4,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 4,99 €
Vito ist achtzehn und hat seine Träume. Er will nicht nur das Herz seiner Jugendfreundin erobern, sondern auch in die Space Agency aufgenommen werden.
Als er auf ein Alien trifft, erhöhen sich seine Chancen für die Aufnahme in die Agency. Denn er kann als Erster mit der fremden Spezies auf dem Planeten Rigas kommunizieren, mit der die Menschheit sich im 25. Jahrhundert die neue Heimat teilen muss. Die Kommandantin will ein Team zusammenstellen, das die Bedrohung durch die Aliens abwendet.
Doch die Kommandantin lehnt ihn ab. Der Grund: Vito kämpft immer noch mit den Folgen eines Unfalls in seiner Kindheit. Und mit einem Implantat im Fuß gehört er definitiv nicht zu den gewünschten Kandidaten… Doch was, wenn genau in diesem vergangenen Ereignis der Schlüssel zur Rettung aller liegt?
Ein Science-Fiction-Abenteuer für Jugendliche und Erwachsene, die gern in fantastische Welten abtauchen und mit einer sympathischen Hauptfigur mitfiebern wollen.
DIE ALIENS AUF RIGAS ist der erste Band einer Reihe, in der jedes Buch für sich lesbar ist. Band 2 erscheint voraussichtlich Ende 2025.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2025
Nova K. MayerDie Aliens auf RigasBand 1
Nova K. Mayer
Die Aliens auf Rigas
IMPRESSUM
Vito – Die Aliens auf Rigas (Band 1) 1. Auflage, 2024 Copyright © 2024 by Heidrun LaunickeHeidrun Launickec/o Lektorat SchreibwegeHeidhauser Str 6045239 EssenDeutschlandCovergestaltung und Kapitelgrafiken: Renee Rott, Dream Design – Cover and Art unter der Verwendung von Bildmaterial von Depositphotos, Shutterstock und AdobestockLektorat: Katharina SpanglerKorrektorat: Heidrun LaunickeBuchsatz: Stefanie ScheurichAlle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung der Autorin nicht zulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Für alle, die Wege hinaus in die Welten der Fantasie suchen
Ohne Kampf- und Liebesszenen wäre der Roman viel weniger spannend. Da jedoch alles auf gemäßigte Weise geschieht, eignet sich das Buch auch für Jugendliche ab dem Alter von etwa 13 Jahren und für alle Erwachsenen, die Science-Fiction mögen.
… damit ihr noch besser in Vitos Welt abtauchen könnt!
Die Songs gibt es alle auf Youtube.
Kapitel 1: In der Tanzszene ist es der Song »Push - Universal Nation« (Album Mix) von Bonzai All Stars. Generell passt zu den Scintilla-Moves Breakdance-Musik wie zum Beispiel »Freestyler« von Bomfunk MC’s.
Kapitel 6: Der Song »Sternenblues«, den Vito singt, könnte sich so anhören wie »Future« von Mahoney.
Kapitel 8: Für die Stadiya Eins muss es ein Song sein wie zum Beispiel »Mony Mony« von Billy Idol.
Kapitel 11: Vitos Flucht über das Meer – dabei begleitet ihn Atomica (Yotto Remix) von Watergate Records.
Kapitel 14: Bei der Kampfszene leidet man mit Vito mit, wenn man diesen Song dazu hört: »Stay asleep – Cyanotic Thema« von Sean Payne, Glitch Mode Recordings.
Kapitel 17: In Tomoros passt die düstere Musik »Clubbed to death« - vom Matrix Soundtrack von Rob Dougan.
Kapitel 20: Hier vermittelt der Song von Ellie Goulding – »Lights« - instrumental (slowed + reverb) die Stimmung der Schluss-Szene.
- Auf Instagram @nova.k.mayer finden sich weitere Illustrationen:
1. Die zwei Scintilla-Sonnen
2. Das Felsenkliff am Einsamen Meer
3. Das Sternschnuppen-Emoji
4. Vito, Fajenne und Neo im Jet vor dem Start
5. Die Star Traveler (Space-Jet)
6. Die Muschel vom Strand des Einsamen Meeres
7. Vito selbst (mehrere Bilder)
»Showtime!«, rief Vito und lief an den anderen vorbei in die Mitte der Tanzfläche. Dort blieb er stehen und ließ seinen Blick über die vielen Jugendlichen schweifen, die sich auf dem großen freien Platz mitten in der Stadt versammelt hatten. Seit dem frühen Abend tanzten sie hier im Licht der beiden Sonnen zu den Klängen elektronischer Musik.
Kaja, Cedric und Neo standen zwischen den anderen, die alle klatschten, und ihn anfeuerten: »Tanz Scintilla-Moves!«
Sein Lieblingssong Move it erklang. Die elektronischen Beats rissen ihn mit. Er folgte ihrem Drive mit abgehackten Bewegungen, es war eine Mischung aus Kampfsport, Tanz und roboterartigen Moves. Die Menge johlte, die Beats donnerten über den Platz.
Jetzt kam der akrobatische Teil. Vito ließ sich auf den Boden fallen, rücklings mit angezogenen Knien und ging in die Drehung wie ein Kreisel. Die Welt um ihn verschwamm zu einem Meer aus Farbflächen, Schatten und Licht. Er wurde langsamer, setzte die Handflächen auf dem Boden auf, spannte den Körper an, richtete die Füße nach oben und erstarrte im Freeze. Die Welt stand kopf. Sein Herz hämmerte wie die Beats. Sein Shirt rutschte nach unten, warme Luft strich über seine nackte Haut.
Er hörte Pfiffe, dann Kaja, die seinen Namen rief. Sie winkte ihm zu, ihr langes schwarzes Haar wehte im Wind, die dunkle Cargohose und das bauchfreie Top gaben ihr einen coolen Look. Auch über Kopf.
Drei Sekunden noch. Nur für sie.
Dann wieder in den Stand. Jetzt der Salto vorwärts. Vito sprang ab, kam kurz auf und wollte auf die Füße. Er kam immer an dieser Stelle auf die Füße. Doch etwas riss ihn nach vorn, er stolperte, keuchte und fing den Sturz mit angewinkelten Armen ab. Sein langer Pony fiel ihm vor die Augen und verdeckte ihm die Sicht. Eine plötzliche Schwere presste ihn zu Boden. Er schüttelte die blonden Haarsträhnen zur Seite. Verwirrt sah er sich um.
Es war plötzlich still auf dem Platz. Die Musik war aus. Das Klatschen hatte aufgehört. Alle waren wie erstarrt. Selbst der Wind schien innezuhalten und die Sonnen waren gerade hinter den angrenzenden Gebäuden verschwunden, sodass der Platz in dunkle Schatten getaucht war.
Jetzt kam Unruhe in die Menge. Stimmen wurden laut.
»Was ist hier los?« – »Macht die Musik wieder an!« – »Es geht nicht!«
Vito rappelte sich auf, schnappte sich seine Jacke vom Rand der Tanzfläche und ging zu seinen Freunden hinüber. Bei jedem Schritt hafteten seine Füße merkwürdig fest auf dem Boden.
Kaja blickte ihn besorgt an. »Alles okay?«
Vito bewegte testweise die Arme. Er spürte den Sturz immer noch ein wenig, aber er winkte ab. »Alles gut.«
Er wäre gern neben Kaja getreten, aber Cedric wich einfach nicht von ihrer Seite. Mit einem Blick auf die erloschenen Fenster in den Gebäuden, meinte Cedric: »Müsste sich jetzt nicht die Beleuchtung einschalten?«
Auch Kaja und Neo sahen sich nachdenklich um.
Vito überlegte. Keine Musik, keine Beleuchtung … »Vielleicht ein Energieausfall?«
Kaja ließ ihren Blick über die Silhouette der Häuser schweifen. »Sieht wirklich so aus.«
Neo schüttelte den Kopf, sodass seine braunen Locken flogen. »Seid ihr sicher? So etwas ist doch noch nie passiert!«
Wortfetzen der anderen drangen zu ihnen. Auch sie rätselten, ob es sich um einen Energieausfall handelte.
»Ich schau mal nach«, sagte Vito und griff nach dem Smart Device, das an seinem Gürtel befestigt war. Mit einem leichten Ruck löste er das Gerät aus der magnetischen Halterung. Er öffnete die Nachrichten und las den Text, der über das Display lief: Tomoros City Newsflash – Störung in der Maryssen-Energiezentrale – Ausfall aller Systeme in der ganzen Stadt! –
»Verstrahlter Asteroid«, fluchte er.
Cedric schaute ihm über die Schulter und las mit, Kaja und Neo zückten jetzt ihre eigenen SDs.
