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Nachdem Hannah, Niall und Phebe Ragnarök-Rätsel gelöst und den wahren Schuldigen, Saville, entlarvt haben, hoffen sie auf ein ruhiges zweites Schuljahr. Phebe will ihr neugewonnenes Wissen um die Dämonen der Seinigen nutzen, um endlich das Verschwinden ihres Vaters aufzuklären. Hannah rätselt darüber, was mit ihrer Gabe des zweiten Gesichts nicht stimmt, und Niall vermisst zu seiner Überraschung die Bärengöttin Artio. Doch zwielichtige Zeiten kündigen sich an und rätselhafte Morde geschehen in den Reihe der Gelbroben und sollten diese nicht aufgeklärt werden, hängt die langersehnte Klassenfahrt nach Irland in der Schwebe...
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Seitenzahl: 404
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Prolog
Die Cahens
Nichts ist, wie es scheint
Zwielichtige Zeiten
Dämonen im Detail
Im Alleingang
Jenseits des Sechsecks
Weihnachten in Konijnenheg
Omen und Prophezeiungen
Intermezzo
Prüfungswoche
Die Anderswelt
Auf der Spur
Der Adept
Abschiede
Lexikon
Was wurde aus
Benjamin Cahen hatte sich nie für einen guten Vater gehalten. Wäre er ganz ehrlich mit sich gewesen, dann hätte er sich vielleicht erinnert, dass er vor zwanzig Jahren nicht einmal Kinder gewollt hatte. Er liebte Phebe und Linus, aber es war seine Frau, die sich die beiden gewünscht hatte. Und wer wäre er gewesen, Sofi einen Wunsch nicht zu erfüllen?
Seine junge Familie lebte glücklich mit ein paar Hühnern in einem alten Bauernhaus in Gelderland. Alles war so gewöhnlich, dass selbst die Gelbroben die Cahens nicht für Mitglieder gehalten hätten, wären Bens und Sofis Namen nicht auf den Pergamentseiten des Theodorums zu lesen gewesen.
Es war Zufall, dass jemand sich an sie beide erinnerte, als eines Tages ein Notfall in der Nähe gemeldet wurde. Ben nahm den Eid, den er Jahre zuvor geschworen hatte, nicht auf die leichte Schulter. Da einer von ihnen bei den Kindern bleiben musste, verabschiedete er sich mit einem Kuss von Sofi. Er versprach, sich zu beeilen, und war sich sicher, zum Abendessen zurück zu sein.
Ben hatte sich selten so sehr geirrt. Als er nach Phebes und Linus' Schlafenszeit noch nicht zurückgekehrt war, wartete Sofi noch bis Mitternacht auf eine Nachricht von ihm.
Als er am nächsten Morgen noch nicht zurückgekehrt war, begann sie den Tag allein. Sie brachte Phebe, die Ältere, in den Kindergarten, ging mit Linus einkaufen und versuchte, die aufkeimende Panik in sich zu ignorieren.
Aber auch als sie nach Hause kam, hatte ihr Mann sich nicht gemeldet. In dieser Nacht konnte sie nicht schlafen, sondern lauschte der leisen Stimme, die ihr alle möglichen Albtraumszenarien aus der Dunkelheit zuflüsterte.
Am nächsten Morgen rief sie in der Station in Berlin an, die den Einsatz geleitet hatte. Ihre schlimmste Befürchtung wurde ihr bestätigt. Ben galt als vermisst. Möglicherweise am Leben, aber Rückkehr unwahrscheinlich – so stand es bereits in den Akten. Sofi hörte sich die Einzelheiten still und mit Fassung an, doch als sie aufgelegt hatte, brach sie in Tränen aus.
Sie wusste nicht, wie sie es ihren Kindern sagen sollte. Phebe und Linus ahnten nichts von der ungewöhnlichen Ausbildung, die ihre Eltern abgeschlossen hatten, nichts von Göttern, Ungeheuern und … Dämonen. Sie waren erst vier und zwei Jahre alt, viel zu jung, um die Wahrheit über die MEDIATORES DEORUM ET HOMINUM zu erfahren.
»Papa ist ein Held, aber Papa kommt nicht wieder«, hieß es für die Kinder nur.
Sechs Jahre vergingen, in denen Sofi alle Fragen nach Ben mit nichts als diesem Satz beantwortete.
Tatsächlich hatten die Mitglieder der Station in Berlin Recht behalten. Weit, weit weg von seiner Familie, weit weg in einer anderen Sphäre, war Ben am Leben. Falls ein ewiges Wechselspiel von tiefster Todesangst und einem beharrlich weiterpochenden Herzen als Leben bezeichnet werden konnte. Ben glaubte, alles vergessen zu haben: das Sonnenlicht, wie richtiges Essen schmeckte und wie es sich anfühlte, wenn Zeit verging. Selbst sein eigener Name war nur noch ein ausgewaschener Blutfleck auf weißem Stoff, dessen Umrisse gerade noch zu erkennen waren. Aber sein Name reichte aus, um endlich zu seiner Familie zurückzukehren.
Er wusste nicht, ob es Zufall, Glück oder die beständige Arbeit der MEDIATORES gewesen war, als er schließlich die Augen aufschlug, eine gelbe Robe sah und eine fremde Stimme hörte, die ihn immer wieder nach seinem Namen fragte. Er brachte ihn nur mit Mühe über die rissigen Lippen.
Als er wenige Tage später an einem Wintermorgen aus dem Taxi stieg, das ihn vom Flughafen gebracht hatte, konnte er es kaum glauben. Das Bauernhaus in Konijnenheg sah aus wie eine gestohlene Erinnerung. Es lag tief verschneit, wie immer um die Weihnachtszeit. Er hatte nicht gedacht, dass er sie noch einmal erleben würde. Auf seinen Krücken mühte er sich den geräumten Gartenweg hinauf und klingelte schließlich an seiner eigenen Haustür. Er musste sich noch daran gewöhnen, dass er nun alles mit seiner rechten Hand tun musste. Die linke würde nie ganz heilen.
Ein fremder, blonder Mann öffnete die Tür und etwas zerbrach in Ben. War Sofi etwa mit den Kindern weggezogen? Hatte sie den Gelbroben den Rücken zugekehrt? Wer war der Fremde?
Eine blonde Dreijährige hing am Zipfel seiner Küchenschürze, an der er sich die mehligen Hände abwischte.
»Guten Tag, kann ich Ihnen helfen?«, fragte der Fremde freundlich.
»Wohnt …« Bens Stimme versagte beinahe. »Wohnt Sofi noch hier?«
»Natürlich, sie ist meine – Oh verdammt, Sie sind Benjamin.«
Ben und der Fremde starrten sich an. Er umklammerte seine Krücken fester. Jetzt mussten sie ihm noch mehr Halt bieten als zuvor. Eine Hälfte von ihm wollte ja sagen, so erleichtert war er nach all der Zeit seinen eigenen Namen zu hören. Doch die andere Hälfte wollte nein sagen, denn er wollte nicht wissen, was es bedeutete, dass dieser Fremde hier im Türrahmen stand.
Aber da reckten sich bereits zwei Kinderköpfe aus der Küchentür und spähten neugierig in den Flur. Zehn und acht Jahre mussten die beiden jetzt sein und natürlich waren sie gewachsen. Doch er hätte seine Kinder überall erkannt: Phebe, deren unordentliches schwarzes Haar so sehr seinem eigenen glich, und Linus, der Sofi wie aus dem Gesicht geschnitten war.
»Papa!«, rief Phebe, bevor einer der beiden Männer sich rühren konnte.
Sie rannte auf ihn zu.
»Papa?«, fragte der Junge verwirrt und folgte seiner großen Schwester zögerlich.
