Die anderen Mädchen - Sarah Graves - E-Book

Die anderen Mädchen E-Book

Sarah Graves

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  • Herausgeber: Diana Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
Beschreibung

Mit dem Fall der vermissten vierzehnjährigen Tara droht Lizzie Snow von der Mordkommission Maine an ihre Grenzen zu kommen, als sich eine Verbindung zu einem alten Verbrechen auftut. Ein Mann, der mehrere Mädchen entführte, ist aus dem Gefängnis entkommen und hält sich in den Wäldern von Bearkill auf. Hat er Tara in seiner Gewalt? Während Lizzie gleichzeitig nach dem Mädchen und dem Psychopathen sucht, breitet sich ein verheerender Waldbrand aus. Ein fieberhafter Wettlauf gegen die Zeit und das Feuer beginnt.

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Seitenzahl: 438

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Zum Roman

Mit dem Fall der vermissten vierzehnjährigen Tara droht Lizzie Snow von der Mordkommission Maine an ihre Grenzen zu kommen, als sich eine Verbindung zu einem alten Verbrechen auftut. Ein Mann, der mehrere Mädchen entführte, ist aus dem Gefängnis entkommen und hält sich in den Wäldern von Bearkill auf. Hat er Tara in seiner Gewalt? Während Lizzie gleichzeitig nach dem Mädchen und dem Psychopathen sucht, breitet sich ein verheerender Waldbrand aus. Ein Wettlauf gegen die Zeit und das Feuer beginnt.

»Atmosphärische Landschaften und authentische Figuren.«   The New York Times

»Hoch spannend und temporeich.«   Kirkus Reviews

»Ein handlungsreicher Spannungsstoff, den man nicht aus der Hand legen kann.«   RT Book Reviews

Zur Autorin

Sarah Graves lebt mit ihrem Mann in Maine, USA. Die anderen Mädchen ist nach Das Kind im Wald der zweite Fall für Lizzie Snow.

SARAH GRAVES

DIE

ANDEREN

MÄDCHEN

KRIMINALROMAN

Aus dem Amerikanischen

von Christiane Winkler

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstausgabe 04/2018

Copyright © 2016 by Sarah Graves

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel The Girls She Left Behind bei Bantam Books, an imprint of Random House, a division of Penguin Random House LLC, New York

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018 by Diana Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Anita Hirtreiter

Umschlaggestaltung: t. mutzenbach design, München

Umschlagmotiv: © Shutterstock/Fantom666

Satz: Leingärtner, Nabburg

Alle Rechte vorbehalten

e-ISBN 978-3-641-16543-7V002

www.diana-verlag.de

Für George und Penny

Prolog

Es war nicht einmal meine Idee gewesen. Das war es nie, wenn meine Cousine Camden in der Nähe war.

»Komm schon«, flüsterte sie mir ungeduldig von der Kellertür des Versammlungssaals in St. Anselm in New Haven zu und rollte mit ihren stark geschminkten Augen. Ich saß unter dem surrenden Neonlicht auf einem harten Metallklappstuhl an einem langen Tisch mit einem Dutzend anderer Mädchen im Teenageralter und strickte. Cam breitete die Hände aus, sah mich an und verzog das Gesicht, als wollte sie fragen: Und? Kommst du jetzt oder nicht?

Wir waren in jenem Sommer gerade fünfzehn geworden. Man hielt uns oft für Schwestern, weil wir beide schlank waren und ein schmales Gesicht, dunkles lockiges Haar, große braune Augen und reine helle Haut hatten. Unsere Mütter waren tatsächlich Schwestern, und auch sie hatten einander ähnlich gesehen, als sie jung waren, und sie waren ebenfalls wie wir dazu erzogen worden, keine zu weiten Ausschnitte und keine zu kurzen Röcke zu tragen und darauf zu achten, dass der Saum immer den Boden berührte, wenn sie sich hinknieten.

Nicht dass Cam besonders oft gekniet hätte. Darin unterschieden wir uns. Ich war das brave Mädchen, grübelte ständig über meine Sünden, starb fast vor Angst, wenn ich am Samstagmorgen vor dem düsteren Beichtstuhl wartete, und fühlte mich danach erleichtert, nur um kurz darauf wieder einer Versuchung zu erliegen, als hätte der Teufel es nur auf mein reines Gewissen abgesehen. Ich machte immer fleißig meine Hausaufgaben, übte gewissenhaft Klavier und hatte dabei stets das Bild unerreichter Perfektion vor Augen, das mir jegliche Freude nahm. Zum Zeitvertreib las ich gerne Heiligenlegenden.

Cam hingegen rauchte geklaute Zigaretten, trug jeden Tag, sobald sie das Haus verlassen hatte, Wimperntusche und Eyeliner auf und lief herum, als würde sie zu irgendeiner Musik tanzen, die ich nicht hören konnte. Sie machte sich so zurecht, dass sie älter aussah, schlich sich freitagabends mit mir in den angesagtesten Club der Stadt und flüsterte dem Türsteher, der unsere Ausweise kontrollierte, irgendwas Schmutziges zu. Wenn irgendwer meldete, dass wir minderjährig waren, packte sie mich und rannte mit mir im Schlepptau lachend zum Hintereingang hinaus.

Sie brachte uns ständig in solche Situationen, und obwohl ich sie sehr lieb hatte, hatte ich auch immer Angst davor, was sie als Nächstes tun würde oder was wir anstellen könnten. Cam war sehr geschickt darin, mich zu irgendwas zu überreden oder Dinge mit mir auszuprobieren, was ich alles allein nie gewagt hätte. Und die Nacht, in der ich sie verlor, bildete da keine Ausnahme.

»Ich gehe ohne dich«, warnte sie mich aus dem Gang des feucht riechenden Kellers, und ihre dunklen Augen funkelten verschmitzt. »Ich meine es ernst. Letzte Chance.«

Ich blickte mich nervös um und sah zu den anderen Mädchen, die wie ich alle mit kratziger, nicht zusammenpassender Wolle strickten, während wir uns die Hintern auf den metallenen Klappstühlen abfroren. Obwohl es Juli war, war es hier unten kalt, und an den alten Steinmauern der Kirche rieselten eisige Wassertropfen herab, die auf dem Betonboden Pfützen bildeten.

»Beeil dich«, drohte Cam mit zusammengekniffenen Augen und schmalen Lippen und streckte warnend ihr Kinn nach vorne, genau wie unsere Mütter das taten, wenn sie wütend auf uns waren.

Ich sah mich noch einmal um und zuckte mit den Achseln. »Ich kann nicht.« Wir strickten für kleine ungläubige Babys in Afrika warme Mützchen; unser Glaube sah vor, dass ungläubige Babys unabhängig vom Klima unbeholfen gestrickte Mützchen brauchten.

Cam seufzte theatralisch. »Na schön, wie du willst, ist mir doch egal«, antwortete sie eingeschnappt, bevor sie sich umdrehte und wieder im muffigen, dunklen Gang verschwand.

Vorsichtig legte ich meine Stricknadeln vor mir auf den Tisch und stand auf. Die meisten Mädchen waren mit ihren Mützchen fertig und arbeiteten bereits an den Quasten, ich hingegen hatte erst vier Reihen zustande gebracht, weil ich so viele Fehler gemacht und alles immer wieder hatte auftrennen müssen.

Ich war mit keinem der anderen Mädchen sonderlich befreundet und hatte auch nichts getan, um sie zu veranlassen, mich zu verraten. Also beachtete mich niemand, und unsere Gruppenleiterin Mrs. Hart saß mit dem Kinn auf der Brust zurückgelehnt auf einem Stuhl und schnarchte. Wahrscheinlich glaubten alle, ich sei nur kurz auf die Toilette gegangen, falls sie mein Austreten überhaupt bemerkt hatten.

Kaum war ich draußen, packte Cam mich. Sie roch nach Zigaretten. »Mann, worauf wartest du noch? Oder willst du, dass Creepers uns erwischt?«

So nannte sie Pfarrer Crepinski von St. Anselm. Sobald sie das sagte, hörten wir tatsächlich die alte Holztür über uns knarren und seinen schleppenden Gang auf dem gefliesten Boden, der die Treppe hinunter auf uns zukam – als kleiner Junge hatte er Kinderlähmung gehabt und ein lädiertes Bein zurückbehalten. Ka-bum. Pause. Ka-bum.