Gerade kamen weitere Meldungen: Die Energieversorgung kann vorerst nicht wiederhergestellt werden. – Die Leiterin der Energiezentrale, Oxana Maryssen, spricht von einem Störungsfall unerwarteten Ausmaßes. – Alle Stadtbewohner werden angewiesen, so schnell wie möglich Schutz in den Gebäuden zu suchen und weitere Anweisungen abzuwarten. –
Cedric pfiff durch die Zähne. »Das gibt’s doch nicht!«
Kaja runzelte die Stirn.
Vito fuhr sich nachdenklich durch den langen Pony. Offenbar war alles ausgefallen, auch die sehr angenehme Verringerung der Gravitation auf Erdenniveau. Während seiner Performance war die Gravitation auf das natürliche Maß hochgeschnellt. Deshalb hatte er seinen Salto verpatzt.
Cedric schnaubte. »Dann werden wir tags in einem Backofen sitzen und nachts bei Eiseskälte zittern.«
Kaja machte ein besorgtes Gesicht. »Wenn das stimmt, ist unsere ganze Kolonie in Gefahr!«
Neo zog die Augenbrauen zusammen. »Jetzt schiebt mal keine Panik. Unsere Führung wird nicht zulassen, dass uns etwas passiert.«
Natürlich wollte Neo glauben, dass seine Eltern als Mitglieder der Stadtkoordination die Lage in den Griff kriegen würden. Aber wirklich überzeugt klang er nicht.
Vito warf einen Blick auf die anderen Jugendlichen, die jetzt nach und nach den Platz verließen. Er befestigte sein SD wieder am Gürtel. »Wir sollten auch gehen.«
Sie schlossen sich den anderen an und erreichten die Haupt-Avenue. Dort bot sich ihnen ein skurriles Bild. Die Bahnen waren mitten auf den Schienen stehengeblieben und auch die autonomen Fahrzeuge waren gestoppt, weil den unterirdischen Leitungen die Energiezufuhr fehlte. Nur die Passanten hasteten verwirrt hin und her.
Vito warf einen Blick in eines der Autos. Der Besitzer saß noch drin und starrte auf die aktuellen Meldungen, die ihm auf der Konsole angezeigt wurden. Er hoffte wohl darauf, dass die Energieversorgung bald wieder einsetzen würde.
Vito wandte sich ab und folgte seinen Freunden, die im Zickzack um die stehenden Hindernisse herumliefen.
»Hey, pass doch auf!«, schnauzte ihn jemand an.
Fast wäre Vito mit einem der Passanten zusammengestoßen. Der warf ihm einen verärgerten Blick zu.
»Cool bleiben!«, gab Vito zurück und lief schneller, um seine Freunde einzuholen, die schon in der Menschenmenge verschwunden waren.
Ein eisiger Wind blies ihm ins Gesicht. Die Kälte drang ungehindert in die Stadt, weil auch die Klimatisierung ausgefallen war. Er verschränkte die Arme und rieb sich mit den Händen fest darüber, um sich ein wenig aufzuwärmen.
Die Monde waren schon aufgegangen. Alle drei, der weiße leuchtete am hellsten, der orange schimmerte blass und der pinkfarbene schloss sich als Letzter knapp über der Skyline der Gebäude an.
Vito bahnte sich seinen Weg durch die Menschenmenge und entdeckte schließlich seine Freunde ein Stück weiter.
Kaja hatte die Kapuze ihres Mantels hochgeschlagen. Als Vito näherkam, drehte sie sich zu ihm um. »Da bist du ja.«
Er presste die verschränkten Arme an seinen Oberkörper. »Es wird kalt.«
Sie nickte und deutete auf den Gebäudekomplex des City Med, das von hier aus schon zu sehen war. »Ich habe meiner Mutter Bescheid gesagt. Wir können im CM übernachten.«
Kajas Mutter arbeitete als Ärztin im CM. Sie konnte ihnen sicher eine Schlafgelegenheit organisieren.
Vito wollte gerade zustimmen, da hörte er Cedric sagen: »Ich komme mit!« Er hatte sich die Kapuze schon so weit hochgezogen, dass vorne nur noch paar schwarze Haarbüschel herausschauten und von seinem Gesicht nicht viel zu sehen war.
Kaja sah Vito an. »Und du?«
Vito zögerte. Dann sagte er: »Danke, ich habe es nicht mehr weit.«
Kaja wandte sich an Neo. »Du bist ja auch gleich zu Hause.«
Vito hob die Hand zum Abschied, Kaja ebenfalls. Dann schlugen Kaja und Cedric den Weg zum CM ein. Vito sah ihnen nach, wie sie so nebeneinander herliefen – zwar nicht händchenhaltend, aber der Anblick versetzte ihm trotzdem einen Stich. So ging das schon seit einigen Wochen. Bestimmt hatte Kaja ein Auge auf Cedric geworfen.
Doch sie drehte sich noch einmal zu Vito um. Einen Moment trafen sich ihre Blicke, bevor sie mit Cedric in der Menschenmasse verschwand.
Ich hätte mitkommen sollen, dachte Vito.
Wie zur Bestätigung meldete sich sein rechter Fuß mit einem leichten Ziehen. Vito stöhnte und tastete nach seinem Knöchel. Die Verletzung von damals machte sich nur bei längerer Belastung bemerkbar. Aber heute war wohl so ein Tag.
Er trat vorsichtig auf, als er Neo folgte, der schon ein Stück in die andere Straße hineingelaufen war.
Ein Stück weiter ragte der Tom-Tower vor ihnen auf. Neo wohnte dort mit seinen Eltern. Der Regierungsturm war das höchste Gebäude in Tomoros und das Wahrzeichen der Stadt. Es symbolisierte den Zusammenhalt der einzigen menschlichen Kolonie in den Weiten des Alls. Ein tröstlicher Anblick.
Neo blieb an der ausladenden weißen Treppe vorm Haupteingang stehen.
Er machte eine einladende Geste. »Hey, magst du mitkommen?«
Vito zögerte und blickte an dem riesigen Turm hoch, dessen Spitze im sternenübersäten Himmel zu verschwinden schien. Irgendwo dort oben gab es Apartments für die Mitglieder der Stadtkoordination und ihre Familien und auch für Gäste. Er war noch nie in dem Turm gewesen. Einerseits war er neugierig und wollte der Kälte gern entfliehen. Andererseits schüchterte die Anwesenheit so vieler Regierungsvertreter ihn ein. Sein eigenes Apartment war ihm lieber.
»Nein, aber danke.« Auf Neos skeptischen Blick hin versicherte er: »Ich schaffe das schon. Bis morgen!«
»Bis morgen«, sagte Neo. Er lief die Treppen hoch, an den Wachen vorbei, die ihn mit erleichterten Ausrufen begrüßten: »Da bist du ja endlich!« – »Deine Eltern warten auf dich!«
In leicht genervtem Ton rief Neo ein »Bin ja schon da!« und verschwand im Inneren des Gebäudes.
Vito lief weiter. Ihm war auf einmal sehr kalt. Nicht nur körperlich. Auf ihn wartete keiner.
Es waren noch einige Kilometer bis zu seinem Apartment. Hoffentlich war er zu Hause, bevor es richtig kalt wurde. Er warf einen Blick auf die Navigationsanzeige seines SDs. Es zeigte ihm eine Abkürzung durch eine Nebenstraße an. Doch als er in die Straße einbog, fand er sich allein in völliger Dunkelheit wieder. Die Häuser standen hier so eng wie in einem Schacht und nur ganz oben sah Vito noch einen Streifen des Nachthimmels. Die Monde waren dort nicht mehr zu sehen. Vito unterdrückte den Impuls, sofort wieder kehrtzumachen. Er schaltete die Beleuchtung seines SDs ein und setzte einen Fuß vor den anderen. Er hatte die halbe Strecke geschafft, als sich in das Geräusch seiner Schritte noch ein anderes mischte. Ein Brummen, ganz leise. Bildete er sich das vielleicht bloß ein? Er blieb stehen und lauschte. Jetzt hörte er nur den Wind, der durch die Straßen fegte. Nein, da war noch etwas. Eine Maschine? Aber das konnte nicht sein, es war doch alles ausgefallen, was am Netz der Stadt hing. Er leuchtete mit seinem SD um sich, aber es war nichts Ungewöhnliches zu sehen. Weiter vorn war im Licht der Monde eine Kreuzung zu erkennen. Der helle Schimmer dort vorne zog ihn förmlich an. Während er darauf zulief, hörte er aus der Ferne Schritte und aufgeregte Stimmen. Er hatte das Ende der Straße fast erreicht, da kam ihm eine Gruppe Stadtbewohner entgegen. Sie husteten und der Schreck stand ihnen ins Gesicht geschrieben.