Ben konnte nur nicken, bevor sich Phebe auf ihn stürzte. Er ließ seine Krücken fallen und bückte sich wacklig zu ihr und Linus hinunter. Alle Worte, die er sagen wollte, sich Stunden und Stunden wieder zugeflüstert und für diesen Moment zurechtgelegt hatte, blieben ihm im Hals stecken. Er hielt seine beiden Kinder im Arm und versuchte, auf der Türschwelle nicht in Tränen auszubrechen. Von diesem Moment an wusste Ben, dass er nie wieder etwas anderes sein wollte als ein Vater.
Seit fast sieben Stunden saß Phebe mit ihrer Familie im Auto. Von Gelderland in die Vogesen war es eine lange Fahrt und alle fünf Cahens zusammen konnten sehr laut sein. Ihre Väter auf den Vordersitzen hatten vor einiger Zeit AC/DC aufgelegt und die Musik plärrte nun durchs Auto, ihr jüngerer Bruder Linus trug dicke Kopfhörer, um trotzig seine Goth-Musik zu hören und seine Familie zu ignorieren, und ihre kleine Schwester Marike musste ständig unterhalten werden.
In jeder anderen Stimmung wäre ihr die Fahrt ewig vorgekommen, aber Phebes Vorfreude war riesig. Sie freute sich auf das neue Schuljahr, das morgen begann, auf ihre besten Freunde Hannah und Niall und besonders auf den Unterricht auf der ungewöhnlichsten Schule der Welt.
Das Internat im Vogesenschloss wurde von den MEDIATORES DEORUM ET HOMINUM betrieben, den Vermittlern zwischen den Göttern und Menschen. Phebe trug jetzt schon stolz den gelben Kapuzenpullover mit dem Schulwappen, das einen Greif, eine Schwertlilie, eine Schreibfeder und das sechseckige Symbol der Gelbroben zeigte.
Sie fühlte sich bereits wie eine Gelbrobe, obwohl sie noch drei Schuljahre vor sich hatte, bis sie den Eid schwören konnte. Dann würde sie offiziell ein Mitglied der geheimen Organisation werden, die den Menschen half und sie vor dem Nichtmenschlichen bewahrte.
Das Nichtmenschliche … Phebe musste grinsen. In ihrem ersten Schuljahr hatte sie davon mehr gesehen als die meisten anderen Schüler. Allein in den Wäldern der Vogesen hausten Wesen, die den meisten Menschen ein Leben lang verborgen blieben: Nymphen, eine Göttin in Bärengestalt, Vosegus, der Gott der Berge höchstpersönlich, und allerlei andere Kreaturen der Anderswelt. Mit Hannah und Niall hatte sie außerdem gegen einen Drekavac und einen Dämon kämpfen müssen.
Phebe ertappte sich dabei, wie ihr Blick bei diesem Gedanken zu ihren Vätern wanderte. Sie hatten nichts gegen ihre Abenteuer im letzten Schuljahr einzuwenden gehabt, als sie mit ihren Freunden dem inzwischen als ›Ragnarök-Rätsel‹ bekannten Vorfall auf die Spur gekommen war – aber sie hatten auch nichts über ihre Noten gesagt, die wieder einmal abgrundtief schlecht ausgefallen waren.
Bas war in ein Spiel ›Ich-sehe-was-was-du-nicht-siehst‹ mit Marike vertieft. Seine linke Hand lag auf Bens Oberschenkel und streichelte ihn sanft. Ben saß hinterm Steuer und schwieg die meiste Zeit. Seine ungleichen Hände umfassten locker das Lenkrad. Die rechte war gesund und nur noch ein paar helle Narben erinnerten an das, was ihm zugestoßen war. Aber die linke war versehrt und verkrümmt. Einige Finger konnte er kaum noch bewegen.
Das vollbepackte Auto schleppte sich die kurvigen Straßen im Gebirge hinauf. Es war Linus‘ erstes Jahr auf dem Vogesenschloss und fünf Passagiere und zweimal Gepäck für ein Halbjahr waren anstrengend für den alten Wagen.
Phebe sah aus dem Fenster in den Wald hinaus, wo Laub- und Nadelbäume einen undurchdringlichen Dschungel bildeten. In all dem Grün verloren ihre Augen den Fokus und sie konzentrierte sich stattdessen auf ihre eigene Spiegelung in der Fensterscheibe.
Im Gegensatz zu Linus und Marike, die das blonde Haar ihrer Mutter Sofi geerbt hatten, sah Phebe als einziges der drei Cahen-Kinder Ben ähnlich. Sie beide hatten einen dunkleren Teint, dunkle Augen und beinahe schwarzes, widerspenstiges Haar. Auch die große Höckernase, die von ihrer Tante Wilma immer liebevoll die ›Familiennase‹ genannt wurde, war allein ihr und Ben vererbt worden.
Phebe war dankbar für die Ablenkung, als Marike genug vom Spielen hatte. Stattdessen zupfte ihre Schwester am Ärmel ihres gelben Schulpullovers und erklärte ausführlich, was Phebe ihr zu Weihnachten mitbringen sollte. Es sollte ein Greif sein.
»Aber er muss Feuer spucken können, sonst taugt er nichts«, betonte Marike noch einmal. Dann quiekte sie und deutete aufgeregt aus dem Fenster. »Das Schloss! Das Schloss!«
Hinter einer weiteren Kurve entlang des Berges tat sich der Blick auf das einsame Vogesenschloss auf. Die vier unterschiedlich hohen und dicken Türme, das grüne Ziegeldach, der helle Putz … Phebe spürte, wie ihr Herzschlag sich beschleunigte. Marike schnallte sich sogar vor Aufregung ab und kletterte auf Phebes Schoß, um besser sehen zu können.
»Marike!«, mahnte Bas beunruhigt.
»Ich halte sie fest, keine Sorge«, sagte Phebe und legte die Arme um ihre kleine Schwester. Zusammen blickten sie auf den besten Ort der Welt. Auch Linus, der seit Stunden in seine demonstrative Gleichgültigkeit verfallen war, zog die Kopfhörer ab und sah hinaus. Phebe grinste. Spätestens im Ritualkundeunterricht würde er seine Begeisterung nicht mehr verstecken können.
Langsam fuhren sie die Zufahrtsstraße hinauf und in den vorderen Hof, wo ein gutes Dutzend Autos stand. Neben dem sechseckigen Brunnenhaus parkte Ben den Wagen. Als Phebe die Tür öffnete, schlüpfte Marike von ihrem Schoß und stürmte sofort auf einen grauen Hund zu, der in der Sonne döste. Es war Laila, die riesige Windhündin des Schuldirektors Van Koppern. Sie war lammfromm, auch wenn sie angeblich ein sagenhafter Jagdhund war, daher hielt Phebe es für sicher, die beiden aus den Augen zu lassen.
Bas und Linus luden die Koffer und Reisetaschen aus und Phebe half ihnen dabei. Allein Ben blieb hinterm Steuer sitzen. Er hatte nicht einmal die Fahrertür geöffnet.
»Was jetzt?«, fragte Linus, als alle sechs Gepäckstücke auf dem Kies standen.
»Wir melden uns bei Frau Lütke an und sie weist dir jemanden zu, der dir dein Zimmer zeigt«, ließ Phebe die große Schwester heraushängen. Sie sah sich nach der strengen Methodenlehrerin um. Frau Lütke trug meistens einen viel zu straffen Pferdeschwanz und einen grauen Hosenanzug, aber letztes Jahr hatte sie ihre gelbe Robe darüber getragen, um auf dem Schulhof aufzufallen.
Die einzige Person mit einer gelben Robe, die Phebe jedoch erblicken konnte, war Herr Debbani, ein Lehrer in seinen Mittvierzigern, der sein Haar ebenfalls in einem Pferdeschwanz trug, wenn auch wesentlich unordentlicher. Tatsächlich hatte er auch ein Klemmbrett in der Hand. Phebe hatte irgendwie angenommen, dass es an Frau Lütke festgewachsen war.
