Die Anbetung der Könige - Maximilian Mondel - E-Book

Die Anbetung der Könige E-Book

Maximilian Mondel

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Beschreibung

Eine entkommene Riesenschlange versetzt die Mitarbeiter einer Florentiner Restaurationswerkstatt in helle Aufregung. Im allgemeinen Tumult achtet niemand auf das weltbekannte Renaissancegemälde, das in der Werkstatt zur Rückgabe an die Uffizien bereit gestellt ist. Umso größer ist das Entsetzen, als klar wird, dass das Gemälde verschwunden ist.

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DIE ANBETUNG DER KÖNIGE

MAXIMILIAN MONDEL

unveränderte eBook-Ausgabe

© 2022 Seifert Verlag

1. Auflage (Hardcover): 2021

ISBN:  978-3-904123-59-4

ISBN Print: 978-3-904123-46-4

Umschlaggestaltung: Maximilian Helten & Michi Schwab, Union Wagner, unter Verwendung eines Fotos von http://www.zeno.org/nid/20004130715

Sie haben Fragen, Anregungen oder Korrekturen? Wir freuen uns, von Ihnen zu hören! Schreiben Sie uns einfach unter [email protected]

Seifert Verlag GmbH

Ungargasse 45/13

1030  Wien

www.seifertverlag.at

facebook.com/seifert.verlag

INHALT

Danksagung

Personen

Ein lukratives Angebot

Infrarote Einblicke

Ungebetene Gäste

Eine ereignisreiche Nacht

Der Schlange auf der Spur

Ein arger Imageschaden

Ein herber Verlust für die Kunstwelt

Spritztour Richtung Mittelmeer

Angst vor Alleingängen

Ein perfekter Arbeitsplatz

Eine kulturelle ­Katastrophe ersten Grades

Warten auf eine ­Lösegeld­forderung

Mausetot

Kulturbanausen an ­vorderster Front

Der erste Arbeitstag

Was man über die Gemälde­restaurierung wissen muss

Verdachtsmomente

Vertrauensstiftende Maßnahmen

Entschleunigung im Kloster

Millionenforderung

In der Ruhe liegt die Kraft

Ausflug ins Grüne

Im Garten Eden

Ein Sonntag im Labor

Wie original ist ein Original?

Die drei ­unverdächtigen Verdächtigen

Stimmungstief

Gewissheit

Farben im Kopf

Auf der Zielgeraden

Gedankenspiele

Showdown mit Panoramablick

Die Nadel im Heuhaufen

Einsame Entscheidungen

Ein Ausbruch mit Folgen

Eine Beretta in der Berlinetta

Tagsüber im Museum

Das wird ja immer bunter!

Späte Einsicht

Landpartie

Verpackt und zugeklebt

Ein wehleidiger Baulöwe

Unverhofft kommt oft

Ein Leonardo geht auf Reisen

Ein Rückschlag und ein Lichtblick

Wiedersehen

Das Comeback des Jahres

Rätselhafte Rückgabe

Gartenspaziergänge

DANKSAGUNG

Ich danke meinen Eltern, Margaretha Mondel und Manfred Mondel, sowie meiner Ehefrau, Mag. Ulla Ornauer-Mondel, die mir beim Zustandekommen der »Anbetung der Könige« mit Rat und Tat zur Seite gestanden sind. Außerdem danke ich meiner Verlegerin Dr. Maria Seifert für das mir und meiner Arbeit entgegengebrachte Vertrauen.

PERSONEN

Benedetti Moreno: dienstältester Gemälderestaurator des Opificio delle Pietre Dure e laboratori di Restauro OPD

Bruzzo Gianni: Chefportier des OPD

Collocini Maurizio: Direktor des OPD

Collocini Marcella: Tochter des OPD-Direktors

Fiore Giovanni: Nachtportier des OPD

Gasperini Stefano: Portier des OPD

Poletti Massimo: Kaufmännischer Leiter des OPD

Rizzoli Cesare: Assistent des OPD-Direktors Maurizio Collocini

Bianchi Alessio: Experte für Riesenschlangen

Schillaci Gabriele: Kunststudent

Bertini Giuliano: Vice Brigadiere der Autobahnpolizei

Calabrese Enrico und De Luca Gianni: zwei ­Carabinieri

Carbone Davide: Chef der Spurensicherung der ­Carabinieri

Dal Fiesco Domenico: Capitano der Carabineri

Donati Marcello: Brigadiere der Carabineri

Frattini Chiara: Ermittlerin der Versicherungsgesellschaft Art Exhibition Insurance of Europe AEIOU

Ferro Giuseppe: Direktor der Uffizien

Fusso Dario: Leiter der permanenten Ausstellungen der Uffizien

Corridori Vincenzo: Brigadiere des Comando Carabinieri Tutela Patrimonio Culturale TPC

De Gennaro Colonello Andrea: Polizeipräsident von Florenz

Lezzerini Luca: Capitano des TPC

Moretti Antonio: Brigadiere des TPC

Stronati Tenente Michele: Sekretär des Polizeipräsidenten De Gennaro

Mancini Guido: Kulturminister

Marchetti Michele: Ministersekretär

Hammond Darren Francis »Francesco«: Journalist, Immobilienhändler und Kunstfreund

Hammond Sofia: Hammonds Ehefrau

Laura: Hausmädchen der Hammonds

Park Chung Hee: Lieferant des Sushi-Restaurants Pagoda

Coppola Giuseppe: Lieferant des Malereibedarfs­unternehmens Piccini

Forchetti Claudio: Marcella Collocinis Freund

Forchetti Alessandro: Bauunternehmer und Vater des Claudio Forchetti

Galuzzi Simone: Chronik-Redakteur »La Nazione«

EIN LUKRATIVES ANGEBOT

Francesco«, stellte sich der so um die 60 Jahre alte, groß gewachsene Mann bei ihm vor, nachdem Gabriele Schillaci dem nicht mehr ganz taufrischen Fiat Cinquecento seiner Freundin Giulia entstiegen war. Auf dem ebenso unscheinbaren wie verwaisten Parkplatz des rund 75 Kilometer von Bologna entfernten Provinzflughafens von Forli standen nur vereinzelt Autos. Ohne Umschweife wollte der Fremde von Schillaci wissen, ob es denn seine persönlichen Lebensumstände erlaubten, dass er sich in den kommenden drei bis sechs Monaten einzig und allein diesem einen Projekt widme. Davon war am Telefon, als ein Treffen wegen »eines lukrativen Auftrags« vereinbart worden war, freilich keine Rede gewesen. Nur davon, dass es sich um eine aufwändige und diffizile Kopie eines Renaissancegemäldes handle. Und dass man ihn, Schillaci, empfohlen habe, da er an der Fakultät für Restaurierung von Kulturgütern an der Universität Bologna zu den besten Studenten seines Fachs gehöre und mit gelungenen Kopien alter Werke von sich reden gemacht habe. Wenn das Honorar stimmt, male ich dir, was immer du willst, hatte sich Schillaci damals gedacht. Und wenn er sich darüber hinaus in der Wiederherstellung von alten Gemälden weiterentwickeln könnte, umso besser. Warum ihn Francesco, der eine unaufdringliche Eleganz ausstrahlte, für 23.00 Uhr auf den Parkplatz des Flughafens von Forli beordert hatte, war dem angehenden Restaurator allerdings schleierhaft. Aber gut, wer zahlte, schaffte schließlich an.

»Signore Schillaci!«, holte ihn der Mann namens Francesco wieder ins Hier und Jetzt und blickte rundum, als wollte er sich vergewissern, dass niemand in der Nähe sei. »Können Sie sich vorstellen, für mich zu arbeiten? Wenn ja, kann es in einigen Tagen losgehen.«

Die volle Konzentration auf dieses eine Projekt, das, wie Francesco ausdrücklich betonte, mit einem sehr gut dotierten Honorar belohnt werden würde, bedeutete zum einen, dass niemand auch nur ein Sterbenswörtchen darüber erfahren dürfe. Zweitens würde die Arbeit an besagtem Gemälde fernab von Bologna vonstatten gehen, und drittens müsste er sich für die Zeit des Projekts aus seinem normalen Leben ausklinken.

»Inwiefern ausklinken?«, wollte der schlanke, hochgeschossene Kunststudent von Francesco wissen.