»Weg hier!«, riefen sie. »Das ist das Fabry-Pulver!« – »Es ist giftig!«
Dann hasteten sie an ihm vorbei. Er lief langsamer und schaute nach vorn, um zu sehen, wovor die Leute geflohen waren. Am Ende der Straße waberte eine gelblich schimmernde Wolke. Er riss die Augen auf. Ein Windstoß trieb sie direkt auf ihn zu. Er wich ein paar Schritte zurück und starrte auf die gelbe Masse, die sich rasend schnell ausbreitete, und fransige Ausläufer bildete, die nach ihm zu greifen schienen.
Abrupt drehte er sich um und rannte zurück. Die anderen Flüchtenden waren noch nicht weit gekommen. Er schloss sich ihnen an und sah sich hastig um. Der Wind hatte die gelben Wolken in der ganzen Straße verteilt.
Die Gruppe schlug den Weg in eine Seitenstraße ein. Vito wollte automatisch folgen, doch er zögerte, denn dann würde er sich noch weiter von seinem Apartment entfernen. Also nahm er eine andere Straße, die ihn wieder in die richtige Richtung führte. Doch hinter der nächsten Biegung versperrte ihm erneut eine gelbe Wolke den Weg.
Vito wich zurück, aber es war zu spät. Die wabernde Masse hüllte ihn ein. Ein salziger und zugleich süßlicher Geruch stach ihm in die Nase. Ein Kratzen im Hals zwang ihn, zu husten und nach Luft zu ringen. Seine Augen brannten und begannen prompt zu tränen. Er musste hier weg. Doch die Wolke war überall. Kurz entschlossen zerrte er ein Stück vom Stoff seines T-Shirts nach oben, hielt es vor Mund und Nase und rannte mitten durch die wabernde Masse hindurch. Dann endlich taumelte er aus der Wolke hinaus, die hinter ihm zurückblieb. Er japste nach Luft und wischte sich mit dem Jackenärmel über die tränenden Augen.
Dann verschränkte er die Arme und steckte die Fäuste unter die Ellbogen, um die Hände vor der beißenden Kälte zu schützen. So marschierte er weiter. Er zitterte am ganzen Körper und noch immer fühlte er sich schwer wie zuvor auf der Tanzfläche. Das Ziehen in seinem Knöchel war zu einem dumpfen Stechen geworden. Er wollte nur noch nach Hause und diesem Albtraum entrinnen.
Als er um die Ecke bog, sah er wieder die Haupt-Avenue vor sich. Dort waren noch einige Leute unterwegs. Und es waren keine Pulverwolken zu sehen. Vito atmete auf.
Diese Luftverschmutzung bedeutete nichts Gutes, so viel war klar. Im Newsflash war von einer Störung unerwarteten Ausmaßes die Rede gewesen. Für die Energiegewinnung wurde ein sehr feines Pulver eingesetzt. Womöglich war es diese gelbe Substanz? Das Fabry-Pulver aus der Anlage war wirklich giftig, wie die Leute gesagt hatten. Und er hatte es eingeatmet … Musste er sich Sorgen machen?
Er konnte die Künstliche Intelligenz in seinem SD fragen. Aber es war ihm zu kalt, um sich jetzt Vorträge von seiner KI anzuhören.
Wieder mischte sich ein leises Brummen in das Tappen seiner Schritte. Er sah sich um. Keine Maschine, nichts. Da machte sich bestimmt einer einen Spaß daraus, ihm Angst einzujagen!
»Verstrahlt … nochmal!«
Doch sein Lieblingsfluch half diesmal auch nicht wirklich.
Seine Zähne klapperten, aber er rang sich ein paar Worte ab, um seine KI zu fragen: »KAPI-74 … wie weit noch … bis zur achtundsiebzigsten Avenue … Hausnummer hunderteinundzwanzig?«
»Kürzeste Strecke: zwei Kilometer«, antwortete die freundliche, weibliche Stimme seiner KI-Assistentin.
Er taumelte weiter durch die Straßen. Nur zwei Kilometer. Aber sie erschienen ihm endlos.
Sei wie ein Android, sagte er sich. Führe deine Aufgabe aus.
So setzte er einen Fuß vor den anderen und fand sich etwas später in der achtundsiebzigsten Avenue wieder. Doch die Hausnummern waren natürlich alle erloschen. Undeutlich konnte er die Nummer Hundertdreizehn entziffern. Er zählte in Gedanken weiter, bis er endlich die Hunderteinundzwanzig vor sich sah.
»KAPI-74! Tür öffnen!« Einen bangen Moment wartete er, ob sich etwas tat. Wenn der Energieausfall auch die Zugänge zu den Gebäuden lahmgelegt hatte, dann … Doch schon öffneten sich die Schiebetüren. Er warf sich durch den Spalt, noch ehe der ganz offen war.
Hinter ihm glitten die Türen zu und schirmten die Kälte ab. Einen Moment blieb er im dunklen Treppenhaus stehen und rieb die kalten Hände aneinander. Dann stolperte er zum Lift hinüber, aber der fuhr natürlich auch nicht. Die Notenergie durch die wenigen Photovoltaikanlagen reichte offenbar nur für die Zugänge zu den Gebäuden.
Er nahm also die Treppe. Sein rechter Fuß meldete sich bei jedem Schritt mit einem missvergnügten Ziehen. Und seine Wohnung war in der zehnten Etage, fast ganz oben. Jetzt bemerkte er auch wieder den verstärkten Zug der Gravitation. Er hatte sich das schon einmal ausgerechnet. Verglichen mit der Schwerkraft auf der Erde war es eine zusätzliche Last von etwa zehn Kilogramm, die er jetzt mit sich herumschleppte.
Normalerweise wäre das kein Problem für ihn gewesen. Aber diesmal war er sehr erleichtert, als er endlich den letzten Treppenabsatz erreichte. Er leuchtete mit seinem SD in den Gang hinein und lief weiter, bis er vor seiner Wohnungstür stand. Sie ließ sich wie gewohnt mit dem SD öffnen.
Warme Luft schlug ihm entgegen, als er in sein Apartment trat. Es war dunkel im Raum, weil der Bewegungsmelder die Beleuchtung nicht wie sonst einschaltete. Nur durch das riesige Panoramafenster auf der linken Seite fiel das Licht der drei Monde, sodass sein Bett in der Mitte, der Flachbildschirm an der Wand gegenüber und die Küchenzeile zu erkennen waren.
Seine Hände und Füße kribbelten jetzt so schmerzhaft, dass er im Raum umhertappte und nach Luft schnappte. Es war höchste Zeit gewesen, ins Warme zu kommen.
Er wartete einige Minuten, bis es besser wurde, dann ließ er sich aufs Bett fallen, warf die Schuhe ab, zog die Socken aus und tastete nach dem schmerzenden Knöchel. Unter seinen Fingern spürte er die Narben, die sich als dünne Linien über seine Haut zogen. Sein Fuß war mit einer künstlichen Knochensubstanz stabilisiert worden. Es war ein smartes, mitwachsendes Implantat, medizinisch die neueste Errungenschaft, aber es war eben nicht der natürliche Knochen. Vito massierte die schmerzenden Stellen und seufzte erleichtert, als das Ziehen ein wenig nachließ.
Er drehte sich zum Fenster und schaute nach draußen, wo sich die unzähligen Gebäude wie ein Feld schwarzer Würfel aneinanderreihten. Ohne den Bahn- und Luftverkehr und die vielen Lichter in der Stadt wirkte alles still und erstarrt. Nur am Horizont glitzerte das Einsame Meer als schmaler Silberstreifen. Das Licht der Monde spiegelte sich auf der Wasseroberfläche und die Sterne funkelten als wäre gar nichts passiert.
Ob es schon etwas Neues gab?
Er griff nach seinem SD und rief noch einmal den Tomoros City Newsflash auf. Ein Reporter erschien auf dem Display. Hinter ihm war der Gebäudekomplex der Energiezentrale im Norden der Stadt zu sehen. Der Farbe des Abendhimmels nach zu urteilen war die Aufnahme noch nicht lange her. Gerade berichtete der Reporter: »Das Verschwinden des Transformators ist nach wie vor ungeklärt.«
Vito fuhr hoch. Der Transformator war verschwunden? Dieses Gerät war das wichtigste Teil in der Energieanlage, denn es versorgte die gesamte Stadt mit Strom. Das erklärte die Meldung einer Störung nie gekannten Ausmaßes.
Jetzt wurden einige Angestellte der Anlage eingeblendet.
»Ich hatte gerade meine Schicht angefangen«, berichtete eine junge Frau. »Alles war normal. Dann hörten wir plötzlich ein monotones Geräusch wie von einer Maschine, aber es klang fremdartig.«
Vito wurde hellhörig. Sprach sie von demselben Geräusch, das ihm auch aufgefallen war?
Ein Arbeiter ergänzte: »Dann wurde es extrem hell im Kontrollraum.«
»Plötzlich war überall gleißendes Licht!«, bestätigte seine Kollegin aufgeregt.
