Die andere Wahrheit - Tara Winter - E-Book

Die andere Wahrheit E-Book

Tara Winter

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Beschreibung

Die Suche nach der Wahrheit beginnt … Der Vater verschwindet. Die Mutter stirbt. War es wirklich Selbstmord? Rebecca Friedrichsen muss die tiefe Abneigung gegen ihre Mutter überwinden und deren geheime Arbeit fortsetzen. Nur dann kann sie ihren Vater finden. Bei der Suche gerät sie in ein gefährliches Netz aus Lügen und Intrigen.  Wieso ist der Kollege ihres Vaters plötzlich so verändert? Was verschweigt das Ehepaar von Stein? Steht der Journalist Marten wirklich auf ihrer Seite? Rebecca erfährt Die andere Wahrheit, die ihr ganzes Leben erschüttert. Wem kann sie noch trauen?

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Inhalt

Samstag

Samstagabend

Sonntag

Montag

Dienstag

Mittwoch

Donnerstag

Freitag

Freitagabend

Drei Wochen später

August 1992

Samstag

Er wird nicht kommen.

Der Gedanke durchfuhr Rebecca und ließ ihren Atem stocken. Die Angst, es könne die Wahrheit sein, durchfuhr ihren Körper mit eisiger Kälte. Rebecca strich über ihre Unterarme, auf denen sich eine Gänsehaut gebildet hatte.

Vor den Fenstern des kleinen Cafés eilten Passanten entlang. Sie trugen dicke Jacken und tief ins Gesicht gezogene Mützen. Levin war nicht unter ihnen.

Es war Viertel nach neun.

Warum meldest du dich nicht?, dachte sie besorgt.

Abgefallene Blätter schimmerten rötlich und golden in den hellen Strahlen der Morgensonne. Doch der idyllische Schein trog. Eisige Böen trieben das Laub erbarmungslos über den kalten Asphalt.

Rebecca lehnte sich zurück und drehte verärgert ihren geflochtenen Zopf um die Finger. Sich zu verspäten war das eine, aber ihr Vater hätte sich melden können. Rebecca griff nach dem Smartphone auf dem Tisch, drückte die Kurzwahltaste und hörte kurz darauf zum wiederholten Mal die Ansage. Eine monotone Stimme teilte ihr mit, dass der Empfänger nicht erreichbar sei. Rebecca spürte eine Enge im Hals, beendete den Anruf und tippte eine Nachricht.

“Warte in Maries Café, wo bleibst du?”

Sie rutschte auf der Sitzbank hin und her. Rebecca ahnte, dass ihr Handy stumm bleiben würde, denn bisher war keine ihrer Nachrichten als gelesen gekennzeichnet.

“Irgendetwas stimmt hier nicht”, flüsterte sie und sah erneut auf die Straße. Ihr Vater war nicht zu sehen. Widerwillig wandte Rebecca ihren Blick ab und griff nach der Tasse. Ihre Finger zitterten so stark, dass Kaffee überschwappte und auf den Tisch tropfte. Stöhnend zerrte Rebecca eine Serviette aus dem Ständer und rieb damit über die Tischplatte. Dabei stieß sie gegen einen Salzstreuer, der umfiel. Weiße Krümel verteilten sich auf dem Tisch. Mit zusammengekniffenen Lippen betrachtete sie das sonderbare Stillleben.

Grummelnd wandte Rebecca sich ab und griff ein weiteres Mal nach ihrer Tasse, nahm einen Schluck und verzog das Gesicht. Der Kaffee war eiskalt.

Mechanisch griff sie in ihre Hosentasche und zog einen kurzen Bleistift hervor. Wo war Paps nur? Rebecca führte den Bleistiftstummel über die Serviette. Gab es einen ganz banalen Grund für seine Verspätung? Ihre Hand fügte der Zeichnung zarte Schattierungen hinzu, ohne dass sie ihre eigenen Bewegungen wahrnahm. Rebecca schüttelte den Kopf. Er hätte sich sofort gemeldet, wenn er gekonnt hätte.

“Möchten Sie schon etwas zu essen bestellen?”

Rebecca zuckte zusammen.

Eine Kellnerin mit blonden Locken lächelte sie an.

“Nein, danke. Ich warte noch”, flüsterte sie.

Rebecca bemerkte, dass die Kellnerin fasziniert auf ihre Hand blickte. Jetzt erst realisierte sie den Bleistift, der scheinbar selbständig eine Skizze mit feinen Strichen ergänzte. Rebecca räusperte sich verlegen und schob die Serviette mit der Zeichnung ein Stück beiseite.

Rebecca hatte sich auf ein französisches Frühstück mit Croissants, Marmelade und frischen Früchten gefreut, seit sie das gemütliche Café betreten hatte. Lautes Magenknurren erinnerte sie daran, dass sie noch nichts gegessen hatte, aber inzwischen war ihr jeglicher Appetit vergangen.

Ihr Vater kam nie zu spät. Es war für ihn undenkbar, zu einer Verabredung nicht mindestens fünf Minuten vor der vereinbarten Zeit zu erscheinen. Bei ihrem monatlichen Frühstück war er immer der Erste und wartete geduldig auf das Eintreffen seiner Tochter.

Kleine Lampen, die an dunklen Kabeln von der Decke hingen, erhellten den hölzernen Tresen. Der würzige Geruch von frisch gemahlenem Kaffee zog durch das Café.

In einer Vitrine standen riesigen Torten, die mit bunter Sahne, Schokoladenraspeln oder Früchten verziert waren. Bei dem Anblick lief Rebecca das Wasser im Mund zusammen.

Sie tastete nach dem silbernen Anhänger an dem Lederband um ihren Hals. Eine Sonne mit filigran verzierten Strahlen, die ihr Vater für sie angefertigt hatte.

Rebecca reckte den Kopf und blickte sich um. Die meisten Tische waren besetzt, aber an keinem saß Levin.