»Komm«, flüsterte Cam eindringlich und eilte zu der anderen Treppe. Wenn ich nicht mit ihr erwischt werden wollte, musste ich ihr folgen, denn sie war aufgrund ihres schlechten Einflusses von den Jugendaktivitäten der Gemeinde ausgeschlossen worden.

Fünf Minuten später gingen wir so schnell wir konnten die Whalley Avenue entlang. »Und wenn jemand bemerkt, dass ich weg bin?«, fragte ich besorgt.

»Also bitte«, antwortete Cam verächtlich. »Sie werden einfach denken, dass du zum Beten rauf in die Kapelle gegangen bist oder so.«

Bei den Worten zuckte ich innerlich zusammen. Es war einer jener milden, warmen Abende, an denen alles möglich schien. Typisch, dass du dir Sorgen machst, schien in ihrem Ton mitzuschwingen. Außerdem hatte sie, was mich und die Kapelle betraf, natürlich recht.

Sie zündete sich eine weitere Zigarette an und hielt fachmännisch die Hand vor die Flamme. »Mal ehrlich, glaubst du wirklich, dass dich irgendwer vermissen wird? Das ist das Tolle daran, wenn man ein Langweiler wie du ist, dann fällt keinem auf, ob man da ist oder nicht.« Sie stieß eine graue Rauchwolke durch ihre geschminkten Lippen aus. »Außerdem ist jetzt Creepers bei ihnen, wahrscheinlich hat er seine Gitarre dabei, und alle singen Volkslieder. Ich meine, falls er nicht zu senil ist und sie alle vergessen hat.«

Ich musste unwillkürlich lächeln und hatte plötzlich Mitleid mit dem alten Pfarrer Crepinski. Erst letzten Sonntag hatte er völlig verwirrt die Messe auf Latein statt auf Englisch angefangen, genau wie er es vor gefühlten hundert Jahren im Priesterseminar gelernt hatte. Kyrie eleison, Christe eleison … na ja, der Teil war auf Altgriechisch, fragen Sie mich nicht warum. Es bedeutet Herr, erbarme dich, das wusste ich, weil ich alte Sprachen viel lieber mochte. Für mich war ihr Klang irgendwie geheimnisvoll, so wie sich alles anhören sollte, was mit Religion zu tun hatte. Die englische Version empfand ich hingegen eher so, als würde sich jemand ungeschickt an einem stumpfen Stift festklammern und versuchen, ein Gedicht zu verfassen. Doch das sagte ich Cam nicht. So etwas interessierte sie nicht. Sie wollte immer nur über Klamotten, Musik, Ausgehen und natürlich Jungs reden.

Also fragte ich sie: »Wohin gehen wir offiziell noch mal?« Wenn wir uns davonstahlen, kümmerte Cam sich um die Alibis.

Sie lachte sorglos und beäugte einen süßen Jungen in einem Cabrio, der an uns vorbeifuhr. »Also erst mal habe ich Mom gesagt, ich würde bei dir übernachten, dann war ich bei deiner Mom und habe zu ihr gesagt, ich würde dich im Gemeindesaal abholen und du würdest bei mir übernachten.«

Was im Klartext hieß: Niemand wartete auf uns. Cam hatte richtig Übung darin, etwas so zu formulieren, dass man ihr glaubte.

Auf der Whalley Avenue brummte an diesem frühen Freitagabend wie üblich der Feierabendverkehr und erfüllte die nahende Nacht. In den Autos saßen vorwiegend junge Leute und nickten zu der Musik, die drinnen aus den Lautsprechern dröhnte, mit den Köpfen. Abgase und ölige Restaurantgerüche mischten sich mit dem Zigarettenrauch, den Cam ausstieß, während am dunkler werdenden Himmel nacheinander die ersten Sterne auftauchten.

Cam drehte sich glücklich zu mir. »Also sind wir frei, frei, frei«, sang sie, wobei ihre braunen Augen boshaft blitzten und sie mich mit dem Ellenbogen ein wenig zu heftig anstieß. »Jetzt komm, Janie, kannst du nicht wenigstens ein bisschen lächeln?«

Ich versuchte es, aber vermutlich nicht sehr überzeugend. Doch ich musste zugeben, dass es nachts alleine hier draußen herrlich war, wenn einem niemand sagte, was man zu tun und wie man es zu tun hatte. Wenn ich abends mit meiner Mutter ausging, hatte sie meistens schreckliche Angst, und jedes zweite Wort aus ihrem Mund klang wie eine Warnung – glaubte sie wirklich, dass ich in meinem Alter entführt oder von einem Auto angefahren werden könnte? – oder eine Versündigung, weil ich etwas tat, das mir Freude machte.

Aber in jenem Sommer wurde mir allmählich bewusst, dass man seine ganze Erziehung nicht einfach so abschütteln konnte. Um frei wie Cam zu sein, musste man etwas dafür tun und das auch wirklich wollen, und ich war mir nicht sicher, ob ich dem gewachsen war. Also lief ich schweigend neben ihr her, bis wir den Fußweg erreichten, der in den Edgewood Park führte.

Abseits der Straße duftete es nach frisch gemähtem Gras, feuchter Erde und Chlor aus dem öffentlichen Schwimmbad, das über Nacht geschlossen war. Am weißen Betonpfad entlang, der sich durch die Bäume schlängelte, standen alte Laternenmasten, die den Park in geheimnisvolles Licht tauchten. Ganz in der Nähe schimmerten wie kleine tanzende Laternen Glühwürmchen im Schatten.

An diesem Abend fand bei den Tennisplätzen ein öffentliches Tanzfest statt, aus der Entfernung hörte ich bereits die Band spielen. Mein Herz schlug voller freudiger Erwartung, als stünde mir etwas Herrliches bevor. Etwas Wunderbares und zugleich Unheimliches.

»Da unten wurde vergangene Woche ein Mädchen vergewaltigt«, sagte Cam, als wir auf dem Weg in die Richtung eilten, aus der die Musik kam. Sie zeigte auf eine dunkle Waldlichtung, die abgelegen hinter dichtem Gestrüpp am Fuße eines kleinen Hügels lag und zu der kein Licht vordrang. »Sie lief spätabends alleine hier herum. Ich meine, ehrlich. Tut mir leid, was ihr passiert ist und so, aber kannst du dir das vorstellen?«

Dass man etwas so Dummes tun konnte, meinte sie. Ich wusste, dass Cam mich nur deshalb mit an Orte nahm, wo Jungs sie anbaggern konnten, damit sie nicht alleine war. Dann konnte ich Hilfe holen, wenn sie welche brauchte, oder war eine praktische Ausrede für sie, wenn jemand ihr zu nahe kam, weil sie dann sagen konnte, dass sie sich um ihre Cousine kümmern müsse.

Ich sah in den nächtlichen Sternenhimmel hinauf und genoss die warme Luft auf meiner Haut. »Ich weiß nicht. Ich wette, hier draußen ist es spätabends richtig schön.«

Cam lachte spöttisch. »Na klar. Wenn du von einem Perversen überfallen werden willst. Weißt du eigentlich, was du bei einer Vergewaltigung über dich ergehen lassen musst? Danach, meine ich?«

Die Parkplätze in der Nähe der Tennisanlage füllten sich mit Autos, deren Scheinwerferlicht auf Grüppchen junger Leute fiel, die alle in die Richtung eilten, aus der die Musik kam. »Nein, was denn?« Schon an ihrer Stimme konnte ich hören, dass sie kurz davor war, mich mit obszönen Ausdrücken zu überschütten, die ich vermutlich nicht hören wollte. Vielleicht bekäme ich sogar Albträume davon. Ich war trotzdem neugierig. »Komm schon, Cam, was denn?«

Sie sah mich finster an. »Man bringt dich ins Krankenhaus, schnallt dich an ein Bett und zieht dich aus. Nackt«, betonte sie.

Ich starrte sie entsetzt an. »Wozu soll das gut sein?«

»Um dich zu untersuchen«, antwortete sie und schien zufrieden mit meiner Reaktion. »Mit Apparaten.« Sie erschauderte übertrieben und lieferte mir weitere Details, während wir uns den Tennisplätzen näherten, bei denen inzwischen die Band zu spielen begonnen hatte. Sie erzählte mir von den intimen Fragen, die man über sich ergehen lassen musste und die schlimmer als alles waren, was ich jemals im Beichtstuhl erlebt hatte, und von den Auflagen, die man erhielt.