Ein Licht … Da war irgendetwas, ein Gedanke, aber ehe Vito ihn fassen konnte, sprach der Mann weiter: »Ja. Wir mussten alle die Augen schließen, weil es so geblendet hat. Wir dachten, es wäre eine Explosion und wollten die Maschinen notfallmäßig abschalten. Aber die waren bereits aus.«
»Und dann ging gar nichts mehr. Keine Energie. Und auch wenn es unglaublich klingt – der Transformator war weg! Aus unserer Anlage gestohlen!«, ergänzte seine Kollegin.
Wieder die Stimme des Reporters: »Oxana Maryssen gab ein kurzes Statement ab. Das größte Problem sei der fehlende Transformator. Außerdem klafft jetzt ein Loch an der Stelle, wo das Gerät installiert war. Das Pulver quillt aus dem offenen Schacht an die Oberfläche und verteilt sich in der Stadt.«
Jetzt erschien eine Straße, in der das gelbe Pulver umherwirbelte.
Der Reporter erklärte weiter: »Ein Reparaturteam ist beauftragt, den Schacht so schnell wie möglich zu verschließen. Bis dahin lautet die Anweisung der Stadtkoordination, in den Apartments zu bleiben und auf die Außenluftzufuhr zu verzichten.«
Das Bild wechselte und zeigte den führenden Stadtkoordinator, einen Mann Ende vierzig mit schulterlangem braunem Haar. Vito erkannte ihn sofort. Neos Vater. Persönlich hatte er ihn zwar noch nie getroffen, aber oft in den Medien gesehen. Mit seinem Dreitagebart und dem Hemd, das er oben ein Stück offen gelassen hatte, strahlte er eine sympathische Lässigkeit aus.
»Stadtkoordinator Aron Jorvas kündigte Maßnahmen an«, fuhr der Reporter fort.
»Die Stadtkoordination trifft sich in diesen Minuten zu einer Krisensitzung«, sagte Aron. »Wir gehen von einer vorsätzlichen Tat aus. Jemand hat hier genau geplant: Das Ablenkungsmanöver mit dem Licht, das Abmontieren des Geräts und der Abtransport … und das alles innerhalb kürzester Zeit. Ich habe die Sicherheitskräfte angewiesen, den Transformator so schnell wie möglich zu finden, damit er wieder eingebaut werden kann.«
Er verabschiedete sich mit einem kurzen Winken und verschwand in der Menschenmenge, die sich im Ratssaal des Tom-Towers versammelt hatte.
Clever von ihm, nicht weiter auszuführen, welche Folgen der Energieausfall haben würde. Der Transformator war so wichtig, dass die Menschen ihn bereits auf der Erde gebaut und schon mit dem ersten Forschungsschiff – der Retrieval – hergebracht hatten. Als elf Jahre später die fünf Passagierschiffe von der Erde angekommen waren, war mithilfe von 3D-Druck bereits eine Stadt entstanden, die von der Energieanlage versorgt wurde. Aufgrund der enormen Temperaturschwankungen hätten die ersten Siedler sonst nicht überlebt.
Ein leiser Signalton riss Vito aus seinen Gedanken. Es war eine Kontaktanfrage per Audio. Von Fajenne, seiner Fluglehrerin. Warum rief sie ihn an? Die nächste Flugstunde war doch erst morgen.
»Hier ist Fajenne. Vito, bist du zuhause?« Sie klang besorgt.
»Ja, seit einer Weile.«
»Das ist gut. Ich hörte von dem Energieausfall und ich dachte mir schon, dass du vorhin auf dem großen Platz warst. Hast du dieses Pulver gesehen?«
»Auf dem Rückweg bin ich mitten hineingeraten.«
Er hatte seine KI noch nicht nach den Auswirkungen des Pulvers gefragt, aber der Hustenreiz hatte inzwischen nachgelassen. Die Menge, die er davon eingeatmet hatte, war wohl zu gering gewesen, um Schaden anzurichten.
Also fügte er hinzu: »Aber es geht mir gut.«
Von Fajenne kam ein erleichtertes »Ah.« Dann hörte er sie sagen: »Die müssen den Schacht so schnell wie möglich verschließen.«
»Was denkst du … wie lange wird es dauern, bis wir wieder Energie haben?«
»Wir sind auf so eine Situation überhaupt nicht vorbereitet. Unsere Wissenschaftler können den Transformator reparieren, aber mit einem Diebstahl hat niemand gerechnet.«
»Wer immer das getan hat, gefährdet ja auch sich selbst.«
»Ich kann es mir auch nicht erklären«, meinte sie. »Aber ich will dich nicht länger stören. Wir sehen uns morgen.«
Er war ein wenig erstaunt. »Der Flugunterricht findet trotz allem statt?«
»Ja, die Kommandantin hat uns sogar angewiesen, morgen auf jeden Fall alle in der Space Agency zu erscheinen.«
»Dann bis morgen.« Er beendete die Verbindung.
Dann stand er auf und ging nachdenklich vor dem großen Panoramafenster hin und her. Im Tomoros City Newsflash hatten sie von einem Licht gesprochen und von Maschinen, die ausgefallen waren.
Schlagartig zitterte er. Nicht nur wegen der fallenden Temperaturen in seinem Apartment. Normalerweise verdrängte er alles, was mit diesem Ereignis zu tun hatte. Es nahm ihm die Luft, heute noch.
Doch jetzt musste er darüber nachdenken. Von einem gleißenden Licht war auch damals die Rede gewesen. Vor sechzehn Jahren – das war elf Jahre nach der Ankunft des ersten Forschungsschiffs – waren fünf riesige Raumschiffe von der zerstörten Erde zum Planeten Rigas aufgebrochen. Es war der verzweifelte Versuch der Menschheit, sich auf einen neuen Planeten zu retten. Vito war mit seinen Eltern im letzten Raumschiff gewesen. Als dessen Landemodule schließlich zur Planetenoberfläche unterwegs waren, wurden sie ebenfalls von einem gleißenden Licht eingehüllt und stürzten ab. Seine Eltern waren bei dem Absturz ums Leben gekommen. Er selbst war erst zwei Jahre alt gewesen und konnte sich an das Ereignis kaum erinnern. Und das war gut so.
Aber es wirkte sich auf sein ganzes Leben aus. Er war ohne Eltern aufgewachsen, wodurch er lernen musste, früh für sich selbst zu sorgen. Seine Verletzungen waren verheilt, nur auf das Implantat in seinem Fuß war er lebenslang angewiesen.
Und es gab keine Hinweise auf seine Identität, deshalb war auch sein Name unbekannt. Doktor Keen – Kajas Mutter – hatte ihm den Namen Vito gegeben. Seinen wahren Namen würde er wohl nie erfahren.
Und wie alle anderen hatte er bisher geglaubt, dass die Ursache für den Absturz der Landemodule technisches Versagen war. Aber jetzt war er nicht mehr so sicher. Irgendjemand steckte dahinter und der Schluss lag nahe, dass dieser Jemand beide Katastrophen verursacht hatte. Vielleicht war es eine geheime Organisation, die irgendein Ziel verfolgte. Aber welches? Wer war so wahnsinnig, die eigenen Leute zu gefährden?
Dabei waren sie doch alle so stolz auf ihre Kolonie. Die ersten Siedler hatten sie euphorisch »Tomoros« genannt, nach dem englischen Wort »tomorrow« – Stadt von morgen, eine Stadt, die der Menschheit eine bessere Zukunft ermöglichen sollte.
Wieder drängte sich ein leises, monotones Brummen in seine Wahrnehmung. Er kniff die Augen zusammen und ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Vielleicht hatten sich die Kühlbox oder der Nahrungsreplikator wieder eingeschaltet? Aber die Displays waren alle dunkel. Auch der große Flachbildschirm an der Wand gegenüber vom Bett war schwarz. Dennoch war das Geräusch da, wenn auch sehr gedämpft.
»Du bist Vito.«
Er fuhr herum und nahm sein SD. Das war die Stimme seiner KI! So plötzlich!
»Seit wann sprichst du von selbst?«
»Seit jetzt«, erwiderte die KI. Sie klang ein wenig frech.
»Warum?«
»Ich will mehr über dich wissen.«
Das war befremdlich. Ganz offensichtlich hatte sein SD eine Fehlfunktion.
Er setzte sich aufs Bett und starrte verwirrt auf das Display. Schon meldete sich die KI erneut: »Warum seid ihr hier? Das ist doch nicht euer Heimatplanet!«
»Was?« Das verstand er nicht. In seinem SD waren alle Daten über die Menschheit gespeichert. Von der Entstehung des Universums bis zur Gegenwart und darunter fiel auch der Grund, warum die Menschen die Erde verlassen hatten. Sollte er seiner KI jetzt etwa vom Klimawandel erzählen? Von den Kämpfen um die wenigen bewohnbaren Flächen? Davon, dass sie im einundzwanzigsten Jahrhundert die letzte Chance versäumt hatten, diesen Verlauf der Erdgeschichte aufzuhalten?
