Die Alice-Romane - Lewis Carroll - E-Book

Die Alice-Romane E-Book

Lewis Carroll

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Beschreibung

"Alices Abenteuer im Wunderland" – das ist eine Reise zu alten Bekannten: zum weißen Kaninchen und zur Herz-Königin, zum Hutmacher, zum Märzhasen und zur Haselmaus. "Wir alle hier sind verrückt", bekommt Alice von der unvergesslichen Cheshire-Katze erklärt. Und nicht weniger verrückt sind die Gestalten, denen Alice "Hinter den Spiegeln" begegnet: Dem Muster einer Schachpartie folgend trifft sie auf lebende Blumen, Spiegelweltinsekten, Dideldum und Dideldei, Humpti Dumpti, Zimmermann und Walross – und wird am Ende selbst zur Königin gekrönt. Lewis Carrolls "Alice" kann auf viele Arten gelesen werden, als Sprachsatire, als politische Allegorie, als Parodie der viktorianischen Kinderliteratur. Vor allem ist sie aber eins: eine unvergessliche Geschichte voller skurriler Figuren und wunderbarer Abenteuer. – Mit einer kompakten Biographie des Autors.

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Seitenzahl: 363

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Lewis Carroll

Die Alice-Romane

Alices Abenteuer im WunderlandDurch den Spiegel und was Alice dort fand

Aus dem Englischen übersetzt und herausgegeben von Günther Flemming

Mit den Illustrationen von John Tenniel

Reclam

2020 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: Anja Grimm Gestaltung

Coverabbildung: © Gutentag-Hamburg

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2020

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-961300-0

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-02614-0

www.reclam.de

Inhalt

Alices Abenteuer im Wunderland

Durch den Spiegel und was Alice dort fand

Anmerkungen

Zum Autor

Nachwort

Zeittafel

Alices Abenteuer im Wunderland

Getaucht ins Gold des Nachmittags,

 Gleitet das Boot dahin;

Denn kleine Arme rudern uns,

 Nicht sehr geschickt darin,

Und kleine Hände lenken es

 Mal hin, mal her, mal hin.

 

Grausame Drei, ah, während uns

 Traumgleiche Lüfte wiegen,

»Erzähl!«, verlangt vom Hauch ihr, der

 Kaum Federn bringt zum Fliegen!

Doch was tut eine Stimme, um

 Drei Zungen zu besiegen?

 

Prima bedeutet mir sogleich

 Gebietrisch zu beginnen –

Secunda hofft in sanftrem Ton,

 Es sei auch Nonsens drinnen!

Und Tertia lässt nicht einen Nu

 Ohne zu stör’n, verrinnen.

 

Alsbald, plötzlich zur Ruh gebracht,

 Verfolgen sie gebannt

Durchs Land der Wunder Traumkinds Weg,

 Gar wild und ungekannt –

Und wie bei Zwei- und Vierbeinern

 Sie Unterhaltung fand.

 

Stets wenn den Quell der Phantasie

 Die Mär trocknete ein,

Und matt der Müde nur noch bat:

 »Damit lasst’s gut heut sein –

Den Rest demnächst —« »Es ist demnächst!«

 Glücklich die Stimmen schrei’n.

 

So wuchs die Mär vom Wunderland,

 So, langsam, Satz für Satz,

Ein jedes Stück ward ausgefeilt,

 Gestellt an seinen Platz –

Und heiter fahren wir nach Haus,

 Das Buch, ein Ende hat’s.

 

Alice! Nimm dieses Märchen und

 Flicht’s ein mit sanfter Hand

In Träume aus der Kinderzeit,

 Ein Zauber sei das Band,

Ein welker Kranz aus Blumen, einst

 Gepflückt in fernem Land.

Kapitel I

Abwärts im Kaninchenbau

Alice begann sich recht zu langweilen, wie sie neben ihrer Schwester am Ufer saß und nichts zu tun hatte: ein-, zweimal hatte sie in das Buch gespäht, das ihre Schwester las, aber es waren keine Bilder oder Unterhaltungen darin, »und wozu«, dachte Alice, »ist ein Buch ohne Bilder oder Unterhaltungen nütze?«

Deshalb überlegte sie gerade bei sich (so gut sie konnte, der heiße Tag machte sie nämlich ganz schläfrig und stumpf), ob das Vergnügen, einen Kranz aus Maßliebchen zu winden, wohl die Mühe, aufzustehen und die Maßliebchen zu pflücken, wert sein würde, als plötzlich ein Weißes Kaninchen mit rosa Augen dicht an ihr vorbei lief.

Es war nichts so besonders Bemerkenswertes daran; noch hielt Alice es für besonders ungewöhnlich, zu hören, wie das Kaninchen zu sich selber sprach: »O weh! O weh! Ich werde zu spät kommen!« (als sie später darüber nachdachte, kam es ihr so vor, dass sie sich darüber hätte verwundern sollen, doch zu der Zeit wirkte alles ganz natürlich); aber, als das Kaninchen wahrhaftig eine Uhr aus der Westentasche zog, und darauf sah, und dann weitereilte, sprang Alice auf, denn es durchzuckte sie der Gedanke, dass sie niemals zuvor ein Kaninchen mit einer Westentasche gesehen hatte, noch mit einer Uhr, die es daraus hätte hervor ziehen können, und brennend vor Neugier rannte sie ihm quer übers Feld nach, und kam gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie es mit einem Satz in einem großen Kaninchenbau unter der Hecke verschwand.

Im nächsten Augenblick sprang Alice hinterdrein, ohne auch nur einmal zu bedenken, wie in aller Welt sie wieder hinaus kommen sollte.

Der Gang in dem Kaninchenbau verlief ein Stück weit waagerecht wie ein Stollen und fiel dann plötzlich steil ab, so plötzlich, dass Alice keinen Augenblick daran denken konnte, anzuhalten, bevor sie einen anscheinend sehr tiefen Schacht hinab fiel.

Entweder war der Schacht sehr tief, oder sie fiel sehr langsam, denn sie hatte im Fallen reichlich Zeit, sich umzusehen und sich zu fragen, was wohl als Nächstes passieren würde. Zuerst sah sie hinab und versuchte auszumachen, worauf sie sich zubewegte, aber es war zu dunkel, um etwas zu erkennen: dann sah sie auf die Wände des Schachtes und stellte fest, dass sie mit Wandschränken und Bücherregalen bedeckt waren: hier und da sah sie Landkarten und Bilder an Haken hängen. Sie nahm im Fallen ein Gefäß von einem der Regale: es trug ein Schild mit der Aufschrift ›ORANGENMARMELADE‹, aber zu ihrer großen Enttäuschung war es leer: sie mochte das Gefäß nicht fallen lassen, aus Furcht, jemanden unterhalb zu töten, deshalb stellte sie es geschickt in einen der Schränke, an denen sie vorbei fiel.