Sie arbeitete gern mit Fakten, daran war sie gewohnt und darin war sie gut. Diese Ungewissheit war ihr unerträglich. Rebecca drehte ihren geflochtenen Zopf wütend zwischen den Fingern und betrachtete ihre nussbraunen Haare, die in der Sonne rötlich schimmerten, um Zeit zu schinden. Doch Zeit war genau das, was sie nicht hatte. Ihr Instinkt, der sich bisher als äußerst zuverlässig erwiesen hatte, drängte zur Eile.

“Verdammt”, murmelte sie. Ihr blieb keine andere Wahl. Rebecca tippte die Festnetznummer ihres Elternhauses. Es klingelte mehrfach. Rebecca seufzte.

“Friedrichsen”, meldete sich ihre Mutter. Rebecca verdrehte die Augen. Obwohl Verena auf dem Display genau sah, wer anrief, meldete sie sich mit ihrem Nachnamen.

“Ich bin es. Rebecca.” Touché, dachte sie genervt. Einen Augenblick war es still. Rebecca verwarf jeden Gedanken an Smalltalk. “Ich warte auf Paps. Wir waren verabredet.”

“Jeden ersten Samstag im Monat, ich weiß”, stellte Verena sachlich fest.

Rebecca hörte das Rascheln von Papier im Hintergrund.

“Hast du mir gerade zugehört? Er ist nicht zu unserer Verabredung gekommen.” Rebecca vermied den Zusatz, dass sie sich sonst bestimmt nicht gemeldet hätte.

“Ruf ihn an oder schicke ihm eine Nachricht.” Verenas Stimme klang gehetzt.

„Das kommt jetzt vielleicht überraschend, aber die Idee hatte ich bereits.“

Schweigen.

Rebecca ballte wütend die Hände. Die Gleichgültigkeit von Verena ging ihr auf die Nerven. Dieser Modus von Abwehr und ausweichenden Antworten war ihr bekannt. Sie wusste, dass Verena auf keine ihrer weiteren Fragen vernünftig antworten würde. Trotzdem wagte Rebecca einen letzten Versuch. Sie atmete einmal tief durch und versuchte, ihre Stimme nicht allzu vorwurfsvoll klingen zu lassen.

„Was ist los bei euch?”

“Nichts. Hier ist nichts los. Apropos, ich muss dann auch weitermachen. Gib mir Bescheid, wenn er sich gemeldet hat.”

Das Gespräch wurde abrupt beendet.

Verena ist mir ja wieder eine große Hilfe gewesen, dachte Rebecca spöttisch.

Sie wischte sich über die Augen. Levin war es, der stets an ihrer Seite gewesen war. Er war der treue Begleiter in ihrem Leben und vielleicht der einzige Mensch, dem sie völlig vertraute. Rebecca dachte an wichtige Ereignisse in ihrem Leben. Schul- und Studienabschlussfeiern, der bestandene Führerschein, die Aufregung vor der ersten Verabredung. Wichtige Momente ihres Lebens, bei denen Verena nicht dabei gewesen war. Immer wieder hatte sie auf ihre Mutter gewartet. Vergebens.

Rebecca zog ihre Jacke an und ging zum Tresen hinüber. Muffins und mit bunter Sahne verzierte Cupcakes waren auf großen Tellern angerichtet. Sie dufteten phantastisch. Rebecca zögerte einen Moment, zahlte dann ihren Kaffee und ein einfaches Milchhörnchen. Sie würde es unterwegs essen. Die Frau hinter dem Tresen reichte ihr das Wechselgeld und eine bunt bedruckte Tüte.

Verena ging ihr offensichtlich aus dem Weg. Rebecca blieb nichts anderes übrig, als sie aufzusuchen.

Aus den Augenwinkeln beobachtete Gina die Kundin mit dem tollen langen Zopf.

Sie ist bestimmt von ihrem Freund versetzt worden, dachte die Kellnerin mitleidig und sah, wie die Kundin zum Bezahlen an den Tresen ging. Sie eilte zum Tisch und griff schnell nach der Serviette. Die junge Frau hatte die Zeichnung achtlos liegengelassen. Mit offenem Mund betrachtete Gina das kleine Bild.

Eine wunderschöne Elfe mit zartem Gesicht, spitzen Ohren und großen glänzenden Augen. Sie hielt eine filigrane Lilie in der Hand, in deren Mitte eine große Perle glänzte. Der Ausdruck in den Augen der Elfe berührte die Kellnerin tief. Sie nahm das Kunstwerk und eilte zu den hinteren Räumen, öffnete ihrem Spind und legte die Serviette vorsichtig in ihre Handtasche. Sie hatte noch nie etwas so Wunderschönes gesehen.

Rebecca trat auf die Straße. Eisiger Wind schlug ihr entgegen. Energisch schloss sie den Reißverschluss ihrer Winterjacke und eilte im Laufschritt zu ihrem Wagen, stieg ein, warf ihre Tasche und die Tüte mit dem Milchhörnchen auf den Beifahrersitz und fuhr los.

Kurz darauf bog sie links an der Tankstelle auf die Hauptstraße ab, die nun an beiden Seiten von dichten Büschen und hohen Bäumen eingefasst war, als sei die Stadt mit ihrem Lärm und der Hektik hier jäh zu Ende. Rebecca ließ sich von der Idylle mit den gepflegten Einfamilienhäusern nicht täuschen. Wer wusste schon, was sich hinter den sauberen Fassaden abspielte? Sie dachte an ihr eigenes Elternhaus. Bei dem Gedanken an das bevorstehende Gespräch mit Verena verkrampfte sich ihr Nacken.

Rebecca schaltete das Radio an. Ihr Zeigefinger flog über die Sendertasten, bis endlich ein Lied erklang, das zu ihrer Stimmung passte. Der markante Politsong Sunday Bloody Sunday war von U2 in den Achtzigern veröffentlicht worden. Jetzt dröhnte er in voller Lautstärke aus den Lautsprechern.

Sie griff nach der Tüte, zog das Milchhörnchen heraus und biss gierig davon ab. Der Ersatz für ein gemütliches Frühstück im Café war enttäuschend. Das Gebäck schmeckte fade und der Teig klebte an ihrem Gaumen.

