn.

Der Vorhang tief hängender Zweige einer Weide teilte sich. Mein magisches Auge rollte in der Höhle, aber es ging zu schnell. Ich konnte gerade noch einen Schrei unterdrücken, als ein Eichhörnchen an mir vorbeischoss und in den nahe gelegenen Büschen verschwand. Aus Island war ich Bestien anderer Größenordnung gewohnt. Mit heftig pochendem Herzen blieb ich zurück und musste über mich selbst lachen. Tenrys hatte mir versichert, dass ich mich in meinem neuen Job langweilen würde, und nun suchte ich zwischen Grabsteinen und gestutzten Büschen Gefahren, wo keine waren. Ich war eine Närrin, die sich vor ihrem vergangenen Leben fürchtete, es zugleich aber nicht loslassen konnte. Island und mich trennten mehrere Monate und der Nordatlantik. Ich war in Sicherheit. Diese Einsicht beruhigte mein wild schlagendes Herz.

Doch dann gellte ein Schrei durch die hereinbrechende Nacht, der mich eines Besseren belehrte. Sämtliche Muskeln meines Körpers spannten sich an. Adrenalin schoss durch meine Adern. Vor mir gerieten die Büsche in Bewegung. Mein magisches Auge suchte nach Auffälligkeiten, wo keine waren. Aber das musste nichts bedeuten. Nicht immer war Magie im Spiel, wo Gefahr lauerte.

Eine in Dunkelheit gehüllte Gestalt schälte sich aus der Lücke zweier Bäume und kam auf mich zu. Der Friedhof verschwamm vor meinen Augen. Auf einmal glaubte ich mich zurück in Reykjavík. Die Bäume verwandelten sich in die Mauern der hoch aufragenden Gebäude, der feuchte Film des letzten Regenschauers wurde zu schmutzigen Schneeresten. Die Gestalt wurde mit jedem Schritt in meine Richtung größer. In jener Nacht, in der ich dem Crae, einem Blutgeist, gegenübergestanden hatte, war ich von der Jägerin zur Gejagten geworden. Ich erinnerte mich an die dunkle Gasse, als hätte ich sie nie verlassen. Damals hatte ich meine Waffe gezogen.

Heute griff ich in meine Jackentasche und suchte mit zitternden Fingern nach meinem Smartphone, bis mir einfiel, dass sämtliche Nummern auf der Telefonliste Menschen gehörten, von denen mich ein Ozean trennte. Sie würden mir nicht helfen können. Niemand davon.

Rückwärts zog ich mich zurück, gab mir Mühe, kein Geräusch zu machen. Sobald ich meinen Abstand zu der Gestalt vergrößert hatte, rannte ich. Das Geräusch von Schritten folgte mir. Meine Angst wuchs und breitete sich wie Gift in meinem Körper aus.

Inzwischen hatte die Nacht ihr dichtes Netz aus Dunkelheit über den Friedhof geworfen. Zweige peitschten mir ins Gesicht und ich stolperte über Grabsteine und aus dem Boden herausragende Wurzeln. Ich drehte mich nicht um, wollte nicht wissen, wie dicht mir mein Verfolger auf den Fersen war. Wie ein Hase schlug ich Haken über den Friedhof und hielt auf das Verwaltungsgebäude zu.

Caspian. Er war der Agent von Kensal Green. Es war seine Aufgabe, jene Kreaturen, die sich vom Tod angezogen fühlten, zu richten.

Wenn er es nicht war, der mich über die Gräber jagte. Der Gedanke kam mir so plötzlich in den Sinn, dass ich ins Straucheln geriet. Caspian war mir mit Verachtung begegnet und vorhin hatte ich nichts unternommen, um seine Sympathie zu gewinnen. Im Gegenteil. Würde er aus einer Laune heraus seinen Job riskieren und mich angreifen? Ich kannte ihn nicht annähernd genug, um mir eine Antwort darauf geben zu können. Aber er war meine einzige Option.

Bündel goldenen Lichts fielen von den Ritzen zwischen den Vorhängen aus Caspians Büro auf den Hof. Sie mischten sich mit meinem Schatten, als ich auf die Tür zustolperte. In der Eingangshalle schlug mir kühle, abgestandene Luft entgegen. Ich eilte die Treppen nach oben in den zweiten Stock und hielt vor Caspians Büro inne. Dahinter war es still, als würde er den Atem anhalten. Oder als wäre er nicht da.

Weil er mich jagte.

Ich schob den Gedanken beiseite, als ich gegen die angelehnte Tür klopfte. Sie öffnete sich durch meine Berührung und der Streifen goldenen Lichts auf dem Marmorboden wurde breiter.

»Caspian?«

Niemand antwortete.

