Die APPwendung - Franklyn Foxx - E-Book

Die APPwendung E-Book

Franklyn Foxx

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  • Herausgeber: epubli
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2024
Beschreibung

Wir schreiben das Jahr 2028 - die Menschen wollen sich nicht mehr vorschreiben lassen, was sie glauben sollen. Kirchenaustritte und Missbrauchsskandale zwingen den Vatikan dazu, eine Kirchenreform in Deutschland zu initiieren. Ein erzkatholischer Bischof, eine desillusionierte Ordensfrau und ein machthungriger Generalvikar nutzen die Reform, um noch mehr Macht zu erlangen und Reichtümer anzuhäufen. In diesen Zeiten des Wandels geht eine junge Berliner Studentin einen anderen Weg. Sie erfindet eine Glaubens-App, gründet ein Start-up-Unternehmen und ermöglicht es Menschen ihren individuellen Glauben zu finden und zu gestalten. Der Vatikan setzt im Wettbewerb um Gläubige stoisch auf seine Reformbemühungen, die Erzkonservativen auf den Hinzugewinn von Macht und das Start-up auf die virale Verbreitung seiner Apps.

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Seitenzahl: 523

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Ähnliche


Die APPwendung

Ein Roman von Franklyn Foxx

Impressum

Texte:

© Copyright by Franklyn Foxx

Umschlaggestaltung / Foto:

© Copyright by Franklyn Foxx

Kontakt:

Franklyn Foxx

c / o AutorenServices.de

Birkenallee 24

36037 Fulda

E-Mail:

[email protected]

Druck:

epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Inhalt

Vorwort

Prolog

1. Teil

Platzregen

Ansagen

Klostergespräche

Die Idee steht am Anfang

Licht

Rosenstock

Gleichung mit einem Unbekannten

Ein Abschied auf Zeit

Montagmorgen

Montagabend

Anweisungen

Rollentausch

2. Teil

Konspirativ

Mutterglück

Perspektiven

Ein Netz ohne doppelten Boden

Report

Deal

Genial einfach – einfach genial

Zugeständnisse

Grundsätze

Im Flow

A2

Upload

Gefahrenpotenzial

Goldener Oktober

Kopfschmerzen

Endlichkeit

3. Teil

Rückenwind

Auf geheimer Mission

Erfahrungswissen

Gut verpackt

Offene Augen

Angriff

Krisenmodus und Erkenntnisse

Heiligabend

Über den Dächern

Sondierung zum Jahreswechsel

Analyse und Planung

Feuerwerker

Sicherheit

4. Teil

Upgrade

Kontaktaufnahme

Ganz nah

Anstellungsverhältnis

Aufbruchstimmung

FDL-App

High End

Abendessen

Back in time

Vibrationsalarm

VIPs

Lieferservice

5. Teil

On the road

Der Zukunft voraus

Handwerkskunst

Quartalsranking

Bad news and good news

Lebendig

Glückserfahrung

Erntezeit

Viva il Vaticano

Provinz

Zu dritt

Simon beginnt

Entrückt und verzückt

Rabea souverän

Alte Schule

Seelenhygiene

6. Teil

Raumschiff Enterprise – neue Folgen

Routine

Am Fenster zum Domhof

On the road again

Teamgeist

Matching

Zur Audienz im Vatikan

Pest oder Cholera

Silvester

Neujahr in Amstelveen

Am Drücker

Vollgas

Qualität

Volle Kraft voraus

Sag es mit Blumen

7. Teil

Gewölbe

Wandel

Von Tieren lernen

Tagesgeschäft

Nachtschicht

Workflow

Großer Bahnhof

Kontrolle

Überraschung

Kooperation

Außer Kontrolle

Zeitungsmeldung

Sinnstiftend

Frohe Kunde

Gottes Worten lauschen

Vorwort

Wenn Gott ein Start-up wäre, hätten wir dann auf unserem Blauen Planeten eine neue Perspektive oder gar eine Vorstellung von einer Gesellschaft, die sich den Herausforderungen der Zukunft stellen kann? Wir wissen es nicht. Wir können uns vielleicht eine zukunftsfähige Vision unserer Gesellschaft vorstellen. Die Frage, wie wir einen Weg dorthin gestalten können, lässt sich dagegen deutlich schwerer beantworten.

Eine Studentin, erzkonservative Kirchenmänner, ein neuer Papst und eine Ordensfrau haben ganz unterschiedliche Vorstellungen davon, wie und wohin sich unsere Gesellschaft im Jahr 2028 entwickeln soll. Ihre Visionen konkurrieren dabei in unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten und an unterschiedlichen Orten. Sie alle setzen sich mit Glaubensfragen, Haltungen und Werten in unserer Gesellschaft aktiv auseinander. Dies ist insbesondere der Studentin vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Wandels und der globalen Klimaerwärmung ein besonderes Anliegen. Sie erfindet eine App und gründet im Jahr 2028 ein Start-up in Berlin.

Der Roman spielt in einer Zeit, in der die Katholische Kirche und allen voran der Vatikan den Trend der Kirchenaustritte mit Reformen umkehren möchte. Ein neuer Papst konfrontiert die verfasste Kirche in Deutschland mit seinen revolutionären Ideen. Er will erzkonservative Würdenträger dazu zwingen, sich den wahren Glaubensfragen des 21. Jahrhunderts zu stellen. Die ewig Gestrigen wehren sich gegen die Reformen und verfolgen stattdessen Ziele, die sie immer verfolgt haben – es geht ihnen um Geld und noch mehr Macht.

Dieser Roman trägt den Anspruch in sich, eine Utopie für unsere Gesellschaft zu entwickeln. Er verbindet diese Utopie mit fünf zentralen Fragestellungen, die miteinander korrespondieren und im Roman zu einer Geschichte verschmelzen:

‚Was geschieht, wenn Kirche erkennt, dass sie den Menschen dienen soll und nicht umgekehrt?‘

‚Welche Voraussetzungen sind zu erfüllen, damit Menschen ihren Glauben und ihre Werte frei und selbstbestimmt leben können?‘

‚Was geschieht, wenn erzkonservative Mächte der Kirche sich eine Reform zunutze machen, um ihren Vorteil, ihre Macht und ihren Einfluss auf andere Menschen zu mehren?‘

‚Was geschieht, wenn unterschiedliche Systeme miteinander konkurrieren und gläubige Menschen selbst entscheiden, was für sie gut und richtig sein kann?‘

‚Welche Voraussetzungen sind zu erfüllen, damit Menschen für sich und andere ein gutes Leben realisieren können?‘

Akteure, Orte, Bezeichnungen und Ereignisse in diesem Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig. Personenbezeichnungen beziehen sich, sofern nicht anders kenntlich gemacht, auf alle Geschlechter.

Prolog

Edmund saß an seinem massiven Schreibtisch aus Eichenholz und starrte auf die Schwarz-Weiß-Aufnahme im silbernen Bilderrahmen neben dem Briefbeschwerer mit Siegel seines Bistums. Die Fotografie seines verstorbenen Schäferhundes Anton passte für Edmund zum übrigen Interieur seines Arbeitszimmers im zweiten Stock des bischöflichen Generalvikariats. An den kalkweißen Wänden waren Bilder von Heiligen aufgereiht, zu denen er einen persönlichen Bezug hatte. Unter ihnen Antonius von Padua, der Schutzpatron für die Notleidenden, denen weltliche Gegenstände abhandengekommen waren. Judas Thaddäus, der bei aussichtslosen Anliegen angebetet wurde, und Alexius von Edessa, der kranken, siechenden und verarmten Gläubigen Hoffnung spenden konnte. Ein dunkler, wuchtiger Tisch aus Mooreiche mit acht Stühlen stand auf gemusterter Auslegware inmitten des Raums. Vom Schreibtisch aus blickte Edmund auf ein massives Wandregal mit Reliquien, Büchern und verschlossenen Regalelementen. Für ihn war dieser Raum ein Refugium, das eine Haltung ausstrahlte. Tradition, Ehre und Gradlinigkeit.

Anton, sein vierbeiniger Gefährte, war für Edmund der Inbegriff für Agilität, Ästhetik und Freundschaft. Das Tier hatte ihm über zehn Jahre lang die Treue gehalten. Anton war in dieser Zeit sein einziger Freund gewesen. Es war die Zeit, in der die katholische Kirche von immer neuen Missbrauchsskandalen und einer tiefgreifenden Glaubenskrise in ihren Grundfesten erschüttert wurde. Anton war die Konstante in Edmunds Leben, bis er im Juni beim Apportieren seinen Gummiball verschluckte. Auf der Wiese hinter dem nahe gelegenen Klostergarten hörte niemand Edmunds verzweifelte Rufe, bis eine Spaziergängerin auf ihn aufmerksam wurde und einen Notruf absetzte.

Der herbeigerufene Tierarzt konnte nur noch den Tod des Tieres feststellen und Edmund fühlte sich, als hätte man ihm den Boden unter den Füßen weggezogen. Anton war nun schon zwei Wochen beim Herrn, doch Edmunds Trauer und Schmerz waren immer noch allgegenwärtig.

Edmund mochte keine Überraschungen und begegnete Veränderungen stets mit großer Skepsis. Er benötigte immer einen genauen Planungshorizont, um effizient handeln und wirken zu können. Auch deshalb stand neben seinem neuen immer noch das Telefon seines Vorgängers auf dem Schreibtisch. Es war ein graues Telefon mit beigefarbenen Hör- und Sprechmuscheln, Wählscheibe und rotem Knopf. Der Knopf leuchtete entweder auf, wenn jemand aus dem Vatikan anrief, oder wenn ein Mitglied seiner Bruderschaft, die offiziell nicht existierte und zu keiner Zeit existiert hatte, ernsthafte Probleme hatte. Zum letzten Mal hatte der Knopf vor wenigen Wochen geleuchtet. Es war der Tag, an dem er die Nachricht vom plötzlichen Tod des Vertreters Gottes auf Erden aus dem Vatikan erhalten hatte. Edmund war jetzt über zwölf Jahre als Generalvikar für sein Bistum verantwortlich und hatte in seiner Amtszeit zwei Bischöfe kommen und gehen sehen. Sein Büro im Generalvikariat befand sich in unmittelbarer Nähe des jahrhundertealten, kathedralartigen Gotteshauses gotischer Baukunst, das aufgrund seiner imposanten Erscheinung in der Bevölkerung und über die Bistumsgrenzen hinweg nur als Dom bezeichnet wurde.