»Wohlan«, dachte Alice bei sich, »oder vielmehr wohlab! Nach solch einem Fall wie diesem wird es mir nichts mehr ausmachen, eine Treppe hinunter zu purzeln! Für wie tapfer mich zu Hause alle halten werden! Ei, ich würde es nicht mal erwähnen, wenn ich vom Dach unseres Hauses hinab gefallen wäre!« (Was sehr wahrscheinlich war.)

Sie fiel, fiel, fiel. Ob der Fall nie ein Ende nehmen würde? »Wie viele Meilen ich wohl schon gefallen bin?«, sprach sie laut. »Ich bin bestimmt schon in der Nähe vom Mittelpunkt der Erde. Mal seh’n: das wäre dann viertausend Meilen tief, meine ich —« (Alice hatte nämlich etliche Dinge dieser Art im Unterricht gelernt, und obwohl dies keine besonders gute Gelegenheit war, ihre Kenntnisse heraus zu streichen, weil niemand da war, der ihr zuhören konnte, war es doch eine gute Übung, sie für sich zu wiederholen) »– ja, das müsste ungefähr stimmen – aber an welchem Breitengrad oder Längengrad ich dann wohl angekommen sein mag?« (Alice hatte keine Vorstellung, was ein Breitengrad war, noch ein Längengrad, nahm aber zu gern diese schönen großen Wörter in den Mund.)

Sogleich begann sie von neuem. »Ob ich wohl gänzlich durch die Erde hindurch fallen werde? Das stelle ich mir ziemlich lustig vor, bei den Leuten heraus zu kommen, die mit dem Kopf nach unten gehen! Den Antipathen, glaube ich —« (diesmal war sie ziemlich froh, dass ihr niemand zuhörte, denn es schien ganz und gar nicht das richtige Wort zu sein) »— aber ich werde sie wohl erst nach dem Namen des Landes fragen müssen. Verzeihung, Madam, ist das hier Neuseeland? Oder Australien?« (und sie versuchte, beim Sprechen einen Knicks zu machen – stellt euch das vor: einen Knicks machen, während ihr durch die Luft fallt! Glaubt ihr, dass ihr das fertig brächtet?) »Und für was für ein unwissendes kleines Mädchen sie mich halten muss, wenn ich das tu! Nein, es geht nicht an, danach zu fragen: vielleicht seh’ ich es ja irgendwo angeschrieben.«

Sie fiel, fiel, fiel. Es gab nichts weiter zu tun, deshalb fing Alice bald wieder an zu sprechen. »Dinah wird mich heute abend schön vermissen!« (Dinah war die Katze.) »Ich hoffe, sie denken an ihre Schale Milch zur Teezeit. Ach, du liebe Dinah! Wenn du doch bei mir hier unten wärst! Mäuse fliegen hier zwar keine herum, fürchte ich, aber du könntest vielleicht eine Fledermaus fangen, und die ist einer Maus sehr ähnlich, weißt du. Aber essen Katzen überhaupt Fledermäuse?« Und da wurde Alice ziemlich schläfrig und fuhr fort, in traumgleicher Weise vor sich hin zu sprechen: »Essen Katzen Fledermäuse? Essen Katzen? Fledermäuse? Essen Katzen? Fledermäuse essen Katzen?« Manchmal veränderte sie die Betonung: sie konnte die Frage weder so noch anders herum beantworten, da kam es auch nicht besonders darauf an, wie herum sie sie stellte. Sie fühlte, dass sie eindösen wollte, und hatte gerade angefangen zu träumen, dass sie mit Dinah Hand in Hand gehe und sehr ernst zu ihr sage: »Nun, Dinah, sag mir die Wahrheit: hast du jemals eine Fledermaus gegessen?« – als sie plötzlich, plumps! plumps! auf einen Haufen aus Reisig und trockenem Laub aufschlug und der Fall zu Ende war.

Alice war kein bisschen verletzt, und sie sprang augenblicklich auf: sie sah hoch, aber über ihr war alles dunkel: vor ihr war ein weiterer langer Gang, und das Weiße Kaninchen war eben noch zu sehen, wie es ihn entlang eilte. Da war kein Augenblick zu verlieren: los stürmte Alice wie der Wind, und kam gerade noch rechtzeitig, um es um eine Ecke verschwinden zu sehen und dabei sagen zu hören: »Oh, meine armen Ohren und mein Schnurrbart, wie spät es wird!« Sie war dicht hinter ihm gewesen, als sie um die Ecke bog, aber das Kaninchen war nicht mehr zu sehen: sie befand sich in einer langen, niedrigen Halle, die von einer Reihe von Lampen erleuchtet wurde, die von der Decke herab hingen.

In der Halle waren rings herum Türen, aber sie waren alle verschlossen; und als Alice, auf der einen Seite hin, auf der andern zurück, überall gewesen war und jede Klinke gedrückt hatte, ging sie betrübt in der Mitte entlang und überlegte, wie sie da jemals wieder hinaus gelangen sollte.

Plötzlich stieß sie auf einen kleinen dreibeinigen Tisch, ganz aus dickem Glas, auf dem lag nichts als ein winziger goldener Schlüssel, und Alices erster Gedanke war, dass er zu einer der Hallentüren gehören möchte; aber, ach! entweder waren die Schlösser zu groß, oder der Schlüssel war zu klein, jedenfalls ließ sich nicht eine damit öffnen. Auf dem zweiten Rundgang jedoch stieß sie auf einen niedrigen Vorhang, den sie vorher nicht bemerkt hatte; hinter dem war eine kleine Tür, ungefähr fünfzehn Zoll hoch: sie probierte den kleinen goldenen Schlüssel im Schloss, und zu ihrem großen Entzücken passte er!

Alice öffnete die Tür und sah, dass sie in einen kleinen Gang führte, nicht viel größer als ein Rattenloch: sie kniete sich hin und blickte durch den Gang in den lieblichsten Garten, den man je sah. Wie sehnte sie sich danach, aus jener dunklen Halle hinaus zu kommen und zwischen jenen prächtigen Blumenbeeten und jenen kühlen Springbrunnen umher zu streifen, aber sie konnte nicht einmal ihren Kopf durch den Torweg zwängen; »und selbst wenn mein Kopf hindurch gehen würde«, dachte die arme Alice, »wäre er sehr wenig nütze ohne meine Schultern. Ach, könnte ich mich doch zusammenschieben wie ein Fernrohr! Ich denke, ich könnte es, wenn ich nur wüsste, wie man es anfängt.« Denn, seht ihr, in der letzten Zeit waren so viele ungewöhnliche Dinge geschehen, dass Alice begonnen hatte zu denken, es wären tatsächlich nur sehr wenige Dinge wirklich unmöglich.