»Das ist Herr Debbani, das wird auch gehen.«
Ohne das Gepäck, aber mit Bas und Linus steuerte sie auf den langhaarigen Lehrer zu. Er setzte einen Haken hinter Phebes Namen, um zu bestätigen, dass sie angekommen war, und dann noch einen hinter Linus‘. Ein Drittstüfler mit türkisgefärbten Haarspitzen wurde herbeigewinkt, um Linus und Bas sein Zimmer im Nordflügel zu zeigen. Phebe nahm an, dass die gefärbten Haare der einzige Grund waren, aus dem Linus überhaupt Interesse daran zeigte, sich mit dem älteren Mitschüler zu unterhalten.
Gemeinsam ging sie mit ihrem Bruder und Bas zum Wagen zurück, um die Koffer zu holen. Dort angekommen nahm Bas Phebe in den Arm und drückte sie fest.
»Falls wir uns später verpassen«, erklärte er und umarmte sie ein zweites Mal. »Ich werde dich vermissen.«
»Mach’s gut, Phebe«, sagte auch Ben vom Fahrersitz aus. Er hatte sich noch immer keinen Zentimeter fortbewegt, sondern nur ein wachsames Auge auf Marike und Laila gehalten. Unwillkürlich musste Phebe an letztes Jahr denken. Auch damals war Ben im Auto zurückgeblieben und sie hatte alleine mit Bas ihre Sachen in den vierten Stock des Westturms tragen müssen.
Ihr anderer Vater schien sich auch daran zu erinnern, denn er fragte Ben:
»Kannst du Phebe nicht tragen helfen, Schatz?«
Ben atmete lange aus.
»Ich – « Er unterbrach sich und sah auf seine verkrüppelte Hand.
Bas seufzte leise.
»Phebe, Süße, du schaffst das doch bestimmt auch so, oder?«, fragte er Phebe mit einem entschuldigenden Lächeln. »Vielleicht kannst du deine Freunde fragen, ob sie dir helfen.« Dann wandte er sich an Ben. »Und du wartest hier und denkst noch einmal über deine Therapiesitzungen zum Thema Überwindung nach.«
Bas beugte sich hinunter und drückte Ben einen Kuss auf die Lippen. Ben reagierte kaum, wie immer, wenn sie in der Öffentlichkeit waren.
Phebe unterdrückte ein Ächzen. Nichts war frustrierender, als die eigenen Eltern immer wieder dieselben Ausreden verwenden zu sehen. Aber sie war fast erwachsen. Sie würde mit ihm darüber sprechen, statt wieder die Tür zuzuknallen, wie sie es im letzten Jahr getan hatte. Sie setzte ihre Koffer noch einmal auf dem Kies ab.
»Wovor hast du Angst?«, fragte sie geradeheraus, als Bas und Linus gegangen waren. Marike spielte noch immer mit Laila und war außer Hörweite. Der ideale Moment also. »Hier kann nichts passieren. Es ist doch nur die Schule.«
»Ich … Die anderen Eltern, die Lehrer – manche kennen mich von früher, ich … Ich will nicht, dass sie sehen, was aus mir geworden ist.« Er zog den Ärmel über seine zerstörte Hand, wie um sie vor sich selbst zu verbergen. »Sie werden fragen, wo ich war, was passiert ist, warum ich nicht mehr mit deiner Mutter verheiratet bin, woher die Narben stammen und … ich kann noch nicht darüber sprechen, Große. Ich kann das noch nicht. Das musst du verstehen.«
Nein, sie verstand nicht, warum er seine linke Hand und sich selbst vor den anderen Gelbroben versteckte. Sie kannte zwar die drei unbeweglichen Finger, sie kannte die Narben, wulstig und rot, die er unter seiner Kleidung verbarg, sie kannte das Brandmal auf seinem Rücken, den Kopf einer dreihörnigen Ziege. Aber sie konnte nicht verstehen, bis er ihr endlich erzählte, was damals geschehen war.
Dämonen, schoss Phebe die halbe Antwort durch den Kopf, die sie durch Zufall auf dem Unterirdischen Kongress im Sommer erfahren hatte. Es waren Dämonen der Seinigen gewesen, die Ben entführt, gefangen gehalten und so zugerichtet hatten.
In den Schulferien hatte sie keine Zeit und vor allem keinen Zugang zu einer Bibliothek gehabt, um zu recherchieren. Aber dieses Jahr würde sie alles herausfinden, was ihre Eltern ihr nicht erzählen wollten. Schließlich war sie schon fünfzehn und damit alt genug für die Wahrheit. Sie würde den Erwachsenen beweisen, dass sie eine Gelbrobe war und dass sie vor ihr keine Geheimnisse haben mussten.
»Na gut. Tschüss«, sagte sie knapp zu ihrem Vater. Statt ihren Zorn an der Autotür auszulassen, setzte sie sich energisch mit den zwei Koffern und der schweren Reisetasche voller Bücher in Bewegung. Die kleinen Rollen der Koffer vertrugen sich nicht gut mit dem Kies und es kostete sie viel Kraft, den Haupteingang zu erreichen. In der Säulenhalle war ein Teil ihrer Wut bereits verflogen, aber sie hatte noch zwei Gänge und vier Stockwerke vor sich.
Phebe ging mit zusammengebissenen Zähnen an Garion, der Greifenskulptur, vorbei und steuerte auf den Westturm zu. Vielleicht war Hannah ja bereits angekommen und ihre Eltern waren noch da und konnten helfen. Sie musste lächeln. Ja, Hannah und Niall würden mit ihr bestimmt mehr über Bens Verschwinden herausfinden. Sie waren ein gutes Team, wie sie im letzten Schuljahr bewiesen hatten. Zusammen konnten sie jedes Rätsel lösen.
Doch als Phebe den Aufenthaltsraum der Mädchen erreichte, kam Zweifel in ihr auf. Würden ihre Freunde ihr wirklich helfen das Geheimnis ihrer Familie zu lüften? Sie wussten noch nicht Bescheid darüber, wie genau ihre Familie zusammengesetzt war, denn Phebe hatte immer möglichst wenig erzählt. Niall war strenge englische Internate gewöhnt und Hannah kam aus einer so perfekten Bilderbuchfamilie, dass Phebe bisher vermieden hatte, Einzelheiten über ihr Zuhause zu erzählen. Bestimmt waren beide mit Vorurteilen über Patchwork- und Regenbogenfamilien aufgewachsen.
Als sie den Fuß der Treppe zum Turm erreichte, fasste sie einen Entschluss. Es führte kein Weg daran vorbei, ihren Freunden ihre Familie zu erklären, wenn sie um ihre Hilfe bitten wollte. Schlimmer war aber erst einmal, dass kein Weg an den vier Treppen vorbeiführte. Ihr drittes Problem erschien ihr gering dagegen. Ihre schlechten Noten würde sie mit guter Planung verbessern können. Dieses Jahr musste sie einfach noch mehr lernen und sich noch mehr anstrengen. Tapfer packte sie den ersten Koffer und ließ die anderen Gepäckstücke zurück, um die erste Hürde zu überwinden.
Niall fror schon wieder. In Brasilien, wo seine Mum gerade forschte, war es zu heiß gewesen und zusätzlich hatte er sich einen gehörigen Sonnenbrand eingehandelt. Seine sonst so blasse Haut war rot und schälte sich an der Nasenspitze ab. Aber im Vergleich zum Amazonas war Frankreich im September einfach nur kalt und das war kein Stück besser.