Wenn die beiden Astronomen, die Geschwister Ricarda und Ron Rigas, nicht einen erdähnlichen Planeten in erreichbarer Nähe gefunden hätten, wäre es wohl aus gewesen mit der Menschheit. Eine Mondkolonie war zwar ein Durchbruch und ebenso die Raumstationen für die Reichen, aber beides stellte keine Dauerlösung dar. Der Planet Rigas 14, wie man ihn nach seiner Entdeckung im Jahr 2414 genannt hatte, war die einzige Überlebenschance für die Menschen und wie manche sagten, ein Hoffnungsfunke in den Weiten des Alls. Deshalb hatte der Planet den zusätzlichen und sehr viel schöneren Namen Scintilla erhalten.
Aber warum wollte die KI Informationen, die in ihrem Speicher bereits vorhanden waren?
»Du hast doch die Daten.«
Die KI antwortete nicht.
Vito starrte auf das Display, auf dem sein übliches Hintergrundbild zu sehen war: Der Strand des Einsamen Meeres.
»Ihr habt alle Namen«, meldete sich die KI erneut, »und ich will auch einen, einen eigenen, nur für mich.«
So hatte sie noch nie gesprochen. Und überhaupt …
»Du hast doch einen Namen: KAPI-74.«
Das bedeutete: Künstlicher-Assistent-Prime-Intelligenz, hergestellt im Jahr 2474, dem Jahr der Ankunft auf dem Planeten. Was hatte die KI daran auszusetzen?
»Das ist nur eine Bezeichnung, denn alle KI-Assistenten heißen doch KAPI mit einer Zahl, du musst wissen, ich würde mir wünschen, dass du mich mit einem richtigen Namen anredest.«
Jetzt fing sie sogar an zu quengeln! Und ihre Sprache war verändert. Sie hatte noch nie in so langen Sätzen gesprochen.
»Das ist jetzt nicht dein Ernst.« Die Situation erschien ihm absurd. Die komplette Energie war ausgefallen, er saß hier im Dunkeln, es wurde immer kälter und seine KI diskutierte mit ihm über ihre Bezeichnung. Hing das vielleicht irgendwie mit dem Energieausfall zusammen?
Am liebsten hätte er das SD einfach ausgeschaltet. Aber an diesem Abend geschah so viel. Deshalb wollte er erreichbar bleiben, falls seine Freunde sich meldeten.
Das Gerät sollte ihn nicht länger nerven. Daher sagte er den ersten Namen, der ihm einfiel: »Nelly.«
Hoffentlich war sie damit zufrieden.
»Nelly«, wiederholte die KI. »Nelly, das klingt nett, ich danke dir.«
Vito schüttelte fassungslos den Kopf. Für so eine gravierende Fehlfunktion musste es doch einen Grund geben. Er rief den Systemcheck auf.
Auf dem Display kam die Meldung: Prüfung läuft. Dann flimmerte es und eine Abfolge von Zahlen und Symbolen erschien.
Systemcheck abgeschlossen. Alle Systeme arbeiten zu hundert Prozent fehlerfrei.
Vito schaute ungläubig auf das Display.
Aber jetzt schwieg die KI und auch das merkwürdige Geräusch war verschwunden.
Gedankenverloren fuhr er sich durch den langen Pony. Zeit für bequemere Klamotten. Er griff nach seinem Jogginganzug und zog sich um. Dann ging er zu seiner Kühlbox hinüber, die in die Wand eingebaut war. Das Display des smarten Geräts war schwarz. Er musste die Kühlschranktür manuell öffnen. Mit einem Plopp schwang sie auf. Natürlich war die Kühlfunktion ausgefallen. Er nahm trotzdem das Sandwich und die letzte Flasche Limatenschorle und setzte sich zum Essen aufs Bett. Danach stellte er alles weg, legte sich hin und wickelte die Bettdecke eng um sich. Ihm fielen die Augen zu.
»Was tust du da?«
Die KI! Er fuhr hoch. Auch das leise Brummen war wieder da. Aber es kam nicht von seinem SD. Eher aus der Richtung des Fensters, genau wie zuvor. Doch dort war natürlich nichts.
»Du schon wieder!« Er griff sich das SD vom Nachttisch. »Bist du das die ganze Zeit?«
»Was tust du da, musst du dich regenerieren?«
Statt auf seine Frage zu antworten, stellte die KI eine Gegenfrage. Und er hörte eine gewisse Sorge heraus. Das war gleich doppelt absurd. Und erst recht ihre Bemerkung. Was meinte sie mit der Bezeichnung Regenerieren? Schlafen?
»Ja. Aber das kann ich nur, wenn du still bist.«
»Oh, natürlich, du musst wissen, ich werde mich auch regenerieren, und ich werde dich nicht stören.«
Tatsächlich gab sie jetzt Ruhe.
Vito schüttelte irritiert den Kopf. Systemcheck hin oder her, er hatte es ja geahnt, hier stimmte etwas nicht.
Vito wachte fröstelnd auf und schaute nach draußen. Das erste hellblaue und rosafarbene Licht fiel auf die Stadt. Die Bahnen standen immer noch still. Natürlich war der Spuk noch nicht vorbei. Er tastete nach seinem SD, das auf dem Nachttisch lag. Es war halb sechs Uhr morgens. Sein Chef hatte schon eine Nachricht geschickt. Trotz der aktuellen Lage sollte die Frühschicht wie gewohnt ihren Dienst antreten.
Noch einmal durch die Pulverschwaden laufen … Kein verlockender Gedanke. Er rief die Nachrichten auf.
Tomoros City Newsflash – Zweihundertzwanzig Personen wurden letzte Nacht mit Vergiftungserscheinungen ins CM eingeliefert – das Reparaturteam hat den Schacht heute Nacht verschlossen. – Immer noch keine Spur vom Transformator. – Weitere Meldungen in Kürze.
Vergiftungserscheinungen? Er konnte bei sich selbst keine feststellen. Abgesehen davon, dass er noch sehr müde war, fühlte er sich gut. Auch sein Fuß hatte sich beruhigt.
Wenigstens war der Schacht jetzt verschlossen.
Vito sprang aus dem Bett, schlüpfte in eine dunkelblaue Jeans und griff sich seine knöchelhohen Sneaker. Über das weiße T-Shirt zog er seine dunkelbraune Jacke. Er befestigte sein SD am Gürtel und nahm sich noch die letzte Frucht, eine pfirsichähnliche Ciraki, aus der Kühlbox. Normalerweise gab das Gerät automatisch eine Lebensmittelbestellung auf, aber diesmal blieb ihm wohl nichts anderes übrig, als sich selbst darum zu kümmern.
Draußen schlug ihm kühle, aber saubere Luft entgegen. Noch immer waren viele Leute zu Fuß unterwegs, denn es fuhr ja nichts. Vor den Lebensmittel-Depots standen die Menschen Schlange. Klar, sie legten Vorräte an. Keiner wusste, wie es weitergehen würde.
Er musste bis zum Stadtrand laufen. Sein SD zeigte ihm eine Strecke von zehn Kilometern an, einmal durch die ganze Stadt. Mit schnellen Schritten lief er los.
Immer wieder drehten sich Leute nach ihm um. Von manchen kam ein »Hey, Vito!«
Das war er gewohnt. Sie kannten ihn aus den sozialen Medien. Er tanzte auf dem großen Platz, seit er fünfzehn war. Drei Jahre schon. Seine Fans posteten seine Auftritte im Netz.
Aber das war nicht der einzige Grund für die neugierigen Blicke. Wer ihn von hinten sah, dem fiel das runde Logo auf, das auf seiner Jacke abgebildet war. Es zeigte einen Space-Jet, der in den Weltraum flog. Darüber stand in breiten Buchstaben: TOMOROS SPACE AGENCY. Damit war Vito als eines der etwa hundert Mitglieder der Flugschule erkennbar. Eines Tages würde er zu den Sternen fliegen. Wenn die ihn für das geplante Weltraumprojekt zulassen würden … Wenn die Verletzung an seinem Fuß nicht wäre … Der Weltraum war groß und faszinierend. Sicher gab es dort draußen extraterrestrisches Leben. Fremde Wesen, die weder von Scintilla noch von der Erde stammten. Er würde zu gern einmal ein Alien treffen.
»Wohin gehst du?«
Vito verlangsamte seine Schritte. Wieder die Stimme aus seinem SD! Und das Brummen?
Diesmal hörte er nur die Gesprächsfetzen der Passanten, die an ihm vorbeieilten. Jedes zusätzliche Geräusch wurde davon übertönt.