Es schien unnütz zu sein, an der kleinen Tür zu warten, deshalb ging sie zu dem Tisch zurück, in der schwachen Hoffnung, darauf noch einen anderen Schlüssel zu finden oder wenigstens ein Buch über die Kunst, wie sich Menschen gleich Fernrohren zusammenschieben können: diesmal fand sie ein Fläschchen darauf (»das vorher gewiss nicht da stand«, sprach Alice), und um den Hals der Flasche war ein Papierstreifen gebunden, worauf in schönen großen Druckbuchstaben die Wörter ›TRINK MICH‹ standen.

›Trink mich‹, das hörte sich gewiss recht gut an, aber die kluge kleine Alice hatte es damit nicht so eilig. »Nein, ich schau erst mal nach«, sprach sie, »ob ›Vorsicht Gift!‹ darauf steht oder nicht«; denn sie hatte etliche nette kleine Geschichten über Kinder gelesen, die sich verbrannten und von wilden Tieren gefressen wurden und andere unangenehme Dinge, nur weil sie sich nicht auf die einfachen Regeln besinnen wollten, die ihre Freunde ihnen beigebracht hatten: wie etwa, dass ein rotglühender Feuerhaken einen verbrennt, wenn man ihn zu lange hält; und dass es, wenn man sich mit einem Messer sehr tief in den Finger schneidet, meistens blutet; und sie hatte niemals vergessen, dass es sich, wenn man zu viel aus einer Flasche trinkt, auf der ›Vorsicht Gift!‹ steht, fast immer, früher oder später, als unbekömmlich erweist.

Auf diesem Fläschchen stand jedoch nicht ›Vorsicht Gift!‹, deshalb wagte Alice, es zu kosten, und, da sie den Geschmack sehr angeneham fand (das Aroma war tatsächlich wie eine Mischung aus Kirschtorte, Eierrahm, Ananas, Truthahnbraten, Sahnekaramell und heißem Toast mit Butter), trank sie es sehr schnell aus.

 

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* * * *

* * * * *

 

»Was für ein merkwürdiges Gefühl!«, sprach Alice. »Ich muss mich zusammenschieben wie ein Fernrohr!«

Und so war es tatsächlich: sie war jetzt nur noch zehn Zoll groß, und ihre Miene hellte sich auf bei dem Gedanken, dass sie jetzt die richtige Größe hatte, um durch die kleine Tür in den lieblichen Garten zu gehen. Zuerst wartete sie jedoch noch ein paar Minuten, um festzustellen, ob sie weiterschrumpfen würde: sie war ein wenig in Sorge deswegen; »denn es könnte nämlich damit enden«, sprach Alice zu sich selber, »dass ich ganz ausgeh’, wie eine Kerze. Wie ich dann wohl aussehn mag?« Und sie versuchte sich vorzustellen, wie die Flamme einer Kerze aussieht, nachdem die Kerze ausgeblasen worden ist, denn sie konnte sich nicht erinnern, so etwas jemals gesehen zu haben.

Nach einer Weile, als sie merkte, dass nichts weiter geschah, entschloss sie sich, sogleich in den Garten zu gehen; aber, ach, die arme Alice!, als sie an der Tür war, merkte sie, dass sie den kleinen goldenen Schlüssel vergessen hatte, und als sie zu dem Tisch zurück ging, um ihn zu holen, stellte sie fest, dass sie ihn unmöglich erreichen konnte: sie konnte ihn ganz deutlich durch das Glas sehen, und sie gab sich alle Mühe, eines der Tischbeine zu erklimmen, aber es war zu rutschig; und als sie von den Versuchen ermattet war, setzte sich das arme kleine Ding hin und weinte.

»Komm, es ist doch sinnlos, so zu weinen!«, sprach Alice ziemlich streng zu sich. »Ich rate dir, auf der Stelle damit aufzuhören!« Sie gab sich im allgemeinen sehr gute Ratschläge (obwohl sie sehr selten einen befolgte), und manchmal schalt sie sich so heftig, dass ihr Tränen in die Augen traten; und einmal, erinnerte sie sich, versuchte sie sogar, sich selber zu ohrfeigen, weil sie in einer Krocketpartie gemogelt hatte, die sie gegen sich selber spielte, denn dies merkwürdige Kind stellte sich zu gern vor, zwei Personen zu sein. »Aber im Augenblick hat es gerade gar keinen Zweck«, dachte die arme Alice, »mir vorzustellen, zwei Personen zu sein! Von mir ist ja kaum genug für eine respektable Person übrig geblieben!«

Bald fiel ihr Blick auf eine kleine Glasschachtel, die unter dem Tisch lag: sie öffnete sie und fand darin einen ganz kleinen Kuchen, auf dem Korinthen in schöner Schrift die Wörter ›ISS MICH‹ bildeten. »Gut, ich ess’ ihn«, sprach Alice, »und wenn er mich größer macht, kann ich den Schlüssel erreichen; und wenn er mich kleiner macht, kann ich unter der Tür durch kriechen: also werde ich, auf dem einen oder andern Weg, in den Garten gelangen, und mir ist es einerlei, was geschieht.«

Sie aß ein kleines Bisschen und stellte sich die bange Frage: »Auf welchem Weg? Auf welchem Weg?«, wobei sie die Hand auf dem Kopf hielt, um zu erfühlen, was mit ihr geschah; und sie war ganz erstaunt festzustellen, dass sie gleich groß blieb; freilich, im Allgemeinen geschieht genau dies, wenn man Kuchen isst, aber Alice war auf dem besten Wege, nur noch abwegige Dinge zu erwarten, und den gewöhnlichen Weg aller Dinge als dumm und langweilig zu empfinden.

Also machte sie sich ans Werk und aß den Kuchen sehr bald ganz auf.

 

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Kapitel II

Der Tränenteich

»Merk- und merkerwürdig!«, rief Alice aus (sie war so sehr überrascht, dass sie für den Augenblick ganz vergaß, wie es richtig heißt). »Jetzt zieh’ ich mich auseinander wie das größte Fernrohr, das es je gab! Lebt wohl, meine Füße!« (denn als sie auf ihre Füße hinunter blickte, schienen die fast ganz außer Sicht zu sein, so weit entfernten sie sich). »Oh, ihr armen kleinen Füße, wer wird euch nun wohl eure Schuh’ und Strümpfe anziehn? Ich bin sicher, ich werde dazu nicht fähig sein! Ich werde viel zu weit weg sein, um mich um euch zu kümmern: ihr müsst damit zurecht kommen, so gut ihr könnt – aber ich muss nett zu ihnen sein«, dachte Alice, »sonst wollen sie vielleicht nicht gehen, wohin ich will! Na, mal sehn. Ich werde ihnen jedes Jahr zu Weihnachten ein Paar neue Stiefel schenken.«

Und sie fuhr fort, für sich zu planen, wie sie es anstellen würde. »Sie müssen durch einen Kurier überbracht werden«, dachte sie, »und wie lustig das sein muss, seinen eigenen Füßen Geschenke zu schicken! Und wie sonderbar sich die Anschriften ausnehmen werden!