Statt das Treiben im Hof aus der Nähe oder sicherer Entfernung zu beobachten, streifte er durchs Schloss, um sich durch die Bewegung warmzuhalten. Er trug keinen Schal, wie er sich seit letztem Jahr mit Hannahs Ermutigung angewöhnt hatte, und so war die blaue Triskele in seinem Nacken nicht verborgen. Dem Schal trauerte er allerdings weniger nach als seinen Haaren, die Mum wieder einmal mit der Nagelschere geschnitten hatte. Er mochte es, sich durch die Haare zu fahren und dabei mehr als Stoppeln zu spüren, aber Mum hatte andere Ansichten. Immerhin war er zuversichtlich, dass sie bis Weihnachten nachwachsen würden.
Auf seiner ziellosen Wanderung hatte er bereits am Direktorenbüro geklopft, seinem Paten und Schuldirektor Oliver Van Koppern brav Grüße von Mum ausgerichtet und gefragt, ob er sich Laila ausleihen konnte. Aber die streunte gerade durch den vorderen Hof und daher war er nun auf dem Weg in den Westturm. Hoffentlich waren seine Freundinnen schon angekommen.
»Hi, Niall«, begrüßte ihn Annabelle, eine Mitschülerin mit feuerrotgefärbten Haaren, fröhlich im Entgegenkommen. »Schicke Brille.«
Hastig zog Niall seine Brille ab. Lieber die Welt unscharf sehen, als darauf angesprochen zu werden. Die Brille stopfte er in die Tasche seiner Jeans, wo auch das blaue Taschenmesser des Kothar-Chasis ruhte. Vorsichtig schloss er die Finger darum.
Er vermisste Stephen schon jetzt. Der ältere Mitschüler, der ihm das Messer geschenkt hatte, hatte im letzten Schuljahr seinen Abschluss gemacht und den Eid geschworen, um Mitglied der Gelbroben zu werden. Niall hatte im Sommer keine Lust und Zeit gehabt, herauszufinden, wozu dieses rostige Ding eigentlich taugte. Aber er war sich sicher, dass er Phebe auf die Sache ansetzen konnte.
Im zweiten Stockwerk stolperte er über zwei Koffer, die ohne Eigentümer auf dem Treppenabsatz herumstanden. Er fluchte laut auf Englisch und erklomm die nächsten Stufen mit mehr Vorsicht. Da sah er einen bekannten, halb aufgelösten Pferdeschwanz vor sich, aus dem das Haargummi herauszufallen drohte. Phebe mühte sich mit einer riesigen Reisetasche ab.
»Hallo Phebs«, rief er und holte die übrigen Stufen auf.
»Niall!« Phebe ließ die schwere Reisetasche, die sie auf der Schulter getragen hatte, zu Boden sinken. Erleichtert warf sie die Arme um ihn. Er war zu überrascht, um zu reagieren. So sehr konnte sie ihn doch nicht vermisst haben, oder?
»Du kommst genau im richtigen Moment. Kannst du mir helfen?«
Mit einer Kopfbewegung deutete sie auf die zwei Koffer am Fuß der Treppe, über die er eben gestolpert war.
»Klar«, seufzte er und ging hinunter, um einen der Koffer zu holen. Beide waren kleiner als sein einziger, aber mindestens doppelt so schwer. Er kannte Phebe gut genug, um zu wissen, dass Bücher darin waren, aber hätte er das nicht gewusst, hätte er Backsteine für am wahrscheinlichsten gehalten.
»Warum schleppst du deine Sachen alleine?«, wunderte er sich laut, als sie sich gemeinsam in das dritte Stockwerk hinauf kämpften. »Hast du nicht drei Eltern? Sind das nicht mehr als genug, um zwei Koffer zu tragen?«
Statt einer Antwort gab Phebe ein seltsames Geräusch von sich. Doch da Niall nur ihren Rücken sah, konnte er nicht sicher sagen, ob es nicht nur ein unterdrücktes Husten gewesen war.
»Bas hilft Linus tragen. Es ist schließlich sein erstes Schuljahr und so. Und Ben … kann nicht«, antwortete sie schließlich, als sie den Fuß der letzten Treppe erreicht hatten. Niall wechselte den Arm, mit dem er den Koffer trug, und irgendwie gelangten sie ins vierte Stockwerk.
Die Tür zum Zimmer der Mädchen stand sperrangelweit offen und ein frischer Luftzug begrüßte Niall und Phebe, als sie eintraten. Hannah war schon da und lüftete gründlich. Ihr blondes Haar wirkte gegen das Licht der Nachmittagssonne golden und ihre Sommersprossen hatten sich über die Ferien verdoppelt.
Niall ließ den Koffer sofort fallen und wurde von ihr mit einer Umarmung empfangen. Wenn er so roch, wie er sich nach zwei Treppen mit Phebes Bücherkoffer fühlte, dann liebte er Hannah umso mehr dafür, dass sie sich nichts anmerken ließ.
»Es ist toll, wieder hier zu sein«, meinte er und ließ sich auf Phebes noch nicht bezogenes Bett fallen, während Hannah und Phebe sich umarmten. Der weiße Plüschtiger thronte darauf, als wäre er stolz, dass er das Zimmer den Sommer über ganz allein bewacht hatte.
Hannah hatte bereits begonnen, ihre Sachen auszupacken und ordentlich in die Schränke und Schubladen zu verteilen.
»Hör auf zu grinsen wie ein Idiot.« Phebe boxte ihn auf den Oberarm, als sie und Hannah sich lösten. »Ich habe noch einen zweiten Koffer unten rumstehen.«
»Ich merke bloß gerade, wie sehr ich euch beide vermisst habe«, sagte er. Dann stupste er dem weißen Plüschtiger auf die Nase. »Und dich habe ich ganz besonders vermisst.«
»Komm schon, hilf mir«, winkte Phebe ihm aus dem Türrahmen zu und er folgte mit einem übertriebenen Ächzen.
Gemeinsam war es nur noch halb so schwer, den letzten Koffer in den vierten Stock zu bugsieren. Dann half er Phebe sogar noch, das Bett zu beziehen, nur um sich selbst wieder daraufzusetzen und die beiden beim Auspacken zu beobachten.
»Bist du schon mit allem fertig?«, staunte Hannah, die gerade ihre Pullover neu zusammenlegte, bevor sie sie im Schrank verstaute.
»Wozu auspacken?« Er zuckte mit den Schultern und lehnte sich gegen den Plüschtiger. »Ich lebe bis zur ersten Wäsche aus dem Koffer.«
»Das wissen wir«, murmelte Phebe. Sie hatte eine zeitsparendere Methode auszupacken als Hannah, fand Niall. Sie nahm einfach die Kleider so wie sie waren aus dem Koffer und stopfte sie in den Schrank. Als sie damit fertig war, machte Phebe sich daran, eine alte Wäscheleine über ihr Bett zu spannen, um daran Fotos und Postkarten aufzuhängen. Niall hielt für sie zuerst die Wäscheklammern und dann den Stapel mit den Bildern.
Es waren Fotos, die Hannah von ihnen im Sommer in Stockholm gemacht hatte, Postkarten von Phebes Mutter und andere Bilder von ihrer Familie. An einem davon blieb Nialls Blick hängen. Beide Väter und die drei Kinder standen im Garten und jeder hatte ein Huhn im Arm. Die Cahens wirkten wie eine ganz normale, glückliche Familie.
Niall wurde schmerzlich bewusst, dass er kaum Familienfotos hatte. Seine Mum machte keine Bilder und es gab niemanden, der Bilder von ihm und Mum zusammen machte. Großonkel Brendan sahen sie zu selten dafür und sie drei waren die einzigen Crokers, die Ragnarök im Jahr 1981 überlebt hatten. Ob Mum wohl sein Gesicht über das nächste Schuljahr vergessen würde? Sie wollte dieses Weihnachten nicht nach Europa kommen und ihn erst in den Sommerferien wiedertreffen.