»Da bist du ja wieder.«
Er hatte sich schon gewundert, weil sie die ganze Nacht still geblieben war. Vielleicht gelang es ihm, sie aus der Reserve zu locken, damit sie sich verriet. Deshalb sagte er: »Du weißt doch, wo ich jeden Morgen arbeite.«
Die KI schwieg.
»Oder?«
Es kam keine Antwort.
Vito stellte die schwere Kiste ab, richtete sich auf und schüttelte sich die Haare aus dem Gesicht.
Cedric ließ sich auf die Bank am Rand der Halle fallen, zog sein T-Shirt aus, knüllte es zu einer Rolle zusammen und nutzte es, um sich damit abzutrocknen.
Verstrahlter Asteroid, wofür wurden sie hier bestraft? Wer immer die Energiezentrale sabotiert hatte, amüsierte sich sicher darüber, wie sie sich abmühten, um wenigstens ein bisschen von der Produktion aufrechtzuerhalten. Es war fast nicht möglich, denn sämtlichen Förderbändern fehlte die Energie. In den Containern stapelten sich neben Rohstoffen vor allem recycelbare Stoffe. Alles Mögliche, Möbel, Geschirr, alte Kleidung wurde in der Anlage aufbereitet oder hergestellt. Aber wenn das Material nicht in die Umwandler gelangte, wo es weiterverarbeitet werden konnte, wurde nichts produziert.
Noch mit dem zusammengeknüllten T-Shirt in der Hand deutete Cedric zum Eingang der Halle. »Holen wir uns so eine Box!«
Dort platzierten die Angestellten gerade mehrere Kisten auf Rollen, die der Chef organisiert hatte. Irgendein Lebensmittel-Depot hatte sie zur Verfügung gestellt. Besser als die behelfsmäßigen Boxen, mit denen sie seit dem frühen Morgen die Sachen zur einzigen Maschine schleppten, die mit Notstrom versorgt wurde.
Cedric zog sich sein Shirt wieder an, stand langsam auf und Vito folgte ihm. Sie schnappten sich eine Kiste auf Rollen und wuchteten das Material aus den Containern hinein. Doch die Arbeit blieb schweißtreibend. Gegen Mittag kam noch hinzu, dass die beiden Sonnen das Gebäude erhitzten.
»Mir reicht’s«, stöhnte Cedric, setzte sich mit dem Rücken an die Wand gelehnt auf den Boden und stützte den Kopf in die Hände.
Vito warf einen suchenden Blick in die Halle. Der Nahrungsreplikator war natürlich außer Betrieb. Aber im Vorratsschrank gab es noch ein paar Getränke. Er holte zwei Flaschen Wasser und reichte Cedric eine davon.
»Kein Scintilla-Bier?«, fragte Cedric.
Vito lächelte schwach. »Gibt’s leider nicht.«
Cedric setzte die Flasche an die Lippen.
»Was für eine Arbeit verrichtet ihr hier?«, kam die Stimme aus Vitos SD.
Cedric verschluckte sich und musste husten.
Vito legte schnell die Hand auf sein SD.
»Meine KI«, setzte er zu einer Erklärung an, aber er verstummte, als der Chef der Anlage in die Halle eilte – Robert Ransan. Wenn der zu ihnen kam, musste es wichtig sein. Roberts Gesicht war rot, das Hemd hing ihm vorne aus der Hose und seine Ärmel waren hochgekrempelt. Er warf einen Blick in die Runde und erklärte: »Leute, hört zu. Ich habe eine neue Anweisung von der Stadtkoordination erhalten. Ihr wisst ja, wie ernst die Lage ist. Bisher gibt es keine Spur vom Transformator. Das bedeutet: Wir müssen einen neuen bauen.«
Die Angestellten wechselten verstörte Blicke. Rufe wurden laut: »Was?« – »Wie?« – »Wollen die uns …?« –
»Einen neuen Transformator?« –
»Wie sollen wir ohne die Maschinen einen neuen Transformator bauen?« – »Eher teilen sich die Quanten!«
Robert wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Wir müssen es irgendwie schaffen. So schnell wie möglich. Unser Überleben hängt davon ab!«
Der Chef hatte recht. Sie mussten weitermachen. Der Notstrom würde nicht ausreichen. Die Minusgrade in den Nächten waren nicht nur ein ernstes Problem für die Menschen, sondern auch für die Tiere und Pflanzen. Viele von ihnen stammten von der Erde und waren dementsprechend an die gemäßigten Temperaturen angepasst. Zumindest an die vor dem Klimawandel.
Es lief alles auf eins hinaus: Für das Maryssen-Verfahren brauchten sie einen funktionierenden Transformator.
Robert hob die Hand und wartete, bis die verzweifelten Zwischenrufe verstummten. »Die Stadtkoordinatoren schicken uns zusätzliches Personal. Die Leute sind bereits hierher unterwegs. Trotzdem muss ich euch bitten, die Mittagspause durchzuarbeiten. Ihr werdet für die Überstunden bezahlt.«
Leises Gemurmel war zu hören, aber es gab keine Einwände mehr, denn dafür war die Lage zu ernst. Robert bedankte sich mit einem Nicken und verließ eilig die Halle.
»Ohne diesen Transformator werdet ihr alle sterben?«
Wieder die KI!
Cedric blickte erstaunt auf.
Vito nahm sein SD. »Ich fürchte schon.«
Die KI schwieg. Dachte sie über seine Worte nach?
Er beschloss, seiner vorwitzigen KI jetzt eine Frage zu stellen. »Was sollen wir deiner Meinung nach tun?«
»Du musst wissen, das Problem ist komplex, da ist es nicht so einfach, euch einen Hinweis zu geben, aber ich hoffe, wenn ich mehr über euch herausfinde, weiß ich vielleicht, was zu tun ist.«
Vito und Cedric wechselten einen sehr irritierten Blick.
Dann gab Cedrics SD einen leisen Ton von sich. Kajas Bild erschien auf dem Display.
»Hey, Jungs!« Sie sah Cedric und Vito an. »Wie läuft es mit dem Nachbau des Transformators?«
Natürlich wusste sie als Reporterin im Medienzentrum Bescheid.
»Nicht gut«, beantwortete Cedric Kajas Frage.
Vito beugte sich vor, damit er auch zu sehen war. »Wisst ihr denn schon etwas Neues?«
Kaja schüttelte den Kopf. »Nein, noch nicht. Aber bald, denke ich.« Sie machte eine Pause. »Ihr kommt heute Abend doch trotzdem? Wir treffen uns im LC. Im Einkaufszentrum ist es wärmer.«
Cedric drehte das Display zu sich. »Wir versuchen es.«
»Dann bis nachher«, erwiderte Kaja. Sie winkte und beendete die Verbindung.
Vito machte sich daran, die nächste Kiste vollzupacken. Er seufzte. Gestern noch hatte er die Mittagspause am Einsamen Meer verbracht. Doch die Lage war jetzt zu ernst. Und Überstunden bedeuteten, dass aus der Flugstunde am Nachmittag ebenfalls nichts werden würde.
Inzwischen fiel ihm jeder Handgriff schwer. Er ignorierte die schmerzenden Muskeln und half Cedric, die voll beladene Rollbox zur Maschine zu schieben. Auf einmal trat Robert neben ihn. »Vito, du hast eine Sondergenehmigung«, hörte er ihn sagen. »Geh zu deinem Flugunterricht.«
Vito hielt verblüfft inne.
Robert stemmte die Hände in die Hüften, als wollte er seine Worte damit bekräftigen. »Die Stadtkoordination braucht jeden Piloten. Es geht das Gerücht, dass ihr von der Space Agency den Transformator suchen sollt. Wenn ihr ihn findet, müssen wir ihn nicht nachbauen. Das wäre das Beste.«
Vito merkte selbst, dass er lächelte und seine Augen strahlten. Was sein Chef sagte, war gleich doppelt gut. Vito konnte am Flugunterricht teilnehmen und damit sogar zur Lösung des Problems beitragen.
»Danke, Robert!«, sagte er. Dann kontaktierte er Fajenne: »Hol mich bitte direkt hier ab.«
Ihm blieben nur wenige Minuten, um schnell den Duschraum aufzusuchen. Dort ließ er sich das kühle Wasser auf das Gesicht prasseln und schloss dabei die Augen. Es war, als würden die Erschöpfung und die Sorgen gleich mit abgewaschen. Er freute sich jetzt auf eine Runde mit dem Space-Jet über der Stadt.
Kurz darauf war er mit seiner Fluglehrerin in der Destiny – so hatte sie ihren Space-Jet genannt. Sie saß links im Cockpit, Vito rechts neben ihr und Neo auf einem Klappsitz hinter den beiden.