»Sie sind für die Zeit des Projekts an einen Ort gebunden und werden keinen Kontakt nach außen haben«, erklärte Francesco. »Erzählen Sie Ihrer Freundin etwas von einem Forschungspraktikum in Buenos Aires. Dort hat Ihre Fakultät doch eine Außenstelle, oder?«

Dieser Francesco hatte sich anscheinend vorbereitet. Und das gefiel Gabriele Schillaci.

Die Geschichte hatte nun eine Wendung genommen, an der geklärt werden musste, was Francesco unter einem sehr gut dotierten Honorar verstand.

»50.000.«

»Wie bitte?«, wäre es fast aus Schillaci hervorgesprudelt. Stattdessen fragte er nur: »Euro, oder?«, um irgendetwas Sinnvolles von sich zu geben. »Natürlich. Netto. Bar auf die Hand. Und steuerfrei«, konterte Francesco trocken.

Gegenüber Giulia würde ihm schon eine glaubwürdige Ausrede einfallen, dachte sich Schillaci. Und außerdem müsste es doch möglich sein, Mittel und Wege zu finden, um ab und an mit seiner Freundin in Kontakt zu treten. Schließlich sah ihm dieser Francesco nicht gerade wie jemand aus, der sein Tun auf Schritt und Tritt verfolgen würde. Andererseits könnte sein Arbeitsort auf einer Bohrinsel liegen oder auf einem Frachtschiff oder in einer Höhle in den Bergen, einem Zelt in der Wüste … egal, 50.000 Euro waren ein Argument, das man nicht in den Wind schlagen konnte, und schließlich würde auch Giulia davon profitieren. Für eine jener Miniaturen berühmter Gemälde, die er an Wochenenden in der Innenstadt von Florenz oder in San Gimignano an Touristen verkaufte, bekam er gerade mal 150 Euro. Und davon musste er schließlich noch Material- und Fahrtkosten abziehen. Selbst die eher seltenen Aufträge, eine originalgetreue Kopie eines Caravaggio, Raffael, Leonardo oder Filippo Lippi herzustellen, brachten ihm bestenfalls 500 Euro ein. Aber er wollte sich nicht beklagen, immerhin musste er nicht für 7,50 Euro die Stunde Bistecca florentina mit Pommes frites servieren oder für noch weniger im Weingarten schuften. Brutto, wohlgemerkt, sinnierte Schillaci, während sich Francesco daranmachte, den Ort des Geschehens zu verlassen. Wie er ihn erreichen könne, wollte Schillaci noch von ihm wissen, während sie vom Lichtkegel eines Autos gestreift wurden, das gerade in den Parkplatz eingefahren war.

»Ich melde mich bei Ihnen, wenn es so weit ist«, erklärte Francesco knapp, wünschte ihm einen schönen Abend, setzte sich in einen schwarzen Jeep Cherokee und entschwand in Richtung Autobahn.

Und wenn dem jungen Schillaci die 50.000 Euro im Laufe der Wochen zu wenig sind, dann erhöhe ich eben um 10.000 Euro, dachte er sich. Und dann noch einmal um 10.000, und wenn es sein muss, um weitere 10.000. Am Geld sollte es nicht liegen. Schillaci hatte auch im persönlichen Gespräch einen guten Eindruck bei ihm hinterlassen. Sein Auftritt bestätigte nur das, was er schon über ihn in Erfahrung gebracht hatte. Und die Arbeit des 25-jährigen jungen Mannes sprach ohnehin für sich. Auch sonst wirkte der Kunststudent solide und formbar. Und Linkshänder war er auch noch. Als er zwei Stunden später in die Einfahrt zu seinem Anwesen einbog, hatte Francesco ein rundum gutes Gefühl.

INFRAROTE EINBLICKE

Die Werkstätten des Opificio delle Pietre Dure e laboratori di Restauro befinden sich in der Fortezza da Basso im Zentrum von Florenz. Die Festungsanlage aus dem 16. Jahrhundert liegt an der Viale Filippo Strozzi, in unmittelbarer Nähe des Hauptbahnhofs Santa Maria Novella. Neben der renommierten Restaurationswerkstatt beherbergt die Fortezza da Basso mit ihrer imposanten Festungsmauer auch Konzert- und Veranstaltungssäle für Kongresse und Konferenzen.

Der Vormittag des 4. April war ein Vormittag wie viele andere im toskanischen Frühjahr. Noch etwas kühl, aber freundlich. Es war fünf Minuten vor elf, als sich Darren F. Hammond, freier Redakteur der britischen Tageszeitung »The Guardian«, beim Portier des Opificio delle Pietre Dure einfand und diesem den ausgedruckten E-Mail-Verkehr mit Cesare Rizzoli aus dem Direktionssekretariat sowie einen britischen Presseausweis präsentierte. Er habe um elf Uhr einen Termin bei Direttore Collocini, erklärte Hammond, der einen dunkelgrauen Zweiteiler und ein hellblaues Button-down-Hemd ohne Krawatte trug. Nachdem der Portier den Journalisten ordnungsgemäß angekündigt und in der Besucherliste eingetragen hatte, stand Hammond – groß gewachsen, schlank und das mittelbraune kurze Haar exakt gescheitelt – Minuten später mit einer voluminösen Aktentasche unterm Arm und einem Besucherschild am Revers seines Sakkos im Büro von Direttore Maurizio Collocini. Nach der Begrüßung und dem Austausch von Höflichkeiten begab man sich gemeinsam und ohne Umschweife ins Labor für die Restaurierung von Gemälden auf Leinwand und Holz.

»Wie lange schreiben Sie schon für den ›Guardian‹?«, wollte Collocini, bekleidet mit einem perfekt sitzenden dunkelbrauen Anzug und einem rosafarbenen Hemd, auf dem Weg ins Labor wissen.

»Seit knapp drei Jahren«, antwortete Hammond. »Ich liefere regelmäßig Reportagen für die Wochenendausgabe.«

Vor allem Kultur und Reisen seien seine Themenfelder, ab und zu auch Kulinarik, ließ der Brite Collocini wissen. Vor zweieinhalb Monaten hatte Hammond eine Anfrage an den Leiter des OPD geschickt. Daraufhin hatte man ihn gebeten, eine Kopie seines Presseausweises und eine unterfertigte Beauftragung der Chefredaktion per E-Mail zu übersenden. Man würde sich bei ihm melden und bekanntgeben, wann ihm ein Termin in der Restaurationswerkstatt gewährt werde.

Nach wenigen Minuten standen der englische Journalist und der Direktor des Opificio delle Pietre Dure nun vor jenem Gemälde, über dessen Restaurierung Hammond im »Guardian« eine Reportage zu verfassen gedachte.

»Wir haben die ›Anbetung der Könige‹ jetzt seit dreieinhalb Jahren bei uns. Und ich gehe davon aus, dass wir nur noch ein paar Tage, höchstens ein bis zwei Wochen für die vollständige Wiederherstellung benötigen«, erklärte ­Collocini. »Woher kommt es eigentlich, dass Sie perfekt Italienisch sprechen?«, fuhr er fort und kniff dabei die Augen zusammen.

»Wissen Sie, ich lebe seit 15 Jahren in Italien, und meine Frau ist Italienerin, da hat man keine andere Wahl, als die Sprache zu erlernen«, schmunzelte Hammond.

»Verstehe«, lächelte Collocini wissend zurück.

Gelbe Lüftungsrohre, Infrarotkameras, große Bildschirme und gigantische Mikroskope prägten den loftartigen Raum, der ein Stockwerk unterhalb der Chefetage lag. Auf den Tischen standen zahllose Fläschchen, Tuben und Dosen, daneben lagen Pinsel, Pinzetten, Skalpelle und anderes Werkzeug in den unterschiedlichsten Größen und für die unterschiedlichsten Verwendungszwecke aufgereiht. Penible Sauberkeit und eine ebensolche Ordnung wurden hier offensichtlich großgeschrieben. Hammond fühlte sich eher an einen Operationssaal oder an ein Forschungslabor der Pharmaindustrie erinnert als an eine Restaurationswerkstätte. Wäre da nicht in der Mitte des fabrikshallengroßen Raumes der drei Meter hohe Holzrahmen, in den das aus zusammengeklammerten Holzplanken bestehende Gemälde montiert war, Hammond hätte die komplett in Weiß gekleideten Restaurateure ohne Weiteres für Krankenhauspersonal gehalten. Als er der restaurierten »Anbetung der Könige« in seiner vollen Pracht gegenüberstand, ließ er sich weder seine Ehrfurcht vor dem Meisterwerk anmerken, noch dass ihm sein Herz bis in den Hals schlug.