Sie hielt nach dem dunkelgrünen Golf ihres Vaters Ausschau, ihre Finger trommelten nervös auf das Lenkrad.

An der Landesgrenze von Hamburg nach Schleswig-Holstein hatten Bauarbeiten über Wochen für Verkehrschaos gesorgt.

Die Zufahrt zum beschaulichen Wesseldorf, in dem ihr Elternhaus lag, war direkt davon betroffen.

Wehmütig sah Rebecca, dass die Bauarbeiten bereits fertiggestellt worden waren. Lediglich die neue Fahrbahnmarkierung fehlte noch. Sie stöhnte auf.

Eine Verzögerung des Zusammentreffens mit Verena hätte ihr nichts ausgemacht.

Zwanzig Minuten später fuhr Rebecca in eine Parkbucht. Das Grundstück ihrer Eltern lag nur wenige Schritte entfernt. Sie zögerte, bis sie schließlich die Autotür aufriss und auf den Gehweg trat. Sie schüttelte Krümel des Milchhörnchens von der Jacke und ihrem pinkfarbenen Schal. Dann hängte sie sich ihre Tasche um und wandte sich dem Grundstück zu, blickte dabei mehrfach zurück, um sich zu vergewissern, dass ihr Wagen verriegelt war.

Die stets geöffneten Tore waren verrostet, die Steine der niedrigen Gartenmauer moosbewachsen und von Rissen durchzogen. Rebecca ging über den unebenen Weg zum Haus. Das Gras zwischen den Gehwegplatten wirkte trotz der Kälte frisch und grün. Die eigentliche Rasenfläche wurde von Unkraut und kahlen Stellen dominiert. Dazwischen wuchsen scheinbar planlos gepflanzte Büsche, deren Rückschnitt längst überfällig war.

Rebecca stellte sich ihren Vater bei der Gartenarbeit vor.

Zuerst wäre er ein paar Schritte zurückgegangen, um sich einen Gesamteindruck zu verschaffen. Dann hätte er nachdenklich die Finger an sein Kinn gelegt und die Lippen zu einem spitzbübischen Grinsen verzogen. Wie immer, wenn er einen kreativen Einfall bekam. Dann hätte er seine dunkle Brillenfassung zurechtgerückt und seine Vision voller Energie in die Tat umgesetzt. Er schuf immer kleine Wunderwerke, ob hier in seinem Garten mit der Heckenschere oder bei seiner Arbeit in der Goldschmiede mit kleinen Zangen und Feilen. Rebecca hoffte, dass sie bald erfuhr, ob es ihm gut ging und wo er war. Langsam ging sie weiter.

Verenas schwarzer Polo parkte in der Auffahrt, Levins Wagen stand nicht dort. Ein ungewohntes Bild, denn Rebecca kam normalerweise nur hierher, wenn ihr Vater Zuhause war.

Den gelben Klinker des Hauses hatte sie noch nie leiden können. Aber die Wahl war wohl dem Geschmack der siebziger Jahre geschuldet. Das Haus war solide gebaut. Mit ein wenig Interesse und Engagement, hätten ihre Eltern daraus ein wahres Schmuckstück erschaffen können. Aber ihr Vater war ein Schöngeist, der sich nicht viel aus groben handwerklichen Arbeiten oder stupider Gartenpflege machte und Verena hatte wahrscheinlich auch irgendwelche Gründe. Ihre Eltern hatten noch nicht einmal den Dachboden ausgebaut, wodurch jede Menge Wohnraum verschenkt worden war.

Neben dem schwarzen Metallbriefkasten befand sich der ebenfalls schwarze Klingelknopf, den Rebecca nun kräftig drückte. Er klemmte, seit sie denken konnte. Mit starrem Blick fixierte sie die Holztür, deren braune Farbe Risse aufwies und stellenweise abblätterte.

Einen Moment später wurde die Tür etwas geöffnet und Verena erschien in dem schmalen Spalt. Ihre Augenlider waren geschwollen. Sie trug einen wollweißen Kaschmirpullover und ein Halstuch in zartem Apricot, das perfekt zu ihrem dezenten Lippenstift passte. Einige Ponysträhnen fielen ihr in die Stirn und gaben den weichen Zügen Kontur. Ihre sanfte, gepflegte Erscheinung war der größtmögliche Gegensatz zu diesem vernachlässigten Haus. Beim Anblick ihrer Tochter verzog sich Verenas Mund fast unmerklich.

“Rebecca“, sagte sie mit einem fragenden Unterton. Sie ging einen Schritt zur Seite, um ihre Tochter hereinzulassen. Ihre dunklen Augen beobachteten aufmerksam jede Regung.

Rebecca betrat schweigend das Haus. Der schmale Flur war mit dunkelrotem Teppich ausgelegt. Keine gute Idee bei einem Raum, in den nur wenig Licht eindrang. Sie eilte in die Wohnküche. Durch die Fensterfronten war der große Raum hell, aber die düsteren Deckenbalken taten ihr Bestes, auch hier einen Eindruck von Enge zu vermitteln. Rebecca blickte lächelnd zu dem filigranen Windspiel, das von einem der Balken hing. Schon als Kind hatte sie dieses kleine Kunstwerk geliebt, dessen dünne Metallranken in weichen Bewegungen umeinander glitten. Es zu betrachten wirkte beruhigend, die wiederkehrenden Schwingungen des Metalls vermittelten ihr seit jeher Sicherheit.

Rebecca atmete aus und lehnte sich mit dem Rücken an den Tresen. Dieser trennte optisch Küche und Wohnbereich voneinander. Schweigend ließ sie ihren Blick schweifen.

Der Wohnzimmertisch war übersät mit Briefen, Werbung und Prospekten, dazwischen lagen Entwürfe ihres Vaters. Wenn Levin abends Ideen hatte, kritzelte er sie auf einen Zettel und ließ ihn dort liegen. Er fand seine Skizzen meist überrascht nach einigen Tagen wieder und nahm den Entwurf dann mit zur Arbeit. Im Gegensatz zu seinem penibel aufgeräumten Arbeitsplatz bei Silber-Stein, herrschte hier wie immer das reinste Chaos.

