Die Angst, der Buddha und ich - Doris Iding - E-Book

Die Angst, der Buddha und ich E-Book

Doris Iding

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Beschreibung

Trotz jahrelanger spiritueller Praxis leidet Doris Iding an einer Angststörung. Sie erforscht die tiefen Ursachen, nimmt sich endlich wieder Zeit für sich selbst, zieht ihre Siebenmeilenstiefel der Facebook- und iPhone-Welt aus und geht wieder barfuß Schritt für Schritt. Sie befragt spirituelle Lehrer unserer Zeit, Ärzte, Yoga- und Meditationslehrer und Therapeuten zum Thema Angst und stellt fest, dass Angst das Tabuthema der spirituellen Szene ist. Über ihre persönliche Geschichte hinaus gibt sie viele Hilfestellungen für Betroffene und zeigt, wie ihr die Prinzipien der Achtsamkeits-basierten Psychologie konkret geholfen haben.

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Seitenzahl: 284

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Doris Iding

DIE ANGST,

DER BUDDHA

UND

ICH

Impressum

Umschlaggestaltung von STUDIO LZ, Stuttgart unter Verwendung einer Zeichnung von Shutterstock/Manju Mandavya.

Alle Angaben in diesem Buch erfolgen nach bestem Wissen und Gewissen. Sorgfalt bei der Umsetzung ist indes dennoch geboten. Der Verlag und der Autor übernehmen keinerlei Haftung für Personen-, Sach- oder Vermögensschäden, die aus der Anwendung der vorgestellten Materialien, Methoden oder Informationen entstehen könnten.

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Die Erstausgabe dieses Buches erschien 2013 bei der F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München.

© 2021, nymphenburger in der

Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart.

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-96860-503-6

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

Mögen alle Wesen frei sein von Angst

Mögen alle Wesen glücklich sein

Der Mensch gleicht einem Gästehaus.

Jeden Tag neue Gesichter.

Augenblicke der Freude, der Niedergeschlagenheit,

der Niedertracht, alles unerwartete Besucher.

Heiße sie willkommen,

selbst den puren Ärger,

der die Einrichtung deines Hauses

kurz und klein schlägt.

Vielleicht räumt er dich leer für

eine neue Freude.

Behandle jeden Gast respektvoll.

Den finsteren Gedanken, die Scham,

die Bosheit, begrüße sie mit einem Lachen

an der Tür und bitte sie hinein.

Danke jedem für sein Kommen,

denn sie alle haben dir etwas

Wichtiges mitzuteilen.

DSCHALAL AD-DIN AL-RUMI

(Persischer Mystiker, Dichter und Sufi-Meister)

Inhalt

Vorwort

Teil 1

Aufgewacht!

Das eigene Leben unter die Lupe nehmen

Die Siebenmeilenstiefel ausziehen

Boden unter den Füßen

Auf neuen Wegen wandeln

Wiedersehen mit dem Buddha

Auf Tuchfühlung mit der Angst

Die Leiche im Wald

Mara, der Gott des Bösen

Der Mönch und die Angst

Der Buddha und Mara

Gesunde Angst – ein überlebenswichtiges Gefühl

Die Angst als Triebfeder

Jede Zeit hat ihre Ängste

Jeder Mensch hat Angst

Verschiedene Formen der krankhaften Angst

Zunahme von Ängsten

Der Flug

Der Buddha, der Schmerz und der Weg aus dem Leid

Die erste Edle Wahrheit: Leben ist Leid

Die zweite Edle Wahrheit: Es gibt Ursachen für das Leid

Die dritte Edle Wahrheit: Es gibt ein Ende des Leidens

Die vierte Edle Wahrheit: Es gibt einen Weg aus dem Leid

Sei dir selbst ein Licht auf dem Weg aus dem Leid

Mit der Hilfe des Buddha die Angst meistern

Im Körper ankommen

ACHTSAMKEIT ENTWICKELN

Ein Feld der Achtsamkeit aufbauen

Achtsames Erden

Die Atmung vertiefen

MITGEFÜHL ENTWICKELN

Der Kampf gegen mich selbst

Zulassen, was ist

GEDULD KULTIVIEREN

Mit Geduld Gewohnheiten erkennen

VERGÄNGLICHKEIT ANERKENNEN

Der Tod von Rumirah

Die Vier Grundlagen des achtsamen Wandels

Erkennen, was ist

In den Spiegel schauen

Durch Musik ins Hier und Jetzt

Die eigenen Gefühle wahrnehmen

Drei Gefühlskategorien

Gedanken erkennen

Nach Hause kommen

Die heilende Wirkung des reinen Bewusstseins

Im Kino

Alles braucht Zeit

Ein gesundes Ich und das reine Bewusstsein

Teil 2

Die Achtsamkeit, der Mut und ich

Der Achtstufige Pfad

Traumata und ihre Auswirkungen

Die eigene Wunde heilen

Formen von Traumata

Auswirkungsbereiche von Traumafolgestörungen

Mit Narben leben

Heilung durch eine sanfte Praxis

Ein Daueralarm im Körper

Dem eigenen Körper zuhören

Schwierigkeiten im Umgang mit Traumata

Trauma und Meditation

Ein kleiner, wertvoller Werkzeugkasten

Das 7-Minuten-Versprechen

Kein Richtig und kein Falsch

Seien Sie gut zu sich selbst

Herausfordern statt überfordern

Es immer wieder tun

Atemzug für Atemzug

Alles was ist, darf sein

Würdevoll Abschied nehmen!