»Wunderschön«, entfuhr es ihm dann aber doch, und das war vor allem darauf zurückzuführen, dass er das Gemälde, das er schon Dutzende Male in den Uffizien bestaunt hatte, nun zum ersten Mal so sah, wie es Leonardo da Vinci selbst gesehen hatte: vollständig vom Schmutz der Jahrhunderte und dem vergilbten Firnis, der immer wieder zum Schutz des Bildes aufgetragen worden war, befreit.

»Finden Sie nicht auch, dass Leonardos Genie, das sich hier vor allem in der Bildkomposition und der perspektivischen Darstellung zeigt, jetzt noch deutlicher zum Vorschein kommt?«, sinnierte Collocini, ohne wirklich auf eine Antwort von Hammond zu warten.

»In der Tat«, flüsterte Hammond und tauchte immer tiefer in das Holzbild ein. Fast zu tief.

»Signore Hammond! Vorsicht!«, mahnte Collocini den Journalisten, der nahe an das Meisterwerk herangetreten war.

Hammond machte eine entschuldigende Geste, trat einen Schritt zurück und betrachtete das Werk nun aus sicherer Entfernung.

»Was würden Sie denn gerne über die Restaurierung des Bildes wissen?«

Hammond war fast geneigt, »Alles!« zu rufen, besann sich dann aber eines Besseren.

»Erzählen Sie mir doch bitte zu Beginn, wie es überhaupt zur Restaurierung des Gemäldes kam.«

Daraufhin begann Collocini zu schildern, wie ein privater Mäzen die Mittel für die Restaurierung bereitgestellt hatte, wie das Opificio delle Pietre Dure von den Uffizien – wie in solchen Fällen üblich – mit dem Projekt betraut worden war, unter welch strengen Sicherheitsvorkehrungen die »Anbetung der Könige« in die nur wenige Straßenzüge entfernte Restaurierungswerkstätte gebracht worden war, und dass sich ein Team von rund einem Dutzend Experten mit den unterschiedlichsten Spezialisierungen seit knapp 1.300 Tagen intensiv um die Wiederherstellung des Gemäldes bemühte.

»Ich kann Ihnen sagen, es ist gar nicht so einfach zu definieren, was man eigentlich restaurieren, also wiederherstellen soll. Cesare Brandi meint in seiner ›Teoria del Restauro‹, einem Standardwerk: ›Die Restaurierung muss sich die Wiederherstellung der potenziellen Einheit eines Kunstwerks zum Ziel setzen, unter der Voraussetzung, dass dies möglich ist, ohne eine historische oder künstlerische Fälschung zu begehen und ohne die Spuren der Zeit auf dem Kunstwerk zu löschen.‹ Wir, die wir für die Restaurierung des Bildes zuständig sind, tragen demnach eine riesengroße Verantwortung. Vor allem, weil es sich nicht um irgendein Bild handelt, das auf einem Dachboden gefunden worden ist und das im Zuge der Restaurierung in einen möglichen Original­zustand zurückversetzt werden soll. Hier handelt es sich um ein Gemälde, das die ganze Welt kennt und das – obwohl es unvollendet ist – eines der bedeutendsten Gemälde von Leonardo da Vinci ist, weil es für eine ganz bestimmte Phase seines Schaffens steht.«

Direttore Collocini war deutlich anzusehen, welche Bedeutung die Arbeit an der »Anbetung der Könige« für ihn und das gesamte Labor hatte und wie sehr ihn das Projekt gefangen nahm – und das obwohl schon die Werke vieler großer Renaissancekünstler durch seine Hände gegangen waren.

»Wenn Sie wollen, Signore Hammond, zeige ich Ihnen, was man zu sehen bekommt, wenn man dem Bild mit der Infrarotlampe zu Leibe rückt«, verkündete er jetzt. Und da ihm bewusst war, dass Hammond sich das Schauspiel nicht entgehen lassen würde, wies er noch im Reden einen seiner Mitarbeiter per Fingerzeig an, die Infrarotlampe in Position zu bringen und einzuschalten.

»Betrachten Sie etwa die Ruine im Hintergrund, Signore Hammond«, sagte er, und zu seinem Mitarbeiter gewandt: »Gianni, dreh das Licht bitte kurz weg und dann wieder auf das Bild. Sehen Sie, Signore Hammond, hier kann man ganz klar eine darunterliegende Skizze erkennen.«

»Faszinierend«, staunte Hammond.

»Unsere Aufgabe neben der eigentlichen Restaurierung«, fuhr Collocini mit zusammengekniffenen Augen fort, »ist es, zu dokumentieren, was wir vorgefunden und welche Eingriffe wir vorgenommen haben. Dokumentation ist im Rahmen der Restaurierung das Um und Auf. Alle unsere Eingriffe in das Werk müssen nachvollziehbar sein, sodass man die original erhaltenen Partien klar und deutlich von den restaurierten Partien unterscheiden kann. Und vor allem verbringen wir sehr viel Zeit damit, uns das Werk unter dem Mikroskop anzuschauen und zu analysieren, welche Maßnahmen wir setzen wollen und welche nicht.«

Hammond nickte, ohne Collocini zu unterbrechen.

»Und wissen Sie, was die effizienteste Form der Restaurierung ist?« Collocini drehte sich auffordernd zu Hammond: »Die Konservierung. Damit meine ich die ideale Luftfeuchtigkeit und Beleuchtung sowie die Vermeidung von direkter Sonneneinstrahlung, Staub und Umwelteinflüssen, so weit dies eben möglich ist.«

Dies gelte im Übrigen für jedes Kunstwerk, ob im Museum oder zu Hause an der Wand oder im Büro, fügte Collocini hinzu, während er sich kurz mit den Fingern durch die Haare fuhr: »Ich erzähle Ihnen damit wahrscheinlich nichts Neues, aber im Grund beginnt der Verfallsprozess jedes Kunstwerks genau in dem Moment, in dem es erschaffen wird.«

Hammond nickte wissend, während sein Blick weiter auf dem Gemälde ruhte.

Fünfundvierzig Minuten später war Collocini mit seinen detaillierten Ausführungen über das aufwändige Restaurierungsprojekt fertig.

»Sie würden dem Opificio delle Pietre Dure natürlich einen unheimlichen Gefallen tun, wenn Sie das, was wir hier zu leisten imstande sind, ins rechte Licht rückten«, ließ der Direttore anklingen.

»Wie Sie wissen, hat der Wettbewerb auch vor unserem Wirtschaftszweig nicht Halt gemacht. Für uns sind Projekte wie die Restaurierung der ›Anbetung der Könige‹ von hoher Bedeutung, weil sie die Aufmerksamkeit der Fachöffentlichkeit auf uns richten und wir damit unter Beweis stellen, dass wir in Italien und auch in Europa eine der ersten Anlaufstellen für die Restaurierung von Gemälden sind.«

Hammond versicherte Collocini mit einem wissenden Lächeln, dass er die Würdigung des Opificio delle Pietre Dure nicht zu kurz kommen lassen werde. Dann bedeutete er dem OPD-Direktor mit einem Fingerzeig auf seine Armbanduhr, dass er nun langsam aufbrechen müsse. Auf dem Weg die Treppe hinunter zum Eingangsbereich vereinbarten die beiden, dass sich Hammond jederzeit telefonisch bei Collocini melden dürfe, sollten noch weitere Fragen auftauchen. Es war 12.40 Uhr, als sich die beiden vor der Portiersloge des Opificio delle Pietre Dure voneinander verabschiedeten, Hammond beim Portier seinen Besucherausweis abgab und das Gebäude durch den Haupteingang verließ.