Verena war ihr gefolgt und stellte sich hinter den Tresen. Nun wandte sich auch Rebecca der Küchenzeile zu. Zettel, Zeitschriften, Essensreste und benutztes Geschirr stapelten sich auf der Arbeitsfläche. Die Küche wirkte noch vernachlässigter als sonst.

Rebecca beobachtete die Frau, die ihr so fremd war. Verena sammelte hektisch herumliegenden Krümel vom Tresen ein und ließ sie in den offenstehenden Mülleimer gleiten.

Ihre Bewegungen wirkten fahrig, ihre schmalen Schultern waren angespannt.

“Was ist hier los?”, fragte Rebecca, ohne auf eine ehrliche Antwort zu hoffen.

“Was soll hier los sein?” Verena stellte dreckige Teller aufeinander und blickte kurz hoch. “Ich habe gerade viel zu tun und bin nicht auf Besuch vorbereitet.”

Rebecca wurde wütend.

“Paps ist verschwunden und du machst nicht den Eindruck, als würde es dir besonders gut gehen.”

Es war offensichtlich, dass der Besuch der Tochter sie von einer wichtigen Tätigkeit abhielt. Ganz bestimmt aber nicht von Hausarbeit. Verena wirkte unruhig wie ein verfolgtes Tier, blickte ihrer Tochter mit stählernem Blick in die Augen. “Ich bin dir keine Rechenschaft über mein Aussehen schuldig.”

“Dein Aussehen ist mir doch …” Rebecca verstummte. Sie setzte sich auf einen der Hocker, der mit altmodischem Stoff bezogen war. Resigniert legte sie den Kopf in die Hände und schloss kurz die Augen. Wie war es nur möglich, dass fünfzig Prozent ihrer Gene von dieser Frau stammten?

“Möchtest du einen Tee?”, fragte Verena nachgiebig.

“Ich trinke keinen Tee.” Sie presste die Worte heraus und drehte nervös an ihrem Zopf herum.

“Ach ja, natürlich.” Verena füllte den Wasserkocher und stellte ihn an.

“Wo ist Paps?” Ihr Herz schlug wild.

Verena wandte sich zu ihr und zuckte wortlos mit den Schultern. Rebecca fuhr bei dem Anblick zusammen.

Die Augen dieser Frau hatten das gleiche tiefe Braun wie ihre eigenen.

„Sein Auto ist nicht mehr da. Ist er weggefahren?“, hakte sie nach.

„Sieht ganz danach aus. Was weiß ich, wo er ist.“

Rebecca trommelte mit den Fingern auf dem Tresen.

„Verdammt, Verena. Im Gegensatz zu dir vermisse ich ihn und mache mir Sorgen. Kannst du mir jetzt endlich sagen, was vorgefallen ist?“

“Oh, bitte. Nun fang nicht schon wieder damit an. Er ist ein erwachsender Mann.” Sie strich sich eine silbern schimmernde Haarsträhne hinters Ohr, die gleich wieder herausrutschte.

“Verena, er ist zu unserem Treffen nicht erschienen und ich kann ihn nicht erreichen. Das ist absolut untypisch für Paps. Wenn du weißt, wo er sich befindet oder was passiert ist, sag es mir einfach.” Sie funkelte Verena wütend an. Diese stapelte herumliegende Zeitschriften aufeinander und warf eine kleine Pappschachtel in den Müll. Verena biss sich auf die Unterlippe, ehe sie Rebecca mit undurchdringlichem Blick ansah.

“Wir haben uns gestritten. Er hat ein paar Sachen zusammengepackt und ist gestern Abend weggefahren.”

Rebecca stöhnte leise auf.

“Warum hast du mir das nicht gleich gesagt?”

“Es ist unsere Angelegenheit.”

Dann begriff sie. Es konnte nur einen einzigen Grund geben, warum der sanfte und gutmütige Levin gegangen war. Natürlich wollte Verena darüber nicht sprechen. Rebecca brauchte keine weiteren Erklärungen.

“Er hat dich verlassen. Dann kann ich wohl davon ausgehen, dass Marten wieder da ist?” Rebeccas Stimme war zynisch und kalt, sogar noch eine Spur kälter als beabsichtigt.

Die Affäre zwischen Marten und Verena hatte fast zum Bruch der Ehe geführt und war vor drei Jahren beendet worden. Dass die tiefe und lange Freundschaft zu Marten Konrad weiterhin bestand, hatte Rebecca nicht geahnt.

Der Vorwurf verschlug Verena kurz die Sprache. Unbewegt stand sie da, die Hände vor dem Körper aneinandergelegt, ihr Brustkorb hob und senkte sich langsam beim Atmen. Rebecca fühlte ihre Augen undurchdringlich und abschätzig auf sich ruhen. Dieser Blick verunsicherte sie für einen Moment. Erschrocken erkannte sie Angst darin, aber auch ein überhebliches was-weißt-du-schon.

“In diesem respektlosen Ton redest du nicht mit mir, hast du das verstanden?”, fauchte Verena plötzlich und stocherte mit dem Zeigefinger drohend in Richtung ihrer Tochter. Rebecca hob trotzig das Kinn. In diesem Moment wusste sie, dass Verena ihr kein weiteres Wort über das Verschwinden ihres Vaters sagen würde.

“Treffer, versenkt”, bemerkte sie mit Genugtuung und glitt lächelnd vom Hocker. Rebecca war überzeugt, dass sie mit ihrem Verdacht richtig lag und sehnte sich nach einem Gefühl des Triumphs, doch es blieb aus. Niemals würden beide eine harmonische Beziehung haben.

Manchmal dachte Rebecca über die Gründe dafür nach, doch jetzt hatte sie ganz andere Probleme.

Verena richtete sich auf und schüttelte fast unmerklich den Kopf. Eine winzige Geste, die Rebecca zusammenfahren ließ.

Mit Worten hätte Verena es nicht deutlicher ausdrücken können.

Mitleid.

Sie hatte Mitleid für die Tochter, der sie aus welchen Gründen auch immer nicht sagen wollte, wo ihr Vater war.