Seine Persönlichkeitseigenschaften, seine erzkonservative Grundhaltung, seine Zielstrebigkeit und seine Prinzipientreue qualifizierten Edmund für bedeutende Aufgaben in der Katholischen Kirche. Dessen war er sich bewusst. Und noch etwas zeichnete ihn mehr als seine Kollegen in benachbarten Bistümern aus, seine Kämpfernatur und ein unbändiger Wille. Edmund verstand es, Menschen einzuschüchtern und mit Repressalien gefügig zu machen. Sein Aufstieg zum Generalvikar und engsten Vertrauten des amtierenden Bischofs war kein leichter Weg gewesen.

Er hatte über viele Jahre der Katholischen Kirche gedient. Nunmehr diente er nur noch sich selbst und einer elitären Geheimloge, in der er sich mittlerweile den Rang eines Wächters erarbeitet hatte. Er musste auf seinem Weg zum Generalvikar lernen, Menschen für sich zu gewinnen. Er musste lernen, Menschen zu manipulieren, um sie für höhere Ziele begeistern und wenn nötig auch brechen zu können.

Nach dem Abitur am Katholischen Gymnasium erlernte er den Beruf eines Kaufmanns. Die Zahlen beherrschte er und es fühlte sich für ihn noch besser an, wenn er über Menschen herrschen konnte. Bereits während seines Theologiestudiums übte er sich im Intrigenspiel und in der psychologischen Kriegsführung. Das Gesetz des Stärkeren war für ihn weniger subtil, es war vielmehr die Ausgangsbasis für den Wettbewerb um die Gunst Gottes und seiner Vorgesetzten. So war es für ihn eine logische Konsequenz, dass er als Stärkerer Macht über Menschen ausüben und Reichtümer anhäufen konnte. Ein strafender Gott komplettierte Edmunds Wertesystem, mit dem es ihm immer wieder gelang, Menschen für sich arbeiten zu lassen. Das fühlte sich gut und richtig für Edmund an. Waren es doch gerade diese Werte, die das System Kirche über die vielen Jahrhunderte gegen alle Widerstände absicherten. Edmund wusste ganz genau, wo sich die Hebel befanden, um Kontrahenten niederzuringen, Menschen gefügig zu machen und Unterlegene zu demütigen. Der Umstand, dass dieses kirchliche System immer noch verlässlich funktionierte, gab nicht nur Edmund, sondern auch allen anderen Würdenträgern seines Schlages das Gefühl, einzigartig, auserwählt und privilegiert zu sein. Edmund stellte ab und an fest, dass er für diesen Weg einen Preis hatte zahlen müssen. Mitleidig schaute er auf seinen Bauchansatz und wusste um seine Handicaps. Ihm war klar, dass er Menschen weniger über seine äußere Erscheinung, sondern eher über die Ausübung von Druck, Verunsicherung, Verschlagenheit und einen wachen Geist für sich gewinnen konnte. Seine Anwesenheit erweckte bei einigen Menschen gelinde gesagt negative Assoziationen und sogar angsteinflößende Gedanken. Das war insbesondere bei zwei hochbetagten Seniorinnen im benachbarten kirchlichen Altenheim der Fall. Die beiden fast hundertjährigen Damen bekreuzigten sich jedes Mal bei seinem Anblick, vermutlich weil er eine gewisse Ähnlichkeit zu einem SS-Arzt aus dem Konzentrationslager Dachau aufwies. Beim Besuch der Gedenkstätte war Edmund während einer Gruppenführung mit den Bewohnerinnen des Altenheims eine Aufnahme aus dem Jahr 1942 aufgefallen. Ein großformatiges Bild der Ausstellung zeigte das Krankenrevier des KZ, in dem zu dieser Zeit ein SS-Arzt grausame medizinische Experimente an Häftlingen durchführte. Der Mann mit weißem Kittel, der einen Patienten behandelte, ähnelte Edmund wie ein eineiiger Zwilling. Dies erstaunte selbst Edmund, schockierte ihn aber keineswegs. Die beiden Frauen entdeckten die Schwarzweißaufnahme vom Behandlungszimmer fast zeitgleich und starrten ihren Generalvikar daraufhin entsetzt an. Edmund schaute betroffen und zog die Schultern nach oben. Auf der Rückfahrt zum Altenheim setzten sich die beiden Seniorinnen im Bus auf Plätze mit dem größtmöglichen Abstand zu ihm. Edmund winkte ihnen aufmunternd zu und sah, dass sich ihre Blicke in den Fußraum senken.

Er war sich sicher, dass Menschen, denen er begegnete, seine Fähigkeiten nicht ansatzweise einschätzen und erkennen konnten. Als Sohn eines Buchhalters und einer Erzieherin fühlte er sich zeit seines bisherigen Lebens unterschätzt. Und das war gut so.Es ärgerte ihn nicht, im Gegenteil dachte er sich stattdessen, dass er stets einen Vorteil aus der Geringschätzung anderer ziehen konnte. Die eigene gespielte, demütige Zurückhaltung nutzte er, um Menschen zu täuschen. Edmund war klar, dass seine eigentliche Bestimmung noch vor ihm lag.

Er war sich sicher, dass Gott einen Plan für ihn hatte.

„Herr, ich bin bereit, weitere Opfer zu bringen. Deine Medizin muss bitter schmecken, wenn sie helfen soll …“, murmelte Edmund leise vor sich hin, bevor der hohe Klingelton des Telefons mit Wählscheibe schrillte und ihn aus seinen Gedanken riss.

Der rote Knopf leuchtete, ohne Zweifel. Edmund hob den Hörer ab und meldete sich mit „Generalvikar Edmund Burgstaller am Apparat … Wie kann ich helfen?“

1. Teil
Platzregen

Berlin im Juli 2028

Helena war an diesem Samstagnachmittag auf dem Weg zu ihrem Lieblingscafé unweit des Alexanderplatzes in Berlin. Der Berliner Sommer des Jahres 2028 wurde ihren Erwartungen ebenso wenig gerecht wie das zweite Semester ihres Studiums. Die Lehre der Sozialpädagogik hatte sie sich weitaus spannender vorgestellt. Sie schaute in den bewölkten Himmel und fühlte sich wenig auf das vorbereitet, was da durch erste dicke Regentropfen auf sie zukam. Diese Erkenntnis wies für Helena gewisse Parallelen zur letzten Statistik-Klausur an der Uni auf. Doch nur wenige Stunden später sollten das Wetter und die bisherigen Prüfungen an der Uni für sie keine Rolle mehr spielen.

Helena freute sich auf ihr Treffen mit Finn. Sie plante mit ihm einen gemeinsamen Urlaub in Venlo nahe der niederländisch-deutschen Landesgrenze. Die Semesterferien kamen den beiden dabei ebenso entgegen wie die neue TÜV-Plakette für Finns alten Ford Transit. Er hatte den umgebauten Transporter von seinen Eltern, die in der Nähe von Amsterdam eine kleine Bio-Bäckerei betrieben, übernommen.

In Amstelveen wurden in den 2020ern wie in vielen Teilen der Niederlande umfangreiche Maßnahmen für den Hochwasser- und Küstenschutz durchgeführt. Durch den Klimawandel und das Abschmelzen der Polkappen war der Meeresspiegel allein in den vergangenen sechs Jahren um dreiundzwanzig Zentimeter angestiegen. Von der niederländischen Nordseeküste bis hoch nach Dänemark mussten Strandabschnitte und Häfen durch Geröllaufschüttungen, Spuntwände und Sperrwerke gesichert werden. Ingenieurinnen und Ingenieure für den Hochwasserschutz wurden unter anderem in Amstelveen ausgebildet. Die Bio-Bäckerei von Finns Eltern lag keine fünfhundert Meter vom Uni-Campus entfernt. Finn hatte vor wenigen Monaten sein Sozialmanagement-Studium an einer Hochschule in Nordrhein-Westfalen abgeschlossen. Der umgebaute Camper war ein Abschlussgeschenk seiner Eltern. Seitdem war Finn ständig mit dem Transit unterwegs und bereits mehrere Male bei Helena. Es passte daher, dass er im September seinen ersten Job im Controlling einer Einrichtung für Menschen mit Handicaps in Berlin Neukölln antreten wollte.

Helena hatte Finn im Sommer auf einem Musikfestival in Düsseldorf kennengelernt. Sie war mit zwei Freundinnen zum Open-Air-Festival angereist. Auf einem Campingplatz nahe dem Rheinufer traf sie am Vorabend des Events auf den blauäugigen Holländer. Helena und ihre Freundinnen wunderten sich über den olivgrünen Ford mit gelbem Kennzeichen neben ihrem Zelt. Das Anzünden der Grillkohle wollte ihnen einfach nicht gelingen, nur gut, dass Finn spontan seine Hilfe anbot. Während des gemeinsamen Abendessens verfestigte sich bei Helena ein nachhaltigsympathischer Eindruck von ihrem fast gleichaltrigen Gast.

Ein Mann der Feuer machen konnte. Bei gegrilltem Feta, Würstchen und Gemüsespießen fragte Helena Finn, wie er die Holzkohle zum Glühen gebracht hatte. Finn lehnte sich nach hinten und lächelte.

„Du kennst doch den Kinofilm ‚Cast Away‘ mit Tom Hanks in der Hauptrolle … So oder so ähnlich machen wir Männer das.“ Auf Helenas erneute Nachfrage konterte Finn: „Das bleibt mein kleines Geheimnis, weil Magier ihre Zaubertricks nicht verraten.“ Er zwinkerte Helena zu und stieß lachend mit den drei Berlinerinnen an.