Woher sie all diese Informationen hatte, war mir nicht klar und noch viel weniger, dass sie vielleicht nicht der Wahrheit entsprechen könnten. Cam war meine zuverlässige Quelle für alles, was Erwachsenenkram betraf, und durch die Bestimmtheit, mit der sie die Dinge von sich gab, glich sie stets den Mangel an wirklichem Wissen aus.

»Weißt du, was ich mit dem Jungen machen würde, wenn ich könnte? Mit dem Kerl, der mir so was antun würde, meine ich? Ich würde ihn …« Sie fuhr fort, mir lang und breit zu erklären, welcher schrecklichen Strafe sie ihren Peiniger aussetzen würde. »Wie dem auch sei«, sagte sie nachdrücklich, »folge einfach meinem Rat, du Dummerchen, und geh nicht alleine an dunkle Orte, dann wird dir auch niemals das zustoßen, was dem Mädchen widerfahren ist.«

Nachdem sie mir genügend Angst eingejagt hatte, um sicherzugehen, dass ich an ihren Lippen hing, drehte sie sich weg und konnte es kaum erwarten, sich bei dem Tanzfest unters Volk zu mischen. Ich hingegen zögerte.

»Was ist los?«, fragte sie und drehte sich ein wenig zu mir um. Von der Tennisanlage war zum ersten Mal ein Gitarrensolo zu hören, und die Musik schien ihren ganzen Körper zu erfassen, des Sommerabends unberührtes Geheimnis, ihre eigene Unschuld.

Obwohl sie sich so selbstsicher gab, hatte sie dieselbe Erziehung wie ich genossen: Mochte man etwas, war es zwangsläufig falsch, tat man es trotzdem, widerfuhr einem unweigerlich etwas Schlimmes. Aber Cam kümmerte das alles nicht, sie hielt nicht inne und fragte sich auch nicht, ob vielleicht doch etwas Wahres daran war. Und so war sie schutzlos.

Was ich bisher allerdings nicht erkannt hatte.

»Komm schon, Janie, sei nicht so kindisch«, sagte sie. »Das ist doch nur ein Tanzabend. Glaubst du etwa, da drinnen wartet ein Vergewaltiger auf dich, oder was?«

Das dachte ich tatsächlich, obwohl die Leute um uns herum freundlich wirkten, nicht wahr? Sie schienen glücklich und lachten.

Aber ich kannte niemanden, die dunklen Büsche waren ganz in der Nähe, und außerdem konnte man nie wissen, was ein Fremder dachte – wie meine Mutter zu sagen pflegte.

»Jetzt komm endlich, Jane«, drängte Cam mich. Vielleicht war sie ein wenig ungeduldig, allerdings kannte sie mich und wusste, dass ich ein Angsthase war und mich am Anfang vor allem fürchtete. »Komm, wir gehen nur auf einen Sprung rein, und wenn uns irgendwas komisch vorkommt oder du dich gar nicht amüsierst, gehen wir wieder nach Hause, okay?«

Sie lächelte mir so ausgelassen, heiter, vor allem aber mutig ins Gesicht, dass ich ihr es nicht abschlagen konnte. Cam würde alles tun, jede Mutprobe annehmen. Einmal kletterte sie mit ein paar Jungs aus der Schule ganz nach oben auf den Wasserturm in East Rock und sprühte ihren Namen darauf, dann fotografierte sie sich zum Beweis mit der Einwegkamera, die sie zu ihrem zwölften Geburtstag bekommen hatte. Später, als die Schule anfing, behauptete ein Mädchen in ihrer Klasse, das Bild sei gefälscht. Ein paar Wochen später landete genau dieses Mädchen an einem verregneten Tag bis zum Hals im Dreck. Doch als man sie fragte, wer das getan habe, gab sie keine Antwort. Denn sie hatte Angst.

»Okay«, antwortete ich, woraufhin Cam zufrieden lächelte.

Wie gesagt, ich konnte ihr nichts abschlagen.

Jemand hatte eine Kühlbox voller Colaflaschen mitgebracht, in die er Bier gefüllt hatte, denn der Tanzabend war als alkoholfreies Fest angekündigt worden. Die Cops fuhren hinter dem Gebüsch am Zaun der Tennisanlage entlang, wo sich das Kichern der Pärchen mit dem Geruch von Marihuana mischte. Doch nach dem lässigen Verhalten der Polizei zu urteilen, waren sie nur vor Ort, um sicherzustellen, dass niemandem etwas passierte. Und zunächst blieb das auch so.

Cam tanzte wie wild, warf ihre Arme in die Luft und stampfte mit den Füßen provokativ vor ein paar Jungs auf den Boden, erlaubte aber keinem, ihr zu nahe zu kommen.

Ich stand alleine am Zaun und versuchte so dreinzuschauen, als wollte ich es nicht anders und als machte es mir nichts aus. Niemand forderte mich zum Tanzen auf, denn obwohl Cam und ich uns ziemlich ähnlich sahen, war es für jedermann offensichtlich, wer von uns beiden das Partygirl und wer das Mauerblümchen war.

Ab und zu kam Cam zu mir und wollte mich um jeden Preis dazu bewegen, vom Zaun wegzugehen – weil mich ein wenig Spaß schließlich nicht umbringen würde.

Doch auf meine ganz eigene Art amüsierte ich mich sogar. Die Sache mit dem Bier fand ich heraus, als ich einen Schluck aus einer Colaflasche trank und spürte, wie das Zeug frisch und kühl meine ausgetrocknete Kehle hinunterfloss. Die Nacht war lau und irgendwie herrlich sonderbar, laute Musik ließ die Luft vibrieren, und überall sah ich mir unbekannte Gesichter.

Wehmütig gestand ich mir ein, dass ich einfach zu den Menschen gehörte, die Spaß daran hatten, anderen zuzusehen. Nach einer Weile schien auch Cam genug zu haben und gesellte sich mit verschmierter Wimperntusche, glänzenden Augen und hitzig rotem Gesicht zu mir.

Sie nahm mir die Flasche Bier aus der Hand und trank einen kräftigen Schluck. »Okay, ich bin durch, lass uns von hier verschwinden«, sagte sie und wischte sich mit dem Arm theatralisch über die verschwitzte Stirn. »Sieh dich an! Wie dämlich ist das denn, hast du gar nicht getanzt?«

Inzwischen wurde es immer lauter, die Bandmitglieder waren alle betrunken und alberten nur noch auf der Bühne herum. Irgendwo am anderen Ende gab es eine Rauferei, woanders weinte ein Mädchen bitterlich, während seine Freunde sich um es scharten und einen Jungen vorwurfsvoll ansahen, der jämmerlich dreinschaute und sich nicht nähern durfte.

»Natürlich habe ich getanzt«, log ich, doch Cam sah mich nur wissend an und verzog das Gesicht.

»Klar«, sagte sie gedehnt, »klar hast du getanzt«. Sie trank mein Bier aus und warf die Flasche achtlos weg. »Komm jetzt, Baby, lass uns verschwinden. Du solltest schon längst im Bett sein.«

Wir liefen um das Dickicht am Zaun herum zum Parkplatz, von wo aus es für uns der kürzeste Weg nach Hause war. Aber als wir den Parkplatz erreichten und eine Reihe geparkter Autos dort entdeckten, blieb Cam plötzlich stehen.

»Hey, wen haben wir denn da?«, sagte sie und beäugte einen jungen Kerl, der am anderen Ende des Parkplatzes in einem grauen Lieferwagen saß und uns beobachtete.

Er sah irgendwie süß und ziemlich harmlos aus, hatte lockiges Haar und lächelte uns verschmitzt und wissend zu, während er an einem Hähnchenschenkel knabberte. Er wirkte müde, als wäre er gerade erst aufgewacht und ziemlich belustigt über den Anblick, der sich ihm bot: der Park, die Sommernacht und die jungen Leute da draußen.

Trotzdem gefiel er mir irgendwie nicht. Vielleicht lag das auch daran, dass er zu alt wirkte – er war mindestens Mitte dreißig –, um Mädchen unseren Alters so anzüglich anzulächeln. Oder vielleicht warnte mich auch mein Schutzengel, wie die Nonnen in St. Anselm zu sagen pflegten.