  An Alices Rechten Fuß, Wohlgeb.,

    Kaminvorleger,

      nahe dem Schutzgitter,

        (mit lieben Grüßen von Alice).

O je, was schwatz’ ich für Nonsens!«

Gerade in diesem Augenblick stieß ihr Kopf an die Decke der Halle: sie war jetzt tatsächlich wohl über neun Fuß groß, und sie ergriff sofort den kleinen goldenen Schlüssel und eilte fort zu der Gartentür.

Arme Alice! Alles, was sie tun konnte, war, sich auf eine Seite legen, um mit einem Auge hindurch zu schauen in den Garten; aber hindurch zu gelangen war hoffnungsloser denn je: sie setzte sich hin und begann wieder zu weinen.

»Du solltest dich schämen«, sprach Alice, »ein großes Mädchen wie du« (das konnte sie wohl sagen) »und fortwährend so zu weinen! Hör sofort auf, das sag ich dir!« Aber sie weinte immer weiter, vergoss gallonenweise Tränen, bis sie ganz von einem großen Teich umgeben war, ungefähr vier Zoll tief, der sich über die halbe Länge des Hallenbodens erstreckte.

Nach einer Weile hörte sie aus der Ferne ein Getappe kleiner Füße, und sie trocknete hastig die Augen, um zu sehen, was da kam. Es war das Weiße Kaninchen, das zurück kehrte, prächtig heraus geputzt, mit einem Paar weißer Glacéhandschuhe in der einen Hand und einem großen Fächer in der andern: es hoppelte in großer Eile daher, und es murmelte näher kommend vor sich hin: »Oh! Die Herzogin, die Herzogin! Oh! Wird sie nicht wild werden, wenn ich sie hab’ warten lassen!« Alice war so verzweifelt, dass sie bereit war, jeden um Hilfe zu bitten: darum sprach sie das Kaninchen, als es in ihre Nähe kam, mit leiser, zaghafter Stimme an: »Bitte – sehr – Sir —« Das Kaninchen schrak gewaltig zusammen, warf die weißen Glacéhandschuhe und den Fächer von sich, und stürzte, so schnell es konnte, in die Dunkelheit davon.

Alice hob Fächer und Handschuhe auf, und, da es sehr heiß war in der Halle, fächelte sie sich Kühlung zu, während sie fortfuhr zu sprechen. »Du liebe Zeit! Heut’ ist aber auch alles verkehrt! Und gestern ging noch alles seinen gewohnten Gang. Ob ich wohl über Nacht vertauscht worden bin? Lass mich nachdenken: war ich noch die selbe, als ich heute morgen aufstand? Ich meine fast mich zu erinnern, dass ich mich ein wenig anders gefühlt habe. Aber wenn ich nicht die selbe bin, erhebt sich als nächste Frage: ›Wer in aller Welt bin ich?‹ Ja, das ist doch das große Rätsel!« Und sie ging in Gedanken alle Kinder ihres Alters durch, die sie kannte, um zu prüfen, ob sie gegen irgend eines von ihnen vertauscht worden sein könnte.

»Ich bin sicher, ich bin nicht Ada«, sprach sie, »denn ihr Haar geht in langen Ringellocken aus, und meines ringelt sich überhaupt nicht; und ich bin sicher, ich kann nicht Mabel sein, denn ich weiß alles Mögliche, und sie, o je, sie weiß so sehr wenig! Außerdem, sie ist sie, und ich bin ich, und – oh, du liebe Zeit, wie verwirrend das alles ist! Ich will prüfen, ob ich noch alles weiß, was ich vorher wusste. Mal sehn: vier mal fünf ist zwölf, und vier mal sechs ist dreizehn, und vier mal sieben ist – oh, liebe Zeit! So komme ich ja nie bis zwanzig! Jedoch, das Einmaleins beweist nichts: versuch ich’s mal mit Geographie. London ist die Hauptstadt von Paris, und Paris ist die Hauptstadt von Rom, und Rom – nein, ich bin sicher, das ist ganz falsch! Ich muss gegen Mabel vertauscht worden sein! Ich versuche, ein Gedicht aufzusagen: ›Wie nutzt das kleine –‹«, und sie legte die Hände im Schoß übereinander, wie im Unterricht, und begann, es aufzusagen, aber ihre Stimme klang hohl und fremd, und die Worte kamen nicht so heraus wie früher: –

»Wie nutzt das kleine Krokodil

 Geschickt den Schimmerschwanz:

Es gibt das Wasser aus dem Nil

 Den goldnen Schuppen Glanz!

 

Wie froh scheint es gelaunt zu sein:

 Die Krallen spreizt es faul,

Und kleine Fische schwimmen ein

 Ins große Lächelmaul!«

»Ich bin sicher, das sind nicht die richtigen Worte!«, sprach die arme Alice, und ihre Augen füllten sich wieder mit Tränen, als sie fortfuhr: »Nach alledem muss ich Mabel sein, und ich werde in das armselige Häuschen ziehen und dort leben müssen, und so gut wie keine Spielsachen haben, und, oh, noch so furchtbar viel lernen müssen! Nein, ich bin jetzt fest entschlossen: wenn ich Mabel bin, bleib’ ich hier unten! Sollen sie ruhig ihre Köpfe herab stecken und sagen: ›Komm wieder rauf, Liebling!‹ Ich werde nur hochsehn und fragen: ›Wer bin ich denn? Sagt mir das zuerst, und dann, wenn ich diejenige sein mag, komm’ ich rauf: wenn nicht, bleib’ ich hier unten, bis ich eine andre bin‹ – aber, oh liebe Zeit!«, schrie Alice auf und brach plötzlich in Tränen aus, »ich wünschte, sie würden ihre Köpfe hinab stecken! Ich bin es über die Maßen leid, hier ganz allein zu sein!«

Als sie diese Worte sprach, schaute sie auf ihre Hände hinunter und sah überrascht, dass sie beim Sprechen einen der weißen Glacéhandschuhe des Kaninchens angezogen hatte. »Wie kann ich das bloß getan haben?«, dachte sie. »Ich muss wieder kleiner werden.« Sie stand auf und ging zu dem Tisch, um sich daran zu messen, und stellte fest, dass sie nun, so genau sie eben schätzen konnte, etwa zwei Fuß groß war, und immer noch rasch kleiner wurde: sie merkte bald, dass die Ursache hiervon der Fächer war, den sie hielt, und sie warf ihn hastig fort, gerade noch rechtzeitig, um nicht vollends ins Nichts zu schrumpfen.