Zusammenfassung der wichtigsten Tipps

Anhang

Der Buddha und die Neurowissenschaft

Vorbereitende Schritte für eine Atemübung und eine Meditation

Feines Atmen zur Beruhigung des Geistes

Sankalpa finden

Nachwort

Weitere Informationen zur Autorin und Kontaktadresse:

Literatur

Vorwort

Wenn du anfängst, dich niedergeschlagen zu fühlen,

dann fängst du an, dir selbst zu helfen,

dann machst du dich in dir heimisch.

CHÖGYUM TRUNGPA

Seitdem dieses Buch im Jahr 2013 erschienen ist, erhalte ich Leserbriefe von Männern und Frauen, die mit Ängsten zu kämpfen haben. Viele von ihnen fühlten sich durch die Beschreibung meiner eigenen Angsterkrankung erstmalig in der Tiefe verstanden. In sehr persönlichen Mails und Telefonaten baten sie mich um Übungen, die sie auf ihrem Weg aus der Angst stärken und unterstützen können.

In dieser erweiterten Version dieses Buches komme ich den Bitten meiner Leserinnen und Leser nach und stelle im zweiten Teil des Buches viele Übungen vor, die Menschen darin unterstützen können, besser mit kleinen oder chronischen Ängsten klarzukommen oder sie möglicherweise sogar vollkommen zu überwinden. Dass die Übungen wirksam sind, kann ich aus eigener Erfahrung – und auch aus der Erfahrung meiner Kursteilnehmer – bestätigen. Jede einzelne Übung wirkt! Es gibt einen Haken: Sie wirken dann, wenn sie regelmäßig gemacht werden. Gemäß dem Motto: »Wer wenig übt, wird wenig ernten. Wer viel übt, wird viel ernten.« Die Übungen können idealerweise nur dann ihre tiefe Wirkung erzielen, wenn sie regelmäßig – und im Idealfall sogar täglich – ausgeübt werden. Die Ausdauer spielt hierbei eine entscheidende Rolle. Wir scheitern häufig nicht daran, Übungen über einen langen Zeitraum zu machen, weil wir zu faul, zu dumm oder zu ängstlich sind. Wir bleiben nicht dran, weil wir glauben, dass sich Veränderungen im Handumdrehen einstellen müssten. Passiert dies nicht, glauben wir, dass es entweder an uns liegt oder aber die Übungen nichts taugen. Das ist häufig aber nicht der Fall. Dranbleiben lautet hier das Zauberwort. Und wissen Sie was?! Dranbleiben kann man lernen und dann maßgeblich davon profitieren. Glauben Sie mir! Ich habe es selbst erfahren auf meinem Weg in die innere Freiheit.

Anfangs mag es Überwindung kosten, sich immer und immer wieder hinzusetzen, um achtsam zu atmen, Verhaltensweisen zu reflektieren, den Körper bewusst zu spüren oder die Unterkiefer zu lockern. Aber ich kann Ihnen versprechen, dass sich die Mühe lohnt! Mit der Zeit werden Sie sich freier, wohler und selbstsicherer fühlen. Die Zeiten, in denen Sie sich von den Ängsten übermannt fühlen, werden kürzer. Die Abstände, in denen Sie das Gefühl haben, Herrin oder Herr im eigenen Haus bzw. Kopf und Körper zu sein, werden länger. In diesen Zeiten werden Sie vielleicht erstmals in Ihrem Leben innere Freiheit erfahren und genießen.

Im zweiten Teil des Buches werde ich weniger über meinen persönlichen Weg erzählen, kann aber so viel sagen, dass die vielen Übungen hier im Buch mich in den letzten Jahren intensiv begleitet haben. Auch die buddhistische Psychologie, Traumasensibles Yoga und die Achtsamkeit haben mir dabei sehr geholfen, mich mehr und mehr ins Hier und Jetzt zu entspannen. Auch heute mach ich viele dieser Übungen regelmäßig, um in meiner Mitte zu bleiben, bzw. in sie zurückzukehren, falls ich sie verloren habe. Mein Weg dorthin war kein einfacher. Ich muss auch heute immer wieder sehr auf mich aufpassen, um nicht in alte Denk- oder Verhaltensmuster zurückzufallen. Es war ein langer Weg, die Ignoranz meinen Körpersignalen gegenüber zu erkennen, meine Achtsamkeit immer wieder umzulenken und darauf zu achten, dass nicht Ängste meine Entscheidungen dominierten, sondern mein neu gewonnenes Vertrauen in die göttliche Fügung. Trotzdem bin ich diesen Weg gerne gegangen, weil sich jeder Schritt in die richtige Richtung gut anfühlt und ich mir heute so nah bin, wie nie zuvor in meinem Leben. Heute wird mein Leben geleitet von einem Gefühl der inneren Führung und nicht von der Angst. Was für ein großartiger Perspektivenwechsel.

Ich würde mich sehr freuen, wenn auch Sie von all den Übungen profitieren würden.

Ich wünsche Ihnen viel Freude, Geduld und Zuversicht.

Herzlich

Doris Iding

Aufgewacht!

In welcher Situation wir uns auch befinden mögen, es ist immer möglich, sie unter positiven Gesichtspunkten zu betrachten.