Der Kerl wandte uns träge den Kopf zu und winkte uns heran. »Hey.«

Ich machte vorsichtig einen Schritt zurück. Cam hatte sich hingegen genug Mut angetrunken; offenbar war meine Flasche nicht ihr erstes Bier gewesen.

Sie war sogar mutiger als sonst. »Hey, was?«, fragte sie herausfordernd und hob frech das Kinn. »Was willst du?«

Du Versager, schwang ganz klar in ihrer Stimme mit, während sie zu dem Lieferwagen marschierte. Selbst wenn sie sich von ihrer besten Seite zeigte, ließ Cam sich von niemandem etwas bieten.

Und jetzt war sie betrunken. Mit geballten Fäusten trat sie an das offene Fahrerfenster und blickte streitlustig zu dem Kerl auf, der immer noch an seinem Hähnchenschenkel knabberte.

»Hey, was bist du denn für ein Widerling? Sitzt hier rum und holst dir einen runter, während junge Mädchen vorbeigehen, weil du selbst keine findest?«

Er schaute nach wie vor verschlafen drein, aber dann wurde sein Lächeln breiter, und er legte den Hähnchenschenkel weg. »Hey, komm schon, Schätzchen, wo ist das Problem? Sei doch nicht so.«

Was sie allerdings nur noch wütender machte. »Sei doch nicht so«, äffte sie ihn höhnisch nach, während ich immer ängstlicher wurde und nicht wusste, warum. Mein Mund wurde plötzlich trocken, und mein Herz begann zu hämmern.

»Cam«, sagte ich. »Cam, lass uns …«

Das Gebüsch war an dieser Stelle zwischen Parkplatz und Tennisplatz dichter und versperrte die Sicht, zudem waren alle anderen auf der anderen Seite. Der Parkplatz war voll geparkt, doch die Autos waren leer, und gerade in dem Moment war keine Menschenseele weit und breit zu sehen.

Erst jetzt fiel mir auf, dass er am anderen Ende und an der einzigen Stelle geparkt hatte, die nicht beleuchtet war, sodass der Lieferwagen im Schatten stand. Es schien fast so, als hätte er sich absichtlich dort hingestellt.

Cam schlug mit den Fäusten an die Fahrertür. »Missgeburt«, murmelte sie so laut, dass er es hören musste, und da wusste ich, dass wir in Schwierigkeiten waren. Denn obwohl er keine Miene verzog, veränderte sich der Blick in seinen Augen.

Dann stieg er aus, lächelte immer noch träge und kam langsam, aber selbstbewusst wie eine große Raubkatze auf uns zu, die wusste, dass sie vor ihrem Sprung nicht mehr viel tun musste.

»Cam, komm jetzt«, schrie ich und fing zu rennen an, doch ich kam nur ein paar Meter weit. Als ich ihre erstickten Schreie hörte, blieb ich wie angewurzelt stehen.

Ich drehte mich um und sah, wie er die hintere Tür aufriss und sie auf die Ladefläche schubste. »Jane!«, schrie sie noch, bevor er ihr einen Hieb verpasste.

Ihr Kopf kippte zur Seite, ihr Gesicht wurde schlaff. Er schob ihren reglosen Körper weiter hinein auf die Ladefläche, knallte die Tür zu, lief dann lässig zur Fahrertür zurück und setzte sich wieder hinter das Steuer.

Ich versuchte zu schreien, das versuchte ich wirklich. Aber ich war so gelähmt vor Angst und Fassungslosigkeit, dass ich nicht einmal sprechen konnte. Ich stand nur wie angewurzelt da und bewegte meine Lippen, brachte allerdings keinen Ton heraus, während er rückwärts aus seiner Parklücke fuhr. Er fuhr neben mir heran und dann an mir vorbei.

Doch gerade als er losfahren wollte, brach plötzlich der Bann. »Nein! Stopp! Hilfe! Jemand …«

Aber ein Gitarrenverstärker, der in dem Moment bei der Tanzfläche aufheulte, erstickte meinen Schrei, und ich wusste, dass der Lieferwagen im nächsten Moment verschwinden würde. Und so tat ich das Einzige, woran ich denken konnte: Ich rannte los und warf mich gegen die Fahrertür.

Ich drückte mich mit meinem ganzen Körpergewicht dagegen, packte dann den Außenspiegel und hielt mich verzweifelt daran fest, klammerte mich mit der rechten Hand an die Fensteröffnung und zog mich so weit hoch, bis mein Ellenbogen drinnen steckte.

»Ich habe dein Autokennzeichen gesehen, ich melde das der Polizei!«, schrie ich dem Kerl ins Gesicht.

Aber das stimmte nicht. Nur war das die einzige Drohung, die mir in den Sinn kam und die ihn vielleicht aufhalten konnte. Und dem war auch so.

Langsam drehte er den Kopf zu mir. Ich hing schluchzend da und trat so fest ich konnte gegen die Tür, während der Lieferwagen langsam weiterfuhr. Schließlich trat der Kerl mit angewidertem Gesichtsausdruck auf die Bremse, sodass ich am Außenspiegel baumelte und zu Boden stürzte, dann stieg er aus und türmte sich vor mir auf.

Kurz darauf wusste ich nur noch, dass er mich packte und hochzog. Ich heulte so laut, dass ich kaum Luft bekam, trat unbeholfen nach ihm und versuchte, mich loszureißen, doch das brachte nichts. Er war stark, drückte meine Arme seitlich an meinen Körper, und immer noch war niemand auf dem Parkplatz zu sehen, der mich retten konnte. Uns retten konnte. Er hielt mich so fest, dass ich nicht genügend Luft bekam, um zu schreien, während er mich vorne am Wagen vorbeizog, die Beifahrertür aufriss, mich hineinstieß und sie wieder zuknallte. Ich suchte nach dem Türgriff, stellte aber fest, dass es keinen gab und an der Stelle nur ein Loch klaffte, also versuchte ich, mich auf den Türgriff an der Fahrerseite zu stürzen, aber in dem Moment stieg er ein.

Ich fuhr entsetzt zurück und werde nie seinen Blick vergessen, den er mir wortlos zuwarf – er sah mich nur an. Wie um zu prüfen, ob ich es wert wäre, dass er mich behielt, und wenn nicht …

Im Getränkehalter des Kleinlasters steckte eine offene Flasche Kiwisaft; er griff danach und hielt sie mir hin. »Trink.«

Seine Augen waren so blau wie der Long Island Sound an einem wolkenlosen Tag. Man konnte sich ihm nicht widersetzen, darüber bestand kein Zweifel. Mit zitternden Händen nahm ich die Saftflasche und war nicht in der Lage, meinen Blick von ihm abzuwenden, dann führte ich sie an meine bebenden Lippen.

Doch seiner Meinung nach tat ich das nicht schnell genug. »Trink den Saft, Schätzchen«, sagte er leise und fuhr langsam an, »sonst schlitz ich dir den Hals auf und schütte ihn dir die Kehle runter.«

Ich folgte seinen Anweisungen und versuchte, mein Schluchzen so unter Kontrolle zu bringen, dass ich schlucken konnte. Der lauwarme Saft schmeckte irgendwie sandig und bitter wie Getränkepulver, das sich nicht ganz aufgelöst hatte.

Er fuhr vom Parkplatz und sah sich dann zu beiden Seiten um, bevor er auf das Gaspedal drückte. Ich wischte mir mit den Armen über das verrotzte Gesicht. »W-was, w-willst du?«

Als wüsste ich das nicht längst. Genau das war es, wovor meine Mutter mich immer gewarnt hatte: Wenn du einen Fremden an dich heranlässt – oder dich, Gott behüte, ein Mann ins Auto zerrt –, dann ist es aus. Er wird dich vergewaltigen, danach ermorden und dich schließlich irgendwo notdürftig verscharren.

Bei diesem oder ähnlichen Vorträgen drohte sie mir mit dem Finger, um dem Gesagten Nachdruck zu verleihen. Und hier war der Beweis dafür: Ein dickes Metallgitter trennte den Innenraum von der hinteren Ladefläche. Ich hörte Cam schwerfällig atmen, es klang wie das langsame Blubbern in dickem Schlick. Hin und wieder stöhnte sie auf.