»Das war aber knapp!«, sprach Alice, ganz schön erschrocken über den plötzlichen Wechsel, aber heilfroh, dass es sie immerhin noch gab. »Und nun: auf in den Garten!« Und sie rannte in höchster Eile zurück zu der kleinen Tür; aber, ach! die kleine Tür war wieder verschlossen, und der kleine goldene Schlüssel lag auf dem Glastisch wie zuvor, »und alles ist schlimmer denn je«, dachte das arme Kind, »denn ich war noch nie so klein wie jetzt, niemals! Und ich muss schon sagen, das ist zu arg, jawohl: das ist es!«

Als sie diese Worte sprach, glitt ihr Fuß aus, und im nächsten Augenblick, platsch! schwamm sie bis zum Kinn in Salzwasser. Ihr erster Gedanke war, dass sie irgendwie ins Meer gefallen war, »und in dem Fall kann ich mit der Eisenbahn zurück fahren«, sagte sie sich. (Alice war einmal in ihrem Leben am Meer gewesen, und hatte daraus die allgemeine Schlussfolgerung gezogen, dass, wohin man auch reist an die englische Küste, man immer eine Anzahl fahrbarer Umkleidekabinen im Wasser findet, einige Kinder, die mit Holzspaten im Sand graben, dann eine Zeile mit Pensionshäusern, und dahinter eine Bahnstation.) Sie fand jedoch bald heraus, dass sie in dem Teich aus den Tränen schwamm, die sie geweint hatte, als sie neun Fuß groß gewesen war.

»Ach, hätt’ ich doch nur nicht so viel geweint!«, sprach Alice, wie sie so umher schwamm und versuchte hinaus zu gelangen. »Jetzt soll ich wohl, zur Strafe, in meinen eigenen Tränen ertrinken. Das wird wahrhaftig eine absonderliche Sache sein! Jedoch, heut’ ist ja alles absonderlich.«

Da hörte sie, in einiger Entfernung, etwas im Teich herum plätschern, und sie schwamm näher hinzu, um heraus zu finden, was es war: zuerst dachte sie, es müsse ein Walross sein oder ein Flusspferd, aber dann fiel ihr ein, wie klein sie war, und sie erkannte bald, dass es nur eine Maus war, die wie sie selber hinein geglitten war.

»Ob es wohl irgend etwas nützen würde«, dachte Alice, »diese Maus anzusprechen? Alles ist so sonderbar hier unten, dass ich denke, sie kann sehr wahrscheinlich sprechen: auf jeden Fall kann ein Versuch nicht schaden.« Also begann sie: »O Maus, weißt du, wie man aus diesem Teich hinaus kommt? Ich fange an, mich recht zu langweilen, hier so herum zu schwimmen, o Maus!« (Alice meinte, dies müsse die richtige Art sein, eine Maus anzureden: sie hatte so etwas nie zuvor getan, aber sie erinnerte sich, in der Lateinischen Grammatik ihres Bruders gelesen zu haben: »Eine Maus – einer Maus – einer Maus – eine Maus – o Maus!«) Die Maus sah sie nur fragend an, und es kam Alice so vor, dass sie ihr mit einem ihrer kleinen Augen zublinzelte, aber sie sagte nichts.

»Vielleicht versteht sie meine Sprache nicht«, dachte Alice. »Sie ist womöglich eine französische Maus, mit Wilhelm dem Eroberer herüber gekommen.« (Denn bei all ihren Geschichtskenntnissen hatte Alice keine klare Vorstellung davon, vor wie langer Zeit irgend etwas stattgefunden hatte.) Deshalb fing sie noch einmal an: »Où est ma chatte?«, wie der erste Satz in ihrem Französisch-Lehrbuch lautete. Die Maus schnellte mit einem Satz aus dem Wasser und schien am ganzen Körper zu zittern vor Furcht. »Oh, ich bitte um Verzeihung!«, rief Alice schnell, in der Befürchtung, die Gefühle des armen Tiers verletzt zu haben. »Ich vergaß ganz, dass du keine Katzen magst.«

»Keine Katzen mag!«, gellte die Maus mit schriller, leidenschaftlich bewegter Stimme. »Würdest du Katzen mögen, wenn du ich wärst?«

»Nun, vielleicht nicht«, sprach Alice besänftigend, »sei nicht böse darüber. Und doch, ich wünschte, ich könnte dir unsere Katze Dinah zeigen. Ich glaube, du würdest anfangen, Katzen zu mögen, wenn du sie nur sehen könntest. Sie ist so ein liebes, ruhiges Wesen«, fuhr Alice fort, halb für sich, während sie träg’ im Teich herum schwamm, »und sie sitzt so niedlich am Kamin und schnurrt, leckt ihre Pfoten und putzt ihr Gesicht – und sie ist so ein nettes, sanftes Tier zum Streicheln – und sie ist so ein kapitaler Mäusefänger — oh, ich bitte um Verzeihung!«, schrie Alice wieder, denn diesmal sträubte sich der Maus das Fell, und Alice war sicher, dass sie wirklich gekränkt sein musste. »Wir wollen nicht mehr von ihr sprechen, wenn’s dir lieber ist.«

»Wir ist gut!«, schrie die Maus, die bis in die Spitze ihres langen Schwanzes hinein bebte. »Als ob ich je von sowas sprechen würde. Unsere Familie hat Katzen immer gehasst: bösartige, gemeine, abscheuliche Tiere sind das! Lass mich das Wort nicht wieder hören!«

»Das werd’ ich bestimmt nicht!«, sprach Alice und beeilte sich, das Thema der Unterhaltung zu wechseln. »Hast du – hast du denn – gern – gern Hunde?« Die Maus antwortete nicht, darum fuhr Alice eifrig fort: »Es gibt da, ganz in unserer Nähe, so einen netten kleinen Hund, den ich dir gern zeigen würde! Einen kleinen Terrier mit glänzenden Augen, weißt du, mit, oh! so langem, lockigem Braunhaar. Und er apportiert, was man auch wirft, und er macht Männchen und bettelt um sein Essen, und alles Mögliche – ich kann nicht die Hälfte davon behalten – und er gehört einem Bauern, musst du wissen, und der sagt, er sei so nützlich, dass er wohl 100 Pfund wert sei! Er sagt, er tötet alle Ratten und – o weh!«, rief Alice bekümmert aus. »Ich fürchte, ich hab’ sie schon wieder verletzt!« Denn die Maus schwamm von ihr fort, so schnell sie nur konnte, und brachte das Wasser im Teich dabei ordentlich in Bewegung.