Am darauffolgenden Tag standen Helena und Finn gemeinsam vor der Festivalbühne. Sie lauschten unter wolkenlosem Himmel den Psychedelic-Klängen der Nachwuchsbands, die auf dem Festivalgelände einen Hauch von Woodstock verbreiteten. Diese Musikrichtung war für Helena ebenso vertraut wie inspirierend. Ihren Vater hatte sie vor neun Jahren nach einem Verkehrsunfall, ihre Mutter nach schwerer Krankheit vor eineinhalb Jahren verloren. Beim wöchentlichen Hausputz hatten Helena und ihre Mutter zu den Stücken von Janis Joplin, Grateful Dead, Jimmy Hendrix und Bob Dylan getanzt. Das waren bewegende Kindheitserinnerungen. Die Platten ihrer Eltern aus der Flower-Power-Zeit hatte Helena inzwischen digitalisiert.

Auf dem Festival in Düsseldorf war die Stimmung elektrisierend. Finn und Helena ließen sich durch die Klangbilder der Konzertbands, das gute Wetter und die kollektive Begeisterung treiben. In den darauffolgenden Wochen trafen sich Helena und Finn mehrmals in Berlin. Zwischen den beiden entwickelte sich eine Freundschaft, von der sich Finn wohl wünschte, dass sie sich auch körperlich weiterentwickeln würde. Helena schätzte Finn und da war mehr als nur Sympathie. Über seine Gefühle zu ihr war sie sich jedoch nicht ganz sicher. Finn sah in Helena einen ganz besonderen Menschen. Er wollte jedoch nichts überstürzen. Schließlich sollte Helena selbst erkennen, dass sie beide füreinander bestimmt waren.

Vor einer Unterführung erkannte Helena den parkenden Ford. Bis zum Café waren es nur noch knapp hundertfünfzig Meter, als sich der Himmel öffnete und dicke Regentropfen auf sie niederprasselten. Völlig durchnässt erreichte sie das Café. Finn lächelte ihr hinter der Fensterscheibe zu und winkte.

„Die nassen Haare stehen dir gut.“

„Danke für das Kompliment.“

Helena zwinkerte ihm zu und setzte sich.

Im hinteren Bereich des gut besuchten Cafés liefen die News des Tages über einen Großbildmonitor.

„Was möchtest du trinken?“

„Ich nehme ein Bitter Lemon, Finn. Hast du heute schon die Nachrichten gesehen?“

Helena drehte sich zum Monitor, an dessen Lautstärkeregler sich die Bedienung zu schaffen machte.

„Meinst du die Sturmwarnung für die Nordseeküste oder die Pressekonferenz von Papst Clemens?“ Finn schaute über Helenas Schulter hinweg auf den Bildschirm. Dort waren Ausschnitte der Pressekonferenz aus dem Vatikan vom Vortag in einer zehnminütigen Endlosschleife zu sehen. Papst Clemens erläuterte Medienvertretern seine Reformgedanken für die Katholische Kirche.

„Der neue Papst will, dass die deutschen Bistümer eine Pilotfunktion für seine Reform übernehmen“, sagte Helena, „die Kirche will zukünftig Gläubige über Seelsorgeeinheiten und neue Serviceangebote zurückgewinnen. Sie will den Trend der Austritte umkehren.“

„Na, wenn das nicht mal zu spät ist“, entgegnete Finn und sah, wie vor der Fensterfront des Cafés ein schwarzer Lieferwagen abrupt stoppte. Mitten in ihrer Unterhaltung flog mit einem lauten Knall die Eingangstür auf. Das Geräusch berstender Scheiben erfüllte den Innenraum des Cafés. Zwei dunkel gekleidete Männer mit Sturmhauben stürzten hinein und richteten ihre Pistolen auf ein Pärchen vor dem Verkaufstresen. Einer der Maskierten schlug mit seiner Waffe auf den Tresen und brüllte: „Du und deine Freundin, ihr steigt jetzt sofort in den Lieferwagen oder es wird hier einen blutigen Nachmittag geben!“ Zeitgleich fesselt der andere Maskierte den circa fünfzigjährigen Mann und seine wesentlich jüngere Begleiterin mit Kabelbindern. Er zerrte sie an den Handgelenken Richtung Ausgang und stieß das Pärchen in den dunklen Innenraum des Transporters. Noch ehe die Cafébesucher das Geschehen vollends realisieren konnten, war dieser surreale Moment auch schon wieder vorbei. Mit quietschenden Reifen flüchteten die Maskierten samt ihrer Geiseln im Lieferwagen und ließen die geschockten Gäste und Angestellten im Café zurück.

Knapp zehn Minuten vergingen bis zum Eintreffen der Einsatzkräfte, die den Tatort und augenscheinliche Spuren sicherten. Helena und Finn gaben wie die übrigen Zeugen ihre Aussagen zu Protokoll. Die ermittelnden Beamten nahmen Personalien auf und wiesen die Gäste an, dass sie sich in den nächsten Tagen zur Verfügung halten sollten.

„Den Nachmittag mit dir habe ich mir irgendwie anders vorgestellt“, bemerkte Finn beim Verlassen des Cafés. Glasscherben knirschten unter seinen Schuhen.

„Lass uns zu mir gehen, Finn, und wir holen uns auf dem Weg gebratene Nudeln aus dem Red Dragon … Ich möchte dir gern von meinen Gedanken erzählen, die mir seit Tagen durch den Kopf gehen.“

Ansagen

Rückblende - Deutsche Bischofskonferenz im Juni 2028

Bischof Reimund Brockmeier saß am Montagmorgen des 10. Juli 2028 in der hintersten Stuhlreihe der Deutschen Bischofskonferenz. Er verfolgte im kirchlichen Kongresszentrum die Präsentation von Monsignore Gianluca Carletta. Der hagere Italiener, der akzentfreies Deutsch sprach, war einer der höchsten Kurienbeamten des Vatikans. Was der Gesandte des Heiligen Stuhls heute zu verkünden hatte, sollte Reimund und den meisten seiner Kollegen noch die Sprache verschlagen und zum Schwitzen bringen. Gianluca Carletta referierte zur Entwicklung der Kirchenaustritte in Deutschland. Dazu veranschaulichte er den Negativtrend anhand statistischer Daten aus den Jahren 2017 bis 2024. Er zeichnete ein düsteres Zukunftsszenario, in dem sich selbst die letzten gläubigen Christen von der Kirche abwenden würden.

Auf einer der Folien widmete er sich der Ursachenforschung für den Mitgliederschwund in den deutschen Bistümern. Erhebungen einer Katholischen Hochschule in Deutschland deuteten auf einen kausalen Zusammenhang zwischen den Austritten, dem schwindenden Vertrauen in die Kirche und dem Fehlverhalten, der Ignoranz und der Machtversessenheit kirchlicher Würdenträger hin. Der päpstliche Gesandte unterlegte seine Theorien mit signifikanten Ergebnissen aus der vorliegenden Langzeitstudie. Seine Ausführungen führten zu ersten Unmutsäußerungen und einer aufgeheizten Stimmung im stickigen Konferenzraum. Bischof Reimund lockerte sein Kollar, tupfte sich mit einem Stofftuch die Stirn trocken und spülte Mund und Kehle mit gekühltem Tafelwasser. Aus den Reihen der anwesenden Kollegen, Diözesan-Administratoren und Weihbischöfe war der Zwischenruf ‚Fake-News‘ zu vernehmen.

„Mit diesen Reaktionen habe ich gerechnet, meine Brüder … Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass sich die Menschen von unserer Kirche abwenden … Das kann niemand hier im Raum leugnen und deshalb stehe ich heute hier.“ Gianluca Carletta leitete mit strengem Blick zur nächsten Folie seiner Präsentation über.

„Die gute Nachricht ist: Es ist noch nicht zu spät! Dieser Trend lässt sich umkehren … Und zwar, indem wir alle zu Dienstleistern Gottes werden … Jesus hat das schon in seiner Bergpredigt angesprochen … Und deshalb, meine Brüder, sind Reformen, der Dienst an den Gläubigen und praktizierte Nächstenliebe die zentralen Herausforderungen einer zukunftsfähigen Kirche.“ Gianluca hatte den Satz noch nicht beendet, als heftige Reaktionen aus dem Kreis der katholischen Würdenträger zu vernehmen waren.

„Neumodischer Quatsch“ und „blinder Aktionismus“ waren noch die harmlosesten Kommentierungen für eine Agenda, die Carletta unbeirrt und stoisch über zwei weitere Folien verteidigte. Er bezeichnete die Reform als notwendige und unumstößliche Entscheidung. Seine Miene verfinsterte sich, als die Zwischenrufe nicht aufhörten. Doch Gianluca ließ sich nicht beirren, ballte die Finger seiner linken Hand zu einer Faust und schlug mit ihr krachend auf das Rednerpult.

„Meine Brüder, wir brauchen eine glaubwürdige und wahrhaftige Seelsorge. Wir brauchen eine mitfühlende Begleitung der Gläubigen und das können wir nur als Gottes Dienstleister schaffen.“

‚Dieser durchtriebene Schurke … Als ob sie ihren Job nicht verstünden‘, ging es Bischof Reimund durch den Sinn. Er zückte sein Handy, um sich die aktuelle Folie abzufotografieren. Auf der Leinwand war eine Karte der Bundesrepublik Deutschland zu sehen, auf der die bisherigen Bistümer zu drei Service-Seelsorgeeinheiten - Nord-, Mittel- und Süddeutschland - zusammengefasst wurden. Monsignore Carletta sah in die entgeisterten Gesichter und schlug unvermittelt versöhnlichere Töne an.

„Um es gleich vorwegzunehmen … Es behalten alle hier Anwesenden ihre Ämter und Funktionen … Es ist uns darüber hinaus gelungen, euch jeweils einen Übergangsmanager aus der global operierenden Managementagentur Palontex Enterprises für die Realisierung der Reform zur Seite zu stellen … Nur so werden wir das Vertrauen der Menschen zurückgewinnen … Der Heilige Vater vertraut auf die Unterstützung seiner deutschen Bischöfe, Ordensleute und kirchlichen Angestellten.“ Der Monsignore hielt kurz inne. Als nur verhaltener Widerstand aus den hinteren Stuhlreihen zu vernehmen war, ergänzte er: „Selbstverständlich steht es jedem der hier Anwesenden frei, sein Amt zur Verfügung zu stellen und zukünftig als Missionar das Wort Gottes zu den Menschen in die Welt hinauszutragen.“

Nach der ersten Schockstarre meldete sich Bischof Heinrich Maria Mollenhauer aus der ersten Stuhlreihe.