»Ich habe etwas Geld«, versuchte ich es erneut, obwohl das nicht stimmte. Wir waren inzwischen vor der Brücke auf dem Zubringer zur I-95 und rasten Richtung Osten.

Niemand wusste, wo wir waren. Weil Cam gelogen hatte, und eine Weile würde sogar niemand bemerken, dass wir verschwunden waren – jedenfalls nicht bis morgen früh. Und bis irgendwer herausfand, was passiert war …

Obwohl: Wenn meine Mutter recht behielt, würde niemand jemals mit Gewissheit erfahren, was passiert war. VERSCHWUNDEN!, würde die Schlagzeile lauten. HASTDUMICHGESEHEN?, stünde auf den Vermisstenplakaten an den Laternenmasten und in den Schaufenstern der Geschäfte.

Aber nur für kurze Zeit. Danach würde irgendein anderes Kind vermisst werden, man würde uns praktisch vergessen, und wir würden von einem weiteren jugendlichen Ausreißer oder entführten Kleinkind verdrängt werden. Das passierte andauernd.

»Ich habe viel Geld«, log ich. »Lass uns einfach gehen, dann gehe ich nach Hause und hole es …«

»Halt’s Maul.« Konzentriert blickte er vor sich auf die Straße und trat aufs Gaspedal. »Halt einfach dein Maul und tu, was ich dir sage. Dann wird es leichter für dich.«

Das gefiel mir gar nicht. Scheinwerfer blitzten auf und wurden zu wilden, bunten Feuerrädern. Ich überlegte, welche Chancen wir hätten, wenn ich ins Lenkrad griff und einen Unfall provozierte. Doch gleich darauf wurde mir so schlecht und schwindlig, dass ich gar nichts mehr tun konnte. Rein gar nichts. Ich hatte ein ohrenbetäubendes Klingeln in den Ohren. Das musste der Saft sein, dachte ich nur verwirrt. Mit einem Schlag, der durch mein Gehirn dröhnte, klappten meine Lider zu, und mir wurde schwarz vor Augen. Und dann …

Fünfzehn Jahre später leide ich immer noch unter Albträumen: lange, verdammt hartnäckige Schauergeschichten, die immer mit einer flach an eine Fensterscheibe gedrückten Hand enden, die langsam herabrutscht. Im Wachzustand laufe ich herum und sehe vor meinen Augen eine Art Diashow und die Gesichter von Mädchen, die schreien und betteln. Und jetzt, nach all der Zeit …

DREI MÄDCHEN AUS KELLERVERLIES BEFREIT, hieß es in einer Eilmeldung im Fernsehen, und weiter: HAUSBESITZER WIRD ZU GEFANGENNAHME VON FRAUEN BEFRAGT.

Sowohl meine Eltern als auch meine Großeltern lebten nicht mehr, hatten mir aber das Haus vermacht. Ich saß in demselben abgewetzten Wohnzimmersessel, den ich schon benutzt hatte, seit ich aus meinem Kinderhochstuhl herausgewachsen war, starrte in den Fernseher und konnte es kaum glauben.

Doch es stimmte: Am Morgen war es einer jungen Frau gelungen, aus dem Haus in der heruntergekommenen Gegend nur ein paar Meilen von dem Ort entfernt, an dem ich jetzt saß, zu flüchten und einen Streifenwagen herbeizuwinken. Im Fernsehen zeigten sie das Mädchen und ein weiteres, wie sie in einen Streifenwagen stiegen, während mein früherer Entführer immer noch schlank und mit gleichmäßigen Gesichtszügen und gewelltem blondem Haar, genau wie ich ihn in Erinnerung hatte, neben einem Polizisten stand und auf ihn einredete.

Er wirkte freundlich, aber zurückhaltend, als versuchte er, während der Unterhaltung einen harmlosen Grund dafür zu erfinden, weshalb er die beiden Mädchen in seinem Keller eingesperrt hielt. Man sah, wie er versuchte, die Reaktion des Polizisten abzuschätzen. Doch der Beamte lächelte nicht.

Dann trat ein drittes Mädchen heraus. Es war Cam.

Sie wirkte dünner, als ich sie in Erinnerung hatte, hatte aber dasselbe schmale Gesicht mit den großen dunklen Augen und warf unserem Entführer einen undurchdringlichen Blick zu, während sie sich zum Polizeiauto begleiten ließ.

Cam lebte.

Noch mehr Beamte kamen herbei. Als der Wagen mit Cam und den beiden anderen Mädchen losfuhr, umringten die Cops Henry Gemerle, der vor fünfzehn Jahren auf jenem Parkplatz begonnen hatte, mein Leben zu zerstören, und dies soeben endgültig geschafft hatte.

Natürlich war ich glücklich und irgendwie erleichtert, dass meine Cousine Cam überlebt hatte, doch jetzt konnte sie auch den Leuten erzählen, was ich getan hatte, oder? Dass ich sie in jener Nacht zurückgelassen und nie ein Wort darüber verloren hatte, was wir getan hatten oder was passiert war.

Ich hatte einfach Angst gehabt. Aber wenn das nun herauskäme, würde mich mein Chef vermutlich rausschmeißen, oder ich wäre in Anbetracht des furchtbaren öffentlichen Interesses gezwungen zu kündigen. Ich würde meine wenigen Bekanntschaften und vielleicht sogar mein Zuhause verlieren, weil ich nicht mehr dort leben könnte, wo jeder mich kannte. Ich könnte – und bei dem schrecklichen Gedanken schnürte es mir die Kehle zu – sogar ins Gefängnis kommen.

Das bedeutete, dass ich fünfzehn Jahre nachdem ich meine Cousine Cam in den Händen des Monsters gelassen und dazu geschwiegen hatte, dafür sorgen musste, dass sie mich nicht verriet.

Oder dass sie mich nicht verraten konnte.

1

Eisregen peitschte durch die Januarnacht, fiel glitzernd schräg auf die Scheinwerferlichter der vorbeifahrenden Autos, die nur stockend auf der Straße vorankamen und dabei Matschwasser an das große Bürofenster von Lizzie Snow spritzten, dem stellvertretenden Sheriff von Aroostook County.

Und wieder steht mir ein herrlicher Abend in Bearkill im Bundesstaat Maine bevor, dachte sie mürrisch und schaute aus dem Fenster, an dem das Wasser herunterrann, und auf die Umrisse der ihr bekannten Gestalt, die sich näherte. Es war Dylan Hudson. Er stapfte mit seinen Gummistiefeln durch den Schneematsch, unter seiner Jacke und dem schwarz-weiß gestreiften Schal sah man deutlich die eingefallenen Schultern des Ermittlers in Zivil. Eiswasser tröpfelte an seiner Hutkrempe herab.

Als sie ihn sah, stiegen für einen Moment noch einmal die ihr so vertrauten Gefühle in ihr auf, doch sie verdrängte sie gleich wieder. Gefühle waren das eine, Taten das andere, ermahnte sie sich streng.

»Hi.« Er schneite herein und hinterließ dabei ein paar Eistropfen auf dem Boden des spärlich eingerichteten Büros. Bis auf ein halbes Dutzend Fahndungsfotos an der Pinnwand und dem Funkgerät auf dem Regal wirkte der Raum mit seinen weißen Wänden und dem tristen grauen Teppich wie eine nicht sonderlich erfolgreiche Filiale eines Versicherungsbüros.

Dylan hatte eine große weiße Papiertüte dabei, die er auf den Schreibtisch stellte. Ein köstlicher Duft drang heraus.

»Hallo«, sagte sie und dachte bei sich, dass es keine gute Idee gewesen war, ihn herkommen zu lassen. Aber ihn bei den schlechten Wetterverhältnissen die neunzig Meilen zurück nach Bangor fahren zu lassen wäre selbst für einen Cop der State Police von Maine nicht ratsam gewesen, zudem hatte sein Versprechen, ihr thailändisches Essen ins Büro zu liefern, den Handel besiegelt.

»Und, was gibt es?« Er zog die weißen Pappschachteln aus der Tüte, schob den Krempel auf ihrem Schreibtisch beiseite und schaffte in dem Durcheinander Platz für zwei. Als Letztes zog er einen Flaschenöffner und zwei Flachen Tsingtao-Bier heraus, an denen die Tropfen herabperlten.