Dann: »Ja?«

Tränen der Erleichterung schossen mir in die Augen, als ich begriff, dass Verwirrung in der Frage lag. Verwirrung und ein Hauch von Ärger, weil ich ihn gestört hatte. Oder weil er noch immer sauer war, dass ich ihn freiheraus als Arschloch bezeichnet hatte.

Bevor ich die Tür vollständig öffnete und eintrat, wischte ich die verräterischen Tränen fort. Caspians Büro war genauso geschnitten wie mein eigenes, nur dass die Glaswände spiegelverkehrt waren. In dem Regal, das in meinem Zimmer nahezu leer war, stapelten sich Bücher, Einmachgläser und Skulpturen von Wesen, die entweder der blühenden Fantasie eines Unawares entsprungen waren oder von einem Geist stammten, der mit der Welt jenseits der Grenze vertraut war.

Caspian saß an einem Schreibtisch aus handgeschnitztem Holz. Figuren wanden sich um die Beine des Tisches und klammerten sich an die von Astlöchern und feinen Rissen durchzogene Platte. Er hatte die Füße darauf abgelegt und sich weit in seinem Stuhl zurückgelehnt.

»Aurora.« Die Art und Weise, wie er meinen Namen aussprach, löste eine Gänsehaut auf meinem Rücken aus. Aber es war keine wohlige Art von Gänsehaut, sondern eher die, die einen unangenehmen Schauder auslöste.

Caspian nahm die Füße vom Tisch, klappte das Buch in seinem Schoß zu und musterte mich abschätzig. Mir wurde peinlich bewusst, was für ein Bild ich abgeben musste: verschwitzte, in der Stirn verklebte Strähnen, rote Schrammen auf Wangen und Oberarmen, Äste, die sich in meinem Haar verloren hatten.

Ich öffnete die Lippen. Dann schloss ich sie wieder. »Ich … Ähm …«

Caspians Brauen wanderten bis zu seinem Haaransatz. Abwartend sah er mich an.

»Du warst hier?«, fragte ich.

Er antwortete nicht. Eine steile Falte zwischen seinen Brauen zeugte von wachsendem Unmut, der seine Züge allmählich erhärten ließ.

»Da draußen …« Meine Stimme brach und ich suchte die Stärke jener Kämpferin in mir, die ich einst gewesen war. »… da draußen ist etwas.«

»Wie pathetisch. Hast du den Satz aus einem Horrorstreifen?« Caspian verdrehte demonstrativ die Augen, bevor er das Buch an der Stelle aufschlug, an der ich ihn unterbrochen hatte.

»Das ist kein Scherz«, sagte ich eindringlich. »Ich habe eine Runde über den Friedhof gedreht, um nach dem Rechten zu sehen, als ich einen Crae gesehen habe.«

»Einen Crae?« Das weckte sein Interesse. Er musterte mich, ehe er sich in einer fließenden Bewegung erhob. »Wo?« Seine Miene war noch immer finster, hatte nun aber einen geschäftsmäßigen Ausdruck angenommen. Im Gehen zog er eine Waffe, wie ich sie einst am Gürtel getragen hatte. Es war eine Obsidianklinge, die einzige Waffe, die etwas gegen ein magisches Wesen ausrichten konnte.

»Nicht weit von hier. Bei der alten Weide hinter dem ersten Gräberfeld«, sagte ich und folgte ihm die Treppe hinab, immer zwei Stufen gleichzeitig nehmend, um mit ihm Schritt zu halten.

Caspian nickte und querte im Laufschritt den Hof. Der Kies knirschte unter seinen Sohlen, sonst machte er kein einziges Geräusch. Sobald er durch die Reihe der ersten Büsche gebrochen war, warf er sich in die ausgestreckten Arme der Nacht und wurde eins mit ihr. Er bewegte sich geschickt zwischen den Grabsteinen, duckte sich unter tief hängenden Ästen weg und wich herausragenden Wurzeln aus, während sie nach mir immer wieder die Hände auszustrecken schienen, um mich zu Fall zu bringen. Der Abstand zwischen uns wuchs, aber ich folgte dem Blitzen seiner Waffe, bis der schemenhafte Umriss der Weide endlich vor mir auftauchte.

Aus einer Gestalt waren fünf, vielleicht auch sechs oder sieben geworden. Mit meinem magischen Auge nahm ich golden glitzernde Magiespuren in der Luft wahr, doch sie verteilten sich über den gesamten Friedhof. Mein Herz hämmerte, während ich unsere Optionen abwog. Sie waren in der Überzahl und ich war unbewaffnet. Caspian könnte es womöglich mit zwei oder drei gleichzeitig aufnehmen, aber niemals mit allen.