Er wollte, konnte aber nicht wütend auf sie sein. Mum war sehr gelassen mit der Nachricht umgegangen, dass er und seine Freundinnen eins der letzten Rätsel um die Ragnaröktragödie gelöst hatten. Zum ersten Mal hatte er das Gefühl gehabt, ihre Erwartungen erfüllt zu haben. Großonkel Brendan hingegen hatte angerufen und ihn dafür getadelt, seine Energie ins Regelbrechen, statt in seine Schulleistungen zu stecken, doch dabei hatte seine Mum ihn sogar verteidigt.
Phebe hatte sich so etwas bestimmt nicht anhören müssen, dachte Niall und betrachtete das Foto ihrer Familie noch eine Weile. Einer ihrer Väter war blond, der andere schwarzhaarig wie Phebe. Es war unschwer zu raten, welcher von beiden Phebes leiblicher Vater war. Die Nase war ein eindeutiger Hinweis.
»Du siehst deinem Vater ähnlich«, sagte Niall leise und fragte sich insgeheim, wie seiner wohl aussah. Er selbst ähnelte seiner Mum so sehr, dass er keinen Hinweis an sich finden konnte.
»Ähnlicher als ich heute ertragen kann«, schnaubte Phebe zu seiner Überraschung und nahm ihm das Foto ab. Doch statt es zu den anderen zu hängen, steckte sie es zwischen die Seiten ihres dicken Notizbuchs und legte es auf den Nachttisch zu ihren anderen Büchern.
Niall dachte sich nichts dabei, sondern lehnte sich wieder zurück gegen den weißen Plüschtiger. Ja, genau hier wollte er sein. Mit Hannah und Phebe auf dem Vogesenschloss. Das schlug ein brasilianisches Hotel mit Pool und Mum, die das ganze Hotelzimmer zu ihrem Büro umfunktionierte, um Längen. Die Ferien waren schön gewesen, aber jetzt, zurück im Internat, hatte Niall das Bedürfnis, sofort wieder loszulegen und etwas zu unternehmen.
Der Unterirdische Kongress im Sommer hatte beschlossen, den flüchtigen Théophile Saville aufzuspüren. Der ehemalige stellvertretende Schulleiter hatte vor fast dreißig Jahren das Elixier des Lebens gestohlen, statt die Schule zu evakuieren, und so hundert Menschen, die meisten davon seine Schüler, dem Tod überlassen. Ein Team Gelbroben war ihm auf der Spur und es war allein Hannah, Phebe und Niall zu verdanken, dass es so weit gekommen war. Der ehemaligen Direktorin Joanne Boucher, der bisher die alleinige Schuld am Tod der Internatsschüler zugeschrieben worden war, würde ihren Namen zwar nie mehr reinwaschen können, aber wenigstens hatten er und seine Freundinnen etwas Gutes erreicht. Und er dachte gar nicht daran, jetzt aufzuhören.
»Was stellen wir dieses Jahr an?«, fragte er daher geradeheraus. »Helfen wir den Erwachsenen Saville zu finden?«
Hannah runzelte ernst die Stirn.
»Wir sollten unser Glück nicht herausfordern.«
»Hannah hat Recht«, stimmte Phebe zu. »Letztes Jahr war toll. Aber wir müssen uns auf die Schule konzentrieren. Das geht vor.«
»Warum hänge ich eigentlich mit euch rum?«, ächzte Niall. »Ihr seid langweilig.«
»Dein Pech.« Er erntete einen liebgemeinten Ellenbogenstoß von Phebe, die ihn mit einem Zwinkern neckte: »Ohne Stephen hast du keine anderen Freunde, Patenkind des Schuldirektors.«
»Dann muss ich wohl oder übel bei euch bleiben«, grinste er und hielt sich die Seite, wo Phebes spitzer Ellenbogen sich zwischen seine Rippen gebohrt hatte. »Ich muss mich übrigens noch bei dir bedanken.«
»Wofür?« Phebe hob eine Augenbraue.
»Dass du mich letztes Jahr zum Lernen gezwungen hast und dass ihr die Hausaufgaben mit mir gemacht habt und mich immer böse angeschaut habt, wenn ich angefangen habe zu jammern.«
»Was sehr oft vorgekommen ist«, erinnerte Phebe sich und verdrehte die Augen.
»Naja, vielleicht ein oder zwei Mal«, räumte er ein und rieb sich den Nacken. Vermutlich hatte er dort auch Sonnenbrand, den er noch gar nicht bemerkt hatte. »Aber ich habe richtig gute Noten in den Prüfungen bekommen. Ich meine, für meine Verhältnisse waren sie unglaublich gut. Lauter Dreier und ein Zweier. Mum hat keinen Kommentar gemacht.«
Zumindest hatte sie nichts zu den Noten gesagt. Über den Anlass für seine vielen Strafarbeiten hatte sie ihn jedoch ins Kreuzverhör genommen. Im Stillen dankte er seiner Mum, dass sie nun für ein paar Monate unerreichbar im Amazonas unterwegs war. Doch er hatte diesen Gedanken kaum zu Ende gebracht, als ihm Phebes Reaktion auffiel.
Ihr entglitt das Grinsen, mit dem sie ihn zuvor noch gestichelt hatte, und sie verzog das Gesicht, als hätte sie auf etwas sehr Saures gebissen.
»Was ist?«, fragte auch Hannah besorgt.
»Ach, nichts«, log Phebe so schlecht, dass selbst Niall es durchschaute. Er konnte sich aber keinen Reim darauf machen. Konnte sie nicht fassen, dass auch er eine Zwei von Herrn Meritt bekommen hatte? Oder waren ihre Eltern nicht mit ihren Noten zufrieden gewesen?
Er erinnerte sich an das Foto, das sie versteckt hatte. Die beiden Väter sahen nicht so aus, als sorgten sie sich so sehr um den Notenschnitt ihrer Kinder wie seine Mum es tat.
Aber weder Hannah und Niall bohrten nach und ließen Phebe ihr Geheimnis vorerst. Die Mädchen packten weiter aus, bis es schließlich Zeit war, zum Abendessen zu gehen.
Hannah hatte sich dieses Jahr die Zeit genommen, selbst einen Strauß gelber Schwertlilien auf die Ragnaröklichtung zu bringen. Nachdem sie sich von ihren unwissenden Eltern verabschiedet hatte, war sie noch einmal aus dem Westturm gegangen, hinaus über den vorderen Hof und hinein in den Wald. Jetzt, da sie so viel über diejenigen wusste, die im Vogesenschloss ihr Ende gefunden hatten, konnte sie nicht anders.
Sania Buksh und Charlotte Lefèvre waren die Namen auf dem Gedenkstein, die sie am meisten berührten. Die beiden waren so alt wie sie und ihre Freunde gewesen und hatten mit einer einzigen handgeschriebenen Seite die Geschichte verändert, die sich die Gelbroben über Ragnarök erzählten. Und sie waren gestorben, weil ein einzelner Mann so selbstsüchtig gewesen war, sein eigenes Leben über die der ihm anvertrauten Schüler zu stellen.
Zurück auf ihrem Zimmer und in Gesellschaft von Niall und Phebe war ihr eins nicht aus dem Sinn gegangen. ›Lügen‹ nannte sie selbst es, ›Verschwiegenheit‹ nannten es die Gelbroben. Sie durfte ihrer Mutter nicht vom wahren Zweck des Internats und den MEDIATORES DEORUM ET HOMINUM erzählen, sie konnte ihren Eltern nicht von Ragnarök, Saville und dem Unterirdischen Kongress berichten. Sie wagte nicht ihren alten Schulfreunden die Feen, die Anderswelt, die Dryade und die Abenteuer zu schildern, denen sie im letzten Schuljahr begegnet war. Doch all das hatte sie auf dem Internat mit Phebe und Niall erlebt. Alle diese Erinnerung waren ein Teil von ihr. Und es fühlte sich falsch an, einen Teil von sich vor ihrer Familie und ihren Freunden zuhause für immer verbergen zu müssen.