DALAI LAMA

Das Erlebnis, das so einschneidend war, das alles veränderte, mich über viele Monate vollkommen aus der Bahn warf und nichts mehr so sein ließ, wie es vorher war, ereignete sich im April 2011. Drei Wochen zuvor war es in Fukushima durch ein Erdbeben zu der großen Reaktorkatastrophe gekommen. Jeden Abend verfolgte ich, wie in den Nachrichten darüber berichtet wurde, dass große Mengen an radioaktivem Material die Luft, die Böden, das Wasser und die Nahrungsmittel sowohl auf dem Land als auch im Meer in der Umgebung der Reaktoren kontaminierten. Ich machte mir große Sorgen um die Menschen und die Natur, die dieser unsichtbaren Gefahr ausgesetzt waren. Die Bilder der verzweifelten Menschen und der zerstörten Landschaft gruben sich schnell in mein Gehirn ein und wirkten selbst im Schlaf nach. Meine Angst galt aber auch meiner eigenen Gesundheit. Ich war mir unsicher, ob früher oder später nicht auch verseuchte Lebensmittel nach Deutschland würden kommen können.

Das Unglück in Japan war tatsächlich aber nur der Auslöser für meinen eigenen Zusammenbruch. Mitten in einer der nachfolgenden Aprilnächte wachte ich auf. Draußen war es stockdunkel. Alles, was ich sah, waren Millionen von schwarzen und weißen dicken Punkten, die sich schnell und flirrend vor meinem Gesichtsfeld bewegten. Zuerst wollte ich meinen eigenen offenen Augen nicht trauen. Dann schlug mein Gehirn Alarm. Innerhalb von Sekunden breitete sich eine so massive Angst in mir aus, dass sie mich förmlich durch- und dann überflutete. Ich fühlte mich wie paralysiert und gleichzeitig zitterte ich am ganzen Körper. Mein Herz raste. Mein Atem jagte hinterher. Meine Nerven lagen blank. Es fühlte sich geradezu so an, als wäre ich an eine 220-Volt-Stromleitung angeschlossen. Ich war hellwach und vollkommen übererregt. Das, was sich hier abspielte, war wie ein gruseliger Horrorfilm, den ich partout anhalten wollte, den ich ausschalten wollte, aber den entsprechenden Knopf dazu nicht fand.

Mit zitternder Hand suchte ich ersatzweise nach dem Lichtschalter meiner Nachttischlampe, in der Hoffnung, dass alles nur ein schlechter Traum gewesen wäre und der Albtraum ein Ende hätte. Aber auch im hellen Raum waren die Punkte noch immer da. Die Konturen der Möbel waren hinter den Punkten undeutlich auszumachen. Zuerst dachte ich, dass es vielleicht eine Kreislaufschwäche wäre. Mit einem Satz sprang ich aus dem Bett, raste ins Wohnzimmer und beugte mich nach vorne, um meinen Kopf mit frischem Blut zu versorgen. Die Punkte blieben. Ich schüttelte verzweifelt den Kopf, in der naiven Hoffnung, dass so Abertausende von Punkten herausfallen würden. Ruckartig richtete ich mich auf. Doch die Punkte tanzten weiter hartnäckig vor meinen Augen. Da wurde ich panisch und ließ meinen Oberkörper noch einmal nach vorne schnellen und schüttelte mich wie elektrisiert, atmete tief ein und aus, schüttelte mich erneut und richtete mich voller Verzweiflung wieder auf. Jetzt erst ließ die Erscheinung langsam nach. Nach meinem Empfinden jedoch viel zu langsam. Ich war schweißgebadet. Ich versuchte nachzuvollziehen, was gerade mit mir passiert war. Dabei schoss mir die Angst erneut durch den Kopf. Was war das?

Die nächsten Stunden waren ein Albtraum. Kaum hatte ich mich halbwegs beruhigt, kam die Erinnerung an die Punkte wieder. Meine Adrenalinproduktion lief auf Hochtouren. Immer wieder rannte ich durch die Wohnung, angetrieben von Herzklopfen, begleitet von Horrorszenarien, die sich in meinem Kopf abspielten. War das, was ich da erlebte, etwa die Vorstufe von weißen Mäusen, und das, obwohl ich kaum Alkohol trank? Ich hatte geradezu panische Angst davor, blind – und noch schlimmer – verrückt zu werden. Ich ließ den Vortag vor meinem inneren Auge Revue passieren. War etwas Besonderes passiert, was ich nicht bemerkt hatte und was das Augenflimmern ausgelöst hatte? Hatte man mir vielleicht irgendwo heimlich etwas in ein Getränk gegeben? Die Fragen liefen ins Leere. Hatte das ganze visuelle Phänomen vielleicht gar nichts mit meinen Augen zu tun, sondern mit meinem Gehirn? Hatte ich einen Gehirntumor? Diese Fragen überschlugen sich in meinem Kopf und wiederholten sich Tausende Male. Ich konnte förmlich spüren, wie jede einzelne Frage wie eine Ladung Starkstrom durch die Windungen meines Gehirns schoss und mein ganzer Körper auf der Suche nach einer plausiblen Antwort vor lauter Übererregung nur noch vibrierte und ich wie Espenlaub zitterte. Beruhigen konnte ich mich nicht. Und Antworten fand ich auch keine.