»Ein paar Sachen. Die Feuerwehr ist noch immer draußen unterwegs«, sagte sie und warf einen Blick auf das Funkgerät, das auf dem Regal über ihrem Schreibtisch stand. »Aber bald haben sie es unter Dach und Fach.«

Obwohl draußen winterliches Matschwetter herrschte, hatte der Norden Maines eine lange Dürreperiode hinter sich, die um Bearkill herum zu Buschbränden geführt und den Polizeifunk den ganzen Tag ziemlich auf Trab gehalten hatte. Doch als am späten Nachmittag die Wolkendecke aufriss, spuckte das Gerät nur noch vereinzelt Nachrichten aus.

Auf dem Kassenbon in der Tüte stand, dass das Essen aus Bangor kam. »Dylan, wie hast du es bloß geschafft, es bis hier warm zu halten? Und das Bier so …«

Obwohl: Bei diesem Wetter etwas kühl zu halten war nicht unbedingt ein Problem. In einer solchen Nacht hätte in Boston der Polizeifunk mehr Nachrichten über kleinere Pannen ausgespuckt, als es Abschleppwagen gab. Aber wenn man hier in Bearkill in einen Graben geriet, zog einen höchstwahrscheinlich der Nachbar raus.

»Mikrowelle«, erklärte Dylan und zeigte auf den Gemischtwarenladen mit Tankstelle weiter unten an der Straße, der mit einem weiteren Dutzend kleiner Shops das Geschäftszentrum von Bearkill bildete.

Sofern man es Geschäftszentrum nennen konnte. Bearkill lag am obersten Ende der Great North Woods und war einst ein florierendes Holzhandelszentrum gewesen. Doch diese Zeiten waren vorbei – jetzt beherrschten trostlose Fassaden wie die des Friseursalons Cut-n-Run oder des Schreibwarenladens (WIR SIND AUF LUFTBALLONSTRÄUSSE SPEZIALSIERT!) sowie ein Taekwondostudio und der Secondhandshop New to You das Straßenbild.

»Im Laden drüben sind gerade ein paar Jungs und Mädchen vom Forstdienst, die ziemlich ausgepowert wirken«, fügte Dylan mitfühlend hinzu. Die Kombination aus Tankstelle und Imbiss hieß Go-Mart – einen appetitlicheren Namen hätte man nicht finden können. »Soweit ich gehört habe, waren sie fast vierundzwanzig Stunden draußen und haben Felder und Wälder mit Gräben gespickt.«

In einem normalen Jahr bestand zu dieser Zeit längst keine Brandgefahr mehr. Aber es war kein normales Jahr gewesen.

Dylan schüttelte reumütig den Kopf. »Brandschneisen auszuheben ist ein Knochenjob. Erinnere mich das nächste Mal daran, wenn ich wieder über meinen Job meckere, okay?«

»Äh, ja.« Neben dem Polizeifunkgerät auf der Ablage stand ein gerahmtes Empfehlungsschreiben des Boston Police Department, zu dem Lizzie vor zwei Monaten noch gehört hatte und dort bei der Mordkommission war. Daneben stand in einem durchsichtigen Plastikrahmen das Foto eines kleinen blonden Mädchens. Sie war der Grund, weshalb Lizzie nicht mehr in Boston war und auch nicht mehr der Mordkommission angehörte. »Sie gönnen sich eine Pause«, fügte sie hinzu und zeigte in den Schneeregen hinaus.

Dann überlegte sie, ob sie Dylan von der anderen Sache erzählen sollte, an der sie heute gearbeitet hatte. Wenn sie das tat, wurde sie ihn nach dem Abendessen vermutlich nur schwer wieder los. Andererseits war das vielleicht auch gar keine so schlechte Idee. »Hör mal, ich habe eine Meldung erhalten, dass in der Gegend ein Teenager vermisst wird.«

Sie war erst vor ein paar Wochen als Vertretung des Aroostook County Sheriff Department in Bearkill eingestellt worden. Warum ausgerechnet ein ehemaliger Cop der Mordkommission in Boston die Richtige dafür war, war wieder eine andere Geschichte.

Doch das beschäftigte sie gerade gar nicht. »Vierzehn Jahre alt – du weißt schon, so eine, die sich schon für zwanzig hält. Ihr Name ist Tara.«

Der Norden Maines mit seinen Tausenden Quadratkilometern Wald, Bergen und Ackerland war nur dünn mit ein paar Dörfchen besiedelt, die alle wie Bearkill ums Überleben kämpften, und das alles war so anders als Boston, dass es genauso gut auf einem anderen Planeten hätte liegen können. Teenager waren hingegen überall gleich, das wurde ihr langsam klar.

»Ich stoße an meine Grenzen«, gab sie zu.

Auch Dylan war bei der Mordkommission. Er wusste also selbst alles über das Verschwinden junger Mädchen; über diejenigen, die man fand, und die anderen, die nie wieder auftauchten.

Vor allem über Letztere.

Dylan war schlank, hatte markante Gesichtszüge, helle Haut, einen finsteren, verschleierten Blick und dunkles gewelltes Haar, das sich beiläufig in kleinen, Botticelli ähnlichen Löckchen kringelte, wenn er unter der Dusche stand …

Hör auf, ermahnte sie sich. Hör sofort auf damit.

Er machte beide Bierflaschen auf. »Okay, erzähl es mir beim Essen. Lass es dir schmecken!«

Das ließ sie sich nicht zweimal sagen, denn das gehörte zu den ersten Dingen, die ein Cop lernte: immer und überall, wo es ging, etwas zu essen. Regelmäßige Mahlzeiten waren etwas für Zivilisten.

»Gibt’s irgendeinen Grund zu der Annahme, dass sie nicht nur einfach ausgerissen ist?«, fragte er und schaufelte Riesengarnelen in roter Currysoße auf die heißen Nudeln.

»Ja, den gibt es. Sogar gleich mehrere.« Sie kaute, schluckte, trank Bier. Ein Polizeihandbuchfanatiker hätte wohl angemerkt, dass man im Dienst nicht trinken sollte und so weiter. Doch so ein Fanatiker hätte vermutlich auch nicht bei Schneesturm hier draußen am Arsch der Welt gesessen.

Verdammt, wenn sie mit vierzehn hier draußen im Nirgendwo gesessen hätte, wäre sie vermutlich auch ausgerissen.

Gleichzeitig quälte sie ein weiterer Gedanke – irgendwas geisterte durch ihren Hinterkopf, doch es ließ sich nicht definieren.

»Tara ist schon ein paarmal verschwunden, aber immer wieder zurückgekommen«, sagte Lizzie. »Alles steht ein paar Tage kopf, man sucht nach ihr, und dann kommt sie plötzlich hereingeschneit, als wäre nichts gewesen. Ihre Mutter ist zwar verzweifelt, glaubt allerdings, dass es diesmal wieder genauso enden wird. Aber …«

Ihre Stimme verebbte. In Gedanken versuchte sie, in Worte zu fassen, warum sie das Ganze so getroffen hatte. Manche Dinge wirkten am Anfang beunruhigend, endeten dann jedoch gut. Andere hingegen stanken immer mehr, je näher man ihnen kam.

Genau wie dieser Fall.

Dylan warf einen Blick aus dem dunklen Fenster, gegen das noch immer der Schneeregen prasselte. »Aber?«, wiederholte er. »Wie lange wird sie eigentlich schon vermisst?«

»Seit gestern Morgen hat sie niemand mehr gesehen. Da war schulfrei«, antwortete Lizzie widerwillig. Jetzt war Dienstagabend. »Sie hat vorher noch nie mehr als einen Tag die Schule geschwänzt.«

Dylan hob und senkte als Antwort einmal die Augenbrauen. Das war ein schlechtes Zeichen.

Aber das wusste Lizzie selbst. »Ich meine, vielleicht ist sie einfach ausgerissen und bleibt diesmal etwas länger von zu Hause weg. Davon gehen die meisten hier aus. Früher hat sie allerdings immer daheim angerufen, um ihrer Mutter zu sagen, dass alles in Ordnung sei. Vielleicht nicht gleich, aber irgendwann hat sie es immer getan. Diesmal hat sie keinen Ton von sich gegeben. Und ihre Freundinnen wissen auch nicht, wo sie ist.«

Ihre Freundinnen waren alle noch ziemlich kindisch, zerstreut und verträumt, die gelegentlich wie beiläufig einen Blick auf Lizzies Waffe warfen. Im Grunde hatte man das Gefühl, mit jungen Kätzchen zu sprechen.