Rebecca wandte sich ab, ihr Lächeln erstarrte zu einer Grimasse. Sie verließ das Zimmer und presste die Arme um ihren Körper. Verena sollte nicht sehen, dass sie am ganzen Leib zitterte.

Rebecca war unendlich traurig und enttäuscht. Schnell durchquerte sie den düsteren Flur, riss die Tür auf und trat ins Freie. Frostige Herbstluft schlug ihr entgegen. Rebecca zog schnell die Tür zu, als könne sie das Gespräch dadurch hinter sich lassen. Sie verharrte einen Augenblick und holte dann tief Luft. Sie blinzelte in dem diffusen Licht, das ihr die Orientierung zu nehmen schien. Mit bebenden Fingern wischte sie ihre Tränen weg. Sie hatte immer gespürt, dass sie Verena nicht willkommen gewesen war. Zum ersten Mal spürte Rebecca, dass sie mit dem Leben, das hier geführt wurde, nichts zu tun haben sollte. Es fühlte sich an, als riss ihr jemand den Boden unter den Füßen weg. Mit dem Verschwinden ihres Vaters schien die Verbindung zu diesem Haus und ihrer Vergangenheit jäh abgeschnitten worden zu sein.

Sie lehnte sich an die Haustür und schloss die Augen. Ignoranz und Desinteresse, damit war Rebecca groß geworden. Unzählige Jahre hatte sie versucht, Verena mit guten Leistungen zu beeindrucken. Geklappt hatte es nie. Die Sache mit der Mutterliebe hatte zwischen Verena und ihr nie funktioniert. Ihre Freunde hatte sie Paps vorgestellt, selten ihrer Mutter. Verena hatte sich nicht dafür interessiert, was ihre Tochter machte. Aber ihr Vater war immer für sie dagewesen. Mit seinem ganzen Herzen und all seiner Fürsorge.

Levin hatte ihr geholfen, sich für ein Studium zu entscheiden. Mit Zweifeln und Ängsten war Rebecca zu ihm gegangen. Levin hatte getröstet und gemeinsam hatten sie Lösungen gefunden. Für alles. Immer.

Paps war es gewesen, der sie bedingungslos geliebt und mit seiner Wärme umhüllt hatte. Er hatte sie versorgt, wenn sie sich die Knie aufgeschlagen hatte, er hatte ihr Schlittschuhfahren beigebracht und ihre Hausaufgaben kontrolliert. Bei ihm hatte sie sich ausgeweint, als Benny mit ihr Schluss gemacht hatte. Nun war er verschwunden. Rebecca fühlte sich unerträglich hilflos.

In Gedanken ging sie noch einmal das Gespräch durch. Rebecca ließ dabei soweit wie möglich die emotionalen Faktoren beiseite und konzentrierte sich auf mögliche Unstimmigkeiten. Sie überdachte Verenas Worte, dass Levin sie verlassen habe. Diese Variante war möglich, sicher. Es erklärte aber nicht die Unerreichbarkeit ihres Vaters. Rebecca war überzeugt, dass er gerade in diesem Fall Kontakt zu ihr aufgenommen hätte.

Paps hatte vor ihr keine Geheimnisse. Wenn er Streit mit Verena gehabt hätte, der eventuell zu einer Trennung führte, hätte er darüber mit ihr gesprochen.

Das Klingeln, das gedämpft durch die Haustür zu hören war, realisierte sie nicht.

Die damalige Affäre von Verena war auch kein Tabu gewesen. Wieso hätte er sich jetzt anders verhalten sollen und wann hätten sie besser darüber reden können, als bei ihrem gemeinsamen Frühstück? Die Verabredung nicht wahrzunehmen, ohne sich zu melden, passte absolut nicht in sein Verhaltensmuster. Rebecca musste sehr genau entscheiden, welchen Aussagen Verenas sie glauben schenken konnte.

Ein melodisches Geräusch holte sie aus ihrer Benommenheit und brachte sie in die Realität zurück. Im Haus klingelte das Telefon.

Durch die geschlossene Haustür drang leise Verenas Stimme. Rebecca drückte ihr Ohr an das Holz, um das Gesprochene zu belauschen, hörte aber nur unzusammenhängende Wortfetzen. Verstohlen blickte Rebecca zum Nachbarhaus hinüber. Zum Glück schien Frau Hullsten anderweitig beschäftigt zu sein und hatte ausnahmsweise keine Zeit, die Geschehnisse in der Nachbarschaft zu beobachten. Lautlos schlich Rebecca um die Hausecke und sah, dass das Fenster des Schlafzimmers einen Spalt breit geöffnet war. Die aufkommenden Gewissensbisse ignorierend, ging sie vorsichtig weiter. Rebecca lehnte sich an die Hauswand neben dem Fenster und konnte nun deutlich die Stimme von Verena hören.

“Nein, es ist alles in Ordnung. Ich bin ein wenig durcheinander. Meine Tochter war gerade hier.”

Verenas Stimme klang angespannt. Sie sprach stockend. Ihre Gedanken schienen sich zu überschlagen. Rebecca wartete neugierig, was sie dem Gesprächsteilnehmer als nächstes mitteilen würde.

“Nein. Es gibt keine Beweise.”

Rebecca runzelte konzentriert die Stirn. Verena hörte dem Gesprächspartner zu und gab nur hin und wieder einen zustimmenden Laut von sich.

“Ja, ich weiß.”

Dann lachte Verena ganz kurz auf, für einen Moment war zu spüren, dass die Anspannung von ihr wich. Sie schien zu lächeln.

“Ich muss hier erstmal einige Dinge ordnen.“

Ein kurzes Schweigen folgte.

„Ich erkläre dir alles später.”

Das Gespräch war beendet. Rebecca hörte das Klacken des Telefonhörers, der auf einem der Nachtschränkchen abgelegt wurde. Bei dem nächsten Satz, den Verena vor sich hinmurmelte, lief Rebecca ein Schauer über den Rücken.

“Gut, dass ich ihn weggebracht habe.”