Ich legte mich wieder in mein Bett, mit all den Fragen, mit all der Angst. Als die Sonne aufging, schlief ich vollkommen übererregt und zugleich völlig erschöpft ein. Vollkommen übererregt wachte ich auch wieder auf. Die Sonne schien in mein Zimmer. Die einzigen Punkte, die ich jetzt sah, waren ein paar einzelne feine Staubkörner, die in der Luft tanzten, nachdem ich das Fenster aufgemacht hatte. Andere Punkte waren keine mehr zu sehen. Alles war wie sonst. Ich sah die Welt wieder durch meinen gewohnten Blick. Das Fenster, das Bett, der Schrank. Alles war klar umrissen, ohne einen einzigen Punkt. Aber gleichzeitig sah ich die Welt mit ganz anderen Augen. Ich hatte höllische Angst vor einer Krankheit. Angst um mein Leben. Und um meinen Verstand. Über den ganzen nächsten Tag hinweg lauerte die Angst permanent nebulös drohend im Hintergrund. Ich erzählte niemandem von dem, was mir widerfahren war. Vielleicht war ja doch alles nur ein schlechter Traum gewesen! Hier und da überfiel mich dann wieder unvermittelt die Angst, dass sich das Horrorszenario in der kommenden Nacht wiederholen würde.

Und genau das passierte. Ich schreckte bereits nach drei Stunden aus dem Schlaf, weil mich die furchtbaren Erinnerungen an die vorhergehende Nacht wachrüttelten. Wieder sah ich nichts anderes als Millionen von schwarzen und weißen Punkten. Wieder schlug mein Gehirn Alarm. Wieder stand ich unter Strom. Wieder lag ich stundenlang wach. Schrecklichste Ängste um meine Augen und meine Gesundheit verschluckten meinen gesunden Menschenverstand bei dem kleinsten Versuch, eine rationale Erklärung zu finden für das, was sich vor meinen Augen abspielte. Es war geradezu aussichtslos, auch nur einen einzigen klaren, angstfreien Gedanken zu fassen. Ich fühlte mich ängstlich, hilfsbedürftig und zutiefst verunsichert zugleich und wollte dieses Gefühl so schnell wie möglich wieder loswerden. Aber wie sollte dies gehen?

Die einzige Möglichkeit war, der Situation ins Gesicht zu schauen bzw. in diesem Fall in die Augen zu sehen. Aus diesem Grund suchte ich am nächsten Tag einen Augenarzt auf. Während der Untersuchung fiel es mir schwer, meine Angst zu verbergen. Nervös rutschte ich wie ein kleines Kind auf dem Behandlungsstuhl hin und her. Mein Mund war trocken. Mein Kopf war leer. Ich fühlte mich wie betäubt. Ich hatte Angst vor der Diagnose. Angst davor, dass der Arzt meine Hypothesen bestätigen würde. Mit zitternder Stimme erzählte ich ihm, was mir widerfahren war. Er blieb sichtlich unbeeindruckt, untersuchte mich und konnte nichts Auffälliges feststellen. Ihm war dieses Symptom unbekannt. Zum Abschied klopfte er mir aufmunternd auf die Schulter, lachte mich an und versuchte, eine heitere Zuversicht auszustrahlen: »Entspannen Sie sich! Legen Sie Ihre Füße hoch und lesen Sie einen schönen Krimi!« Auch der Neurologe, den ich kurz danach aufsuchte, zuckte bei meiner Erzählung die Schultern, konnte mit meinen Symptomen nichts anfangen. Ebenso erging es mir bei meinem Hausarzt. Beide diagnostizierten eine Überreizung des Nervensystems. Aber keiner konnte mich wirklich beruhigen. Dazu war es zu spät.

In diesen Tagen zog die Angst bei mir ein. Meine Fröhlichkeit und mein Optimismus zogen aus. Mit der Angst ging ich durch den Tag. Mit ihr schlief ich nachts ein. Mit ihr wachte ich mitten in der Nacht auf. Nacht für Nacht erlebte ich dasselbe: Millionen von Punkten tanzten vor meinen Augen. Im Dunkeln, im Halbdunkeln. Im Schein der Nachttischlampe. Jeder einzelne Punkt fütterte meine Angst. Machte sie groß. Blähte sie auf wie einen Dämon. Gab ihr Macht über mich und meinen Verstand. Es schien keine Besserung in Sicht. Im Gegenteil. Während der Frühling Einzug hielt, die ersten Knospen auftauchten, wurde es in mir immer düsterer. Und das, obwohl ich diese Jahreszeit über alles liebte. Schlagartig änderte sich alles. Mein Leben. Meine Einstellung zu mir selbst. Augenblicklich wurde mir bewusst, wie wertvoll ein gesunder Körper und eine stabile Psyche sind. Alles Äußere, was mich bislang so motiviert, inspiriert und angetrieben hatte, wurde plötzlich vollkommen unwichtig: vielversprechende Aufträge und geplante Reisen ebenso wie bereichernde Begegnungen. Selbst der Erfolg meines neuen Buches, das in zahlreichen Zeitschriften besprochen wurde, ging an mir vorbei, als würde es mich selbst gar nicht betreffen. In meinem Innern stieß nichts mehr auf Resonanz. Es war, als hätte sich in nur einer einzigen Nacht zwischen mir und dem Leben, das ich so liebte, ein unüberwindbarer Graben aufgetan. Mein Blick hatte sich verengt, meine ganze Aufmerksamkeit kreiste nur noch um meine Gesundheit.