UNGEBETENE GÄSTE

Gerade als Gianni Bruzzo, der leicht übergewichtige Chefportier des Opificio delle Pietre Dure, damit beschäftigt war, in der Besucherliste zu vermerken, dass Darren Hammond das OPD verlassen hatte, betraten zwei Männer mit einer Hartplastikkiste, die in etwa die Ausmaße eines Mikrowellenherdes hatte, das Gebäude. Die beiden stellten sich als Angestellte einer Tierhandlung in Prato in der Nähe von Florenz vor und erklärten, dass sie eine Lieferung für Signore Massimo Poletti hätten. Man solle Poletti doch bitte rasch rufen, erklärte der eine der beiden, da die eben vor der Portiersloge abgestellte Transportkiste möglicherweise einen Sprung habe, man könne für nichts garantieren. Bruzzo hatte in seinem Portiersdasein schon vieles erlebt und rief gelassen Poletti an, der natürlich prompt nicht in seinem Büro war, sondern irgendwo im Haus umherschwirrte. Nein, sein Mobiltelefon habe Poletti nicht mitgenommen, das liege auf seinem Schreibtisch, erklärte man Bruzzo. »Na, bestens!«, schoss es dem Portier durch den Kopf.

Die beiden Männer von der Tierhandlung Mondo ­Animali beäugten die Transportkiste inzwischen von allen Seiten, schienen aber mit ihrer Grobanalyse der Situation zufrieden.

»Signore Poletti wird in ein paar Minuten hier sein«, erklärte Bruzzo den beiden Männern und fragte beiläufig: »Was ist denn überhaupt in der Kiste drin?«

»Eine Boa constrictor. Aber eine kleine. Keine Sorge«, erwiderte der Größere der beiden.

Von Sorglosigkeit angesichts einer lateinamerikanischen Würgeschlange war Portier Buzzo ungefähr so weit entfernt wie von einer Beförderung zum Direktor des Opificio delle Pietre Dure. Nicht nur seiner Angst vor Schlangen wegen, sondern auch, weil er sich gar nicht ausmalen wollte, was einer seiner Vorgesetzten sagen würde, wenn dieser wüsste, dass im Eingangsbereich des Hauses eine Riesenschlange in einer vermutlich angebrochenen Transportkiste lauerte. ­Poletti musste her, und zwar schnell.

Angespannt griff Bruzzo zum Telefon und machte sich daran, die Telefonliste von oben nach unten abzuarbeiten. Er war gerade bei »G« angelangt, genauer bei Signora Gentile aus der Buchhaltung, die ebenfalls keine Ahnung hatte, wo sich der kaufmännische Direktor aufhielt, als Darren Hammond, der Journalist von eben, wieder vor der Portiersloge auftauchte. Er habe sein Aufnahmegerät oben in der Werkstätte liegen lassen, erklärte er. Bruzzo war bewusst, dass es nicht den Vorschriften entsprach, aber er hatte jetzt wirklich andere Sorgen, und so gestattete er Hammond, alleine zur Werkstätte hochzugehen, nicht jedoch ohne den Journalisten vorher oben in der Werkstatt anzukündigen und im selben Atemzug nachzufragen, wo denn Poletti verblieben sei. Der sei eben noch dagewesen, habe die Werkstätte aber vor drei Minuten verlassen, erklärte man ihm. Möglicherweise spaziere er noch mit der Delegation vom Chinesischen Nationalmuseum in Peking durch das Gebäude, schließlich träume Poletti vom ganz großen Geschäft mit den Chinesen.

Dass es in der grünen Transportkiste plötzlich raschelte und unrhythmisch klopfte, trug nicht gerade dazu bei, dass sich Bruzzo entspannte. Bei seinem Telefonrundruf war er mittlerweile bei Cesare Rizzoli, dem Sekretär von Direktor Collocini, gelandet. Doch auch der wusste nicht, wo sich Poletti aufhielt. Man möge ihn bitte nicht mit derartigen Dingen belästigen, er habe Wichtigeres zu tun. Und selbst wenn sich Poletti einen lebendigen Säbelzahntiger liefern ließe, würde es ihn, Rizzoli, nicht im Geringsten interessieren. Damit legte er grußlos auf.

Bruzzo rollte die Augen und wischte sich mit dem Handrücken ein wenig Schweiß von der Stirn. Er konnte und wollte sich jetzt nicht mit diesem aufgeplusterten Pfau aufhalten. Vielmehr wollte er diese Riesenschlage aus seinem Einflussbereich befördert wissen. Die beiden Männer von der Tierhandlung, die er während des Telefonats durch die Glasscheibe sehen konnte, bedeuteten Bruzzo gestikulierend, dass sie weiterfahren müssten. Der eine der beiden hatte bereits ein Formular und einen Stift in der Hand und drängte Bruzzo, die Lieferbestätigung zu unterfertigen, schließlich hätten sie noch zwei weitere Lieferungen zu erledigen.

»Und was soll ich Ihrer Ansicht nach tun, wenn die Schlange aus der Kiste kriecht?«, fragte Bruzzo die beiden Lieferanten.

»Dann rufen Sie uns an! Hier ist unsere Telefonnummer«, meinte der mit dem Lieferschein.

Damit machten sich die beiden auf den Weg zum Ausgang. Bruzzo wollte sie gerade noch zurückhalten, als das Telefon in der Portiersloge läutete. Es war Poletti. Was denn so wichtig sei, dass das ganze Haus nach ihm suche, wollte Poletti, der im Opificio delle Pietre Dure für die möglichst gewinnbringenden Beziehungen zu Museen und anderen Kultureinrichtungen zuständig war, wissen. Als Bruzzo in seinen Schilderungen beim Wort Riesenschlange angelangt war, brüllte Poletti »Ich komme!« ins Telefon und knallte den Hörer auf die Gabel. Aus dem Augenwinkel bemerkte der Portier, wie sich die Hartplastikkiste mit der Schlange mehrmals sanft hob und wieder senkte.

Im nächsten Moment kam Massimo Poletti mit der chinesischen Delegation langsam die Treppe herab, blieb mitten im Eingangsbereich kurz stehen und ging dann, ohne ­Bruzzo eines Blickes zu würdigen, auf die Hartplastikkiste zu. »Mondo Animali« stand auf der Kiste in grünen Lettern zu lesen, und dann war da noch ein Sticker mit seinem Namen: »Sign. Massimo Poletti, Opificio delle Pietre Dure, Fortezza da Basso«.

»Wer hat die Kiste hergebracht? Und warum haben Sie mich nicht gleich gerufen?«, zischte Poletti, nachdem er sich in einem gefühlt zehn Minuten dauernden Ritual von der sechsköpfigen Delegation aus China verabschiedet hatte.

»Vorsicht«, ereiferte sich Bruzzo, als Poletti die Kiste auf die Seite drehte, wo nun Luftschlitze erkennbar waren.

»Bruzzo, bitte, was soll schon sein? Es ist eine Babyschlange, haben Sie doch gesagt«, schnaubte der studierte Zoologe verächtlich.

Die Kiste war auffällig leicht, fand Poletti, und dann sah er den rund 40 Zentimeter langen Sprung quer über die Luftschlitze. Ohne zu zögern, hob er die Kiste in die Höhe und schüttelte sie. Ein wenig Stroh rieselte heraus, ansonsten bewegte sich nichts.

Vorwurfsvoll blickte er zum Portier: »Bruzzo, bei allem Respekt: Zuerst lassen Sie mich im ganzen Haus suchen wie einen Schwerverbrecher. Und jetzt das! Wo, zum Henker, ist die Schlange? In der Kiste ist sie nämlich nicht!«