»Glaubst du ihnen?«, fragte Dylan. »Und hat sie eigentlich einen Freund?«

»Doch, ich glaube den Mädchen. Und sie hat tatsächlich einen Freund, aber der wird auch vermisst, genau wie sein Motorrad. Ganz logisch, nicht wahr?«

Der Junge war achtzehn und kam von hier. Zwar hatte er keine Vorstrafen, allerdings war er polizeibekannt und wegen Marihuanabesitz verhaftet worden. Alles andere waren Anzeigen wegen Trunkenheit als Minderjähriger. Also keine schweren Delikte. Aaron DeWilde war kein braver Pfadfindertyp, sondern einfach nur der typische Außenseiter mit sanften Augen, auf den Mädchen wie Tara flogen, weil sie seine sensible Seite kannten.

»Es wurde kein AMBER Alert ausgelöst«, fügte Lizzie hinzu. Die Bevölkerung war in der Vergangenheit schon zweimal alarmiert worden, dass Tara Wylie vermisst wurde, aber das Mädchen war jedes Mal von allein wieder aufgetaucht und hatte sich über all das Aufheben gewundert. »Bisher jedenfalls noch nicht. Ihre Mom hat ein paar Zettel aufgehängt für den Fall, dass irgendwer etwas gesehen hat, mehr nicht.«

Dylan sah sie überrascht an, sagte aber nichts dazu.

»Hey, das war nicht meine Entscheidung«, fügte Lizzie hinzu. »Ich würde mich auch besser fühlen, wenn man mehr unternommen hätte.«

»Handy?« Dylan kratzte ein Stück Pilz von der Innenseite der Pappschachtel ab und aß es.

Sie schüttelte den Kopf. »Sie hat eins, aber das ist so ein gebrauchtes Billigteil ohne GPS-Software. Entweder es ist aus, oder der Akku ist leer.«

Draußen hatte es plötzlich zu schneien aufgehört, so als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Seit Lizzies Ankunft in Bearkill hatte es nur einen Schneesturm gegeben, doch der hatte für eine Winterveranstaltung im Norden Maines all ihre Erwartungen erfüllt. Aber der Schnee schmolz schnell, und danach bot das Land einen seltsamen Anblick, so wie die Vorher-Nachher-Bilder einer Website über globale Klimaerwärmung: rissiger Boden, ausgetrocknete Teiche, die sich in Schlammpfützen verwandelt hatten, verwelkter Winterweizen.

Der Graupelschauer von heute Abend war tatsächlich erst der zweite nennenswerte Niederschlag seit dem Labor Day, und die gesamte Feuchtigkeit verpuffte auch sogleich wieder in der heißen Luft eines Sommers, der bis auf das kurze winterliche Intermezzo einfach nicht enden wollte. Und obwohl das Wetter draußen ein beeindruckendes Schauspiel bot, brachte es der vertrockneten Erde nur wenig Erleichterung.

»Die ganze Feuerwehrmannschaft wird morgen früh gleich wieder ausrücken«, sagte Dylan und warf skeptisch einen Blick auf die Scheibe, an der das Wasser herunterrann.

Lizzie nickte nur, während sie weiterkaute. Seit Wochen war die Gefahr sehr hoch und alle im Bezirk in höchster Alarmbereitschaft, wenn es um Rauchgeruch ging. So gesehen fiel der Graupelschauer von heute Abend also nicht ins Gewicht. Plötzlich fiel ihr auf, dass unter seiner locker gebundenen Krawatte silberfarbenes Webmaterial schimmerte. »Was lugt denn da oben aus deinem Hemd raus?«

Dylan verdrehte die Augen. »Da ist eine neue kugelsichere Weste. Ich teste sie eine Zeit lang. Die Oberen in Augusta finden offenbar, dass ich nicht kugelsicher genug bin.«

»Na ja, das kann ich ihnen nicht verübeln. Du ruinierst sie allein schon aufgrund der Arbeiterunfallversicherung, von ihren Sicherheitsstatistiken ganz zu schweigen.« Sie führte die Serviette an ihre Lippen und knüllte sie dann zusammen. »Du wurdest dreimal umgenietet, stimmt’s? Oder waren es viermal? Erstaunlich, dass du bis jetzt noch keine Bleivergiftung hattest.«

Er nickte und verzog das Gesicht. Dylan tat gern so, als wäre es keine große Sache, angeschossen zu werden. Doch ihr fiel auf, dass er sich über die neue Weste auch nicht beschwerte. »Sie ist eigentlich ganz bequem. Nicht sonderlich schwer oder sperrig, außerdem hat man mir gesagt, dass sie aus Raumfahrtpolymeren ist, die Kugeln stoppen. Wozu auch immer das gut sein mag.« Dann bemerkte er: »Ein Vögelchen hat mir heute etwas zugezwitschert.«

Sie schluckte. Deshalb war er also hier. »Worum ging es?«

Aber sie wusste es bereits. Es ging um Nicki. Sie sah wieder zu dem blonden Mädchen auf dem gerahmten Foto auf. Es musste jetzt neun Jahre alt sein und wurde seit acht Jahren vermisst.

Die Tochter ihrer Schwester Cecily, deren Leiche man vor knapp zehn Jahren an der Küste Maines ermordet aufgefunden hatte, war Lizzies einzige noch lebende Verwandte, falls sie nicht auch längst tot war.

Nach Cecilys Tod hatte man mit Pauken und Trompeten die Mordermittlungen aufgenommen. Doch ein Täter war nie gefunden worden, genauso wenig wie ein Motiv. Dazu machten Gerüchte die Runde, dass ein Mädchen, das einer älter werdenden Nicki sehr ähnlich sehen könnte, hier in Aroostook County bemerkt worden war.

Tatsächlich waren es mehr als nur Gerüchte. Und deshalb war Lizzie hier. Sie wandte den Blick wieder von dem Foto ab.

»Der Typ, mit dem ich gesprochen habe, meinte, es könnte Nicki sein«, sagte Dylan und fügte überflüssigerweise hinzu: »Aber mach dir keine allzu großen Hoffnungen.«

Sie hatten alles aufgegessen. Lizzie sammelte die leeren Pappschachteln, die dreckigen Servietten und das benutzte Plastikgeschirr ein und stopfte alles in einen Müllsack. Später wollte sie ihn zum Abfallcontainer hinter dem Haus bringen. Das war alles weit entfernt von dem, was sie aus Boston kannte. Doch dann sagte sie sich, dass sie erst seit ein paar Wochen hier war. Sie hatte sich gerade erst eingelebt und durfte jetzt nicht einfach aufhören, nach Nicki zu suchen.

»Und was hat dir der Kerl noch erzählt?«, fragte sie, als Dylan zurückkehrte, nachdem er die Bierflaschen am Waschbecken ausgewaschen hatte.

Das Recycling von Dosen und Flaschen wurde hier großgeschrieben – nicht unbedingt der Umwelt zuliebe, sondern eher wegen der fünf Cent, die man dafür bekam. Der Norden Maines gehörte nicht unbedingt zu einem einkommensstarken Gebiet, wenn man nicht gerade Geschäftsführer einer Holzfabrik oder Zulieferer von Landmaschinen war. Oder Meth-Koch. Ausgerechnet seit ihrer Ankunft hier flogen drei kleinere Betriebe auf, die die tödliche Droge in Wohnwagen oder auf abgelegenen Campingplätzen herstellten, über die man nie gestolpert wäre.

»Er hat gesagt, dass er ein Kind gesehen hat«, erklärte Dylan, legte im Vorbeigehen freundschaftlich seine Hand auf ihren Arm und ließ sie dort ein wenig länger liegen als aus freundschaftlicher Sicht unbedingt nötig. »Mit einem Paar. Flüchtig. Sie lebten in einem Wagen.«

»Na großartig.« Soweit sie wusste, war es auf die Armut in Maine und an allen anderen Orten, an denen sie gewesen war, zurückzuführen, dass die Leute alles dafür taten, ein Dach über dem Kopf zu haben. Selbst die Meth-Köche taten das; es war eine schmutzige, gefährliche und prinzipiell verkommene Art, für sein Auskommen zu sorgen, aber hier gab es nicht sehr viele Jobs, und die Leute mussten irgendwie ihren Lebensunterhalt bestreiten.