Das eigene Leben unter die Lupe nehmen

Bis zu dieser Nacht hatte ich immer gemeint, eigentlich ein sehr glückliches Leben zu führen. Eigentlich. Mit 30 Jahren hatte ich meinem Leben nach dem Tod meines Lebensgefährten eine ganz neue Richtung gegeben. Ich hatte mir meinen langjährigen Traum erfüllt und Ethnologie, Religionswissenschaft und Psychologie studiert. Diese Jahre waren für mich ein großes Geschenk. Danach hatte ich angefangen, als Journalistin und Buchautorin in ebendiesen Bereichen zu arbeiten. Die Jahre, bis ich mich gut etabliert hatte, waren zwar anstrengend, aber auch schön gewesen. Dafür hatte ich viel gearbeitet. Aber das hatte ich auch gerne getan. Ich liebte meine Arbeit über alles. Meine Vision, beruflich das zu tun, was mich aus vollster Seele nährte, hatte sich endlich erfüllt und mir gezeigt, dass man seine Träume verwirklichen kann. Meine Arbeit als Dozentin bei Yogalehrer-Ausbildungen, als Journalistin, Buchautorin und Ghostwriterin erfüllte mich sehr.

Jeden Tag sprang ich morgens gut gelaunt und voller Freude und Energie aus dem Bett. Jeden Tag erwarteten mich neue Begegnungen, neue Menschen, neue Erfahrungen. Jeder neue Auftrag bereitete mir enorme Freude. Meistens ging es um Bewusstseinsentwicklung, Spiritualität, Gesundheit oder Psychologie. All diese Themen inspirierten nicht nur meinen Verstand, sondern nährten auch mein Herz. Ich hatte nicht einmal mehr das Gefühl zu arbeiten, denn jeder Tag fühlte sich für mich an wie Urlaub! Ich hatte sogar einen Punkt erreicht, an dem mir viele spannende Projekte angeboten wurden. Darüber hinaus führte ich seit vielen Jahren wieder eine glückliche Beziehung und hatte um mich herum einen Kreis guter Freunde. Auch achtete ich darauf, mit solchen Menschen zusammen zu sein und zu arbeiten, die bewusst und reflektiert lebten und arbeiteten. Dadurch hatte mein ganzes Leben in meinen Augen eine gewisse Tiefe und machte große Freude.

Durch diese Möglichkeit, mein Leben so bewusst und weitgehend selbst bestimmen zu können, fühlte ich mich sehr privilegiert und genoss jeden Tag. Umso mehr schockierte mich dieser Vorfall. Er war so plötzlich – wie es mir schien – gekommen. Was hier passiert war, ließ sich willentlich nicht kontrollieren. Und das machte mir unendlich große Angst. Hatte ich doch all die Jahre zuvor scheinbar bewusst geplant und selbst über mein Leben bestimmt. Scheinbar. Denn die grell aufleuchtende Alarmlampe meines Nervensystems, die anfangs nur ab und zu geblinkt hatte, hatte durch mein Augenflimmern ein unübersehbares Alarmsignal gesendet und leuchtete jetzt grell und kalt, wie eine Neonröhre kurz vor der Explosion. Jede Nacht schreckte ich aus dem Schlaf, und jede Nacht zeigte mir mein Nervensystem mit Tausenden von Punkten, dass ich meine Grenzen offensichtlich, und ohne es zu bemerken, überschritten hatte.

In diesen Tagen im April wachte ich auf. Nicht nur jede Nacht aufs Neue, in der Hoffnung, dass dieses undefinierbare Flimmern weg sein würde. Auch in dem Sinne, dass ich mich und mein eigenes Leben kritisch betrachtete. Das, was mir das Flimmern zeigen wollte, musste ich untersuchen.

Somit begann der ausschlaggebende Umbruch im Kopf. Ich selbst musste mir Fragen stellen, die ich mir bislang nicht gestellt hatte. Ich musste Bilanz ziehen über mein Verhalten und meine Art, mit mir selbst umzugehen. Ich musste die Gründe dafür finden, warum ich immer über mich hinweggegangen war. Als Erstes realisierte ich rückblickend, dass mein Alltag kurzatmig, hektisch und ungesund geworden war. Ich hatte einige spannende Tagungen mitorganisiert und einen Verlag beim Aufbau unterstützt, hatte ein Buch geschrieben und als Redakteurin gearbeitet. Und das alles mit Begeisterung. Bei dieser Flut von Arbeit hatte ich nicht nur tagsüber gearbeitet, sondern auch bis weit in die Nacht hinein. Oft war ich auch nachts wach geworden und hatte erst gar nicht den Versuch unternommen, wieder einzuschlafen. Stattdessen war ich hoch motiviert und voller Engagement schnurstracks in mein Büro gegangen, um dort noch jene Arbeiten zu erledigen, zu denen ich tagsüber nicht gekommen war. Aber bei all meinem Enthusiasmus für meine Arbeit hatte ich nicht bemerkt, dass mein natürlicher Rhythmus ins Rutschen geraten war. Und genauso unmerklich war ich im Verlauf der Monate immer nervöser und angespannter geworden. Zuletzt hatte ich mich über vieles aufgeregt, was ich früher mit einem lächelnden Schulterzucken abgetan hätte. Eine Datei, die abstürzte, ließ mich genauso schnell ärgerlich werden wie jemand, der vor mir auf der Straße zu langsam fuhr.