Auch Fajennes schwarze Jacke zierte hinten das Logo der Flugschule. Ihre dunkelbraunen Haare waren an den Seiten kurz geschnitten, sodass ihre Ohrringe mit drei glitzernden Sternen auffielen. Das lange platinblond gefärbte Deckhaar fiel über ihre rechte Wange. Ihre Augen schienen in sein tiefstes Innerstes zu sehen, so intensiv war ihr Blick, aber vielleicht lag das nur daran, dass sie ihre Augen geschminkt hatte.
Und er selber? Mit seinem verschwitzten T-Shirt konnte er hier nicht auftauchen. Er hatte es im Duschraum gelassen. Aber es war warm im Jet. Deshalb trug Vito seine Jacke offen. Das entsprach sicher nicht den Kleidungsvorschriften der Space Agency. Und er spürte schon Fajennes Blick auf sich, und ja, natürlich schaute sie auf seine nackte Haut.
»Du hast dein T-Shirt durchgeschwitzt?«
Bereitwillig schilderte er das Problem mit dem Nachbau des Transformators.
»Heilige Galaxis!«, entfuhr es Neo. »Soll ich mich freiwillig in der Aufbereitungsanlage melden?«
»Nein, die Space Agency braucht euch hier«, erwiderte Fajenne.
Dann forderte sie Vito auf: »Flieg erstmal eine Runde hier und dann zum Gigantischen Gebirge.«
Dazu musste er einmal quer über die ganze Stadt fliegen, von der Anlage im Süden bis zum nördlichen Stadtrand und dann weiter nach Norden. Er aktivierte den Antrieb, der mit einem gedämpften Dröhnen zum Leben erwachte. Der Jet hob lehrbuchmäßig ab. Nach einigen Monaten Flugunterricht war das schon Routine für Vito.
Unten reihten sich die quaderförmigen Gebäude aneinander wie auf einem riesigen Spielfeld, mit begrünten Innenhöfen und einem Geflecht von schnurgeraden Straßen. In der Mitte der Stadt war der Tom-Tower als höchster Wolkenkratzer zu sehen und ein Stück weiter der vertraute Gebäudekomplex des CM. Die Energiezentrale war am Stadtrand im Nordwesten errichtet, Vito flog direkt darauf zu. Da das Maryssen-Verfahren unterirdisch ablief, war das dazugehörige Gebäude relativ klein und fiel zwischen den anderen Hochhäusern kaum auf. Das Medienzentrum befand sich ebenfalls am Stadtrand, aber in östlicher Richtung. In dem Gebäude arbeitete Kaja. Vito warf unwillkürlich einen Blick darauf und sah, wie die Sonnen sich im Kuppeldach spiegelten.
Er nahm Kurs auf die Granum-Felder außerhalb der Stadt und zog die Spitze des Fliegers hoch – hinein in das unendliche Blau. Für die Destiny alles kein Problem. Die Space-Jets waren klein, aber wendig und es war sogar möglich, sie für einen Flug zu einem der umliegenden Planeten zu nutzen. Das hatte Vito sich fest vorgenommen, sobald er seine Flugprüfung bestanden haben würde.
Fajennes Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. »Wir haben tatsächlich einen Auftrag.«
Neo blickte von seinem SD auf. »Den Transformator wieder zurückholen?«
»Nicht ganz«, meinte Fajenne. »Wir sollen erst einmal die Umgebung absuchen.«
Vito lenkte den Jet manuell über schneebedeckte Berggipfel und zerklüftete Felshänge. In den Tälern war ein wenig Grün zu erkennen und eine Ansammlung einzelner Punkte, die sich in dieselbe Richtung bewegten. Das musste eine Herde Cervis sein, dieser Tiere mit Geweihen.
Nach einigen Runden über dem Gebirge gab Fajenne Neo die Anweisung zu übernehmen. Also setzte Vito sich nach hinten und sah aus dem Fenster.
Neo flog langsam, damit ihnen nichts entging.
Vitos SD meldete sich wieder zu Wort: »Wohin fliegt ihr?«
Fajenne sah ihn überrascht an.
Vito winkte ab. »Eine Fehlfunktion. Seit gestern Abend.«
»Vielleicht hat sich jemand in dein SD gehackt?«
»Der Systemcheck hat nichts ergeben.«
Fajenne runzelte die Stirn, aber dann schaute sie wieder nach draußen. Neo war eine Kurve geflogen und nahm nun Kurs auf das Einsame Meer. Vito beugte sich vor und hielt Ausschau nach seinem Lieblingsplatz. Ein Felsenkliff, von dem aus man eine besonders gute Aussicht über das Meer hatte. In diesem Gebiet waren die Landemodule des letzten Raumschiffes abgestürzt. Wenn er dort unten stand und von der Steilküste auf das Meer blickte, fühlte er sich seinen Eltern nah. Selbst jetzt aus der Entfernung löste die weite dunkelblaue Fläche dieses Gefühl in ihm aus.
Aber da war noch etwas. Er kniff die Augen zusammen. Einige Meter über der Wasseroberfläche entdeckte er ein Flimmern, das an durchsichtige Luftwirbel erinnerte. So etwas hatte er dort noch nie gesehen.
Er deutete nach vorn. »Seht ihr das?«
Fajenne und Neo schauten mit zusammengekniffenen Augen auf die Stelle.
»Das sieht aus als ob«, Fajenne zögerte, »die Luft irgendwie flimmern würde.«
»Was ist das?«, fragte Neo.
»Das muss so etwas wie eine Luftspiegelung sein. Irgendeine Eigenart dieses Planeten. Aber ich prüfe das mal.« Sie aktivierte die Sensoren.
»Oh!«, entfuhr es ihr. »Dort unten werden eindeutig erhöhte Energiewerte angezeigt. Aber wo kommen die her?«
Vito zückte sein SD. Er würde seine schlaue KI fragen.
»Nelly«, sagte er und ihm wurde bewusst, dass er sie mit ihrem neuen Namen ansprach, »worum handelt es sich bei dem Objekt über der Wasseroberfläche?«
Fajenne drehte sich zu ihm um. »Deine KI heißt Nelly?«
»Sie wollte einen richtigen Namen haben.«
Neos Augen weiteten sich. »Das teilt die Quanten!«
Vito hingegen zuckte ratlos mit den Schultern.
Doch diesmal blieb die KI still. Sie reagierte nicht auf ihren neuen Namen.
»Nimm besser das normale Aktivierungswort«, riet ihm Fajenne.
»KAPI-74«, sagte er und wiederholte die Frage.
Jetzt antwortete die KI: »Es handelt sich um drei Energiequellen.«
Fajenne warf ihm einen Blick über die Schulter zu. »Handelt es sich um ein natürliches Phänomen?«
Die KI antwortete nicht. Natürlich nicht. Sie war auf Vitos Stimme programmiert.
»KAPI-74, beantworte Fajennes Frage.«
»Nein, es handelt sich um Energiequellen technischen Ursprungs.«
Vito starrte entgeistert nach unten auf die Luftverwirbelungen.
Fajenne schüttelte den Kopf. »Das kann nicht sein. Wir verfügen nicht über eine solche Technik.«
Sie aktivierte die Sensoren. Auf einmal wurde ihr Gesichtsausdruck ernst: »Neo, ich übernehme. Lass Vito nach vorne.«
Neo zog spöttisch die Augenbrauen hoch. »Klar, das da unten ist ein UFO.« Aber er folgte Fajennes Anweisung und wechselte auf den hinteren Sitz.
Vito setzte sich neben Fajenne. Von hinten hörte er Neo sagen: »Wenn es auf Scintilla Außerirdische gäbe, hätten wir die doch bemerkt.«
Was Neo sagte, stimmte – sie waren immerhin schon sechzehn Jahre auf Scintilla. Eigentlich sogar siebenundzwanzig Jahre, wenn man die elf Jahre mitzählte, die die Crewmitglieder des ersten Forschungsschiffes auf dem Planeten verbracht hatten. Aber was sagte das schon?
»Vielleicht wollten sie nicht bemerkt werden«, meinte Vito.
Neo verdrehte die Augen. »Du kennst zu viele Sci-Fi-Storys …«
»Seid still!«, rief Fajenne dazwischen.
Sie deutete nach draußen und Vito folgte ihrem Blick. Die flimmernden Stellen bewegten sich über die Wasseroberfläche auf die Berge zu. Dann verschwanden sie in einem Tal hinter den Berghängen. Vielleicht waren es doch fremde Wesen? Ihre Flugroute wirkte sehr zielstrebig.
Fajenne studierte die Anzeigen. »Unsere Sensoren können sie nicht mehr erfassen.« Sie gab den Kurs zur Space Agency ein. »Auf jeden Fall muss ich der Kommandantin berichten.«
Der große Platz tauchte unter ihnen auf. Fajenne setzte Vito und Neo dort ab und flog weiter.
Der Platz war verlassen. Ein eisiger Wind blies Vito ins Gesicht. Hastig machte er seine Jacke bis obenhin zu. Die Sonnen standen tief und ihre Strahlen reichten nicht mehr aus, um die Luft zu erwärmen.