Als sie mit Phebe und Niall hinunter in den Speisesaal ging, die ehemalige Kapelle des Schlosses mit den bunten Mosaikfenstern, stellte sie fest, dass eine Last von ihr genommen war. Vor Phebe und Niall musste sie nicht lügen. An der Seite ihrer Freunde konnte sie vollständig sein; es gab nichts, was sie verheimlichen musste.
Sie nahmen Platz am Tisch mit Annabelle und ein paar Viertstüflern. Das war fast gewohnter als am Tisch mit ihren Eltern zu sitzen, ihren Hund Rollo zu ihren Füßen.
Phebe tippte Hannah auf die Schulter und machte eine Kopfbewegung zur Gruppe der neuen Erststüfler, die noch standen.
»Das ist mein Bruder Linus.« Sie deutete auf einen blonden Jungen mit schwarzlackierten Fingernägeln. Er trug einen schwarzen Kapuzenpullover mit wirren alchemistischen Zeichen darauf, die für Hannah auch nach einem Jahr Ritualkunde keinen Sinn ergaben. Der Designer war wohl keine Gelbrobe gewesen. »Sobald er sich eingelebt hat, wird er auch noch Kajal tragen, daran könnt ihr ihn dann erkennen.«
»Es ist bestimmt schön, wenn ihr euch jetzt jeden Tag seht«, meinte Hannah und wurde fast neidisch. Sie hatte sich immer Geschwister gewünscht und gerade jetzt wäre es eine große Erleichterung gewesen, ihre Sorge über die Lügen, die sie mit sich herumtrug, mit jemandem teilen zu können.
»Man merkt, dass du keine Geschwister hast, Hannah«, seufzte Phebe kopfschüttelnd. Linus hatte den Blick seiner Schwester bemerkt, tat so, als würde er sie nicht kennen, und schaute woanders hin.
»Woran?«, fragte Hannah verständnislos. Phebe konnte nicht mehr zu einer Antwort ausholen, denn eine Gruppe Lehrer trat in den Speisesaal. Sie wirkten gehetzt.
»Der Schüler ist immer noch nicht erschienen und wir können die Familie Ortiz nicht erreichen«, brachte der Schuldirektor Herr Van Koppern seine Kollegen Herrn Meritt und Herrn Debbani auf den neusten Stand, während sie an den Tischen der Schüler vorbeieilten. »Es ist seltsam, denn der Vater leitet die Station in Madrid und müsste innerhalb von zwölf Stunden Meldung erstatten und die Mutter habe ich gestern noch gesprochen. Wir warten noch einmal zehn Minuten ab, ob Frau Mebarek etwas herausgefunden hat, dann beginnen wir wie geplant mit der Begrüßung.«
Die beiden jüngeren Lehrer nickten und gingen weiter nach vorne zum Lehrertisch. Herr Van Koppern hielt jedoch bei ihrem Tisch an und grüßte sie alle. Niall lief rot an. Er war das Patenkind des Schuldirektors, was er fast das ganze letzte Schuljahr vor ihr und Phebe geheim gehalten hatte, weil es ihm peinlich war. Auch jetzt schien er zu befürchten, eine Sonderbehandlung zu bekommen.
»Darf ich dich kurz allein sprechen, Hannah?«, fragte Herr Van Koppern sie zur allgemeinen Überraschung.
»Selbstverständlich«, erwiderte Hannah erstaunt, stand auf und rückte ihren Stuhl wieder ordentlich an den Tisch, dann trat sie mit ihm ein paar Schritte weg.
»Ich will dieses Jahr ein Bandprojekt ins Leben rufen. Nur weil wir Gelbroben sind, müssen wir ja nicht die Schulmusik vernachlässigen wie die letzten drei Jahrgänge. Im Frühsommer kann die Band an einem regionalen Wettbewerb hier im Département teilnehmen. Matej Petek hat mir verraten, dass du Gitarre spielst. Was spielst du lieber? Lead oder Rhythmus? Vorausgesetzt natürlich, du hast Interesse.«
»Sehr gerne, Herr Direktor.« Sie strahlte vor Erleichterung. Sie hatte befürchtet, dass es um den Kongress oder ihre Eltern gehen würde, aber das war eine gute Nachricht. »Was spielen wir denn?«
»Das wird beim ersten Treffen besprochen. In der zweiten Schulwoche mittwochs um fünf Uhr nachmittags im Probenraum?«, fragte Herr Van Koppern. »Wir überlegen dann auch, ob wir vielleicht lieber hier oben auf der Empore üben als in dieser alten Abstellkammer. Die Akustik sollte hier wesentlich besser sein.«
»Ich werde da sein«, versprach Hannah.
»Hervorragend.« Der Schuldirektor lächelte und entschuldigte sich dann: »Ich muss nach vorne. Frau Lütke ist noch in Sekretär Quilliams' Auftrag unterwegs und ohne sie geht hier am Anreisetag alles drunter und drüber.«
Hannah setzte sich zurück zu ihren Freunden und flüsternd fasste sie zusammen, was Herr Van Koppern ihr gesagt hatte. Niall schien aber nur bei einem Teil zugehört zu haben.
»Heißt das, Lütkes Unterricht fällt diese Woche aus?«, fragte er. Phebe verdrehte die Augen. Niall bekam keine Antwort mehr, denn der Schulleiter war ans Rednerpult getreten.
Herr Van Koppern begrüßte die versammelten Schülerinnen, Schüler und Lehrkräfte und trug eine Rede vor, die sehr derjenigen ähnelte, die Hannah im ersten Schuljahr bereits gehört hatte. Der Schuldirektor erzählte die Geschichte der drei Gründer der Gelbroben, dann übergab er das Rednerpult Herrn Debbani und die Namen der Neuen wurden verlesen. Nun hatte Hannah auch eine Erklärung bekommen, warum Herr Debbani dieses Jahr alle Aufgaben übernahm, die letztes Jahr Frau Lütke zugefallen waren. Frau Lütke war für das Team, das nach Saville forschte, im Einsatz. Die Methodenlehrerin war zwar sehr streng und daher bei Schülern eher unbeliebt, aber Hannah war sich sicher, dass sie eine hervorragende und fähige Gelbrobe war.
Ein neuer Schüler nach dem anderen kam nach vorne zum Podium und bekam von Herrn Meritt ein gelbes Kleiderbündel mit dem Schulpullover und der Robe für den Ritualkundeunterricht ausgehändigt. Hannah wartete genauso gespannt wie Phebe darauf, dass Linus aufgerufen wurde. Das Gelb wirkte genauso fehl am Platz neben seinem Goth-Look wie seine blonden Haare.
Die Liste schritt immer weiter nach dem Alphabet fort. In diesem Jahrgang gab es keine Halbgötter, nur eine Nachfahrin der Zauberin Kazi. Nafia aus der nun vierten Stufe, die Hannah im ersten Schuljahr immer mit Erklärungen zur Seite gestanden hatte, war wieder einmal dabei, den neuen Schülern zu erklären, was sie über die Familien der anderen oder die Wesenheiten zu erzählen wusste.
»Ortiz Rodriguez, Manuel«, verlas Herr Debbani einen Namen, unterbrach sich aber sofort. »Oh, das ist der, der fehlt – ähm – Quilliams, Ivy«, fuhr er stattdessen mit dem nächsten Namen fort.
Hannah horchte auf. Auf dem Unterirdischen Kongress waren sie einem Sekretär namens Vyvian Quilliams begegnet, der mit der reisenden Wächterin Daryl zusammenarbeitete, die alle als Heldin feierten. Aber das vierzehnjährige Mädchen, das vortrat, konnte vom Alter her weder seine Schwester noch seine Tochter sein.