Zuerst hatte ich meine Nervosität, Schlaflosigkeit und zunehmende Reizbarkeit sowie die verschiedenen kleineren Ängste auf die wirtschaftlich allgemein unberechenbare Situation und mein eigenes Dasein als Selbstständige zurückgeführt. Bei aller Arbeit hatte ich auch gar nicht realisiert, wie sich ein immer stärkerer Druck in mir aufbaute. Während ich in den ersten Jahren der Selbstständigkeit immer wieder Angst gehabt hatte, nicht von meinem Beruf als Journalistin leben zu können, hatten die Ängste nun nur einen anderen Namen bekommen. Bekam ich eine Grippe, hatte ich Sorge, nicht rechtzeitig gesund zu werden, um alle Arbeiten termingerecht zu erledigen. Ich wagte es nicht mehr, einen längeren Urlaub zu planen, aus Sorge, meine Kunden damit zu verprellen oder dadurch meine Auftragslage zu schwächen. Doch erst im Verlauf der Monate stellte sich der wahre Grund für die Ängste heraus.

Die Entwicklung, die ich in den letzten Jahren durchlaufen hatte, war paradox. Meine Betriebsamkeit hatte dazu geführt, dass ich immer mehr durch mein Leben hetzte. Ich glaubte, keine Zeit mehr zu haben, um mich zu entspannen, zu meditieren und Dinge in Muße zu tun. Stattdessen war ich ständig unterwegs. Ich genoss mein Leben als Selbstständige und überging gleichzeitig die Bedürfnisse meines Körpers und die Aufrufe meiner Seele. Das innere Feuer, für das ich bei meiner Arbeit eigentlich brannte, war dabei, mich auszubrennen. Ich flog, fuhr oder ging von einem Termin oder Interview zum nächsten, um über Yoga, Balance im Leben oder das Sein zu berichten. Ich traf viele spannende Menschen, die mich zu immer neuen Projekten, Artikeln und Büchern anregten. So bunt mein Leben auch war, fühlte ich mich dennoch immer getrieben, konnte aber nicht benennen, warum das so war. Niemals kam ich wirklich zur Ruhe. Selbst meine Meditationen nutzte ich, um mich für neue Buchideen oder Impulse für Artikel zu öffnen. Kaum war ein Buch fertig geschrieben, trieb mich ein neuer Funke an. Wenn ich jetzt an Seminaren oder Retreats teilnahm, dann immer als Journalistin. Während die anderen entspannten, schrieb ich an einem Artikel. Nur selten nahm ich mir Zeit, meine Seele baumeln zu lassen, mit Freunden einen Tag zu verbringen, meine eigene Beziehung zu kultivieren oder ins Kino oder in Konzerte zu gehen. Selbst im Urlaub peitschte ich mich nach nur wenigen Tagen zurück in die Geschäftigkeit. Dabei hatte ich die Grenze meiner eigenen Belastbarkeit ständig ignoriert und überschätzt. Und die kleinen und großen körperlichen Anzeichen übersehen, die darauf hingewiesen hatten, dass eine Pause notwendig war. Und die kleinen und großen »Aufschreie« meiner Seele überhört, die darauf hinwiesen, dass es an der Zeit wäre, ihr Gehör zu schenken. So hatte ich es beispielsweise gar nicht ernst genommen, dass ich bei dem jährlichen Weihnachtsretreat, an dem ich immer teilnahm, morgens vollkommen erschöpft im Bett lag und überhaupt nicht aufstehen wollte. War ich früher morgens um sechs Uhr voller Vorfreude auf die erste Meditation aus dem Bett gesprungen, hievte ich jetzt mühsam meinen scheinbar zentnerschweren Körper von der Matratze und kam oft als eine der Letzten im Seminarraum an. Und genauso wenig hatte ich es ernst genommen, dass mir nach besonders anstrengenden Tagen schlecht war, ich vor Herzrasen nicht schlafen konnte oder immer wieder Migräneattacken bekam, die mich außer Gefecht setzten.

Ich schrieb in verschiedenen Zeitschriften darüber, wie wichtig es ist, Körper, Seele und Geist in Einklang zu bringen, sich Oasen der Entspannung im Alltag zu schaffen oder regelmäßig von der Arbeit abzuschalten. Gleichzeitig war ich selbst zu diesem Zeitpunkt weit davon entfernt und entfremdete mich zusehends von mir selbst. Ich vertröstete mich ständig, am nächsten Wochenende, im nächsten Urlaub oder spätestens im folgenden Meditationsretreat innezuhalten und zu mir zurückzufinden. Um mir Zeit dafür freizuschaufeln, hatte ich mir unterschiedlichste technische Hilfsmittel angeschafft: ein iPhone und einen Laptop. Alles ultraschnell. Aber genau das Gegenteil passierte. Die Zeit, die ich versuchte einzusparen, vertat ich jetzt im Internet. Hier verlor ich mich manchmal stundenlang bei der Recherche in einem Urwald von zahllosen Website-Links, hörte neue Musikclips, die mir Facebook-Freunde empfahlen oder die ich zufällig auf YouTube entdeckte. Durch die Überflutung mit neuen und gleichermaßen oft überflüssigen Informationen aus dem Netz war ich unmerklich immer weniger in der Lage, mich länger als ein paar Minuten auf ein und dieselbe Aufgabe zu konzentrieren. Zu groß war die Ablenkung. Dadurch fiel mir sogar das Lesen eines Artikels mittlerweile immer schwerer. Ich wurde erschöpfter und rastloser zugleich, was für mich selbst irgendwo spürbar war und auch von meiner Familie und meinen Freunden bemerkt wurde. Sie vermissten meine Fröhlichkeit und bemängelten, dass ich keine Zeit mehr für private Aktivitäten hätte. Doch wenn sie mich darauf ansprachen, bagatellisierte ich das Ganze. Hin und wieder fragte ich mich insgeheim, ob es noch gesund sei, was ich da tat. Beschämt von mir selbst musste ich es verneinen.