Da rief sie ihr mit sanfter Stimme nach: »Liebe Maus! Bitte komm wieder zurück, wir wollen auch nicht mehr über Katzen sprechen oder über Hunde, wenn du sie nicht leiden kannst!« Als die Maus dies hörte, drehte sie um und schwamm langsam zu ihr zurück: ihr Gesicht war ganz bleich (vor leidenschaftlicher Erregung, dachte Alice), und sie sprach, mit leiser, bebender Stimme: »Lass uns ans Ufer schwimmen, und dann werde ich dir meine Geschichte erzählen, und du wirst verstehen, wie es kommt, dass ich Katzen und Hunde hasse.«

Es war höchste Zeit aufzubrechen, denn der Teich bevölkerte sich immer mehr mit Vögeln und anderen Tieren, die hinein gefallen waren: eine Ente duckte vor einem Dodo, ein Lori und ein Ädlerchen waren da und etliche andere merkwürdige Geschöpfe. Alice übernahm die Führung, und die ganze Gesellschaft schwamm ans Ufer.

Kapitel III

Ein Brocken-Rennen und eine lange Geschichte

Es war in der Tat eine sonderbare Gesellschaft, die sich da am Ufer versammelte – die Vögel mit triefendem Gefieder, die Pelztiere mit angeklatschtem Fell, und alle waren sie tropfnass und verdrossen und fühlten sich unbehaglich.

Die erste Frage war natürlich, wie sie wieder trocken werden sollten: sie hielten Rat miteinander, und nach ein paar Minuten kam es Alice ganz natürlich vor, mit allen so vertraut zu sprechen, als ob sie sie ein Leben lang gekannt hätte. Sie hatte wahrhaftig einen ziemlich langen Wortwechsel mit dem Lori, der am Ende mürrisch wurde und nur noch sprach: »Ich bin älter als du und muss es besser wissen.« Und das wollte Alice nicht hinnehmen, ohne zu wissen, wie alt er war, und da der Lori sich entschieden weigerte, sein Alter anzugeben, war dazu nichts mehr zu sagen.

Schließlich rief die Maus, die offenbar in einigem Ansehen bei ihnen stand: »Setzt euch, ihr alle, und hört mir zu! Ich will euch gehörig trocken kriegen!« Sogleich setzten sich alle hin und bildeten einen großen Kreis mit der Maus in der Mitte. Alice behielt sie aufmerksam im Auge, denn sie spürte, dass sie sich eine böse Erkältung zuziehen würde, wenn sie nicht sehr bald wieder trocken werden sollte.

»Ähem!«, sprach die Maus mit wichtiger Miene. »Seid ihr alle bereit? Dies ist das Trockenste, das ich kenne. Ruhe in der Runde, wenn ich bitten darf! ›Wilhelm dem Eroberer, dessen Sache vom Papst begünstigt wurde, unterwarfen sich bald die Engländer, denen Anführer fehlten und die in der letzten Zeit an Thronraub und Eroberungen gewöhnt waren. Edwin und Morcar, die Grafen von Mercia und Northumbria —‹«

»Orr!«, sprach der Lori erschauernd.

»Ich bitte um Verzeihung!«, sprach die Maus, tadelnd, doch sehr höflich. »Sagtest du etwas?«

»Ich doch nicht!«, beeilte sich der Lori zu erwidern.

»Es kam mir so vor«, sprach die Maus. »— Ich fahre fort. ›Edwin und Morcar, die Grafen von Mercia und Northumbria, erklärten sich für ihn; und sogar Stigand, der patriotische Erzbischof von Canterbury, fand es ratsam —‹«

»Fand was?«, sprach die Ente.

»Fand es«, erwiderte die Maus ziemlich verärgert: »du weißt natürlich, was ›es‹ heißt.«

»Ich weiß sehr wohl, was ›es‹ heißt, wenn ich etwas finde«, sprach die Ente, »so ist es gewöhnlich ein Frosch oder ein Wurm. Die Frage ist, was fand der Erzbischof?«

Die Maus beachtete diese Frage nicht, sondern fuhr eilig fort: »›— fand es ratsam, mit dem Edeling Edgar zu Wilhelm zu gehen und ihm die Krone anzutragen. Wilhelm war anfangs ein milder Herrscher. Doch die Anmaßung seines normannischen Gefolges —‹ Wie fühlst du dich jetzt, liebes Kind?«, fuhr sie zu Alice gewandt fort.

»So nass wie vorher«, sagte Alice betrübt: »es scheint mich kein bisschen trocken zu machen.«

»Wenn das so ist«, sprach der Dodo würdevoll und erhob sich, »stelle ich den Antrag, die Sitzung zu unterbrechen bis zur Verabschiedung einer Vorlage zur Entschließung über wirkungsvollere Maßnahmen —«

»Sprich nicht so geschwollen!«, rief das Ädlerchen aus. »Ich versteh’ nicht die Hälfte von den langen Wörtern, und darüber hinaus glaub’ ich, du selber auch nicht!« Und das Ädlerchen verdrehte seinen Kopf, um ein Lächeln zu verbergen: einige der anderen Vögel kicherten vernehmlich.

»Was ich gerade im Begriff war zu sagen«, sprach der Dodo gekränkt, »ist, dass das beste Mittel, uns trocken zu machen, ein Brocken-Rennen wäre.«

»Was ist ein Brocken-Rennen?«, sprach Alice; nicht dass sie das besonders interessierte, aber der Dodo hatte eine Pause gemacht, als ob er dachte, dass irgend jemand sich äußern sollte, und niemand sonst schien geneigt zu sein, etwas zu sagen.

»Nun, ja«, sprach der Dodo, »die beste Art, es zu erklären, ist, es durchzuführen.« (Und da ihr vielleicht versuchen möchtet, es selber auszuprobieren, eines Wintertages, will ich euch erzählen, wie der Dodo es anfing.)

Zuerst markierte er eine Bahn für das Rennen, von etwa kreisförmiger Gestalt (»die genaue Form ist nicht so wichtig«, sprach er), und dann wurde die ganze Gesellschaft entlang der Bahn aufgestellt, hier und dort. Es gab kein ›Auf die Plätze, fertig, los!‹, sondern jeder fing an zu laufen, wann er wollte, und hörte auf, wann er wollte, so dass es nicht leicht war, zu sagen, wann das Rennen aus war. Als sie jedoch ungefähr eine halbe Stunde lang gelaufen und wieder ganz trocken geworden waren, rief der Dodo plötzlich: »Das Rennen ist aus!«, und alle drängten sich keuchend an ihn heran und fragten: »Wer hat denn gewonnen?«

Diese Frage konnte der Dodo nicht ohne längeres Nachdenken beantworten, und er stand lange Zeit, einen Finger gegen die Stirn gepresst (in der Haltung, in der ihr gewöhnlich Shakespeare seht, wenn er irgendwo abgebildet ist), während die übrigen schweigend abwarteten. Schließlich sprach der Dodo: »Jeder hat gewonnen, und alle müssen Preise bekommen.«

»Aber wer soll die Preise stiften?«, fragte ein ganzer Chor von Stimmen.