EINE EREIGNISREICHE NACHT

Es war knapp nach halb elf. Die Dunkelheit legte sich über die Restaurationswerkstatt im Zentrum von Florenz. Der Nachtportier Giovanni Fiore hatte um zehn nach zehn den letzten noch im Haus befindlichen Mitarbeiter verabschiedet und seine Runde durch das Gebäude vollendet. Boa constrictor hatte er, nicht anders als vermutet, keine gesehen. Der Schürhaken in seiner rechten Faust war nicht zum Einsatz gekommen. Soll sich doch Bruzzo tagsüber darum kümmern, dachte sich der schmächtige Enddreißiger, der von seinen Kollegen oft als »unser Philosoph« tituliert wurde, weil er stets mit dicken Schmökern zur Arbeit erschien. Der Chef der Portierstruppe war ganz aufgelöst gewesen, als Fiore sich um 21.50 Uhr zum neunstündigen Nachtdienst bei der Portiersloge eingefunden hatte. Die auch gegenüber Bruzzo mehrfach geäußerte Theorie von Fiore lautete: »Es handelt sich um einen üblen Scherz, und in der Kiste war gar keine Schlange.« Und nachdem die Belegschaft in einer improvisierten Mitarbeiterversammlung über die angebliche Babyriesenschlange informiert und zu Vorsicht sowie Stillschweigen gegenüber der Presse angehalten worden war, war man wieder zur Tagesordnung übergegangen. Die lokale Tierrettung und ein Riesenschlangenexperte aus Rom waren jedenfalls für den kommenden Morgen um acht Uhr ins OPD bestellt worden. Er, Fiore, würde dann allerdings bereits im Land der Träume weilen, seine Schicht endete schließlich um sieben Uhr, inklusive Übergabe spätestens um 7.15 Uhr. Schon erstaunlich, wofür es alles Experten gibt, schoss es ihm durch den Kopf. Ein Riesenschlangenexperte in Italien. Absurd. Vielleicht sollte er auch Experte für irgendetwas werden und saftige Honorare kassieren, dann müsste er nicht vier Tage in der Woche als Nachtportier im Opificio delle Pietre Dure schuften. Experte für Alarmanlagen war er ja schon, murmelte Fiore zu sich selbst, während er die Anlage kontrollierte. Er registrierte keine Unregelmäßigkeiten und machte es sich darauf mit der von Bruzzo hinterlassenen »Gazzetta dello Sport« in der Portiersloge bequem.

Zuvor warf er noch einen kurzen Blick auf das interne Memo, in dem die Geschäftsführung nachdrücklich darauf hinwies, dass unternehmensfremde Personen – auch Angehörige – unter keinen Umständen von der Boa constrictor erfahren dürften, auch und vor allem, weil man sich angesichts der Konkurrenz aus Turin keine negativen Presseberichte leisten könne. Unterzeichnet hatte das Memo Direttore Collocini, der nicht nur unter den Portieren weitaus beliebter war als der mitunter pedantische kaufmännische Direttore Poletti. Fiore würde jetzt noch eine Stunde Zeitung lesen, danach einen Rundgang machen – mit dem Schürhaken bewaffnet – und sich anschließend aufs Ohr hauen.

Zur gleichen Zeit setzte sich zwei Stockwerke oberhalb der Portiersloge in einem Raum mit Putzutensilien ein Mann in einem dunkelgrünen Overall eine Schirmkappe auf. Sowohl der Overall als auch die Kappe wiesen ihn als Mitarbeiter von Mondo Animali aus. »Lorenzo Di Pasquali« stand auf einem Namensschild mit Logo zu lesen. Die vergangenen Stunden hatte der Mann unter anderem damit zugebracht, aus Kunststoffstäben und Steckvorrichtungen sowie einer Kunststoffplane eine 30 Zentimeter tiefe, 260 Zentimeter lange und 260 Zentimeter breite Transportkiste zu basteln. Die Vorderseite zierte das grüne Logo von Mondo ­Animali, auf der Rückseite prangte in großen Lettern »Attenzione, Serpente soffocato!« – »Achtung, Würgenschlange!«

Di Pasquali, der Baumwollhandschuhe trug, öffnete nun vorsichtig die Tür der Putzkammer, trat auf den Gang hinaus, versicherte sich noch einmal, dass sein Tun von keiner Sicherheitskamera und keinem Bewegungsmelder verfolgt wurde, und warf einen prüfenden Blick auf die verschlossene Tür des Labors, hinter der die Gemälde auf Leinwand und Holz restauriert wurden. Die überdimensionale Transportkiste hatte er in der Putzkammer zurückgelassen. Er zog einen walnussgroßen Stein aus der Jackentasche, zielte und traf. Als das Türglas zerbarst, hatte der Stein ein Loch von rund vier Zentimeter Durchmesser hinterlassen, und zwei Stockwerke tiefer schlug, um exakt 22.40 Uhr, in der Portiersloge die Alarmanlage an. Di Pasquali hatte sich unterdessen gleich wieder in sein Putzkämmerchen verzogen und wartete nun, dass der Nachtportier auf den Plan trat.

Giovanni Fiore wollte sich gerade den Vorbericht zum morgigen Meisterschaftsspiel von Florentina gegen Bologna durchlesen, da heulte die Sirene los. In weniger als drei Sekunden landete die »Gazzetta dello Sport« auf dem Tisch, und Fiore hatte den Entwarnungsknopf für die Eingangstür zur Restaurationswerkstatt an der Alarmanlage gedrückt. Dass die Carabinieri ausgerechnet heute bei ihm aufkreuzten, musste er unter allen Umständen vermeiden: Erstens wäre das mit mühseliger Schreibarbeit verbunden, zweitens würde ihn Chefportier Bruzzo elendslang befragen, warum es notwendig gewesen sei, die Polizei ins Haus zu holen, und drittens durfte die Geschichte mit der abhanden gekommenen Boa constrictor keinesfalls an die Öffentlichkeit dringen. War die Polizei erst mal im Haus, würde die lokale Presse in Windeseile von der entkommenen Boa erfahren, und das Opificio delle Pietre Dure wäre zumindest für einen Tag das Gespött von ganz Florenz. Mit diesen wenig erquicklichen Gedanken machte sich Fiore auf den Weg zum Labor in die zweite Etage: Bewaffnet mit einer Taschenlampe in der linken und dem Schürhaken in der rechten Hand, nahm er jeweils drei Stufen auf einmal. Diesem Biest würde er es zeigen! Ihm die Nachtruhe stehlen und Arbeit ohne Ende aufbürden! Diese verdammte Boa! Fiore schnaubte entschlossen und nahm den Schürhaken noch etwas fester in die Hand.

Als das Licht der Taschenlampe die Tür zum Labor für die Gemälderestaurierung erfasste, sah Fiore sofort das golfballgroße Loch in der Milchglasscheibe. Im Nu hatte er seinen Schlüsselbund hervorgekramt, die Tür geöffnet und sämtliche Lichtschalter betätigt. In Türnähe war der Boden mit Glassplittern übersät, aber sonst schien alles normal zu sein. Das Da-Vinci-Gemälde, dessen Inhalte in den vergangenen Monaten von Tag zu Tag deutlicher zum Vorschein gekommen waren, befand sich noch immer in seinem Holzrahmen. Und auch sonst gab es nichts, was Fiore, der nun immer weiter ins Labor vordrang, verdächtig schien. Ein Knacken hinter seinem Rücken ließ ihn herumfahren. Er bog um eine Staffelei, umrundete einen Schreibtisch, und da lag sie: eine Maus, deren Zustand mit mausetot ziemlich treffsicher beschrieben werden konnte. Ein, zwei Schritte noch, und Fiore war wieder bei der Tür angelangt. War da nicht was? Diese Boa kann was erleben, fluchte er vor sich hin, während seine Faust den Schürhaken so fest umklammerte, dass die Adern auf dem Handrücken hervortraten. Fiore warf einen Blick nach links und rechts und entschied sich, den Gang nach rechts zu nehmen. Zwanzig Meter weiter lag erneut eine T-Kreuzung vor ihm. Noch bevor er sich ein weiteres Mal mit der Links-oder-rechts-Frage auseinandersetzen konnte, schrillte erneut die Alarmanlage. Fiore machte auf dem Absatz kehrt, hetzte an der noch immer offenstehenden Tür zur Restaurationswerkstätte vorbei und nahm im Stiegenhaus drei Stufen auf einmal, inständig hoffend, seine Portiersloge rechtzeitig zu erreichen, bevor der verdammte Alarm an die Carabinieri und den Securitydienstleister des Opificio delle Pietre Dure weitergeleitet wurde.