Auf dem Boden suchte ich etwas, das ich als Waffe benutzen konnte. In dem Moment verließ Caspian die Deckung der Bäume. Ich unterdrückte einen Warnschrei und wartete darauf, dass die Schatten ihn entdeckten und ihn in einen Kampf verwickelten. Mir war schwindelig vor Angst und ich verwünschte den Kerl, der mir in jener Nacht zwar nicht mein Auge, wohl aber meine Stärke geraubt hatte. Halb ohnmächtig musste ich dabei zuschauen, wie Caspian sich der Gefahr näherte. Aber nichts geschah.

Ein Licht blitzte auf und wanderte in Form eines kegelförmigen Strahls über den Friedhof bis hin zu Caspians Stiefelspitzen. Auf halber Höhe zwischen mir und den Crae blieb er stehen und ich erkannte, dass das Licht einer Taschenlampe entstammte.

Seit wann besaßen Crae Taschenlampen?

Das Geräusch von Flaschen, die gegeneinanderstießen, erklang und die Crae verwandelten sich in ein paar Halbstarke, die auf den Grabsteinen lümmelten. Mein Herz zog sich zusammen, als ich meinen Fehler erkannte.

Caspian räusperte sich laut vernehmlich. Sämtliche Köpfe fuhren herum. Zwei Gestalten sprangen auf und wichen kichernd zurück, ihr Anführer überkreuzte die Beine und musterte Caspian abwartend.

»Auch ein Bier?« Er hielt ihm eine Flasche hin.

Ich war überzeugt, dass Caspian sie ihm aus der Hand schlagen würde. Stattdessen steckte er die Waffe in die Scheide und nahm das Angebot an.

»Ist das ein echtes Schwert?«, fragte der Junge.

»Ihr habt meiner Kollegin einen ganz schönen Schrecken eingejagt. Heute ist ihr erster Arbeitstag und sie dachte, die Toten wären auferstanden. Ich wollte sie angemessen zurück ins Jenseits schicken.« Ich hörte den Hohn in Caspians Stimme und zuckte zusammen, als die Jugendlichen loslachten. Caspian nahm einen großen Schluck von dem Bier. Dann sagte er: »Nun haut schon ab, wenn ich keine Polizei rufen soll. Es gibt angemessenere Orte, um sich zu betrinken. Macons Arms zum Beispiel. Weiter unten an der Harrow Road.«

Als die Jugendlichen wenig später ihrer Wege gegangen waren, fand ich mich neben einem Caspian wieder, der die Kiefer aufeinanderpresste und mit langen Schritten über den Friedhof eilte. Der Geruch von Bier umgab ihn.

»Sind das die Schrecken, für die du in Island berühmt geworden bist? Betrunkene Kinder?« Er blieb stehen und musterte mich vom Scheitel bis zur Sohle, bis ich am liebsten davongelaufen wäre. Ich sehnte mich nach Caspians Schweigen zurück. Denn seine Worte bohrten sich tiefer in mein Fleisch als seine herablassenden Blicke. Mit beiden Armen umfasste ich meinen Oberkörper, als könnte mich das vor seiner Verachtung schützen. Doch es schürte sie noch mehr. Er schnaubte, ehe er sich abwandte und in der nächtlichen Stille, die einzig das entfernte Hupen eines Autos durchbrach, auf das Gebäude zuhielt. Das Echo unserer Schritte hallte mir in der Eingangshalle entgegen. Caspians waren energisch und schnell, meine träge und zögerlich. Sie verklangen vollkommen, als ich stehen blieb, denn ein anderes Geräusch hatte meine Aufmerksamkeit geweckt. Auch Caspian hatte es gehört, denn er erstarrte, bevor er einen Fuß auf die Treppe setzen konnte.

»Diese kleinen Rotzbengel«, knurrte er. Mit zusammengezogenen Brauen wandte er sich um und steuerte auf die Tür zum Kellergeschoss zu, aus der die Geräusche drangen. Ein Kratzen, ein Scharren. Glaubte er etwa, die Teenager wären in das Verwaltungsgebäude eingedrungen?

»Caspian«, brachte ich hervor, aber das Echo seiner Schritte verschlang mein heiseres Krächzen. Er eilte an mir vorbei, als wäre ich unsichtbar – und so fühlte ich mich in seiner Gegenwart auch. Tausende Gedanken rasten durch meinen Kopf, Tausende Möglichkeiten, und keine von ihnen beinhaltete, dass die Teenager Ursache für ein Geräusch waren, das aus dem Keller drang. Was, wenn sich eines der Ungeheuer aus dem Totenreich durch das Weltentor gestohlen hatte, als Adriel das Atrium für mich geöffnet hatte? Heiße und eiskalte Schauer jagten bei dieser Vorstellung über meinen Rücken und ich war wie gelähmt, während Caspian in der Dunkelheit des Gewölbes verschwand. Einen Moment später schalteten sich surrend die Deckenlampen an und erhellten den leeren Gang. Das Letzte, was ich von Caspian sah, ehe sich eine Tür knarrend öffnete, war ein lang gezogener Schatten.