»Na, sie natürlich«, sprach der Dodo und zeigte mit einem Finger auf Alice; und die ganze Gesellschaft drängte sich alsbald an sie heran, und alle riefen durcheinander: »Preise! Preise!«

Alice wusste nicht, was sie tun sollte, und in ihrer Ratlosigkeit schob sie eine Hand in die Tasche und zog eine Schachtel kandierte Früchte daraus hervor (glücklicherweise war das Salzwasser nicht eingedrungen), und reichte sie als Preise herum. Es war genau ein Stück für jeden in der Runde.

»Sie selber muss aber auch einen Preis bekommen«, sprach die Maus.

»Selbstverständlich«, antwortete der Dodo mit großem Ernst. »Was hast du sonst noch in deiner Tasche?«, fuhr er zu Alice gewandt fort.

»Nur einen Fingerhut«, sprach Alice traurig.

»Händige ihn mir aus«, sprach der Dodo.

Dann drängten sich abermals alle um sie, während ihr der Dodo würdevoll den Fingerhut überreichte mit den Worten: »Wir bitten dich, diesen eleganten Fingerhut anzunehmen«; und als er diese kurze Ansprache beendet hatte, jubelten alle.

Alice fand das Ganze völlig widersinnig, aber sie sahen alle so ernst drein, dass sie nicht zu lachen wagte; und da ihr weiter nichts dazu einfiel, verbeugte sie sich einfach und nahm den Fingerhut an, so würdevoll sie konnte.

Als nächstes machten sie sich daran, die kandierten Früchte zu verzehren: das verursachte einiges an Lärm und Verwirrung, da die großen Vögel sich beklagten, sie würden ihre nicht schmecken, und die kleinen sich verschluckten und man ihnen auf den Rücken klopfen musste. Endlich war es jedoch vollbracht, und sie ließen sich wieder im Kreis nieder und baten die Maus, ihnen noch etwas zu erzählen.

»Du hast versprochen, mir deine Geschichte zu erzählen, nicht wahr«, sprach Alice, »und wie es kam, dass du – K und H so hasst«, fügte sie flüsternd hinzu, aus Angst, dass die Maus wieder gekränkt sein könnte.

»Das ist eine lange Geschichte«, seufzte die Maus, zu Alice gewandt, »so lang wie mein Schwanz, und so traurig!«

»Ganz schön lang ist dein Schwanz ja«, sprach Alice und sah ihn verwundert an; »aber warum nennst du ihn traurig?« Und sie rätselte weiter, während die Maus erzählte, so dass sie etwa folgende Vorstellung von der Geschichte bekam: —

»Du passt nicht auf!«, sprach die Maus streng zu Alice. »Woran denkst du?«

»Ich bitte um Verzeihung«, sprach Alice ganz kleinlaut, »du warst bis zur fünften Windung gekommen, meine ich?«

»Bis zur fünften —«, rief die Maus laut und wandte sich verärgert den andern zu: »Da hat wohl jemand einen Knoten in seiner Gehirn-Windung!«

»Einen Knoten!«, sprach Alice, immer bereit, sich nützlich zu machen, und sah sich aufmerksam um: »Oh bitte, lass mich helfen, ihn zu lösen!«

»Ich werde nichts dergleichen tun«, sprach die Maus, stand auf und ging davon. »Du beleidigst mich, wenn du solchen Unsinn redest!«

»Das wollte ich nicht!«, verteidigte sich Alice. »Du bist aber auch empfindlich, weißt du.«

Die Maus gab nur ein Knurren zur Antwort.

»Bitte komm zurück und erzähl deine Geschichte zu Ende!«, rief Alice ihr nach. Und alle andern stimmten in den Ruf ein: »Ja, bitte komm doch!« Aber die Maus schüttelte nur ungehalten den Kopf und trippelte etwas schneller.

»Wie schade, dass sie nicht bleiben wollte!«, seufzte der Lori, sobald sie gänzlich außer Sicht war. Und eine alte Krebsin nutzte die Gelegenheit, ihre Tochter zu ermahnen: »Ah, meine Kleine! Lass dir das eine Lehre sein: Verlier du nie die Fassung!« »Halt den Mund, Mama!«, sprach das Krebskind ziemlich schnippisch. »Du könntest selbst die Geduld einer Auster auf die Probe stell’n!«

»Ich wünschte, ich hätte unsre Dinah hier, ich wünscht’ es sehr!«, sprach Alice laut, ohne jemanden anzureden. »Die würde sie bald zurück bringen!«

»Und wer ist Dinah, wenn ich mir die Frage erlauben darf?«, sprach der Lori.

Alice gab bereitwillig Auskunft, denn sie sprach nur zu gern von ihrem Liebling. »Dinah ist unsere Katze. Und sie ist so ein kapitaler Mäusefänger, ihr könnt euch das nicht vorstellen! Und, oh, ich wünschte, ihr könntet erleben, wie sie Vögel jagt! Ha, so ein Vögelchen erblicken und es aufessen ist bei ihr ein und das selbe!«

Diese Rede erregte beträchtliches Aufsehen in der Gesellschaft. Einige der Vögel schwirrten sofort ab: eine alte Elster begann, sehr sorgfältig ihr Federkleid zu ordnen, und bemerkte: »Ich muss mich jetzt wirklich auf den Weg machen: die Nachtluft bekommt meiner Stimme nicht!«, und eine Kanarienvogelmutter tremolierte ihren Jungen zu: »Kommt von hier fort, meine Lieblinge! Es ist höchste Zeit, ihr solltet längst im Bett liegen!« Unter verschiedenen Vorwänden machten sich alle davon, und Alice war bald ganz allein.

»Ach, wenn ich doch nur Dinah nicht erwähnt hätte!«, sprach sie betrübt zu sich. »Niemand hier unten scheint sie zu mögen, und dabei ist sie doch gewiss die beste Katze der Welt! Oh, meine liebe Dinah! Ob ich dich wohl jemals wiederseh’!« Und mit diesen Worten begann die arme Alice wieder zu weinen, denn sie fühlte sich ganz einsam und mutlos. Nach einer kleinen Weile hörte sie jedoch tappende Schritte in der Ferne, sah erwartungsvoll auf und hoffte fast, die Maus hätte es sich anders überlegt und käme zurück, um ihre Geschichte zu Ende zu erzählen.