Zwei Etagen höher machte sich unterdessen der Mann in der Mondo-Animali-Uniform daran, die »Anbetung der Könige« mit flinken und routinierten Handgriffen aus dem Holzrahmen zu entfernen. Behutsam berührte er das jahrhundertealte Gemälde mit seinen Baumwollhandschuhen, genau dort, wo dies auch die Restauratoren des OPD tun würden, und beförderte es in weniger als sechs Minuten in die Transportbox von Mondo Animali. Vorbereitung ist die halbe Miete, wusste Di Pasquali: Er hatte nichts dem Zufall überlassen und Eckenschoner aus Styropor mitgebracht, die das Bild in der mit Rädern ausgestatteten Transportbox schützen und zugleich stabilisieren sollten. Weitere 45 Sekunden benötigte er, um einen maßstabgetreuen Farbdruck der »Anbetung der Könige« so am Holzrahmen zu befestigen, dass man bei hastigem Hinsehen annehmen konnte, das Original hänge ebendort. Kurz darauf war die Restaurationswerkstätte wieder menschenleer, Di Pasquali hatte den Ort des Geschehens verlassen und sich mit dem in der Kunststoffbox verstauten Gemälde in die Putzkammer zurückgezogen.

Fiore hatte im allerletzten Moment die Portiersloge erreicht und schaltete jetzt den neuerlichen Alarm ab, der von einem Bewegungsmelder im zweiten Stock ausgelöst worden war. Eine Sekunde lang überlegte er, den Chef der Portiertruppe anzurufen, entschied sich dann aber dagegen. Er würde die Sache selbst in Ordnung bringen und sich nicht von einer Babyschlange aus dem Konzept bringen lassen. Bruzzo mochte keine nächtlichen Störungen, und der Gedanke an Bruzzos mögliche Sticheleien über seine Jagd nach der Boa bestärkte Fiore außerdem darin, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Die Kopie des Lieferscheins von Mondo Animali war schnell zur Hand, und Fiore schnappte sich den Telefonhörer. Wie erwartet, hob bei Mondo Animali niemand ab, schließlich war es 45 Minuten vor Mitternacht. Eine freundliche Frauenstimme forderte den Anrufer auf, eine Nachricht zu hinterlassen. Fiore schilderte das Problem in wenigen Worten, betonte die Bedrohlichkeit der Lage und bat dringend um ehestbaldigen Rückruf.

Seinen Plan von einem Schläfchen hatte er für diese Nacht längst begraben. Der Bericht der Ereignisse für die Unternehmensleitung und Bruzzo war zwar bereits fertig, aber es stand ihm noch ein letzter halbstündiger Rundgang bevor. Doch der brachte keine neuen Erkenntnisse. Sollen sich doch die Kollegen am Tag mit der blöden Schlange auseinandersetzen, dachte sich Fiore, der nun, gegen Ende seines Dienstes, angesichts des Schlafmangels deutlich müder war als sonst. Während aus dem Transistorradio Frankie Valli mit »Oh, What A Night« erklang, wünschte sich Fiore nur mehr eines: sein kuscheliges, warmes Bett.

DER SCHLANGE AUF DER SPUR

Aber die Leute von Mondo Animali sind doch schon im Haus, oder?«, meinte Stefano Gasperini, Fiores Kollege vom Tagdienst, nachdem der ­Nachtportier die Ereignisse des Vortages und der Nachtstunden in den buntesten Farben geschildert hatte.

»Wie kommst du denn darauf?«, entgegnete Fiore verwirrt.

»Weil ein Lieferwagen von Mondo Animali gleich um die Ecke steht«, erklärte der muskelbepackte 39-Jährige mit Vollglatze.

Der nun schon etwas übernächtigte Fiore atmete einmal tief durch und ging kurz nach draußen. An der Häuserecke links vom Opificio delle Pietre Dure sah Fiore tatsächlich einen grünen Lieferwagen von Mondo Animali. Das Auto war allerdings, soweit er sehen konnte, leer. Er blickte auf sein Smartphone. Es war 7.10 Uhr und damit wirklich allerhöchste Zeit, den Heimweg anzutreten. Genug Stress für einen Arbeitstag.

»Keine Ahnung, wo die Typen von Mondo Animali stecken. Vielleicht schauen Sie sich ja schon mal draußen um, wo die Schlange ist«, meinte Fiore, während er in der Portiersloge seine Sachen zusammenpackte. »Und tut mir bitte einen Gefallen: Sorgt dafür, dass die Schlange heute Abend zu meinem Dienstantritt nicht mehr da ist. Wir sehen uns morgen früh um sieben Uhr.«

Zehn Minuten später, Stefano Gasperini war gerade damit beschäftigt, Milch in seinen Kaffee zu gießen, klopfte es an der Scheibe der Portiersloge. Gasperini erblickte einen in einem grünen Overall gekleideten Mitarbeiter von Mondo Animali, neben dem ein kastengroßer, mit kleinen Rädern ausgestatteter Kunststoffbehälter mit der Aufschrift »Attenzione, Serpente soffocato!« stand. Der Mann mit dem Wohlstandsbäuchlein stellte sich als Lorenzo Di Pasquali von Mondo Animali vor.

»Wir sind wegen der entkommenen Boa constrictor hier. Ist denn mein Kollege schon bei Ihnen gewesen?«

»Also ich bin erst seit 20 Minuten hier, aber mein Kollege vom Nachtdienst hat niemanden von euch hereingelassen. Wir haben uns schon gewundert, wo ihr bleibt.«

Der Mann im grünen Overall blickte kurz auf seine Uhr und schien nachzudenken.

»Na gut, dann schau ich kurz nach draußen. Der Kollege wollte schnell Zigaretten kaufen. Vielleicht hat er außerhalb des Gebäudes mit der Suche begonnen. Die Schlangenfalle nehme ich wieder mit.«

Und schon rollte Di Pasquali den Kunststoffbehälter in Richtung Ausgang. Eine sonderbare Truppe, dachte sich Gasperini, rührte seinen Kaffee um und trug Lorenzo Di Pasquali in die Besucherliste ein. Dann machte er sich an die Lektüre von Fiores Bericht vom Nachtdienst und stellte sich seufzend auf einen ereignisreichen Tag ein.

Gerade als Gasperini 15 Minuten später die eben eingetroffenen Mitarbeiter des Reinigungsdienstes von der Babyriesenschlange unterrichtete, trafen ein angespannt wirkender Chefportier Bruzzo, der aus Rom angereiste Riesenschlangenexperte Alessio Bianchi und zwei junge Mitarbeiter der Florentiner Tierrettung bei der Portiersloge ein. Bruzzo bat den kräftigen, unausgeschlafen wirkenden Bianchi, einen Mitdreißiger mit Dreitagesbart, sowie die beiden jungen Tierretter nach einer kurzen Unterredung mit Gasperini in sein Büro. Mit Fiores Bericht unter dem Arm nahm Bruzzo Platz und schilderte den Anwesenden, was sich seit dem Nachmittag des Vortages im OPD abgespielt hatte und dass er sich nichts mehr wünsche, als dass der Spuk endlich ein Ende habe.

»Das oberste Gebot lautet: Kein Wort an die Presse! Das können wir uns nicht leisten, meine Herren«, beendete ­Bruzzo seine Ausführungen.

Die beiden Burschen von der Tierrettung hatten keine weiteren Fragen und begaben sich zu ihrem Van, um die Ausrüstung zum Einfangen und den Transport von Schlangen zu holen. Bianchi warf einen Blick auf den Lieferschein von Mondo Animali. Neue Aufschlüsse über das angeblich entwichene Tier bot ihm dieser allerdings nicht. Ob er die beschädigte Transportkiste noch kurz inspizieren dürfe, bevor er sich an die Arbeit mache, wollte Bianchi wissen. ­Bruzzo nickte, wiewohl er sich insgeheim wünschte, dass Bianchi endlich zur Tat schreiten und ihm dieses verdammte Tier aus dem Haus schaffe möge.

Nachdem er Bianchi die Transportkiste überreicht hatte, wandte Bruzzo sich Gasperini zu: »Ich bin sofort wieder da. Ich zeige Signore Bianchi das Labor, damit er die Fährte aufnehmen kann. Schick die beiden Herren von der Tierrettung bitte hinauf. Danke!«

Genau in dem Moment, als Bruzzo zwei Etagen höher dem Schlangenexperten Bianchi die Tür zur Restaurationswerkstatt aufsperrte, läutete das Telefon in der Portiersloge, und eine Dame von Mondo Animali meldete sich.

»Wir haben Ihren Anruf von vergangener Nacht abgehört. Die zwei Kollegen von gestern sind in 45 Minuten bei Ihnen.«

Gasperini verschlug es kurz die Sprache. Dann erklärte er der Telefonistin, dass die Herren von Mondo Animali bereits seit sieben Uhr vor Ort seien und offenbar entlang der Außenmauern nach der Schlange suchten.