Entlastend wirkte allerdings auf mich, dass es meinen Freunden, Bekannten oder Arbeitskollegen offenbar genauso erging. Auch Unbekannte, die mir im Café, in der U-Bahn, im Zug oder in der Wartehalle des Flughafens begegneten, schienen – wie ich – ihren Handys und Laptops quasi ausgeliefert zu sein: stets erreichbar, immer up to date. Zeitmangel, härter werdende Anforderungen und ständiges Verfügbarsein gehörten nun einmal – so beruhigte ich mich wieder und wieder – zur geschäftlichen und damit zur gesellschaftlichen Realität.

Die Siebenmeilenstiefel ausziehen

Nach meinen ersten symptomreichen Nächten im April suchte ich meinen langjährigen Hausarzt und Homöopathen auf, mit der Bitte, mir Zauberglobuli zu geben, damit ich in Siebenmeilenschritten in meinem gewohnten Rhythmus weitergehen könnte. Seine Antwort war für mich völlig unerwartet: »Bitte ziehen Sie Ihre Siebenmeilenstiefel aus. Die haben Sie lange genug getragen. Es ist scheinbar an der Zeit, barfuß Schritt für Schritt weiterzugehen.« Ich schluckte. Danach nickte ich ergeben.

Es gibt Momente in meinem Leben – manchmal ist es eine Begegnung, manchmal ein Erlebnis und manchmal nur ein einziger Satz –, die mich zum Nachdenken anregen oder dazu, alles infrage zu stellen, was ich bis dahin gemacht habe, und die mein Leben von einem Augenblick auf den anderen ändern. Die Aussage meines Arztes hatte genau diese Qualität. Sie traf mich bis ins Mark. Immer und immer wieder ging mir der Satz in den nächsten Wochen und Monaten durch den Sinn. Er brachte genau das auf den Punkt, was ich selbst versäumt hatte zu tun. Und was dringend anstand. Barfuß Schritt für Schritt zu gehen. Genauso, wie ich es in all meinen Büchern und Artikeln beschrieb. Diese Bremse war die einzige Möglichkeit, mich aus der Umklammerung der Rastlosigkeit, der Erschöpfung und der Übererregung zu befreien. Nur durch Ruhe, Entspannung und Innenschau würde es mir möglich sein, mich allmählich und auch langfristig von den Symptomen zu erholen. Diese Pause war dringend nötig. Sie war sogar überfällig. So sehr ich meine Arbeit auch liebte! Sich mit spirituellen und bewusstseinserweiternden Themen zu beschäftigen, ist das eine. Dies Tag für Tag in das eigene Leben zu integrieren, das andere. Darüber hinaus war es anscheinend an der Zeit, den Grund für mein Hasten zu finden, der sich mir allerdings auf den ersten Blick nicht erschloss.

Der Rat meines Arztes hatte mir verdeutlicht, dass es keine schnelle Heilung gab für meine Erkrankung. Mit weniger Arbeit allein war es nicht getan. Aber es war ein erster Schritt in die richtige Richtung. Ich hielt inne, und zwar nicht für einen Moment oder für zwei oder vier Wochen, um mich wie bei einer Ayurvedakur zu regenerieren, sondern für ein ganzes Jahr. Ich begann tatsächlich, barfuß Schritt für Schritt zu gehen. Meistens im übertragenen Sinne, oft auch faktisch. Ich wagte den Absprung aus dem hektischen Alltag. Ich wollte wieder den Boden unter meinen Füßen spüren. Das erste Jahr arbeitete ich nur zwei bis drei Stunden am Tag. Dadurch schaffte ich Abstand zwischen mir und dem, was mich von mir selbst entfernt hatte: meiner ständigen Hetzerei, meinem Handy, meinem Laptop, dem Internet und dem virtuellen Leben. Das war die große Lektion, die ich lernen musste, um wieder herauszukommen aus der lähmenden Angst, die mein Leben in diesen Monaten blockierte wie ein Dauerstau auf der Autobahn mitten im Hochsommer.

Boden unter den Füßen

Durch mein Langsam-Werden erkannte ich, dass ich meiner derzeitigen Situation und meinem nächtlichen Flimmern nur mit Achtsamkeit und Bewusstheit begegnen konnte. Nur so konnte ich sehen, dass hinter alldem diverse Ängste lagen und diese mich eng und krank gemacht hatten. Nun war es an der Zeit, ihnen zu begegnen. Denn nur so konnte ich mein Leben verändern und Heilung erfahren. Nur durch ein hohes Maß an Achtsamkeit und Bewusstheit konnte wieder ein innerer und äußerer Raum entstehen, in dem alles – inklusive der Angst – Platz hatte.