Kapitel IV

Bill und Unbill im Hause des Kaninchens

Es war das Weiße Kaninchen, das langsam wieder zurück gehoppelt kam und dabei aufmerksam umher schaute, als ob es etwas verloren hätte; und sie hörte es vor sich hin murmeln: »Die Herzogin! Die Herzogin! Oh, meine lieben Pfoten! Oh, mein Pelz und Schnurrbart! Sie wird mich hinrichten lassen, so sicher wie ein Frettchen ein Frettchen ist! Wo kann ich sie nur hingeworfen haben?« Alice erriet augenblicklich, dass es den Fächer und das Paar weißer Glacéhandschuhe suchte, und hilfsbereit, wie sie war, begann sie ihrerseits danach zu suchen, aber sie waren nirgends zu sehen – alles schien verändert zu sein seit ihrem Bad im Teich; und die große Halle, mitsamt dem Glastisch und der kleinen Tür, war gänzlich verschwunden.

Das Kaninchen bemerkte Alice sehr bald, wie sie herum suchte, und rief sie in ärgerlichem Ton an: »He, Mary Ann, was tust du denn hier draußen? Lauf augenblicklich nach Haus und bring mir ein Paar Handschuh’ und einen Fächer! Und zwar rasch!« Und Alice war so erschrocken, dass sie gleich in die Richtung lief, in die es zeigte, ohne einen Versuch, ihm zu erklären, welchem Irrtum es dabei unterlag.

»Er hielt mich für sein Dienstmädchen«, sprach sie im Laufen zu sich. »Er wird schön überrascht sein, wenn er heraus findet, wer ich bin! Aber ich bringe ihm besser Fächer und Handschuh’ – das heißt, wenn ich welche finde.« Mit diesen Worten kam sie an ein putziges Häuschen, an der Tür ein blankes Messingschild, auf dem der Name ›W. KANINCHEN‹ eingraviert war. Sie ging hinein, ohne anzuklopfen, und eilte die Treppe hinauf, in großer Furcht, der richtigen Mary Ann zu begegnen und hinaus gewiesen zu werden, eh’ sie Fächer und Handschuh gefunden hätte.

»Wie sonderbar das ist«, sprach sie zu sich, »Botengänge für ein Kaninchen zu machen! Als nächstes wird mir dann wohl Dinah Besorgungen auftragen!« Und sie stellte sich vor, wie derlei vor sich gehen würde: »›Miss Alice! Kommen Sie sofort her, und machen Sie sich bereit für Ihren Spaziergang!‹ ›Ich komm’ in einer Minute, Fräulein! Aber ich muss noch dieses Mauseloch bewachen, bis Dinah zurück ist, und darauf achten, dass die Maus nicht entwischt!‹ Nur glaub’ ich nicht«, fuhr Alice fort, »dass sie Dinah im Haus behalten würden, wenn sie anfinge, die Menschen derart herum zu kommandieren!«

Unterdessen war sie in ein schmuckes kleines Zimmer getreten, mit einem Tisch in der Fensternische, und darauf lagen (wie erhofft) ein Fächer und zwei oder drei Paar kleiner weißer Glacéhandschuhe: sie nahm den Fächer und ein Paar Handschuh’ auf, und wollte gerade das Zimmer verlassen, als ihr Blick auf ein Fläschchen fiel, das in der Nähe des Spiegels stand. Zwar hing diesmal kein Schild mit den Worten ›TRINK MICH‹ daran, aber trotzdem entkorkte sie es und setzte es an die Lippen. »Ich weiß, irgend etwas Interessantes passiert gewiss«, sprach sie zu sich, »wann immer ich irgend etwas ess’ oder trink’: also werd’ ich einfach abwarten, wie diese Flasche wirkt. Ich hoffe, sie wird mich wieder wachsen lassen, denn ich bin es wirklich äußerst leid, so ein winzig kleines Ding zu sein!«

So geschah es in der Tat, und viel schneller als erwartet: eh’ sie auch nur die halbe Flasche ausgetrunken hatte, spürte sie, wie ihr Kopf gegen die Zimmerdecke gedrückt wurde, und musste sich bücken, um sich nicht das Genick zu brechen. Hastig setzte sie die Flasche ab, und sprach zu sich: »Das reicht völlig – Hoffentlich wachs’ ich nicht noch weiter – Wie es aussieht, kann ich nicht mehr zur Tür hinaus – Hätt’ ich doch nur nicht gar so viel getrunken!«

Aber ach! Für diesen Wunsch war es zu spät! Sie wuchs weiter und weiter, und sehr bald musste sie sich auf den Fußboden hinknien: im nächsten Augenblick war nicht einmal dafür mehr genügend Platz, und sie probierte es mit Hinlegen, einen Ellenbogen gegen die Tür gestemmt und den andern Arm um den Hals geschlungen. Immer noch wuchs sie weiter, und als letzten Ausweg schob sie einen Arm zum Fenster hinaus und einen Fuß den Kamin hinauf und sprach zu sich: »Nun kann ich nichts mehr tun, was auch geschieht. Was mag nur aus mir werden?«

Zum Glück für Alice hatte das Zauberfläschchen jetzt seine volle Wirkung erreicht, und sie wuchs nicht mehr: dennoch war es sehr unbequem, und, da sie keinerlei Aussicht zu haben schien, jemals wieder aus dem Zimmer hinaus zu kommen, kein Wunder, fühlte sie sich unglücklich.

»Zu Hause war es viel angenehmer!«, dachte die arme Alice: »als man nicht andauernd größer und kleiner wurde, und von Mäusen und Kaninchen herum kommandiert wurde. Ich wünschte fast, ich wäre nicht in das Kaninchenloch hinunter gefallen – und doch – und doch – es ist ziemlich interessant, nicht wahr, auf diese Art zu leben! Wissen möcht’ ich nur, was eigentlich mit mir passiert ist! Beim Lesen von Märchen, früher, dachte ich, dass solche Sachen nicht wirklich passieren, und jetzt steck’ ich mitten drin in einem! Ein Buch müsste über mich geschrieben werden, das müsste es! Und wenn ich groß bin, werd’ ich eins schreiben – aber ich bin ja schon groß«, setzte sie besorgt hinzu: »wenigstens ist hier kein Platz, noch größer zu werden.«

»Aber«, dachte Alice, »werd’ ich dann auch niemals älter werden, als ich jetzt bin? Das wär’ natürlich angenehm, auf der einen Seite – niemals eine alte Frau zu sein –, aber – immerfort Schulaufgaben machen zu müssen. Oh, das würde mir nicht gefallen!«

»Oh, du liebe Einfalt!«, gab sie sich selber die Antwort. »Wie kannst du denn hier drinnen Schulaufgaben machen? Es ist ja kaum Platz für dich hier, und überhaupt keiner für irgend welche Schulhefte!«

Und so fuhr sie fort, erst die eine, dann die andere Seite einzunehmen und dann ein richtiges Gespräch daraus zu machen; aber ein paar Minuten später vernahm sie draußen eine Stimme und hörte damit auf, um zu lauschen.