Die Arena: Grausame Spiele - Hayley Barker - E-Book

Die Arena: Grausame Spiele E-Book

Hayley Barker

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Beschreibung

London in der nahen Zukunft. Die Gesellschaft hat eine Spaltung vollzogen: Die Pures leben komfortabel und luxuriös, während die Dregs ausgegrenzt, geächtet und unterdrückt werden. Manchen Familien der Dregs werden ihre Kinder entrissen und zum "Zirkus" gebracht, wo die jungen Artisten zum Amüsement der Pures hungrigen Löwen begegnen oder waghalsigen Hochseilakte liefern. Hoshiko ist der Star auf dem Hochseil - sie vollbringt jeden Abend Unglaubliches, 30 Meter über dem Boden, ohne Fangnetz. Jede Vorführung könnte ihre letzte sein - und genau darauf lauern sensationslüstern und mit fasziniertem Grauen ihre Zuschauer. Doch dann begegnet Hoshiko dem Sohn einer hochrangigen Pure-Politikerin, Ben, der den Zirkus besucht - und verliebt sich in ihn, gegen alle Regeln. Ben begreift erst nach und nach die Realitäten, die hinter seinem komfortablen Leben stehen und wendet sich gegen seine eigene Klasse - für Hoshiko, das Mädchen, das er liebt. Um sie zu retten, begibt er sich in tödliche Gefahr.

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Seitenzahl: 488

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Hayley Barker

Die Arena

Grausame Spiele

Roman

Aus dem Englischen von Katharina Naumann

Über dieses Buch

London in der nahen Zukunft. Die Gesellschaft hat eine Spaltung vollzogen: Die Pures leben komfortabel und luxuriös, während die Dregs ausgegrenzt, geächtet und unterdrückt werden. Manchen Familien der Dregs werden ihre Kinder entrissen und zum «Zirkus» gebracht, wo die jungen Artisten zum Amüsement der Pures hungrigen Löwen begegnen oder waghalsige Hochseilakte liefern. Hoshiko ist der Star auf dem Hochseil – sie vollbringt jeden Abend Unglaubliches, 15 Meter über dem Boden, ohne Fangnetz. Jede Vorführung könnte ihre letzte sein – und genau darauf lauern sensationslüstern und mit fasziniertem Grauen ihre Zuschauer. Doch dann begegnet Hoshiko dem Sohn einer hochrangigen Pure-Politikerin, Ben, der den Zirkus besucht – und verliebt sich in ihn, gegen alle Regeln. Ben begreift erst nach und nach die Realitäten, die hinter seinem komfortablen Leben stehen, und wendet sich gegen seine eigene Klasse – für Hoshiko, das Mädchen, das er liebt. Um sie zu retten, begibt er sich in tödliche Gefahr.

Vita

Hayley Barker hat fast achtzehn Jahre als Englischlehrerin gearbeitet, bevor sie sich in Vollzeit dem Schreiben widmete. Sie liebt Jugendbücher, und ihre Romane veröffentlicht zu sehen, ist für sie das größte Abenteuer ihres Lebens. Sie lebt mit ihrem Mann, zwei Söhnen und einem etwas hyperaktiven Hund in Essex.

Für Mark

Prolog

Hoshiko

Die Rufe des Publikums dröhnen in meinem Kopf. Ich stehe fünfzehn Meter über dem Boden, aber wenn ich mich bemühe, kann ich im Meer der Menschen unter mir einzelne Gesichter erkennen.

Ich beginne zu schaukeln. Vor und zurück, vor und zurück. Ich gewinne an Schwung, werde schneller, falle in einen Rhythmus: vor und zurück, vor und zurück.

Das Jubeln unter mir verschwimmt, wird zu einem entfernten Rauschen. Jetzt gibt es nur noch mich; nur das Hinaufschwingen und das Zurückpendeln. Wenn ich zu früh loslasse, bekomme ich den Draht nicht zu fassen; zu spät, und ich schwinge zu weit.

Genau im richtigen Moment, als ich mich auf perfekter Höhe befinde, ziehe ich die Beine an und strecke sie dann nach vorn, sodass meine Füße das Seil erreichen. Ich hocke jetzt darauf, kralle mich mit den Zehen fest und warte, bis das Vibrieren im Draht nachlässt. Mein Atem beruhigt sich langsam. Ich habe wieder die Kontrolle, bin wieder in meinem Element. Zeit, ihnen zu geben, was sie wollen.

Ich balanciere mühelos, hebe ein Bein vom Draht, höher und höher bis in den Spagat, und beuge den Oberkörper vor, bis er parallel über dem Seil schwebt. Ein, zwei Momente lang bleibe ich so stehen, dann mache ich einen Salto, noch einen und noch einen. Jedes Mal lande ich sicher mit den Füßen auf dem Draht.

Ich schaue auf die jubelnde Menge hinab und sinke in den Spagat, fasse das Seil und lasse mich herumwirbeln, schneller und schneller und schneller, bis die Menge tobt. Ihre Schreie scheinen das Zeltdach zu heben. Ich richte mich wieder auf. Zeit für den Höhepunkt meiner kleinen Show.

Man reicht mir von der Plattform aus einen Schemel. Ich hebe ihn über den Kopf, meine Füße tasten sich zurück in die Mitte des straff gespannten Seils. In der Arena herrscht gespannte Stille. Das Publikum hält den Atem an.

Ich stelle zwei Beine des Schemels auf dem Seil ab. Ich muss mir Zeit lassen, jetzt geht es nur noch um die Balance. Um Balance und Instinkt. Ich klettere auf den Schemel und setze mich, die Beine gekreuzt, die Arme weit geöffnet. Dann ziehe ich die Füße an, strecke vorsichtig meinen Körper und stehe auf dem Schemel. Ich hebe ein Bein, gehe auf die Zehenspitzen und drehe mich, immer und immer schneller. Hoch über der Welt trotze ich der Schwerkraft. Trotze der Last, die sie mir auferlegt haben.