„Wir haben eine Wortmeldung … Sprich Bruder Heinrich Maria, wir wollen dein Anliegen hören.“ Der Gesandte des Papstes nahm eine interessierte und zugleich lauernde Haltung ein.

„Wir lassen uns nicht vorschreiben, was wir zu tun und zu lassen haben. Über eine Reform kann man ja grundsätzlich nachdenken, aber dieser verordnete Umbruch ist nicht von heute auf morgen zu realisieren. So einen Schritt kann man den älteren, verdienten Kollegen in diesem Raum wohl kaum mehr zumuten“, brachte der Bischof mit Entrüstung hervor. Auf Carlettas Schweigen hin erfasste eine sonderbare Stille den Raum, die sich wie eine Ewigkeit anfühlte. Gianluca Carletta neigte den Kopf leicht zur Seite und lächelte.

„Der Heilige Vater hat Verständnis für deine Bedenken und deshalb möchte er dich als Berater an seiner Seite wissen. Du wirst mit Ablauf dieses Monats im Vatikan diesen Wandel mitbegleiten.“ Bischof Heinrich Maria wurde blass, hielt kurz inne und schrie dem päpstlichen Gesandten wutentbrannt entgegen: „Und wer soll dann die Reform in meinem Bistum umsetzen?“

Heinrich Maria war aufgesprungen und ging einen Schritt auf das Rednerpult zu. Alle im Raum spürten, dass eine Eskalation wohl nicht mehr aufzuhalten war.Gianluca nahm sein Glas mit Wasser, trank einen Schluck, und winkte einen Gast zu sich, der das Rednerpult zeitgleich mit Heinrich Maria erreichte. Auge in Auge standen sie sich gegenüber. Heinrich Maria war irritiert, machte auf dem Absatz kehrt und ging zurück zu seinem Stuhl.

„Wir haben hier jemanden aus dem Orden des Lichte Jesu, der für die nächsten Monate und vielleicht auch Jahre deine Aufgaben übernehmen wird.“ Heinrich Maria setzte sich mit hochrotem Kopf und rang nach Luft. Als er den durchdringenden Blick des Mannes in der Mönchsrobe registrierte, wechselte seine Gesichtsfarbe in den Farbton der gekalkten Wände. Seine Mundwinkel sanken nach unten. Mit dem Ärmel seines Jacketts wischte er sich den Schweiß von der Stirn. Als Bruder Johannes seine Kapuze vom Kopf zog, ging ein Raunen durch die Stuhlreihen. Sein Schädel war kahl rasiert, das Gesicht ausdruckslos und seine Statur war die eines durchtrainierten Athleten – ein Mann, den niemand im Raum kannte. Bischof Reimund dachte sich, dass diese düstere Erscheinung wohl auch niemand näher kennenlernen wollte. Jetzt war es auch dem letzten Anwesenden klar: Widerstand war zwecklos und die Karten waren neu gemischt worden. Zweifelsohne befanden sich ab heute die Asse im Ärmel des Monsignores.

„Liebe Brüder, euch erreicht in den nächsten Tagen ein Schreiben des Papstes mit seinen Instruktionen zur Reform. In den kommenden Wochen werden wir euch für diese Aufgabe Manager der Firma Palontex Enterprises zur Seite stellen. Seid frohen Mutes und preiset den Herrn! Der Heilige Vater in Rom setzt all seine Hoffnung in euch. Und nun gehet in Frieden.“ In der Stille des Raumes waren Resignation und Verzweiflung deutlich zu spüren. Heinrich Maria Mollenhauer stützte sich auf zwei Kollegen, weil ihm seine Beine keinen sicheren Stand mehr garantierten. Mit gesenkten Köpfen und versteinerten Blicken verließen die Teilnehmer der Bischofskonferenz das Seminarhaus in Richtung der angrenzenden Stellplätze, wo ihre Fahrer in den Dienstwagen bereits warteten.

Als seine Kollegen vom Hof fuhren, war Reimund schon auf der Autobahn und wählte die Nummer seines Generalvikars Edmund Burgstaller. Dieser Mann war seine persönliche Exekutive und ein langjähriger Weggefährte. Generalvikare waren in den Bistümern und Diözesen unter anderem für die kirchlichen Finanzen verantwortlich, die sie mit einem Stab von kirchlichen Verwaltungsmitarbeitern managten. Nach dem vierten Klingeln nahm Edmund ab.

„Hallo Reimund, ich habe schon auf deinen Anruf gewartet. Hat dich der Papst nach Rom berufen oder hat es einen anderen Kollegen getroffen?“

Reimund war überrascht.

„Edmund, woher weißt du, was wir hier gerade gehört und gesehen haben?“

„Kurz vor deinem Anruf war Kardinal Giuseppe Bergomi in der Leitung. Er sagte mir, dass der Gesandte des Papstes euch heute eine schwer verdauliche Kost auftischen wollte. Er sprach von einer Reform, ohne dabei konkret zu werden.“

„Edmund, wir werden die Gunst der Stunde nutzen!

Wir werden stärker aus dieser Reform hervorgehen als meine senilen Mitbrüder … Wir werden genau das tun, was der Vatikan nicht von uns erwartet … In den nächsten Tagen bekommen wir Besuch von einem Manager, der vom Vatikan beauftragt wurde … Um den werden wir uns kümmern … Edmund, ruf Schwester Giselberta an und sag ihr, dass sie sich auf einen besonderen Übernachtungsgast einstellen kann … Für uns beginnt jetzt eine neue Zeitrechnung. Ich bin in einer Stunde wieder am Domhof und wir müssen reden.“

Die News seines Bischofs überraschten Edmund nicht. Er lehnte sich zurück, nahm den Abreißkalender von der Wand und warf ihn gekonnt in den Papierkorb neben seinen Schreibtisch.

„Reimund, so wirds gemacht. Im Kühlschrank stehen noch Käse- und Wurstplatten vom gestrigen Empfang der polnischen Delegation. Wein hole ich uns aus dem Keller.“

„Okay, wenn du meinst, Edmund.“Reimund amüsierte sich darüber, dass für Edmund das leibliche Wohl stets Priorität hatte. Er schüttelte den Kopf und ging nicht weiter darauf ein, weil er merkte, wie sich Kopfschmerzen ankündigten. Nun wollte er nur noch heil zu Hause ankommen.

„Edmund, und mach mir doch bitte eine heiße Zitrone.“ Reimund beendete das Telefonat abrupt. Edmund hörte ein Klack am anderen Ende der Leitung. Reimund würde seine heiße Zitrone bekommen und er selbst sich eine Flasche Dornfelder aus der letzten Lieferung ihres Winzers genehmigen.

Reimund lenkte seinen Dienstwagen, den er höchst selten selbst steuerte, nach den Anweisungen seines Navigationsgerätes durch mehrere Baustellen und eine Umleitung Richtung Heimat. Er hasste es regelrecht, nicht von seinem Fahrer oder von Edmund chauffiert zu werden. Hinter dem Lenkrad fragte er sich nicht zum ersten Mal, warum sich eigentlich LKW-Fahrer fast täglich auf diese Tortur einließen.

Klostergespräche

Kongregation des Marienordens im August 2028

Im Innenhof der Klosteranlage unweit des Domhofs stand ein steinerner Brunnen. Auf dessen Rand saß ein Meisenpärchen und putzte sich das Gefieder. Von einer Bank aus sah Schwester Giselberta, die Oberin des Klosters, dem geschäftigen Treiben der Meisen zu und freute sich über die eher seltene Gelegenheit des Müßiggangs. Ihr Tagesablauf bestand größtenteils aus der Sorge um ihre Mitschwestern, der Kontrolle der Bediensteten und der Leitung des Klosters. In der Regel waren es Tage, die morgens um fünf Uhr begannen und abends um zehn endeten. Die wenigen Pausen nutzte sie, um im Klostergarten und im Innenhof Ruhe und Ablenkung zu finden. Dazu kamen eine zweiwöchige Exerzitienzeit in Südtirol und eine einwöchige Auszeit für den Besuch bei ihrer pflegebedürftigen Tante – Jahr für Jahr war sie in diesem immer wiederkehrenden Rhythmus gefangen. Dabei hatte sie nach der Oberschule gern Erziehungspädagogik studieren wollen. Ihr Vater hatte andere Pläne für sie gehabt. Die Turmuhr, die zum Mittagsgebet, der Hore, schlug, riss Giselberta aus ihren Gedanken. Sie musste sich beeilen, weil sie heute ihre Mitschwester Sigrid im Rollstuhl zur Klosterkapelle fahren musste. Danach stand das gemeinsame Essen in der Ordensgemeinschaft an, das die Bediensteten aus der Küche im schmucklosen Speisesaal servierten. Heute würde sich Giselberta nach dem Essen nicht zur Mittagsruhe zurückziehen, da sich am Vorabend Generalvikar Edmund bei ihr gemeldet hatte. Beide kannten sich bereits über viele Jahre. Edmund, der ihr Neuigkeiten mitteilen wollte, hatte sich für dreizehn Uhr mit ihr in der Sakristei der Klosterkirche verabredet. Nach der Hore und dem gemeinsamen Mittagessen ging die Oberin direkt zur Sakristei, deren schwere Eichentür bereits einen Spalt breit geöffnet war.

Vor einem bunten Bleiglasfensterbogen stand Edmund und betrachtete das Farbenspiel einer Szene der Bergpredigt Jesu.

„Gott zum Gruße, Edmund.“

„Gott zum Gruße, liebe Schwester“, antwortete er und umarmte sie wie ein Familienmitglied.

Giselberta mochte Edmund, weswegen ihr die Umarmung nicht unangenehm war.