Die Wärme von Dylans Berührung verschwand, und das schmerzhafte Verlangen nach ihr durchzuckte sie, bevor sie auch das wieder verbannte. Verdammt, dachte sie, warum fühle ich mich ihm gegenüber immer noch so schutzlos?

Doch als sie unbedacht in sein Gesicht aufblickte und sein schiefes Lächeln sah, wusste sie warum und verfluchte sich innerlich selbst. Sie hatte gesagt, dass sie ihn verlassen würde; hatte es tatsächlich sogar geschworen, als sie erfuhr, dass er verheiratet war.

Sie hatte es von seiner Frau erfahren, von der er weder getrennt lebte noch sich gerade scheiden ließ, wie er behauptet hatte. Dylans Frau Sherry hatte die beiden in einer schrecklichen Nacht in Lizzies Wohnung auf frischer Tat ertappt, und natürlich war danach zwischen Lizzie und Dylan alles aus.

Sie war am Boden zerstört gewesen und hatte ihm endgültig abgeschworen. Aber dann wurde Sherry plötzlich krank. Es ging rapide bergab mit ihr; sie starb, kurz nachdem er das Boston Police Department verlassen und bei der Mordkommission der State Police in Maine angeheuert hatte.

»Dein Vögelchen hat vermutlich kein Nummernschild durchgegeben.« Jetzt hatte auch Lizzie sich von dubiosen Gerüchten und einem anonym verschickten Schnappschuss eines blonden Mädchens, das ihre Nichte Nicky sein konnte, hier in den nördlichsten, einsamsten Teil Maines locken lassen. Aber vielleicht war sie es auch nicht. Sie wusste nur zu gut, dass es ebenso gut falsch sein konnte.

Dylan sah sie schief an. »Na klar, polizeiliches Kennzeichen, er hat mir auch ihre Sozialversicherungsnummer durchgegeben«, antwortete er sarkastisch.

Der Sturm draußen vor dem Fenster hatte sich gelegt, und die Nacht im Norden Maines war wieder sternenklar. Lizzie sah hinaus.

»Nein«, berichtigte Dylan nun freundlicher, als er bemerkte, dass sie nicht antwortete. »Weder Kennzeichen noch handfester Beweis oder sonst irgendetwas. Der Zeuge hat einfach nur gesagt, dass es ihm aufgefallen sei, weil das Kind in etwa das Alter des Mädchens hatte, nach dem wir suchen: blond mit blauen Augen, außerdem schien sie irgendwie nicht zu den Erwachsenen zu gehören, mit denen sie zusammen war. Es war nur so ein Gefühl, hat er gesagt.«

Sie warf erneut einen Blick auf das Funkgerät, das nun schwieg, und wollte sicher sein, dass die Feuerwehrleute heute nicht mehr ausrücken mussten, selbst wenn der Graupelschauer bis morgen verdampft und alles wieder staubtrocken wäre.

Und sie wollte, dass Tara Wylie heil und unversehrt wieder nach Hause zu ihrer Mutter käme.

»Wo hat er sie gesehen?«, fragte Lizzie bezogen auf Nicki. Falls es überhaupt ihre Nichte war.

»In Bangor«, antwortete Dylan. »Ich habe die Augen offen gehalten und es herumerzählt, damit die Streifenpolizisten und so weiter wissen, dass sie mich anrufen sollen, falls irgendwer was sehen sollte. Aber damit … hör zu, Lizzie, ich habe dir nur davon erzählt, weil ich dir versprochen habe, dich auf dem Laufenden zu halten.«

Sie nickte müde, denn sie kannte das Herumstochern in ungeklärten Kriminalfällen genauso gut wie er: Man musste viel Spreu vom Weizen trennen, immer in der Hoffnung, dabei etwas zu entdecken, auch wenn es ein noch so kleines Detail war. Darum brauchte sie Dylan – er hatte viele Kontakte hier in Maine; außerdem war er im Netzwerken unschlagbar, wenn es um Informanten ging, wie er gerade wieder bewiesen hatte.

Draußen rollte ein alter Pick-up voller Brennholz auf der Ladefläche vorbei, gefolgt von einem noch schäbiger aussehenden Klapperkasten. Der Kotflügel wurde mit breitem Silberklebeband zusammengehalten, das hier als North Woods Chrome gehandelt wurde.

Eine Welle der Entmutigung ergriff sie. »Vielleicht sollte ich nach Boston zurückkehren.«

Da, sie hatte es schon wieder gesagt. Nickis Foto – falls es überhaupt ihres war – war vor Monaten einfach aus dem Nichts aufgetaucht und Dylan anonym per Mail zugesandt worden. Nachdem sie es sich angesehen hatte, war ihr nicht sofort klar gewesen, dass sie als Reaktion darauf ihren Job gekündigt, ihre geliebte Stadtwohnung zum Verkauf inseriert und ihr ganzes Leben umgekrempelt hatte. Einfach alles, wofür sie gearbeitet und was sie sich je erträumt hatte …

Es war ihr erst bewusst geworden, als sie es getan hatte. Doch wenn sich die Suche als hoffnungslos herausstellen würde, wie sie inzwischen befürchtete, wäre alles umsonst gewesen.

»Was? Um das alles hier aufzugeben?«, sagte Dylan, machte eine ausladende Geste und zeigte in den Raum, an die Wände aus Gipskarton und die Stahlregale, wie sie im Laden für Autozubehör zu finden sind. Alles wirkte so 08/15, als käme es direkt aus einem Karton mit der Aufschrift: SCHÄBIGES BÜRO.

»Und wie steht es mit Bearkills Stadtzentrum?«, fügte er hinzu und zeigte hinaus in die trostlose Nacht und auf die triste Neonbeleuchtung an der Decke des Supermarkts auf der anderen Straßenseite. Inzwischen ging eine nach der anderen aus. Es war gerade mal sechs Uhr abends. »Du würdest es vermissen. Das Kulturangebot und das aufregende Nachtleben. Und was ist mit den schillernden gesellschaftlichen Events?«

Der Großteil des Nachtlebens hier bestand aus den wilden Tieren: Hirsche, Elche, sogar Bären. Das einzige Schild, das draußen noch leuchtete, war das über der Tür des Area 51, der Taverne an der Ecke. Auf ihm war ein Außerirdischer mit einem großen Auge zu sehen, der ein Cocktailglas schräg hielt, dabei die langen schlanken Finger seltsam verrenkte und ausdruckslos glotzte.

»Mach dich nicht lustig«, erwiderte sie schlecht gelaunt auf seinen spöttischen Ton.

Sie hatte diesen Ort und seine ungefähr elfhundert Einwohner zu beschützen, wie sie es geschworen hatte, als sie zur ersten Kontaktbeamtin von Bearkill im Auftrag des Department des Sheriffs von Aroostook County berufen worden war. Und obwohl die Zweifel an ihrer Entscheidung wuchsen, hielt sie ihren Eid bisher, selbst wenn man im Area 51 Soleier für eine gute Vorspeise hielt.

Er beäugte sie und schien sich über ihren Tonfall zu wundern. »Du willst mir doch nicht erzählen, dass du süchtig nach dem Ort bist? Oder dich sogar schon zu den Einheimischen zählst?«

»Halt die Klappe«, zischte sie und hätte am liebsten noch hinzugefügt, dass sie um diese Zeit im Zentrum von Boston längst fröhlich mit einem Single Malt Whisky vor sich in einer Pianobar gesessen hätte. Dem wäre noch ein gutes Abendessen in irgendeinem exotischen Restaurant in einer Nebenstraße gefolgt. Irgendwas Würziges aus Sichuan, dachte sie, oder ein Teller Piroggen, reichlich mit Kohl und Eiern gefüllt.

Stattdessen huschte nur eine Fußgängerin draußen vor dem Bürofenster vorbei und schaute kurz hinein, bevor sie weitereilte. Die hellhäutige Frau mit tief liegenden Augen trug eine dicke, glänzend schwarze Winterjacke und einen roten Schal unter dem Kinn. Dazu eine schwarze Hose, die eleganter aussah als die Babuschka-Jacken-Kombi, und Lederschuhe mit Absatz. Genau wie Lizzie. Vielleicht nicht ganz genauso.