Rebecca spürte die harten Klinkersteine im Rücken, ein unangenehmes Kribbeln breitete sich in ihr aus. Vor Entsetzen wie erstarrt versuchte sie, den Worten Verenas eine harmlose Erklärung zuzuordnen. Sie fand keine.

Verdammt, was war hier los?

Rebecca wollte sich zum Fenster drehen und einen Blick hineinwerfen. Vielleicht konnte sie einen Hinweis entdecken, der ihr half, die Vorgänge zu verstehen. Aus den Augenwinkeln sah sie eine Hand, die nach dem Fenstergriff langte. Rebecca erstarrte mitten in der Bewegung und fuhr ruckartig zurück. Sekundenbruchteile später wurde das Schwingfenster ganz geöffnet und der Holzrahmen fuhr nach außen. Genau dorthin, wo sich eben noch ihr Gesicht befunden hatte. Rebecca konnte kaum glauben, dass ihre Neugierde ihr beinahe einen Nasenbeinbruch beschert hätte.

Unvermittelt erschien Verenas Kopf am Fenster. Sie blickte in Richtung Garten. Rebecca drückte sich so eng wie möglich an die Wand. Ihr Herz hämmerte so stark, dass sie das Rauschen ihres Blutes in den Ohren hörte. Verena war keine zwei Meter von ihr entfernt. Rebecca presste die Lippen zusammen, um das Keuchen ihres Atems zu verbergen. Sie wusste, dass sich der Blick von Verena jeden Moment auf sie richten konnte.

“Verschwinde, du Mistvieh!”, brüllte Verena und klatschte laut in die Hände. Rebecca fuhr zusammen. Sie hörte ein leises Knurren und sah zum hinteren Teil des Grundstücks. Fiete, der Foxterrier der Nachbarin, scharrte in der Erde neben einem kleinen Strauch. Der Terrier guckte hoch und bellte Verena protestierend an. Dann flitzte er unter der Buchenhecke hindurch, die an das Nachbargrundstück grenzte. Das Fenster schloss sich wieder und wurde mit einem dumpfen Ruck verriegelt.

Rebecca ging kraftlos in die Hocke und atmete erleichtert auf. Sie hatte unfassbares Glück gehabt, dass Verena sie nicht entdeckt hatte. Nachdenklich fuhr sie mit den Händen über ihr Gesicht und versuchte, den Sinn des belauschten Gesprächs zu verstehen.

Was war hier nur los? Wen hatte Verena weggebracht? Der Gedanke, dass es sich um ihren Vater handelte, schnürte ihr die Kehle zu.

Rebecca rappelte sich schnell auf. Ihr Vater war ein erwachsener, gesunder Mann, warum hätte er irgendwo hingebracht werden sollen?

Sie spähte durch das Fenster. Verena stand vor dem Doppelbett des kleinen Schlafzimmers. Auf dem ungemachten Bett stand eine kleine Reisetasche. Verena riss Shirts, Jeans und Unterwäsche aus der linken Seite des Schranks und stopfte sie hinein.

Sie ging mit schnellen Schritten in den Flur und kam kurz darauf mit einer ledernen Kulturtasche zurück. Rebecca hatte die Kleidung und die Tasche wiedererkannt. Es waren die Sachen ihres Vaters.

Bleich wandte Rebecca sich ab. Sie hatte genug gesehen, um sicher zu sein, dass Verena sie angelogen hatte. Erst vor zehn Minuten hatte sie ihr gesagt, Levin habe gestern Abend seine Sachen gepackt und sei gegangen.

Wenn Verena wieder eine Affäre mit Marten hatte, war es ganz sicher zu einem Streit gekommen. Möglicherweise hatte ihr Vater anschließend das Haus verlassen. Normalerweise mochte Paps keine ungeklärten Situationen, weil er dann keine Ruhe fand. Er war harmoniebedürftig, lief aber nicht vor Auseinandersetzungen weg.

Martens plötzliches Auftauchen hatte Levin sicherlich tief verletzt. Eine erneute Affäre ließ sich nicht einfach in einem Gespräch klären. Möglich, dass er gegangen war. Aber ganz bestimmt nicht ohne frische Kleidung und eine sorgsam gepackte Kulturtasche. Warum hatte Verena extra erwähnt, dass er seine Sachen gepackt hatte, wenn sie dies offensichtlich jetzt erst für ihn tat? Aus welchem Grund wollte Verena sie auf eine falsche Fährte lenken?

Auf jeden Fall hätte Paps sich bei ihr gemeldet. Er redete über seine Probleme, auch mit ihr. Vielleicht gerade mit ihr. Sie war Tochter, Freundin und Vertraute. Er wäre ganz sicher zu ihr gekommen, wenn er nicht bei Verena hätte bleiben können.

Rebecca widerstand der Versuchung, erneut in das Haus zu gehen. Es war sinnlos. Verena würde ihr nicht die Wahrheit sagen. Sie musste herausfinden, was wirklich geschehen war.

Rebecca hörte das Klirren eines Schlüsselbundes und schlich vorsichtig zur vorderen Hausecke. Verena hatte das Haus gerade verlassen. Sie hatte sich eine Winterjacke übergezogen und ging mit eiligen Schritten zu ihrem Wagen. Sie trug einen Wäschekorb. Eine Wolldecke verbarg seinen Inhalt vor den neugierigen Blicken der Nachbarn. Rebecca war sich sicher, dass er die Reisetasche mit den Sachen von Levin enthielt. Verena öffnete den Kofferraum und stellte den Korb hinein.

Nachbarn! Rebecca blickte sich um. Die Grundstücke hier waren schmal, nur durch niedrige Hecken und vereinzelte Bäume vor den Blicken Außenstehender geschützt. Es konnte gut sein, dass Frau Hullsten von ihrem Wohnzimmer oder dem Küchenfenster aus, die gestrigen Vorkommnisse beobachtet hatte. Rebecca sah hinüber. Weder im Garten noch an den Fenstern war jemand zu sehen. Für ausgesprochenes Feingefühl war die Nachbarin nicht bekannt. Zumindest eine wackelnde Gardine hätte verraten, wenn sie gerade ihren Beobachtungsposten verlassen hätte.