„Was führt dich zu mir, Edmund?“

„Die Arbeit, meine Liebe. Du wirst sicher schon die Meldungen aus Rom gehört haben“, bemerkte Edmund mit nachdenklicher Miene.

„Ja, da haben sich Papst Clemens und einige seiner Kardinäle Gedanken gemacht, wie sie sich den Zugriff auf abtrünnige Brüder und Schwestern sichern können.“

„Nicht ohne Auswirkungen auf unser Bistum oder, besser gesagt, die neue Seelsorgeeinheit Mitteldeutschland“, erwiderte Edmund.

„Der Vatikan wird uns einen professionellen Aufpasser vor die Nase setzen und deshalb bin ich hier. Erinnerst du dich noch an den Kirchenrechtler, der die angeblichen Missbrauchsfälle in unserer Klosterschule untersuchen wollte? Bei seinen Recherchen hast du ihn und uns mit Schwester Elisabeth unterstützt.“

„Ja, damals haben wir unserem verstorbenen Bischof den Hals gerettet und mit seinem großzügigen Dank konnten wir unseren Innenhof samt Brunnenanlage sanieren.“

Edmund grinste, worauf Giselberta ihn skeptisch ansah.

„Wie geht es Elisabeth, ist sie immer noch so liebreizend?“

Er merkte, das Giselberta angespannt war und wusste, dass sie jederzeit in den Angriffsmodus umschalten konnte.

„Was erwartet der Bischof jetzt von uns?“

„Du bekommst deine Instruktionen und es soll nicht zu deinem und nicht zum Schaden des Klosters sein“, Edmund hatte seinen Satz noch nicht beendet, als Schwester Elisabeth die Sakristei betrat und in zwei überraschte Gesichter sah.

„Komme ich ungelegen? Ich kann die gebügelten Messgewänder auch später in die Schränke hängen.“

Edmund sah Giselberta an und antwortete konziliant:

„Nein Schwester Elisabeth, das ist wohl heute deine Aufgabe und wir haben uns hier gerade geeinigt.“

Edmund verabschiedete sich von den Ordensfrauen.

„Euch beiden einen schönen Tag … Und der Herr sei mit euch.“

Die Idee steht am Anfang

Berlin im Juli 2028

Helenas Wohnung lag im Dachgeschoss eines Mietshauses aus den Siebzigerjahren. Der Gebäudekomplex war rund hundert Meter von der S-Bahn-Station entfernt. Die Wohnung war bezahlbar und ihr Balkon glich einer grünen Oase inmitten grauer Innenhoffassaden. Helena hatte ohne Zweifel einen grünen Daumen. Ihre Tomaten besaßen bereits Kultstatus in der Nachbarschaft. Das lag vor allem an der Komposterde einer kleinen Gärtnerei vor den Toren Berlins und den Lichtverhältnissen, die besser nicht hätten sein können.

Finn und Helena saßen umgeben von Pflanzen in zwei Korbsesseln, aßen die gebratenen Nudeln aus dem Red Dragon und tranken ein Glas Merlot dazu.

„Was für ein verrückter Nachmittag. Das war alles so surreal, oder?“, fragte Finn Helena und schaute in seine Box mit Nudeln und Bambussprossen.

„Es ging alles so schnell und hat sich angefühlt wie in einem Agententhriller im Kino.“ Helena fragte sich, wie es sich wohl anfühlte, entführt zu werden, und trank einen Schluck Wein.

Die beiden stießen auf den Moment an und schauten über die Dächer der Nachbarschaft.

„‚Warte nicht auf das Glück, sondern nimm es in die eigenen Hände‘, steht in meiner Nudelbox. Was steht denn in deiner?“

Helena drehte die Box und las „‚Welchen Wert besitzen die Dinge, die man nicht besitzt?‘“

„Darüber lässt sich vortrefflich philosophieren und ich frage mich gerade, wie du diese Wohnung mit Balkon eigentlich gefunden hast?“

„Mein Praktikum bei einem ambulanten Pflegedienst hat mich zu einer älteren Dame geführt, deren Sohn der Eigentümer dieser und der Wohnung unter mir ist.“ Helena rief dieser Augenblick ins Bewusstsein, dass man etwas nicht besitzen musste, um Freude daran zu haben. Beide beobachteten, wie sich die Sonne auf die benachbarten Wohnhäuser senkte.

Helena dachte an ihre Mutter, die ihr bei der Einrichtung der Wohnung geholfen hatte. Ihre Mutter hatte damals mit ihrem Lebensgefährten, einem erfolgreichem spanischen Buchautor, in einer kleinen Finca im Landesinneren Andalusiens gelebt. Mutter und Tochter sahen sich seit dem Umzug der Mutter zwar seltener, aber via Video-Call hatten sie bis zu Helenas letztem Besuch fast täglich in Kontakt gestanden. Helena war klar, dass sie Durchsetzungsstärke gepaart mit den sozialen Genen ihrer Eltern besaß. Wie ihre Mutter verstand sie es, sich mit einem festen Willen und einer natürlichen Autorität gekonnt gegenüber Menschen abzugrenzen, die ihr nicht guttaten. Irgendwann reifte diese Erkenntnis in ihr und sie fasste den Vorsatz, sich mehr mit den Menschen zu befassen, die ihr guttaten. Ihre Freunde erlebten sie interessiert, großherzig und als Quell einer besonderen Inspiration.

Mit Finn verband sie Leidenschaft und Liebe zur Musik. Helena verbrachte einen Großteil ihrer freien Zeit im Internet und in ausgesuchten Plattenläden. Raritäten aus den Genres Blues, Soul, Psychedelic Rock und klassischer Musik hatten es ihr angetan. Sie hatte Freude daran andere Menschen mit fast unbekannten Musikstücken zu überraschen. Durch die offene Balkontür hörten sie George Winstons „Living In The Country“. Diese Musik schmeichelte Helenas Ohren.

Finn, der rhythmisch den Kopf hin und her bewegte, schien das melodische Klavierstück zu gefallen. „Gefällt dir, oder?“, fragte Helena und stieß mit ihm auf die gemeinsame Zeit an.

„Sehr cool hier oben und das nicht mal zwei Kilometer vom Alex entfernt“, stellte Finn fest und ließ seinen Blick über Helenas grüne Oase in den eher tristen Innenhof schweifen. „Meine Eltern in Amstelveen haben sich viele Jahre um den Garten eines Priesters in der Nachbarschaft gekümmert. Das Obst und die Beeren hat meine Ma eingekocht. Die Zwetschgen, Kirschen und Johannisbeeren kamen als Kuchenbelag gut bei den Kunden unserer kleinen Bäckerei an. Pfarrer René van der Kerkhoff ist vor zwei Jahren leider viel zu früh gestorben. Er lag unter seinem Kirschenbaum und der Arzt diagnostizierte plötzliches Herzversagen. Da war er gerade mal zweiundsechzig Jahre alt. Er war ein feiner Mann, ein Freigeist, ein Menschenfreund und großer Denker.“

„And only the good die young“, bemerkte Helena nachdenklich und musste wieder an ihre Eltern denken.

„Du sagst es“, erwiderte Finn, „welchen Plan hat der Boss mit Menschen, die wirklich etwas bewirken und dann doch so früh sterben?“

„Vielleicht findest du eine Antwort, wenn du das mal aus einer anderen Richtung siehst“, schlug Helena vor und Finn blickte sie fragend an.

„Was meinst du, Helena? Denkst du etwa, Gott holt besondere Menschen zu sich, weil er andere Pläne mit ihnen hat?“

„Ja, das denke ich, und außerdem glaube ich, dass er Menschen zu sich ruft, die in ihren Systemen augenscheinlich scheitern oder ihrer Zeit voraus sind.“

„Aber das ergibt doch gar keinen Sinn. Wenn Gott sie eigentlich in dieser Welt braucht, um notwendige Veränderungen herbeizuführen … Warum sollte er ihnen eine andere Aufgabe geben?“

Helena lächelte Finn in dem Bewusstsein an, dass ihr gerade diese Gespräche den Zugang zu einer Welt verschafften, in der ihre Bestimmung lag.

Einer Welt, die sich mit dem beschäftigte, was Menschen berührte und was ihre Individualität ausmachte.

„Bevor ich dir darauf eine Antwort gebe, sei so lieb und hol doch bitte die zweite Flasche Wein aus der Küche … Und bring bitte noch das Windlicht links neben der Balkontür mit raus.“

Finn schaute Helena in die Augen und sagte mit einem Zwinkern: „Dein Wille geschehe.“

Als Finn wieder auf den Balkon trat und den Wein auf den Tisch stellte, bemerkte er, wie Helena die Wolkengebilde am Himmel betrachtete und in Gedanken versunken war.

Er setzte sich und sagte nach einer Weile: „Gedanken sind wie Wolken, sie kommen zu dir und du lässt sie wieder ziehen … Oder sitzt du gerade auf einer Wolke?“

„Gerade sitze ich auf einer Wolke, von der aus ich unsere Gesellschaft beobachte. Die Welt zeigt uns jeden Tag, dass wir uns Regeln unterwerfen und oftmals die Rollen spielen, die sich andere für uns ausdenken. Wir jagen den Vorgaben und der Meinung anderer hinterher, die selten mit unseren Wünschen, Werten und Überzeugungen korrespondieren. Das kann nicht das Leben sein, was wir uns selbst und für andere Menschen vorstellen“, erklärte Helena. „Hast du dir das mal durch den Kopf gehen lassen?“

„Da stimme ich dir zu“, sagte Finn, „und ich finde, dass sich unsere Gesellschaft dabei in eine bedenkliche Richtung bewegt. Privilegierte und elitäre Kreise halten die Fäden in der Hand. Sie suggerieren immer mehr Menschen, welche Dinge erstrebenswert und welche Normen einzuhalten sind.

Schau mal auf die Wirtschaft, die Bedarfe künstlich erschafft, wo eigentlich keine sind. Wer braucht ein teures Bartpflege-Set oder einen batteriebetriebenen Kleinkind-SUV? … Niemand! … Und niemand fragt die Menschen, was sie wirklich brauchen und was sie sich wünschen.“

„Da sind wir einer Meinung. Ich denke, die Antwort auf diese Entwicklung kann mehr Freiheit für uns selbst und das eigene Denken sein. Und ich meine damit wirkliche Freiheit. Freiheit im Glauben und in der Anwendung persönlicher Werte.“

„Kannst du es für mich noch ein wenig konkreter machen?“ Helena hatte Finns Neugier geweckt.