Um diesen Raum wiederzufinden, in dem ich mich selbst wieder differenziert wahrnehmen konnte, brauchte es Zeit. Ganz besonders in den ersten Monaten, in denen die Angst mich so sehr im Griff hatte, dass ich jegliches gesunde Gefühl für meinen Körper und Geist verlor. Durch den Ausbruch des nächtlichen Augenflimmerns war mir schlagartig, im wahrsten Sinne des Wortes über Nacht, das Gespür für meine eigenen körperlichen Grenzen abhandengekommen. Ich fühlte mich wie ein einziger wabernder Bienenschwarm, der aus purer Angst besteht. Egal ob ich nachts im Bett lag, morgens beim Frühstück saß oder nachmittags einen Tee trank – immer hatte ich das Gefühl, als würde dieser Bienenschwarm durch meinen Körper schwirren, bevor er sich dann wieder in meinem Kopf niederließ und sich erneut in tausend angstvolle Gedanken verströmte. Um sich dann Stunden später wieder irgendwo in meinem Körper zu sammeln. In diesen Monaten zog ich mich auch weitgehend zurück und vermied alle Treffen, die nicht unbedingt nötig waren. Während ich früher jeden Tag viele Verabredungen und Termine mit anderen Menschen hatte, brauchte ich jetzt Zeit für mich allein. Meine Seele holte sich einfach das zurück, was ich lange übersehen hatte.

In dieser Zeit zahlten sich auch all die spirituellen Praktiken und Techniken aus, die ich in den letzten 20 Jahren gelernt hatte. Ich war Yogalehrerin, meditierte seit vielen Jahren, hatte Fortbildungen im Bereich der Achtsamkeit absolviert und verfügte so über ein großes Repertoire an Entspannungsübungen für die unterschiedlichsten Lebenssituationen und Bedürfnisse. Für dieses Wissen war ich zu dieser Zeit besonders dankbar. Anfangs versuchte ich es mit der Meditation im Sitzen. Aber jedes Mal, wenn ich mich hinsetzte und meine Aufmerksamkeit nach innen richtete, hatte ich das Gefühl, in einen bodenlosen Raum zu fallen. In diesen Momenten suchte ich mein Inneres nach Halt ab. Aber es gelang mir nicht. Das lag an der Angst, mit der ich kämpfte. Ständig schob sie sich vor meinen Verstand und zog mich hinein in den bodenlosen Raum. Zu viel Innenschau erschien mir in der ganz akuten Phase auch viel zu gefährlich, aus Angst, dass – ausgelöst durch das Flimmern – unverarbeitete Horrorszenarien aufsteigen könnten. Daher hörte ich mit dieser Meditation bereits nach wenigen Tagen auf und praktizierte vorerst nur solche Techniken, die mich erdeten und mir – zumindest zeitweise – den Boden unter den Füßen zurückgaben. Es waren Yoga- und Atemübungen, die mich ganz gezielt in meinem Becken verankerten. Oder solche Visualisationsübungen, bei denen ich mir vorstellte, dass Wurzeln durch meine Füße in den Boden wuchsen.

Dann begann glücklicherweise der Frühsommer, und ich stellte mich bei sämtlichen Freunden und Familienangehörigen für die Gartenarbeit zur Verfügung. Mit den Händen die Erde umzugraben, Unkraut zu jäten und mich dabei körperlich auszupowern, waren die besten Methoden, mich wieder mit meinem eigenen Körper in Verbindung zu bringen. Wann immer sich mir die Möglichkeit bot, so intensiv wie möglich mit oder an der Erde zu arbeiten, ergriff ich sie. Diese haptische Erfahrung, das Berühren von trockener oder feuchter Erde, das Riechen der Blumen, des Grases, der Anblick der blühenden Blumen und Sträucher, das Summen der Bienen und die Laute der Spechte und Amseln, all das lenkte meine Aufmerksamkeit weg von der Angst hin in die Gegenwart, ins Hier und Jetzt. Zur selben Zeit fing ich an, auch im übertragenen Sinne Unkraut zu jäten. Auch dafür war es jetzt an der Zeit.

Erdung – so wurde mir klar – ist dringend notwendig, wenn wir unsere Ängste in den Griff bekommen wollen. Ängste beziehen sich hauptsächlich auf die Zukunft. Sind wir nicht in unserem Körper verankert und achtsam bei dem, was wir gerade tun, tragen uns unsere Ängste hinaus aus unserem Körper und hinein in eine gedankliche Vorstellung der Zukunft. Die Angst, blind zu werden, entsprach nicht meinem tatsächlichen gegenwärtigen Gesundheitszustand. Mein Augenarzt hatte mir gesunde Augen diagnostiziert. Ich aber war voller Angst, dass ich durch das Flimmern erblinden könnte. Genauso wie ich vorher immer gedacht hatte, ich könnte einen Kunden verlieren, wenn ich länger Urlaub machte.

Dass es sich bei der Zukunft allerdings nur um einen Gedanken handelt, realisieren wir nicht in dem Moment, wenn unsere Ängste uns peinigen. Eckhart Tolle, einer der wichtigsten konfessionslosen spirituellen Lehrer, der das JETZT, das Sein im gegenwärtigen Augenblick, als die Befreiung von allem Leid sieht, hat es in einem Interview folgendermaßen ausgedrückt: »Bei der Zukunft handelt es sich nur um eine Gedankenform. Keiner hat die Zukunft jemals getroffen. Wenn sie kommt, dann ist sie wieder der gegenwärtige Moment. Aber das realisieren die meisten Menschen nicht, egal in welchen Lebensumständen sie sich befinden.«1