»Davon weiß ich nichts«, erwiderte die Dame: »Wie heißen denn die beiden Kollegen?«

»Einer der beiden heißt Di Pasquali. Den anderen habe ich noch gar nicht …«

Die Stimme am anderen Ende der Leitung unterbrach ihn.

»Di Pasquali? Di Pasquali arbeitet schon seit zwei Jahren nicht mehr bei uns. Wieso sollte der bei Ihnen sein und eine Schlange einfangen wollen?«

Gasperini erklärte der Dame von Mondo Animali, dass er sie sofort zurückrufen werde, und machte sich daran, die Fortezza da Basso durch den Vordereingang zu verlassen. Auf dem Weg nach draußen wählte er Bruzzos Mobiltelefonnummer, aber sein Chef schien beschäftigt zu sein, denn er nahm das Gespräch nicht an. Während sich Gasperini noch darüber wunderte, was seinen Chef wohl davon abhielt, ans Telefon zu gehen, musste er feststellen, dass der grüne Lieferwagen mit dem markanten Schriftzug, der noch vor einer Stunde vor der Fortezza die Basso gestanden hatte, verschwunden war. Gasperini wurde plötzlich heiß und kalt zugleich.

EIN ARGER IMAGESCHADEN

Das Da-Vinci-Gemälde ist weg! Gestohlen! Die Polizei ist bereits alarmiert! Sie müsste in zehn Minuten hier sein. Es ist eine Katastrophe«, brüllte Bruzzo ins Telefon, nachdem ihn Gasperini angerufen hatte, um ihm zu erklären, dass die Mitarbeiter von Mondo Animali verschwunden seien. Bevor Gasperini auch nur reagieren konnte, ließ Bruzzo eine Serie wüster Fäkalausdrücke auf seinen Mitarbeiter niederprasseln, atmete einmal tief durch und beendete dann das Telefonat grußlos.

Als Direttore Collocini wenige Sekunden später erfuhr, dass die »Anbetung der Könige« entwendet worden war, sagte er erst einmal gar nichts. Zu viele Gedanken auf einmal schwirrten ihm durch den Kopf, und nach Sekunden, die sich wie eine halbe Ewigkeit anfühlten, bat er Bruzzo, den Notfallplan in Kraft zu setzen: Poletti solle umgehend informiert, die Polizei herbeigerufen und die Versicherung in Kenntnis gesetzt werden. Er malte sich schon die Häme der Presse und der Konkurrenz und den Niedergang des Opificio delle Pietre Dure aus. Was für eine verdammte Scheiße, dachte sich auch Bruzzo und schickte ein Stoßgebet in Richtung Himmel, dass ihn der dreiste Diebstahl und die animalischen Umstände nicht den Job kosteten.

Eine Stunde später fand sich im großzügigen Büro von Maurizio Collocini eine illustre Runde ein: Neben dem Direktor des Opificio delle Pietre Dure, dem kaufmännischen Direktor Massimo Poletti und Chefportier Bruzzo waren Domenico Dal Fiesco, Capitano der Carabinieri, sowie Marcello Donati, Brigadiere der Carabinieri, zugegen. Nach einer kurzen Vorstellungsrunde erläuterte Collocini die Ereignisse der vergangenen 20 Stunden im Zeitraffer. »Ein aus jetziger Sicht simpler Trick: Man stiftet Verwirrung und schlägt dann unerwartet zu«, zog er eine erste Bilanz.

Bevor die Polizeibeamten auch nur eine Frage stellen konnten, flehte der kaufmännische Direktor Poletti die beiden förmlich an: »Helfen Sie uns! Für das Opificio delle Pietre Dure ist der Verlust des Bildes eine Katastrophe, für die Kunstwelt sowieso. Unser Image steht auf dem Spiel. Kein Museum und kein Sammler der Welt wird uns jemals wieder ein Gemälde zur Restaurierung überlassen, wenn sie Angst haben müssen …«

Mit höflicher, aber nachdrücklich abwehrender Handbewegung schaltete sich nun Capitano Dal Fiesco, ein gertenschlanker, mittelgroßer Mann mit pechschwarzem Bürstenhaarschnitt und perfekt sitzender Uniform, ins Gespräch ein.

»Im Fall von Kunstraub ist Zeit ein ganz entscheidender Faktor. Brigadiere Donati und meine Wenigkeit werden jetzt in aller Detailliertheit die Fakten aufnehmen und dazu jeden Einzelnen von Ihnen befragen. Wir würden uns auch gern die Überwachungsvideos der – sagen wir – vergangenen 24 Stunden anschauen. Und dafür werden wir Verstärkung herbeiholen.«

Ein Blick in Richtung Donati verdeutlichte diesem, dass er sich darum zuallererst zu kümmern hatte.

»Ja, und dann sollten wir wohl die Jäger des verlorenen Schatzes hinzuziehen«, konstatierte Dal Fiesco, noch immer Donati fixierend.

Und weil Dal Fiesco bemerkte, dass ihn Bruzzo, Collocini und Poletti fragend anstarrten, erklärte er: »Eine Sondereinheit zum Schutz des kulturellen Erbes, das Comando Carabinieri Tutela Patrimonio Culturale, kurz TPC. Die Kollegen bekämpfen den illegalen Handel mit Kunst- und Kulturgütern und sind in dieser Hinsicht ziemlich ausgeschlafene Burschen. Die meisten sind ausgebildete Kunsthistoriker. Wenn ein Kunstwerk auf dem Schwarzmarkt ist, dann bekommen die ganz schnell Wind davon und …«

Mit einem deutlich hörbaren Quietschen sprang die Tür zum Büro von Direttore Collocini auf. Herein marschierte eine Dame Mitte dreißig mit langen dunklen Haaren. Sie trug einen dunkelblauen Hosenanzug und eine weiße Bluse. Ein leichter Trenchcoat hing über ihrer Armbeuge. Und noch während sie ihre Sonnenbrille im dazugehörigen Etui verstaute, ergriff sie das Wort.

»Guten Morgen, meine Herren! Chiara Frattini, ich bin Ermittlerin der Versicherungsgesellschaft Art Exhibition Insurance of Europe, kurz AEIOU. Wer von Ihnen ist Direttore Collocini?«

Collocini löste sich aus der Gruppe, begrüßte Frattini höflich und begann die Herren reihum vorzustellen. Als er bei Dal Fiesco ankam, lächelte die Frau.

»Wir hatten bereits einmal das Vergnügen. Guten Morgen, Capitano. Sie erinnern sich an den Raub des Perugino-Gemäldes?«

»Wie könnte ich den Fall je vergessen!«, antwortete Dal Fiesco.

»Wir haben uns meines Wissens damals darauf geeinigt, dass wir beide unseren Anteil daran hatten, dass das Bild wiederbeschafft wurde«, erklärte Frattini mit einem Zwinkern.

»So ist es: Ohne Sie hätten wir das Gemälde nie wieder gesehen«, bestätigte Dal Fiesco.

An dieser Stelle unterbrach Collocini die beiden und kniff die Augen zusammen. »Dann wollen wir alle hoffen, dass Sie beide auch diesmal so erfolgreich sind. Nicht auszudenken, wenn die ›Anbetung der Könige‹ verschwunden bliebe: für das Opificio delle Pietre Dure, für die Uffizien und für die Kunstwelt.«

»Und für die AEIOU! Bei allem Respekt, aber auch wir als Versicherung würden einen enormen Schaden davontragen«, gab Frattini zu bedenken.

»Natürlich, natürlich«, beschwichtigte Collocini.

»Machen wir es doch so, dass Sie sich gleich an mich dranhängen, Signora Frattini«, drängte Dal Fiesco. »Dann erfahren Sie alles aus erster Hand. Signore Bruzzo und Signore Collocini, mit Ihnen beiden machen wir den Anfang.«

Bei Brigadiere Donati, der stets in seiner Näher stand, erkundigte sich Dal Fiesco noch schnell über die Fortschritte bei den Ermittlungen: »Die Kollegen, die sich die Überwachungskameras zu Gemüte führen sollen, sind schon am Weg?«

»So ist es«, erwiderte der dunkelhaarige Jungfamilienvater.

»Und die Kulturschützer sind auch informiert?«, wollte Dal Fiesco noch wissen.