„Ich meine, dass jeder Mensch ein Recht auf einen individuellen Glauben und ein individuelles Wertesystem haben sollte. Jeder sollte seinen Entwurf von einem guten Leben für sich und andere auch tatsächlich umsetzen können“, erklärte Helena und zündete die Kerze im Windlicht an.

„Aber das geht vermutlich nicht, weil diese Gesellschaft und die vorherrschenden Systeme nicht dafür bereit sind“, konterte Finn und war auf Helenas Antwort gespannt.

„Und wenn es doch geht, Finn? Wenn diese Veränderungen von Menschen mitgetragen werden, die sich frei im Denken organisieren und austauschen? Wenn das möglich ist, können Menschen die ihnen auferlegten starren, moralischen und rollenspezifischen Fesseln sprengen“, sagte Helena und Finn schaute sie fragend an. Sie verteidigt ihre Idee wie eine Löwin ihren Nachwuchs, ging es Finn durch den Sinn als sie sich mit ihren Händen durch die Haare fuhr.

„Alles okay? Was ist mit dir, Helena?“

Finn legte seine Hand auf ihren Unterarm.

„Ach, du wirst mich für verrückt halten, wenn ich dir sage, was mir durch den Sinn geht und dass ich an den Mitschnitt der Pressekonferenz aus dem Vatikan denke.

Im Laufe unseres Gesprächs sehe ich es jetzt ganz klar und deutlich vor mir. Ich habe eine Vision, von der ich dir gern erzählen möchte.“

Finn schaute in ihre Augen. Helena nahm in diesem Moment wahr, dass ihre Gefühle für ihn echt waren. Sie sahen gemeinsam die Sonne hinter Berlins Dächern untergehen.

„Na, dann freue ich mich, dass auch ich ein Teil deiner Gedanken sein darf“, bemerkte Finn nach einer Weile und verstummte, als Helena aufstand, seine Hand nahm und sagte: „Wir sprechen morgen weiter, okay? Heute habe ich erst mal andere Pläne mit dir.“ Sie umarmte ihn und als sie sich küssten, spürten beide, wie die ersten Schmetterlinge in ihnen aufstiegen.

Licht

Der Sonntagmorgen befand sich bereits im Übergang zum Mittag, als Finn die Geräusche der Kaffeemaschine aus Helenas Pantryküche weckten. Der Duft von frischem Kaffee flutete die Dachgeschosswohnung. Mit dem ersten Blinzeln sah er Helena mit hochgesteckten Haaren in der Küche stehen, neben ihr ein Tablett mit Aufbackbrötchen, Kaffeetassen, Saftgläsern, zwei gekochten Eiern und einem Korb mit diversen Marmeladen und Honig. Finn rieb sich die Augen. Das musste ein Traum sein. Noch vor vierundzwanzig Stunden fehlte ihm die Gewissheit, dass sich die Freundschaft zu Helena zu einer Liebesbeziehung entwickeln würde.

Als Helena merkte, dass Finn wach war, drehte sie sich zu ihm um. „Wie hast du geschlafen?“

„Danke, immer noch gut, und ich sehe in meinem Traum eine liebreizende Fee, die uns gerade ein Frühstück zubereitet.“

Helena lächelte und zwinkerte ihm zu. Es fühlte sich echt und wahrhaftig an. Ohne jeden Zweifel, da war etwas, das sie verband.

„Im Bad liegt ein Handtuch für dich. Die Fee wird sich derweil schon mal einen Kaffee eingießen.“

Als Finn geduscht auf den Balkon heraustrat, dachte er, dass er es sich in diesem Traum ganz gut einrichten könnte.

„Das war ein schöner Abend mit dir, Helena. Ich danke dir für dein Vertrauen.“

„Nachdem du das Casting bestanden hast, konnte ich mir ziemlich sicher sein, dass es mit uns funktioniert.“

„Das freut mich. Das Gefühl hatte ich schon an unserem ersten Abend vor dem Festival am Rhein“, stellte er fest und nahm die Kaffeetasse in beide Hände. Er liebte diesen Duft.

„Der Kaffee scheint wohl nicht aus dem Supermarktregal zu stammen, der riecht wie frisch geröstet.“

„Da liegst du richtig! Hundert Prozent African-Arabian-Coffee-Röstung aus dem Kaffeekontor am Prenzlauer Berg“, antwortete Helena stolz und bestrich ihre Brötchenhälfte mit Quark und Blaubeermarmelade. Entspannt lehnte Finn sich zurück und kostete den Kaffee mit etwas Milch. Was war das für ein herrlicher Sonntag.

„Wir haben gestern über individuelle Freiheit und über deine Gedanken, vielen Menschen einen Zugang zu dieser Freiheit zu ermöglichen, gesprochen. Möchtest du mir etwas mehr dazu sagen?“, fragte Finn und nahm sich ein warmes Brötchen aus dem Korb. Helena zeigte über den Innenhof auf das gegenüberliegende graue Mietshaus.

„Schau mal auf das oberste Fenster im Nachbarhaus, Finn. Siehst du die zurückgezogene Gardine und das Kissen auf der Fensterbank neben dem Vogelkäfig?“

„Ja, ich sehe es. Wer wohnt da?“

„Da wohnt Max Lichte, ein pensionierter Lehrer. Sein Tag besteht unter anderem daraus, an diesem Fenster am Leben seiner Mitmenschen teilzuhaben. Im Käfig sitzt ein Spatz, den er mit gebrochenem Flügel vor der S-Bahn-Station gefunden hat. Im Prinzip sitzen beide im Käfig. Max geht nicht so oft vor die Tür und ich treffe ihn manchmal im Innenhof, wenn er seine Einkäufe nach oben bringt. Er ist einsam. Ich habe ihm schon mal eine Papiertüte mit meinen Balkontomaten in seinen Fahrradkorb gelegt. Er wusste, dass sie von mir waren, und wir winken uns manchmal von unseren Lieblingsplätzen aus zu. Max bekommt keinen Besuch. Ein wenig weiß ich bereits von ihm und er fragt immer interessiert, wie es mir geht und was ich so mache. Ich bin sicher mit ganz wenigen anderen Menschen quasi der einzige Nachweis seiner Existenz.

Wir haben uns auch schon auf diesem Balkon ausgetauscht.

Er ist eine beeindruckende Persönlichkeit, Sozialethiker und verfügt über eine hohe soziale Kompetenz.Das Internat, in dem er über fünfunddreißig Jahre Religion, Geschichte und Deutsch unterrichtet hat, wurde vor drei Jahren geschlossen und Max ging in den vorzeitigen Ruhestand. Die Schulleitung hat ihm zum Abschied eine dunkelblaue Keramikschale mit Obst und eine Monatskarte für den ÖPNV geschenkt. Über viele Jahre hat er junge Menschen unterrichtet. Er hat sie für sozialethische Fragestellungen sensibilisiert und sich für gesellschaftliche Werte stark gemacht. Unsere Gesellschaft schiebt diese Menschen in die Rente ab, sie sortiert sie aus. Sie leistet sich den Luxus, auf das Erfahrungswissen heller Köpfe zu verzichten. Ich meine damit ein riesiges Wissensreservoir und unsere soziale DNA. Beides liefert uns zukünftig womöglich Antworten auf den Klimawandel und gesellschaftliche Entwicklungen! Sein Dienstgeber hat seine Pensionierung vermutlich mehr als finanzielle Entlastung angesehen und weniger als einen Verlust von Identität. Finn, wie können wir es schaffen, diese Menschen weiterhin an der Gesellschaft teilhaben zu lassen, ihr Wissen nutzbar zu machen und von ihren Fähigkeiten zu lernen?“ Helena ging im gleichen Moment durch den Sinn, dass diese Aspekte in ihrem Studiengang faktisch ausgeblendet wurden.

„Indem man ihnen eine Aufgabe und eine Stimme gibt?!“

„Was Max Lichte zu sagen hat, wird nur wenige Menschen erreichen. Es sei denn, jemand schafft die richtigen Zugänge, über die sich alle Max Lichtes dieser Welt in einer Community organisieren und an den Herausforderungen unserer Zeit mitarbeiten.“ Finn sah das Leuchten in Helenas Augen und spürte, dass ihre Idee das Potenzial besaß, die Welt zu verändern.

„Sag mir, was dir durch den Kopf geht“, forderte Finn sie auf und bemerkte, wie in diesem Moment Max Lichte von seinem Fenster aus hinüberwinkte. Helena und Finn standen auf und winkten zurück.

Helena wandte sich zu Finn: „Jeder Mensch hat das Recht, seinen individuellen Glauben frei und ohne Zwänge leben zu können. Wobei Glauben nicht immer etwas mit Wissen zu tun hat. Spiritualität und unser Glauben sind Bestandteile unserer DNA. Wenn wir unsere DNA zusätzlich mit Wissen und Erfahrungen anreichern, wird das die Menschen und unsere Gesellschaft verändern. Es geht mir dabei um einen freien Glauben, der keinen religiösen Doktrinen unterworfen ist. Ich meine eine Alternative zu Systemen, die über Menschen bestimmen wollen, sie einschüchtern oder in zugewiesene Rollen zwingen.

Finn, wir brauchen eine App. Wir brauchen jemanden, der programmieren kann. Wir brauchen Geld und Unterstützer, um möglichst vielen Menschen die Chance zu geben, ihre individuellen Werte und Glaubensgrundsätze zu leben. Vielleicht ist es meine Bestimmung, diese Idee zu verwirklichen.“

Finn strich ihr sanft über die Wange und küsste sie auf die Stirn.