»Die Quilliams' sind eine uralte Familie, ähnlich wie die Crokers«, erklärte Nafia gerade am Nachbartisch. »Sie sind seit dem Mittelalter dabei und einige von ihnen waren Zauberer und Alchemisten, bevor sie Gelbroben wurden. Heute sind sie bekannt für ihre Heldentaten.«
»Sie sind allerdings nicht gut in der Forschung vertreten«, murmelte Niall und er musste es schließlich wissen. Hannah hatte das Gefühl, dass er sehr viel über seine Familiengeschichte hatte lernen müssen, als er noch mit seiner Mutter gelebt hatte.
»Es gibt sogar eine alte Familienfehde zwischen uns, was wichtiger ist: Worte oder Taten. Die Crokers sind für Worte, wie das zweite Prinzip besagt, aber die Quilliams' sind für Taten. Allerdings ist keiner von ihnen in Ragnarök im Einsatz gestorben«, raunte er.
Da wurde es plötzlich still im Saal. Das aufgerufene Mädchen drehte sich auf den Stufen zum Podium um, als fürchtete sie, etwas falsch gemacht zu haben. Aber niemand sah mehr zu ihr, sondern alle lauschten. Wie ein Donnern in der Ferne näherte sich ein Geräusch, es wurde klarer, lauter, der Klang von schweren Hufen auf Stein war zu vernehmen. Ein Pferd näherte sich im Galopp über den Gläsernen Gang.
Die Tür zum Speisesaal flog weit auf, bevor der Reiter sie erreichte, und ein Windstoß trug metallisch-salzig schmeckende Luft herein. Der Hufschlag wurde langsamer. Dann erschien das Pferd, eine schwarze, massige Kreatur, ein vor Muskeln strotzendes Schlachtross. Auf seinem Rücken saß eine ebenso riesenhafte, weibliche Gestalt. Ihr Haar war windzerzaust und kupferrot, der Helm darauf aus einem goldglänzenden Metall. Sie trug ein ebensolches Kettenhemd und einen langen Speer.
Die Reiterin zügelte ihr Pferd, als sie die Mitte des Speisesaals erreicht hatte, und ließ ihren Blick über die versammelten Menschen und Halbgötter streifen. Einige zogen die Köpfe ein, erschreckt von dem wilden Feuer in ihren Augen. Andere, wie Phebe und Niall, reckten die Hälse, um bessere Sicht auf das übernatürliche Geschehen zu haben.
Hannah wusste aus dem nordischen Mythologieunterricht im letzten Jahr genau, was sie war: eine Walküre, eine Kriegerin, die die Gefallenen einer Schlacht ins Jenseits geleitete. Unwillkürlich fragte sie sich, ob die Walküre schon einmal im Schloss gewesen war, um die toten Schüler von Ragnarök nach Walhalla zu begleiten.
Der Blick der Walküre kam auf Herrn Van Koppern zum Ruhen, der entschlossen vortrat und höflich den Kopf neigte. Wie zur Erwiderung des Grußes pochte die Walküre dreimal mit dem hölzernen Ende ihres gewaltigen Speers auf den Steinboden. Hannah spürte einige Tische entfernt noch die Erschütterung.
»Seid gegrüßt, Gelbroben!«, hob die Walküre mit einer kräftigen Stimme wie die einer Operndiva an zu sprechen. Dann unterbrach sie sich aber und vergewisserte sich rasch und leiser. »Ich bin hier doch richtig bei den Gelbroben?«
»Ja, Schildjungfer des Odin«, entgegnete Herr Van Koppern. »Ihr seid am richtigen Ort.«
»Gut.« Sie räusperte sich und erhob die Stimme wieder zu voller theatralischer Kraft. Weißer Schaum troff aus dem Maul ihres schwer atmenden Pferdes. »Gelbroben, ich überbringe euch traurige Kunde. Meine Schwestern haben heute Einherjer aus euren Reihen nach Walhalla geleitet.«
Hannah schauderte. Jemand war gestorben, ›ehrenvoll gefallen‹, wie der Ausdruck, den die Walküre benutzt hatte, übersetzt lautete. Sie konnte sehen, dass die meisten der Neuen kein Wort verstanden hatten, aber die verunsicherten Blicke der älteren Schüler sagten ihr, dass sie richtig verstanden hatte.
»Können wir draußen sprechen?«, bat Herr Van Koppern, der wohl dasselbe dachte. »Ihr habt uns gerade in unserer Begrüßungszeremonie für unsere neuen Schüler unterbrochen.«
»Oh, verzeiht«, sagte die Walküre mit ihrer normalen Stimme und hob eine unbeholfene Hand zum Gruß. »Hallo Schüler.«
»Ismael, Arthur, macht einfach weiter.« Herr Van Koppern hatte zu Herrn Debbani und Herrn Meritt gesprochen. Die Lehrer warteten noch ab, bis das riesige, schwarze Pferd mit seiner Reiterin verschwunden war und Herr Van Koppern die Tür hinter ihnen geschlossen hatte. Dann fuhren sie mit Ivy Quilliams' Vorstellung fort. Die Aufmerksamkeit der übrigen Schüler war allerdings nicht mehr ungeteilt. Ein Raunen ging durch die Tischreihen.
»Denkt ihr, es ist etwas Schlimmes passiert?«, fragte Niall, der für die Ankunft der Walküre extra seine Brille aufgesetzt hatte, und sie nun wieder in seine Hosentasche stopfte.
»Natürlich ist etwas passiert, sonst würde wohl kaum eine Walküre in unserem Speisesaal erscheinen«, meinte Phebe und schielte zum Speiseplan an der Essensausgabe. »Sie kommt ja wohl kaum wegen des Essens.«
»Ob es etwas mit Ragnarök zu tun hat?«, wagte Hannah ihre schlimmste Befürchtung auszusprechen. Phebe, die sonst immer sofort Ideen hatte, zuckte bloß mit den Schultern, als fände sie das nicht besonders interessant.
»Das werden wir hoffentlich bald erfahren«, sagte sie bloß und für den Rest der Vorstellung schwiegen sie.
An diesem Abend lag Hannah noch lange wach im Bett. Nach dem Besuch der Walküre glaubte sie nicht mehr, dass dieses Schuljahr ruhig bleiben würde. Aber sie und ihre Freunde mussten der Sache ja nicht auf den Grund gehen. Letztes Jahr hatten sie ermittelt, weil alle anderen den Hinweis bisher übersehen hatten. Doch jetzt lag es in den Händen der Erwachsenen und es gab nichts außer der Schule, um das sie sich Gedanken machen musste, sagte sie sich. Dennoch ritten in ihren Träumen Walküren wie tanzende Nordlichter über den Nachthimmel, trabten über die Fichtenwipfel des Vogesenwaldes und nahmen drei Seelen mit sich nach Walhalla.
Phebe startete mit höchster Konzentration in den ersten Schultag. Auf ihrem Frühstückstablett standen ein Croissant und ein Becher mit Erdbeerjoghurt, den sie sich bis zuletzt aufheben wollte. Daneben lag der Stundenplan für die zweite Stufe, der bereits am schwarzen Brett in der Säulenhalle aushing und den sie sich schnell abgeschrieben hatte. Für den Vormittag stand eine Doppelstunde Naturwissenschaft bei Frau Mebarek an und danach eine Doppelstunde Ritualpraxis bei Herrn Bergunder für den Nachmittag.
Sie freute sich weniger auf den Nachmittag, aber auch oder gerade Herrn Bergunder musste sie beweisen, was sie konnte. Vielleicht würde er dieses Jahr ein wenig freundlicher zu ihr und Niall sein. Selbst ihm konnte nicht entgangen sein, dass sie und ihre Freunde das Ragnarök-Rätsel alleine gelöst hatten.