Rebecca blickte dem Auto hinterher, dass bereits am Ende der Straße angekommen war. Sie musste Verena nachfahren, um herauszubekommen, was Levin zugestoßen war. Mit der Nachbarin konnte sie auch später noch sprechen.

Die Gedanken rasten durch ihren Kopf. Hatte es einen Unfall gegeben oder litt Levin an einer schweren Krankheit, die beide vor ihr verheimlichen wollten? Das würde erklären, warum Verena nach dem Telefonat zu sich selbst gesagt hatte, sie habe ihn weggebracht. Wenn mit ihn überhaupt Levin gemeint war.

Rebecca lief zu ihrem Auto, sprang hinein und startete ungeduldig den Motor. Hastig legte sie den Rückwärtsgang ein und fuhr los. Der Wagen schoss aus der Parklücke. Lautes Gehupe erdröhnte hinter ihr. Rebecca trat mit voller Kraft auf die Bremse. Der Ruck schleuderte ihren Körper hart in den Sitz, ein heftiges Stechen durchzuckte Rebeccas Nacken. Beim Anblick des dunklen Geländewagens hinter sich zuckte sie zusammen.

Das war gerade noch einmal gut gegangen, dachte Rebecca. Ihr Herz pochte wild. Der Fahrer des anderen Wagens zeigte ihr im Vorbeifahren einen Vogel.

Rebecca massierte laut fluchend ihren Nacken und blickte die Straße hinab. Das Auto von Verena war abgebogen und aus ihrem Sichtfeld verschwunden. Es war unmöglich, sie jetzt noch einzuholen. Wütend schlug Rebecca mit der Faust auf das Lenkrad.

Sie wollte so schnell wie möglich ihren Vater finden.

Die Wahrscheinlichkeit für eine Krankheit oder Verletzung erschien ihr hoch. Rebecca beschloss, die umliegenden Krankenhäuser abzutelefonieren. Sie hoffte, dass keine bürokratischen Datenschutzbestimmungen das Personal daran hinderten, ihr als Tochter telefonisch Auskunft zu erteilen.

Sie griff nach ihrem Handy, geriet dann aber ins Grübeln. Wenn ihre Vermutung stimmte und er an einer schweren Krankheit litt, sollte sie dann seinen Wunsch nicht respektieren, dass sie nichts davon erfuhr? Andererseits wäre sie mit dem Wissen, wo er sich befand und dass er gut versorgt wurde, beruhigt gewesen. Aber sie hatte das starke Gefühl, dass hier ganz andere Geheimnisse dahintersteckten. Sie wog die möglichen Optionen gegeneinander ab. Dann blickte Rebecca durch die Seitenscheibe auf das Grundstück. Ihr Entschluss stand fest. Sie musste in dieses Haus.

Das Gespräch mit Verena, das belauschte Telefonat, die Widersprüche und Heimlichkeiten zwangen sie geradezu herauszufinden, was an diesem Ort geschehen war.

Entschlossen parkte Rebecca ihren Wagen wieder ein, stieg aus und ging zurück. Rebecca spürte, dass in diesem Haus Hinweise zu finden waren, die sie weiterbrachten. Sie hoffte, diesen ganzen Irrsinn und die Heimlichtuerei auflösen zu können.

Obwohl sie ihn nur selten benutzte, hatte Rebecca immer noch einen Schlüssel zu dem Haus. Mit großen Schritten ging sie die Auffahrt hinauf, auf der vor wenigen Minuten noch der schwarze Wagen von Verena gestanden hatte. Unwillkürlich beschleunigte sie ihre Schritte, als zöge das Gebäude sie an.

In der Hoffnung, nicht von Frau Hullsten entdeckt zu werden, eilte sie über den unebenen Gehweg zum Haus, schloss die Tür auf und ging hinein.

Verena hätte ihre Anwesenheit nicht gutgeheißen. Rebecca fühlte sich wie ein Spion, ein hinterlistiger Eindringling im eigenen Elternhaus. Sie konnte nur hoffen, dass Verena noch lange wegblieb und nie erfuhr, dass ihre Tochter das Haus durchsucht hatte. Andererseits wäre diese Aktion nicht nötig gewesen, wenn sie die Wahrheit gesagt hätte.

Rebecca zog ihr Handy aus der Tasche und rief erneut ihren Vater an. Die bekannte Stimme teilte ihr erneut mit, dass der Gesprächspartner nicht erreichbar sei. Ihr blieb kein anderer Ausweg. Sie musste das Haus durchsuchen.

Regungslos stand Rebecca im dunklen Flur und schloss die Augen. Sie war Analytikerin. Diese Fähigkeit war ihr angeboren und im Laufe des Lebens hatte sie diese Gabe optimiert.

Sie versuchte zu rekonstruieren, was hier im Haus geschehen war, und wiederholte in Gedanken das Zusammentreffen mit Verena. Sie konzentrierte sich dabei auf die Fakten und blendete alle Sentimentalitäten aus.

Plötzlich erinnerte sie sich an die entscheidende Szene. Bei ihrem Gespräch hatte Verena Krümel in den Mülleimer geworfen und später noch einen anderen Gegenstand entsorgt. Was war es gewesen? Rebecca konnte sich nicht mehr daran erinnern, hatte aber das untrügliche Gefühl, dass es wichtig war. Sie stürmte in die Küche und blickte in den Mülleimer. Die bunte Pappschachtel lag oben auf dem restlichen Müll. Muffiger Geruch stieg ihr in die Nase und Rebecca verzog das Gesicht, als sie nach der Schachtel griff. Es war eine Medikamentenverpackung. Die rezeptpflichtigen Filmtabletten enthielten 7,5 mg Zopiclon. Schlaftabletten. In alten Kriminalromanen der Klassiker, wenn man jemanden umbringen wollte. Rebecca zog die Blisterverpackung heraus. Alle Pillen waren entnommen worden.

War Verena zu einem Mord fähig? Erschrocken von ihrer eigenen Fantasie zuckte sie zusammen. Der Gedanke war derart absurd, dass sie unbewusst den Kopf schüttelte. Aber Rebecca war sich nicht sicher, ob sie Verena gut genug kannte, um sie von jedem Verdacht freizusprechen. Die Zweifel blieben.