„Das ist es, Helena … Und ich bin dein erster Unterstützer.“

Rosenstock

Bischofssitz im August 2028

Bischof Reimund stand mit einer halb heruntergebrannten Zigarette in der Hand im Domhof und starrte auf eine Lücke im Efeu an der hohen Steinmauer, die das Domgelände vom benachbarten Kloster trennte. Die Lücke sah aus wie ein Fenster, durch das man nicht blicken konnte. Diese Assoziation führte ihn direkt zu dem, was ihm und Edmund am kommenden Montag bevorstand. Die Ankunft des Zuges mit dem Palontex-Manager war für 10:35 Uhr auf Gleis 4 im Bahnhof des Erzbistums zu erwarten. Robert Friedrich, das war der Name des Mannes, dem sie ihren Stempel aufdrücken mussten. Es gab für Reimund keinen Zweifel. Nur er und sein Generalvikar würden als Gewinner der Reform die Kontrolle behalten und ihre Macht ausbauen können.

Mehr Informationen lagen Reimund über seinen Gast zu diesem Zeitpunkt nicht vor. Edmunds kircheninterne Recherchen hatten ergeben, dass die Firma Palontex Enterprises bekannt dafür war, dass sie die Identität ihrer Mitarbeiter weder ihren Auftraggebern preisgab noch gegenüber anderen Dritten öffentlich machte. Das gehörte offensichtlich zum Kodex des kirchennahen Unternehmens.

Reimund nahm die Kordel seines Messgewandes in die Hand und wickelte sie um den rechten Mittel- und Zeigefinger. Es war ein Ritual und eine lieb gewonnene Gewohnheit, um Gedankenspiralen zu unterbrechen und sein Gemüt zu beruhigen. Die morgige Aufgabe erforderte höchste Konzentration und Präzision. Wenn er allein für sich war, konnte Reimund zweifelsohne emotionslos und äußerst präzise handeln, aber im Fall dieses Managers war er auf seine Bruder- und Schwesternschaft angewiesen.

Edmund hatte seine Instruktionen erhalten. Bei Schnittchen und Wein hatten die beiden nach seiner Rückkehr von der Bischofskonferenz einen Plan ausgearbeitet, der sie zum Erfolg führen sollte. Es gab jedoch ein nicht zu unterschätzendes Risiko im Vergleich zu erprobten Maßnahmen und bekannten Akteuren: Die Zielperson war ein gänzlich unbeschriebenes Blatt für den Bischof und seinen Generalvikar.

Der dritte Schlag der Marien-Glocke im Turm der Kathedrale holte den Bischof aus seinen Gedanken. Er sah, wie auf dem Parkplatz die ersten Besucherinnen und Besucher der heiligen Messe zum Fest Mariä Himmelfahrt eintrafen. Hinter dem Rosenstock an der Sakristei war Reimund nicht zu erkennen, ihm selbst entging dagegen nicht die kleinste Bewegung auf dem Domhof. Er löschte seine Zigarette im Sand des Rosenstocks und betrat die Sakristei, wo sich die Messdiener mittlerweile auf die Messe und den Einzug in den Dom vorbereiteten. Sein Aushilfsküster polierte emsig seinen silbernen Bischofsstab.

„Danke, das reicht, guter Mann“, sprach Reimund den Mann, der über das Jobcenter vermittelt worden war, an und nahm sich den Stab.

„Sehr gern, Herr Seelsorgementor Reimund.“

Reimund beugte sich zu dem einen Kopf kleineren Aushilfsküster hinab und schaute ihm grimmig in die Augen.

„Was war das eben?“

Wie meinen Sie … Ähhm … Herr Seelsorgementor?“

„Sie sprechen mich mit Herr Bischof oder hochwürdigste Exzellenz an. Generalvikar Edmund sprechen Sie mit Herr Generalvikar oder mit hochwürdigster Prälat an. Ist das bei Ihnen angekommen?“

„Ja, aber Papst Clemens hat doch …“

„Wer steht Ihnen hier gegenüber, Mann? Wir handhaben das mit den Anreden und Titeln in meinem Erzbistum traditionell. Besser Sie gewöhnen sich ebenso schnell wie alle anderen daran.“

„Ähhm, ich wusste nicht …“

„Unwissenheit lässt sich nur durch Bescheidenheit und Gelehrigkeit entschuldigen. Die beiden letztgenannten Eigenschaften haben Sie hier noch nicht gezeigt. Schweigen Sie still, Mann!“ Reimund ließ seinen eingeschüchterten Bediensteten mit einer abweisenden Handbewegung stehen. Er ging in den Nebenraum und zog sich sein Gewand an. Dabei murmelte er vor sich hin: „Dieser Einfaltspinsel wird nicht wissen, dass das Zitat von Friedrich dem Großen stammt. Sind das etwa deine kleinen Prüfungen, oh Herr? Wenn ja, werde ich die Unwissenden erhellen und auf einen Weg lenken, der dir wohlgefällt.“

Beim Einzug in das Hochamt des Doms bekreuzigte sich Reimund und sprach in Gedanken ein Gebet:

‚Herr im Himmel … Mit deiner Hilfe werden wir diese Kirche erneuern … und zwar so, dass sie uns zum Vorteil gereicht‘.

Gleichung mit einem Unbekannten

Edmund stand auf Bahnsteig 4 und beobachtete, wie der ICE aus Ulm in den Bahnhof einfuhr. Für einen Montag standen dort nur wenige Menschen, was vermutlich an den Sommerferien lag. Wagen 9 im Abschnitt D, diesen Bereich musste Edmund im Auge behalten. Der Zug hielt mit quietschenden Bremsen, das anschließende Zischen sich öffnender Türen war nicht zu überhören. Pendler und Geschäftsreisende verließen den Zug und zogen mit ihren Trolleys an Edmund vorbei. Kein Robert Friedrich weit und breit. Zusteigende Fahrgäste verschwanden im Zug, der sich auf das Signal des Zugpersonals hin wieder in Bewegung setzte. Edmund zückte sein Mobiltelefon, schaute in seine Nachrichten und überprüfte die Ankunftsdaten: Bahngleis, Bahnsteigabschnitt, Tag, Zug-Nummer und Ankunftszeit … alles passte. Er hielt kurz inne, als er einen Schatten auf dem Display seines Handys bemerkte, und drehte sich um.

„Sie warten sicher auf mich, Herr Generalvikar. Ich wollte Sie nicht erschrecken“, sprach ihn ein dunkel gekleideter Mann mit Kinnbart und Sonnenbrille an.

„Dann sind Sie Herr Friedrich? Ich habe Ihr Eintreffen in diesem Abschnitt hier erwartet“, erwiderte Edmund, der seine Überraschung nicht verbergen konnte.

„Mein Arbeitgeber zahlt uns bei unseren kirchlichen Auftraggebern ein Upgrade für die erste Klasse. Dort können wir uns intensiver auf besondere Aufgaben vorbereiten.“

Edmund fragte sich, wie die Instruktionen dieses Mannes wohl aussahen.

„Willkommen in unserem schönen Erzbistum. Der Bischof und ich freuen uns auf ihren Besuch“, antwortete Edmund konziliant mit einem breiten Grinsen.

„Ich freue mich ebenfalls, auch wenn ich Ihnen als Gast nicht allzu lang zur Last fallen werde“, entgegnete Robert Friedrich oder wer auch immer dieser Mann war. Edmund war sich nicht sicher und seine Intuition sagte ihm, dass zumindest der Name dieses Mannes nicht mit seinem südeuropäischen Erscheinungsbild korrespondierte.Das ungleiche Paar ging die Treppen zur Bahnhofshalle hinab und nahm den Weg zum Hinterausgang. Am Taxistand parkte der Dienstwagen des Domkapitels. Edmund öffnete mit seinem Funkschlüssel den Kofferraum.

„Hier ist Platz für Ihren Koffer. Der Beifahrersitz lässt sich mit den Tasten rechts unten individuell einstellen.“

Edmund setzte sich hinters Steuer.

„Standesgemäß und komfortabel“, bemerkte Robert Friedrich lächelnd, nachdem das Gepäck verstaut war und er auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte.

„Der Herr kümmert sich auch um seine Hirten. Das können schließlich nicht viele Angestellten über ihre Arbeitgeber sagen“, antwortete Edmund und grinste noch breiter.

Die Anzahl und Größe der Goldkronen im Kiefer des Generalvikars deuteten für Robert Friedrich darauf hin, dass man sich im Bistum nicht nur um das Thema Mobilität kümmerte, sondern auch um das Erscheinungsbild seiner Repräsentanten sorgte. Der Taxifahrer, dessen Taxi direkt hinter der Limousine wartete, half einer älteren Dame beim Einsteigen, startete seinen Wagen und fuhr grüßend an Edmund und seinem Gast vorbei.

Robert Friedrich vermied es, den Satz ‚Ihr seid hier gut vernetzt, sitzt in euren Elfenbeintürmen und ahnt nicht, was in wenigen Wochen über euch hereinbrechen wird‘ laut auszusprechen.

„Bitte anschnallen und genießen Sie die Fahrt“, sagte Edmund und drückte auf den Startknopf der 480-PS-Limousine. Nach weniger als zehn Minuten erreichten sie den Domhof. Als sie auf den Parkplatz rollten, war ein Gärtner damit beschäftigt, die Blumenbeete von Löwenzahn und Flechten zu befreien. Bischof Reimund höchstpersönlich stand im Eingang und deutete mit einer Handbewegung an, dass ihm die eintreffende Limousine samt Fahrer und Beifahrer willkommen waren.

„Gott zum Gruße, Herr Friedrich. Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Reise.“

„Ich grüße Sie, hochehrwürdiger Bischof, und freue mich, hier zu sein. Ich habe durch den hochwürdigsten Herrn Generalvikar schon eine kurze Stadtführung im Dienstwagen genießen dürfen.“

Robert Friedrich lächelte und setzte seine Sonnenbrille ab. Reimund und Edmund sahen sich an und hatten den gleichen Gedanken – dieser Mann hatte sich auf seine Aufgabe vorbereitet.

„Das ist ja hervorragend. Wir wollen, dass Sie sich bei uns wohlfühlen. Nach dem Mittagessen können wir uns gern im Priesterseminar, das fußläufig wenige Minuten von hier entfernt liegt, austauschen. Oder wünschen Sie, erst ein wenig zu ruhen?“, fragte Reimund seinen Gast.