Sie setzte sich mit Hannah an einen Tisch, an dem Niall schon wartete, und wünschte ihm einen guten Morgen. Niall begann sogleich, vom Hotelfrühstück in Brasilien zu schwärmen, und fuhr fort, mit dem Löffel die Rosinen aus seinem Müsli zu fischen. Phebe sah, wie Hannah darüber lächelnd den Kopf schüttelte, während sie ihr Brötchen belegte.
Phebe griff auch nach ihrem Croissant, spürte dabei aber, wie sich ihr Haarknoten löste. Statt des Gummis, das sowieso immer nur herausrutschte, hatte sie versucht ihre Haare mit einem Bleistift hochzustecken. Diesen Trick hatte sie sich bei einem Mitglied, Hazan Bilgiç, auf dem Unterirdischen Kongress abgeschaut. Sie hatte den ganzen Sommer über geübt, aber ganz hatte sie es noch nicht heraus.
Während sie noch mit ihren widerspenstigen Haaren kämpfte und ihre Freunde schon frühstückten, trat der Schuldirektor Herr Van Koppern ans Rednerpult. Phebe war zu beschäftigt, um sich darüber zu wundern, denn eigentlich las immer der Bibliothekar und Halbwassermann Herr Japhet mit seinen tropfnassen Ärmeln die Nachrichten vor. Zum Zuhören ließ sie die Arme sinken und ihr Haarchaos achtlos über ihre Schultern fallen.
»Wie ihr alle wisst, wurden wir gestern Abend von einer Walküre besucht«, begann Herr Van Koppern, als sich das übliche Stimmengewirr gelegt hatte. Er bedachte die versammelte Schülerschaft mit einem so ernsten Blick, dass selbst Dayo, dem halbgöttlichen Klassenclown, sein Grinsen entglitt. »Gestern ist Manuel Ortiz Rodriguez, Schüler der ersten Stufe, nicht im Schloss eingetroffen und wir konnten seine Familie nicht erreichen. Durch den Besuch der Walküre wurde uns das Schlimmste bestätigt. Die Familie Ortiz ist gestern unter ungeklärten Umständen in ihrer Station in Madrid zu Tode gekommen. Daryl ermittelt mit den örtlichen Behörden bereits in dem Mordfall. Ein göttliches oder übernatürliches Verschulden kann aktuell noch nicht ausgeschlossen werden.«
Phebe hörte das Kratzen von Nialls Löffel am Boden der Müslischale. So still war es geworden.
»Ich weiß, ihr seid keine Mitglieder, aber ich halte es für richtig, dass ihr die Fakten von uns erfahrt. Wir sind für euch da. Wenn ihr mit jemandem sprechen wollt, kommt bitte auf eine Lehrkraft eures Vertrauens zu. Ich wünsche euch trotz allem einen guten und vor allem ruhigen ersten Schultag.«
Die letzten Worte des Direktors klangen ernüchtert und er trat vom Pult weg. Seine Windhündin Laila zu seinen Füßen verstand genug von menschlichen Gefühlen, um ihm tröstend die Hand lecken zu wollen.
»Oh je ...« Phebe murmelte mehr zu sich als zu Hannah und Niall, als die Stille im Speisesaal langsam von den üblichen Geräuschen und Stimmen gefüllt wurde. Es war keine Trauer oder Beileid, denn sie kannte den Jungen und seine Familie nicht. Aber sie ahnte, was es zu bedeuten hatte und was der Direktor nicht hatte aussprechen wollen.
»Kennst du diese Leute etwa?«, wunderte sich Niall und schüttete endlich Milch über sein nun rosinenfreies Müsli.
»Nicht direkt. Aber spanische Nachnamen, Niall.« Er machte eine fragende Miene und Phebe konnte nicht anders, als die Augen zu verdrehen. »Manuel Ortiz Rodriguez«, erklärte sie dann langsam. »Ortiz ist der erste Nachname seines Vaters, Rodriguez der erste seiner Mutter. Und wen kennen wir namens Rodriguez?« Sie ließ ihren Freunden nicht genug Zeit etwas zu sagen, bevor sie selbst die Antwort gab. »Fernanda Rodriguez Garcia – das Mitglied im Saville-Team, das während Ragnarök in Paris stationiert war.«
»Aber…« Hannah ließ das Messer sinken, mit dem sie sich gerade ein Honigbrötchen bestrich. »Saville würde doch nicht … Warum sollte er?«
Phebe hielt ein Seufzen zurück. Ihre Freundin war zwar die liebenswerteste Person, der sie je begegnet war, aber auch die naivste.
»Aus demselben Grund, aus dem er die Seinigen auf den Kongress geschickt hat.« Die Erklärung lag auf der Hand, fand sie. Für Hannah und Niall sprach sie es trotzdem aus: »Er will seine unverdiente Unsterblichkeit in Ruhe genießen und hat Angst, dass ihm das Elixier abgenommen wird, wenn die Gelbroben ihn finden. So wie Hazan es auf dem Unterirdischen Kongress gefordert hat.«
»Vielleicht ist es ein Zufall«, wandte Hannah ein. Sie wollte es wohl nicht wahrhaben, dass Menschen einfach böse sein konnten, dachte sich Phebe und biss in ihr Croissant. »Rodriguez ist doch bestimmt ein häufiger Name.«
»Aber wenn nicht, dann…«, begann Niall enthusiastisch, als hätte er nur darauf gewartet, sich einem neuen Rätsel zu stellen. »Dann … Phebs, hilf mir.«
Sie fing seinen auffordernden Blick auf. Auch ihre Gedanken waren längst in Richtung einer Ermittlung und möglicher neuer Abenteuer abgedriftet. Aber Saville war nun eine offizielle Angelegenheit der Gelbroben. Er war offensichtlich gefährlich und musste dringend aufgehalten werden. Dafür waren Leute wie Sekretär Quilliams und die Wächterin Daryl zuständig, die einfach nach Spanien reisen und mit der Polizei arbeiten konnten. Für sie gab es dieses Jahr nur zwei wichtige Dinge: ihre Schulnoten und ihren Vater. Plötzlich kam ihr eine Idee.
»Wenn es kein Zufall ist, dann wird Saville die Seinigen mit dem Mord beauftragt haben«, sagte sie langsam, als würde sie den Gedanken gerade noch entwickeln. Es war der perfekte Vorwand, sich die Hilfe ihrer Freunde zu sichern, ohne erklären zu müssen, was in ihrer Familie vor sich ging. Wie beiläufig fügte sie hinzu: »Wir müssen also nur ein bisschen über die Seinigen recherchieren.«
»Geht Schule nicht vor?«
Phebe funkelte Niall böse an. Sie hasste es, wenn man ihr eigenes Wort gegen sie verwendete. Sie fing sich aber schnell wieder.
»Nicht immer.« Sie zuckte mit den Schultern und blickte unschuldig drein.
»Wir sollten das lassen«, entgegnete Hannah mit fester Stimme und legte sogar ihr Honigbrötchen beiseite. »Dämonen sind mächtiger und gefährlicher als die Wesen, denen wir letztes Schuljahr begegnet sind. Wir konnten nichts gegen den Drekavac tun und wir konnten auch nichts gegen den Dämon tun. Das ist zu groß für uns.«
Niall starrte auf seine Müslischale und rührte missmutig darin herum.
»Ich bin der letzte von uns, der etwas Vernünftiges tun würde, aber … ich glaube, du hast Recht«, seufzte er und fischte eine letzte Rosine heraus, die ihm zuvor entgangen war. »Keine Dämonen, keine Nahtoderfahrungen und hoffentlich auch keine Bären dieses Jahr.«
Phebe presste die Kiefer aufeinander, um ihren Widerspruch zurückzuhalten, und zwang sich zu nicken. Dann würde sie eben doch alleine nachforschen müssen. Vielleicht war es besser so. Dann konnte sie sich ganz auf Ben fokussieren und das Problem Saville jemand anderem überlassen.