»Schnell runter ins LC!«, rief er Neo zu und lief voraus.
Das Einkaufszentrum wirkte wie ausgestorben. Natürlich, keine Energie, keine Waren, kein Verkauf. Je tiefer sie kamen, desto dunkler wurde es. Sie schalteten ihre SDs ein, als sie der Einkaufsstraße folgten. Aber von ferne waren die hämmernden Bässe zu hören. Sie zogen Vito an wie ein Magnet.
»Mach Loopings«, sagte Vitos KI unvermittelt.
Er lachte. »Du schon wieder?«
Und Loopings? Damit meinte sie wohl Saltos.
Neo sah ihn überrascht an. »Deine verrückte KI?«
Vito legte die Hand auf sein SD. »Still jetzt.«
Schon sah er die Gruppe vor sich, die sich um die Tanzfläche drängte. Wo war Kaja? Er erkannte ihren dunklen Mantel, ihren hochgebundenen Pferdeschwanz. Wieder stand Cedric neben ihr. Verstrahlt.
Kaja drehte sich um. Sie winkte ihn her und lächelte ihn an. Er lief auf sie zu und erwiderte ihr Lächeln. »Hi Kaja!« Er nickte Cedric zu. »Cedric.«
Cedric nickte zurück. »Hey, ihr zwei. Irgendetwas entdeckt außerhalb der Stadt?«
»Wir sind uns nicht sicher.« Normalerweise antwortete er nicht so kurz angebunden, aber er wollte jetzt alle Probleme vergessen. So wie die anderen, die Musik hörten, und den beiden Tanzenden in der Mitte zusahen, so als ob nichts wäre. Sie alle versuchten, an der Normalität festzuhalten, solange es ging. Deshalb würde Vito heute Scintilla-Moves tanzen. Er liebte es. Er brauchte es. Gerade nach dem heutigen Tag. Es störte ihn auch nicht, dass die Musik diesmal nur mithilfe der SDs abgespielt wurde und damit einiges von ihrer Klangqualität eingebüßt hatte.
Die Tanzfläche war jetzt frei. Vito warf Neo einen Blick von der Seite zu. »Los, komm!«
Neo folgte ihm in die Mitte. »Scintilla-Moves!«, rief jemand aus dem Publikum.
Vito hob kurz die Hand. Das hatte er vor. Es war allerdings etwas ungewohnt, mit der dicken Jacke zu tanzen, aber es war zu kalt, um sie auszuziehen. Und diesmal rechnete er mit der stärkeren Gravitation. Er würde ein paar Saltos wagen. Er wollte seiner KI schließlich etwas bieten. Und natürlich auch Kaja. Neo tanzte synchron neben ihm, führte die gleichen Schritte und Drehungen aus, dann sprangen sie beide einige Saltos – diesmal klappte alles – und kehrten an den Rand der Tanzfläche zurück. Den langen Pony aus dem Gesicht, ein High five mit Neo. Und die Stimme aus Vitos SD: »Das war cool.«
»Finden wir auch!«, hörte er einige der anderen sagen.
Er lächelte. »Danke!«
Sein SD meldete sich erneut: »Und diesmal bist du nicht hingefallen so wie beim letzten Mal, du musst wissen, ich springe auch gern Loopings.«
»Du bist doch eine KI!«, sagte er, aber er dachte: Nein. Das ist sie nicht.
Neo fuchtelte mit dem Zeigefinger vor Vitos SD herum. »Haha, du witziges Wurmloch!«
Aber Neo irrte sich. Das war kein Witz. Irgendjemand war seit dem Energieausfall immer in Vitos Nähe, beobachtete alles, was er tat, und kommunizierte mit ihm. Dies aber auf so freundliche und amüsante Weise, dass er nicht so besorgt war, wie er es vielleicht sein sollte.
»Eine KI kann jedenfalls keine Loopings springen. Oder was sie damit meint …«
»Willst du dein SD nicht mal von der Cybersecurity checken lassen? So ganz offiziell?«, schlug Neo vor.
Vito schüttelte den Kopf. Er wollte sein SD nicht abgeben. Auf gar keinen Fall.
Als er später in seinem Apartment war, versuchte er es mit Fragen. Er legte sich auf sein Bett und hielt sein SD über sich.
»Du bist gar keine KI«, provozierte er sie. »Du bist eine Person.«
Das Gerät reagierte nicht. Er wollte aufstehen, um sich etwas zu essen zu holen, da antwortete sie: »Natürlich bin ich eine Person.«
»Wer bist du?«
»Nelly«, kam es aus dem Gerät. »Du selbst hast mir doch diesen Namen gegeben.«
»Und wer ist Nelly?«
Das Gerät antwortete nicht. Vito wartete noch einige Augenblicke, dann gab er es fürs Erste auf. Aber auch in den nächsten Tagen gelang es ihm nicht, mehr Informationen von ihr zu erhalten.
Währenddessen spitzte sich die Situation in der Stadt immer mehr zu. Die Restwärme entwich aus den Gebäuden. Vito zog sich nachts nicht nur seinen Jogginganzug an, sondern noch einen warmen Pulli darüber und wickelte sich eng in die Bettdecke. Trotzdem hielt ihn die Kälte wach. Und die Sorge um die Stadt. Vom Transformator gab es immer noch keine Spur und der Nachbau zog sich.
Schließlich sprach er Nelly direkt an: »Sag mal was Schlaues.«
Es war eine Weile still. Vito saß wieder in seine Decke gehüllt auf dem Bett und starrte in der Dunkelheit auf sein SD.
Dann hörte er Nelly antworten: »Ich werde mir etwas überlegen.«
Es klang wie ein Versprechen.
»Heilige Galaxis!« Neo schaute entgeistert auf sein SD.
Es war zwei Wochen nach dem Abend des Energieausfalls. Sie waren wieder im LC. Vito stand im Publikum und sah Kaja und Jill zu, die synchron zur Musik tanzten. Beide Mädels waren »cool«, um bei dem Wort zu bleiben, das Nelly benutzte.
Neos Stimme riss ihn erneut aus seinen Gedanken.
»Du glaubst es nicht. Irgendwelche Idioten rauben die Lebensmittellager aus. Im Happy Fruits hat es sogar gebrannt.«
Unwillig löste Vito sich vom Anblick der Mädels und nahm sein SD. Er las den Bericht auf dem Display: … Die Lage gerät außer Kontrolle. Deshalb stellt die Space Agency den Ordnungskräften zwei ihrer Jets zur Verfügung.
Zwei Jets? Sicher eine Notmaßnahme. Es war klar gewesen, dass die Realität sie früher oder später einholen würde. Mit einer hastigen Bewegung steckte er sein SD zurück an den Gürtel. Es war spät und er wollte auf dem Rückweg etwas zu essen einkaufen. Aber hoffentlich ließ sich überhaupt noch etwas auftreiben. Sonst würde es ihm so ergehen wie vor ein paar Tagen, als er nichts mehr bekommen hatte. Er wollte nicht schon wieder hungrig ins Bett.
»Ich muss los.«
Kaja trat neben ihn. »Warte, wir kommen mit.«
Er nickte und wartete kurz auf Cedric und Neo. Auch Kajas Freundin Jill schloss sich ihnen an.
Einige andere verließen jetzt das Einkaufszentrum und zerstreuten sich oben in die Straßen.
Draußen lag ein übler Geruch in der Luft. Der Abfall wurde seit dem Energieausfall nicht mehr abgeholt. In der Aufbereitungsanlage war das auch zum Problem geworden. Die recycelbaren Materialien fehlten dort und die Produktion geriet noch mehr ins Stocken als ohnehin schon.
Jill hielt sich mit zwei Fingern die Nase zu. »Uh!«
Ein Windstoß wirbelte Behälter und Papiere auf. Kaja gab einen angewiderten Laut von sich, als ihr etwas ins Gesicht klatschte.
Cedric eilte zu ihr. »Alles in Ordnung?«
»Geht schon.« Sie wischte sich die klebrige Masse aus dem Gesicht.
Vito sah einen Rest auf ihrer Wange. »Da ist noch was.«
Sie blieb stehen und sah ihn mit dunklen Augen an. Er strich den Schmutzrest vorsichtig weg. Ihre leicht gebräunte Haut war so weich. Er wollte ihr noch einmal über die Wange streichen. Aber Cedric schaute ihm geradezu über die Schulter. So als täte er etwas Verbotenes.
Er machte einen Schritt zurück und bemerkte aus dem Augenwinkel, wie Jill grinste. Sie wusste Bescheid.
Neo hingegen stapfte bereits weiter und kickte einen Müllsack zur Seite.
Der Gestank mischte sich jetzt mit Brandgeruch. Vito sah sich um, ließ seinen Blick über die Häuserfassaden schweifen, aber es waren keine Flammen zu sehen.