Unentschlossen drehte sie die Schachtel in ihren Fingern, ließ sie dann in ihre Wildledertasche gleiten.

Rebecca sah sich in der Küche um. Nichts erregte ihre Aufmerksamkeit. Dann schweifte ihr Blick ins Wohnzimmer. Wirklich ordentlich war es hier nie, aber heute wirkte der Raum geradezu vernachlässigt. Zwischen den über Eck stehenden Sofas fristete ein hoher Ficus sein trockenes Dasein. Vergilbte Blätter lagen auf den Sofalehnen und auf dem Boden. Der Couchtisch war übersät mit Zetteln und Zeitschriften. Drei leere Einwickelpapiere von Hustenbonbons lagen neben einem Glas, in dem noch ein Schluck Orangensaft war. Angewidert rümpfte Rebecca die Nase. Gegenüber der Sitzecke stand eine kieferne Kommode. Darauf stand eine dunkelgrüne Vase, aus der verblühte Chrysanthemen kraftlos herabhingen, daneben ein von Wachs überlaufener Kerzenständer und mehrere Bilderrahmen.

Rebecca ging hinüber und betrachtete die Fotos, die den Eindruck erwecken konnten, es habe in diesem Haus einmal eine glückliche Familie gegeben. Dass dem nie so gewesen war, wusste sie selbst am besten.

Verena hatte Mühe, die Küche und das Bad sauber zu halten. Im Wohnzimmer machte meist ihr Vater Ordnung. Hier war seit Tagen kein Handschlag getan worden. Dermaßen chaotisch hatte es noch nie ausgesehen, zumindest an den wenigen Tagen, die sie in den letzten Jahren hier gewesen war. Was verdammt war mit Levin passiert? So wie es hier aussah, hatten ihn die Gründe seines Verschwindens schon seit Tagen beschäftigt.

Die leere Schachtel mit den Schlaftabletten ging ihr nicht aus dem Kopf. Sie tastete von außen gegen ihre Tasche, um sicherzugehen, dass der kleine Karton noch da war. Hatte Verena Paps betäubt und dann irgendwohin weggebracht? Aber warum hätte sie das tun sollen? Was war hier nur vorgefallen?

Rebecca suchte weiter nach Spuren. Auf den ersten Blick wirkte nichts ungewöhnlich, von der fürchterlichen Unordnung abgesehen.

Angenommen, Verena hätte ihren Vater wirklich getötet. Der Gedanke schien geradezu lächerlich. Trotzdem wollte Rebecca auch diese Möglichkeit durchgehen und versuchte, sich ein mögliches Szenario bildlich vorzustellen. Wo hätte Verena es getan?

Wahrscheinlich hatte sie die Tabletten in einem Getränk aufgelöst. Für den Mord, wenn es denn einer gewesen war, durfte es keine Beweise geben. Folge dessen musste sie verhindern, dass Levin stürzte. Er hätte sich dabei den Kopf aufschlagen und Blutflecken hinterlassen können. Verena war clever, dieses Risiko wäre sie nicht eingegangen. Levin hätte also sitzen oder liegen müssen.

Das Sofa im Wohnzimmer wäre ideal gewesen. Rebecca ging hinüber und betrachtete die Couch. Sie hielt inne und lauschte. Der Herbstwind rüttelte mit aller Kraft an den Fenstern und kroch mit unangenehmem Pfeifen durch die Ritzen. Keines dieser Geräusche kündigten die Rückkehr von Verena an. Wieder bereute Rebecca, dass sie ihr nicht hatte folgen können. Gerade deshalb musste sie diese Gelegenheit jetzt nutzen. Sie schüttelte ihr schlechtes Gewissen ab und suchte mit großer Sorgfalt nach Indizien für die geheimen Vorkommnisse in diesem Haus.

Rebecca hob die einzelnen Sofakissen an und tastete mit den Fingern in jeden Spalt. Sie stieß auf alte Chipskrümel und einen Stummel, der wohl mal ein Bleistift gewesen war. Was hatte sie erwartet? Selbst wenn Levin hier nach einem mit Tabletten versetzten Getränk eingeschlafen war, welche Spuren konnte es geben? Rebecca konnte nicht abschätzen, wie schnell das Medikament wirkte, wenn man es hoch dosierte. Wenn er noch beim Trinken eingeschlafen war, gab es vielleicht Getränkeflecken. Erneut suchte sie die Kissen ab, doch außer ein paar Strichen von fallengelassenen Kugelschreibern fand sie nichts. Keine getrockneten Getränkeflecken oder Hinweise, dass auf dem Stoff etwas ausgewaschen worden war. Sie sah sich weiter um. Auf dem Wohnzimmertisch stand ein Glas. Ein kurzer Blick genügte, um es auszuschließen, denn es wies Lippenstiftreste von Verena auf. Zielstrebig durchquerte Rebecca den Raum bis hinter den Küchentresen und riss die Geschirrspülmaschine auf. Es musste ein benutztes Glas da sein, in dem Rückstände zu finden waren! Mit klopfendem Herzen blickte Rebecca in den Innenraum. Ihren geflochtenen Zopf quetschte sie nervös zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her.

“Das ist jetzt ein Scherz”, murmelte sie verzweifelt. So unordentlich es hier auch war, in der Spülmaschine befand sich nicht ein einziges Teil. Auf der Arbeitsplatte stapelte sich das Geschirr. Verschmierte Teller, Schüsseln mit angeklebten Resten und dreckige Töpfe. In einem der Becher waren Reste von dunklem Kaffee erkennbar, aber Levin trank nur Kaffee mit viel Milch.

Die herumstehenden Gläser konnten nicht für das Schlafmittel benutzt worden sein. An allen befanden sich ebenfalls schwache Abdrücke des apricotfarbenen Lippenstifts von Verena. Auf einmal wurde Rebecca die Sinnlosigkeit ihrer Suchaktion bewusst. Niemand, der einen Menschen mit Schlaftabletten betäuben oder töten