»Ja, sie sollten in spätestens 15 Minuten hier sein.«

»Gibt’s schon etwas Neues von den Kollegen von der Spurensicherung oben in der Werkstatt?«

»Capitano! Die sind doch erst seit einer Viertelstunde an Ort und Stelle«, warf Donati ein, obwohl ihm durchaus bewusst war, dass Dal Fiesco mit seinen stakkatoartig vorgetragenen Fragen vor allem zum Ausdruck bringen wollte, dass er alles im Griff habe.

»Bevor wir loslegen und möglicherweise in die falsche Richtung galoppieren: Können Sie für Ihren Nachtportier, Giovanni Fiore, die Hand ins Feuer legen?«, begann Dal Fiesco mit der Befragung. Sofort protestierte Chefportier Bruzzo entschieden: »Diese Spur können Sie gleich wieder vergessen. Fiore ist seit sieben Jahren bei uns, absolut integer und sehr verlässlich. Aber von mir aus: Wecken Sie ihn auf! Holen Sie ihn aus dem Bett!«

Der von der Situation vollkommen überforderte Poletti war nicht weniger erbost: »Capitano, aus meiner Sicht verlieren wir hier Zeit mit sinnlosen Verdächtigungen!«

»Direttore Poletti, ich muss Sie das fragen. So gut wie bei jedem zweiten Überfall auf einen Geldtransporter sind die Fahrer auf die eine oder andere Art involviert. Wir müssen einfach in alle Richtungen ermitteln«, blieb Dal Fiesco gelassen. »Und noch etwas würde mich brennend interessieren: Kommt es öfter vor, dass man Ihnen südamerikanische Würgeschlangen ins Büro liefert? Und warum sind Sie nicht gleich stutzig geworden, als Sie eine Kiste mit einer Schlange zugeschickt bekommen haben? Als kaufmännischer Direktor eines Unternehmens, das auf die Restauration von Kunstgegegenständen spezialisiert ist, haben Sie ja wohl nicht sehr oft mit lebenden Schlangen zu tun, oder liege ich da falsch?«

Der kaufmännische Direktor Poletti atmete tief durch und faltete seine Hände.

»Capitano, Sie haben recht. Es ist ungewöhnlich, dass man mir eine Kiste mit einer Schlange ins OPD liefert. Aber ansonsten werden mir laufend Pakete geschickt. Für mich war die Geschichte mit der Schlange in dem Moment abgehakt, als in der Kiste keine Schlange war. Ich war am gestrigen Tag in erster Linie mit der Delegation aus China beschäftigt. Wir stehen kurz vor dem Abschluss eines lukrativen Deals mit den Chinesen. Die wollen einerseits, dass wir ihnen bei der Restaurierung von Gemälden zur Hand gehen, und andererseits, dass wir ihnen beim Neuaufbau ihrer Restaurationswerkstätte mit Know-how zur Seite stehen. Angesichts der zu erwartenden Zusatzeinnahmen von mehreren Millionen Euro bringt mich eine Babyschlange nicht so schnell aus dem Konzept. Ich wollte mich heute damit beschäftigen, wer mir eine Kiste mit einer Schlange geschickt hat, und vor allem warum. Aber heute haben sich die Ereignisse, wie Sie wissen, überschlagen.«

»Gutes Stichwort: Signore Bruzzo und Direttore Collocini, schildern Sie uns bitte in aller Breite, was sich seit gestern Mittag zugetragen hat«, wandte sich Capitano Dal Fiesco den anderen beiden zu.

Die Versicherungsermittlerin Frattini und Brigadiere Donati befüllten derweil eifrig die Seiten ihrer Notiz­bücher, während Bruzzo und Collocini abwechselnd die Ereignisse der vergangenen 20 Stunden wiedergaben. Nur einmal deutete Dal Fiesco zwischendurch an, dass er kurz telefonieren müsse, und verließ Collocinis Büro. Nach wenigen Minuten war er wieder zurück, und sechs Kilometer Luftlinie entfernt setzte sich ein Seat Leon mit zwei Polizeibeamten in Bewegung, die nachsehen sollten, ob der Nachtportier Fiore tatsächlich in seiner Wohnung schlief.

Chiara Frattini hatte der von Collocini und Bruzzo abwechselnd vorgetragenen Schilderung der Ereignisse andächtig gelauscht und nur einmal eine Zwischenfrage gestellt: Ob man noch genauer auf das Aussehen des vermeintlichen Mitarbeiters von Mondo Animali eingehen könne, der anscheinend seelenruhig mit einem der berühmtesten Gemälde der Welt durch den Vordereingang entschwunden war. Chefportier Bruzzo hielt übers Telefon kurz Rücksprache mit seinem Kollegen Gasperini, aber auch der konnte nur eine vage Personenbeschreibung abgeben: Recht groß sei er gewesen, mit dunklen, vollen und halblangen Haaren, einem dichten Schnauzbart und einem Bäuchlein. Und eine leicht abgedunkelte Brille sowie eine Mondo-Animali-Kappe und einen grünen Overall habe er getragen. Unabhängig davon sei alles sehr schnell gegangen, ertönte Gasperinis Stimme durch das Mobiltelefon.

»Fragen Sie ihn, ob der Mann einen ungewöhnlichen Akzent hatte«, bat Frattini den Chefportier, der die Frage eilends weitergab.

»Wie gesagt, es ging alles so schnell, ich war erst ein paar Minuten hier«, ließ sich Gasperini vernehmen. »Er hat ganz normal gesprochen. Und sehr viel hat er ja nicht gesagt. Da ist mir nichts aufgefallen.«

EIN HERBER VERLUST FÜR DIE KUNSTWELT

Capitano Dal Fiesco und Brigadiere Donati von der Polizei, Chiara Frattini von der Versicherungsgesellschaft AEIOU, Chefportier Bruzzo sowie Collocini und Poletti aus der Chefetage des Opificio delle Pietre Dure machten sich gemeinsam auf den Weg in die Restaurationswerkstatt. Am Eingang wurden sie von einem der drei Mitarbeiter der Spurensicherung höflich, aber bestimmt gebeten, vor der Werkstatt zu warten, bis ihre Arbeit beendet war. Als Dal Fiesco zum Protest ansetzte, erwiderte der Beamte im Schutzanzug lapidar:

»Bis jetzt haben wir gar nichts. Wer auch immer hier am Werk war, hat extrem sauber gearbeitet. Domenico, sei so gut und gedulde dich noch fünf Minuten. Dann könnt ihr hereinkommen.«

Dal Fiesco drehte sich resignierend zu Donati um, kam aber nicht dazu, ihn zu fragen, wo denn eigentlich die Kollegen vom Comando Carabinieri Tutela Patrimonio Culturale geblieben seien, da in diesem Augenblick der Riesenschlangenexperte Alessio Bianchi mit den zwei Mitarbeitern der Florentiner Tierrettung um die Ecke bog.

»Hier geht es zu wie in einem Taubenschlag«, raunte Dal Fiesco Donati zu.

Dieser lächelte säuerlich und nickte.

»Na, schon etwas gefunden?«, fragte Bruzzo in Richtung Bianchi.

»Nein, nichts. Aber ich habe auch kaum Anhaltspunkte, und das Gebäude ist riesig. Boas sind dämmerungs- und nachtaktiv. Tagsüber ziehen sie sich in Hohlräume zurück. Wenn sich hier im Gebäude tatsächlich eine Boa befindet und sie nicht nach draußen entwichen ist, dann finden wir sie am ehesten in der Nacht, denn irgendwann muss die Schlange Nahrung aufnehmen. Und das ist dann unsere Chance.«

Deutlich leiser, mit einem Fingerzeig in Richtung Dal Fiesco und Donati, flüsterte Bianchi dem Chefportier noch augenzwinkernd zu: »Aber wer weiß, vielleicht liefert mir ja die Kavallerie den entscheidenden Hinweis.«

»Wohl kaum«, meinte darauf Bruzzo, ebenfalls mit gedämpfter Stimme. »Die Herren jagen nicht die Schlange, sondern sind hinter einem Kunstdieb her.«

Und dann klärte Bruzzi Bianchi in wenigen Sätzen auf, welches noch viel folgenschwerere Problem ihn und die Chefriege aktuell beschäftigte.