„Das wird nicht nötig sein, aber vielen Dank für dieses Angebot“, erwiderte dieser und drehte sich um, um sein Gepäck zu holen.

„Oh bitte, überlassen Sie das doch uns“, sagte der Bischof, „wir haben Ihnen ein schönes Zimmer im Kloster hinter dem Domhof reserviert. Die Ruhe dort wird Ihnen guttun und der Ausblick in den Garten und die Grünanlagen wird Sie begeistern. Und glauben Sie mir, unsere Oberin, Schwester Giselberta, versteht es, ihre Gäste zu bewirten und für einen angenehmen Aufenthalt zu sorgen. Im Übrigen dürfen Sie uns gern mit Bischof Reimund und Generalvikar Edmund ansprechen.“

„Dann bleibt mir wohl nur, Danke zu sagen, Bischof Reimund.“ Robert Friedrich fragte sich kurz, warum der Bischof mit seinem letzten Satz seinen Generalvikar aus dem Augenwinkel heraus angeschaut hatte.

„In unserer Bibliothek gleich rechts im Eingangsbereich haben wir Erfrischungsgetränke für Sie vorbereitet … Unsere Bediensteten werden Sie dann zum Essen in den Speisesaal führen.“

„Meinen Koffer benötige ich dennoch … Ich würde mich gerne ein wenig frisch machen“, entgegnete der Palontex-Manager und ließ sich von Edmund den Kofferraum öffnen.

„Na dann, bis zum Mittagessen. Den Sanitärbereich finden Sie gleich neben der Bibliothek.“ Wieder waren Edmunds breites Grinsen und die Edelmetallkronen zu sehen.

„Danke, sehr freundlich von Ihnen.“ Robert Friedrich war sich in diesem Moment sicher, dass dem Generalvikar dieses Grinsen noch vergehen würde.

Ein Abschied auf Zeit

Berlin im Juli 2028

Finn genoss seinen Kaffee neben Helena auf dem Balkon. Beide sahen in den wolkenlosen Himmel über Berlin. Vereinzelt waren dort Tauben auf ihren Rundflügen zu sehen.

Gerade heute wollte Helena ihren Freund nicht gehen lassen. Am Wochenende hatten sich eine tiefe Vertrautheit und noch engere Bindung eingestellt. Die Zeit mit Finn war für Helena leidenschaftlich und geistreich zugleich. Helena sah ihm in die Augen, nahm die Hand ihres Freundes und lächelte ihn an.

„Du wirst sicher bald fahren müssen. Wie lang fährst du von hier aus zu deinen Eltern?“

Finn blickte auf die Uhr. In sieben Stunden wurde er bei seinen Eltern in Amstelveen zum Abendessen erwartet.

„Wenn ich gleich losfahre, werde ich am frühen Abend dort sein. Nochmals danke für dieses schöne Wochenende, Helena. Ich wünschte, ich könnte hier noch die Tage bis zu unserem Urlaub verbringen, aber die beiden sind in den nächsten Tagen auf meine Hilfe angewiesen. Es stehen schließlich die Vorbereitungen zur zilveren bruiloft, ähm, auf Deutsch zur Silbernen Hochzeit an“, kam es Finn viel schwerer über die Lippen als erwartet.

„Wow, fünfundzwanzig Jahre, was für eine Leistung. An der du ja auch nicht ganz unbeteiligt bist. Ich finde das wirklich beeindruckend und hätte mir gewünscht, dass meine Eltern dieses Glück auch gehabt hätten.“

Helena stand auf und umarmte ihn.

„Fahr bitte vorsichtig und grüß deine Eltern unbekannterweise von mir. Wir sehen uns dann in knapp einer Woche. Den Transit kannst du am Samstagabend im Innenhof abstellen. Der Versandhandel fängt dort erst montags um acht Uhr mit dem Rangieren der Lieferwagen an. Dort können wir den Camper auch besser beladen. Ich freu mich auf unseren Urlaub und auf unser neues Projekt!“

„Ich freu mich auch! Auf dich, die gemeinsame Zeit und auf unser Vorhaben. Pass auf dich auf, Helena.“

Finn nahm sie in den Arm und küsste sie auf den Hals, was sie erregte und gleichzeitig zum Kichern brachte.

„Deine Bartstoppeln kitzeln! Und jetzt verschwinde, ich wink dir noch vom Balkon“, sagte sie mit einem Augenzwinkern und ließ ihn gehen.

Als Helena wenig später ihre Balkonflanzen goss, bemerkte sie Max und bedeutete ihm mit einer Handbewegung, das Fenster zu öffnen.

„Hi Max, ich habe schwarze Johannisbeeren für dich! Die schmecken trotz der vielen Regentage sehr gut.“

„Lieb, dass du an mich denkst, Helena“, hallte es aus dem gegenüberliegenden Fenster zurück.

„Kannst du sie mir in den Fahrradkorb legen oder soll ich sie bei dir abholen?“

„Komm doch morgen Abend gegen sechs zu mir. Ich möchte dich eh gern nach deiner Meinung zu einer Idee fragen“, rief Helena winkend. Ihr wurde im gleichen Moment klar, dass sie sich mit Finn und ihrer Idee in einem regelrechten Flow befand. Es fühlte sich fantastisch an und niemand würde sie so leicht von dem abbringen können, was sich in den zurückliegenden Stunden und Tagen in ihrem Kopf manifestiert hatte – ein erfolgreiches Start-up, das Apps vermarktete, die Menschen zu einem selbstbestimmten Leben verhalfen.

„Na, dann bis morgen“, rief Max über den Innenhof und winkte zurück.

Montagmorgen

Berlin im August 2028

Der Radiowecker zeigte 7:30 Uhr, als Nick von Linkin Parks „Burn It Down“ geweckt wurde. Nicht, dass er den Song nicht mochte, nur dieser Tag und der Gedanke an das, was ihm am heutigen Vormittag bevorstand, lösten leichtes Unbehagen in ihm aus.

Die gesungenen Textpassagen der Acapella-Version waren bezeichnend für Nicks Gefühlslage. Er fragte sich, warum er gerade heute so aufgewühlt war und dieser Termin auf seinem Gewissen lastete? Was wäre, wenn er den Wecker ausschalten und einfach weiterschlafen würde, so wie in den Wochen zuvor? Nicks Gamer Community würde es nicht erfahren und genauso wenig interessieren. Seine Mutter war da schon eine andere Instanz. Wie sollte er es ihr beibringen, wenn er ein weiteres Vorstellungsgespräch verpasste?

Nick überlegte, ob er noch stichhaltige Argumente finden konnte, um sein Vorstellungsgespräch bei der SecMediaLux GmbH zu versäumen. Stattdessen plagten ihn die Erwartungshaltung seiner Mutter, einer dreiundfünfzigjährigen alleinerziehenden Büroangestellten, und seine chronischen Geldprobleme. Diese Gedanken konnten fadenscheinige Ausreden weder aufwiegen noch verdrängen. Dessen war sich Nick bewusst. Je länger er nachdachte, desto weniger konnte er mögliche Ausreden in Halbwahrheiten ummünzen. Menschen, die er längst aus seinem Gedächtnis gelöscht hatte, meldeten sich mit Botschaften, die er nicht hören wollte.

„Nick, mein Freund, du musst jetzt langsam mal aus dem Knick kommen“, hörte er in diesem Moment seinen ehemaligen Sportlehrer sagen.

Nick seufzte, sprang aus dem Bett und sagte sich, dass nach der Dusche immer noch genug Zeit war, um eine passende Ausrede zu finden. Auch unter der Dusche fiel ihm nichts Glaubhaftes ein, um in seinem Zimmer und an der Spielekonsole bleiben zu können.Was ihm blieb, war seine ganz persönliche Wahrheit. Man konnte schließlich nicht erwarten, dass ein Künstler durch geregelte Arbeit seine Kreativität beeinträchtigte und seinen Esprit verlor. Sollen ihn doch alle als Nerd betrachten. Ihm war klar, dass der Tag nicht mehr fern war, an dem er die Gamer dieser Welt mit seinen Fähigkeiten flashen würde. Dafür hatte er hart gearbeitet und kannte sich mittlerweile bestens im Gaming-Universum aus. Im Zusammenschluss mehrerer Gamer und App-Programmierer wirkte Nick in einem Freeware-Projekt mit, aus dem innerhalb von zwei Jahren drei Adventure- und Strategic Games mit über drei Millionen Usern weltweit hervorgegangen waren. Ein Gehalt gab es dafür leider nicht, aber für seinen Weg zum App- und Web-Entwickler war diese Zeit mit Geld nicht zu bezahlen. Seine Mutter verstand von alledem nicht die Bohne. Nick konnte mit ihren Sprüchen wie ‚brotlose Kunst‘, ‚von der Hand in den Mund‘ oder ‚spielerisch in die Altersarmut‘ ebenso wenig anfangen.

Er wischte ihre Sprüche stets beiseite. Wer hatte Leonardo da Vinci zu seinen Lebzeiten schon verstanden? Einzig und allein die Tatsache, dass er nichts zum gemeinsamen Leben in der neunundfünfzig Quadratmeter großen Sozialwohnung in Berlin-Marzahn beisteuern konnte, erfüllte ihn mit Scham und Schuldgefühlen.

Sein Spiegelbild betrachtend sagte er sich: „Dann soll es wohl so sein … Ich werde mir mal anhören, was die Leute da für Erwartungen an mich haben.“

„Nickiiii … Denkst du an deinen Termin?“, hörte Nick seine Mutter aus dem Flur rufen.

„Ich weiß Mutter … Ich krieg den Job.“

„Ich bin gleich weg, Nicki, heute Abend gibt es Seelachsfilet mit Kartoffelsalat … Und räum bitte dein Zimmer auf!“ kam es zurück, kurz bevor die Wohnungstür ins Schloss fiel.

Für den Weg zum Vorstellungsgespräch in Berlin Neukölln nahm Nick die S-Bahn. Er kaufte sich nach dem letzten Halt einen Kaffee-to-go und zwei Protein-Riegel aus einem türkischen Supermarkt.