Das Orchester spielt ein grandioses Crescendo des Triumphes. Feuerwerkskörper explodieren um mich herum und lassen ihre Funken wie Sterne hinabregnen. Weit unten in der Manege vollführen ein paar Turnerinnen in Weiß Flickflacks, während ich, der Höhepunkt, die Spitze, von hier oben über den Boden herrsche.

In diesem Moment bemerke ich aus dem Augenwinkel, dass Silvio mich von der Plattform aus beobachtet. Er wirkt zornig. Warum?

Mir wird eiskalt.

Er wollte, dass ich falle.

Vor den Zuschauern verbergen ihn die großen Vorhänge, die sich an beiden Seiten der Plattform bauschen.

Nur ich kann ihn von hier aus sehen.

Unsere Blicke treffen sich. Er streckt die Hand aus und greift nach dem Drahtseil, grinst böse und bewegt es ruckartig hin und her. Er schickt seine Todesbotschaft durch den Draht.

Ich kann das Gleichgewicht nicht mehr halten, höre, wie das Publikum nach Luft schnappt und stürze kopfüber in die Tiefe.

Ben

Ich kann den Blick nicht von ihr wenden, wie sie dort hängt. Sie ist ein Stück über mir, aber ich sehe ihren Gesichtsausdruck so deutlich. Sie wirkt nicht ängstlich, sondern wütend. Warum?

Ohne Vorwarnung beginnt sie zu schaukeln. Im Scheinwerferlicht glitzern die Pailletten ihres Kostüms, während sie vor und zurück schwingt. Ein menschlicher Glitzerball, der Lichtmuster in die Manege wirft. Ihr langes schwarzes Haar wirkt lebendig und tanzt, die glänzenden Locken schimmern im Licht. Jetzt ist sie auf dem Drahtseil. Sie bewegt sich so elegant, dass ihr Anblick mir den Atem raubt.

Alle um mich herum sind berauscht von ihr. Mutter, Vater, Francis, sogar die Bodyguards springen vor Begeisterung auf und nieder, und ich spüre unter meinen Füßen, wie die ganze Loge bebt.

Das Mädchen schwebt mühelos über den Draht. Jetzt beginnt sie dort oben zu tanzen, ganz als befände sie sich auf sicherem Boden. Sie dreht sich um sich selbst, eine verschwimmende Gestalt aus Licht und Bewegung. Wenn ich das hier im Fernsehen sehen würde, würde ich es nicht glauben; ich würde denken, dass das alles ein Fake ist, geschickte Kameraführung vielleicht. Sie sitzt auf einem Schemel. Einem Schemel, der auf dem Drahtseil balanciert.

Sie richtet sich auf. Das tut sie doch jetzt nicht? Sie tut es. Sie stellt sich auf den Schemel. Das kann nicht wahr sein. Wie macht sie das?

Sie dreht sich auf der Fußspitze, wirbelt immer schneller herum. Alle sind jetzt aufgesprungen, stampfen und klatschen: ein donnernder Applaus.

Aber sie lächelt nicht. Ihre dunklen Brauen sind verächtlich hochgezogen. Sie ist nah genug, dass ich das Funkeln in ihren Augen unter den gesenkten Lidern sehen kann. Sie schaut zornig auf die Menge herunter.

Ich höre auf zu jubeln.

Jemanden wie sie habe ich noch niemals gesehen. Ich kann den Blick nicht von ihrem Gesicht lösen. Sie wendet sich ab. Ihre Augen weiten sich erschrocken. Sie taumelt nach hinten. Ich sehe, wie sie fällt …

Ben

Alle reden schon seit Wochen nur davon, dass der Zirkus kommt. Seitdem die Anzeigen dafür online und in den Zeitungen erschienen sind, liegt eine derart elektrisierende Vorfreude in der Luft, dass man sie beinahe anfassen kann.

Vor mehr als zehn Jahren war der Zirkus das letzte Mal in London. Damals war ich noch zu klein, und es hat mir nichts ausgemacht, als Mutter und Vater sagten, wir könnten nicht dorthin gehen. Ich erinnere mich daran, dass die älteren Kinder auf dem Spielplatz danach von nichts anderem mehr sprachen und wir uns um sie versammelten, um ihnen zuzuhören. Wir waren viele und drängten uns vor, um jedes Wort zu verstehen. Ich muss erst fünf oder sechs Jahre alt gewesen sein, aber ich kann sie noch immer erzählen hören.

«Es ist Zauberei», sagte ein Junge. «Keine Zaubertricks, sondern echte Zauberei. Es kann gar nichts anderes sein, das alles, was sie da machen!»

Und da war ein Mädchen, dessen Augen leuchteten. «Es ist wie ein Traum», sagte sie. «Wie ein Märchen.»

An dem Tag, an dem der Zirkus kommen soll, rennen alle Kinder beim Läuten der Schulglocke gleich hinaus zu den Feldern, um zuzuschauen. Lächerlicherweise hoffe ich, auch gehen zu dürfen, aber als ich mich zu Stanley umdrehe, meinem Bodyguard, der diskret ganz hinten im Klassenzimmer wartet, presst er die Lippen aufeinander und schüttelt den Kopf. Kein Zweifel, was das bedeutet: Denk nicht mal daran.

Im Auto auf dem Weg nach Hause frage ich Francis: «Findest du es blöd, dass wir nicht zuschauen können, wie der Zirkus kommt?»

Mein Zwillingsbruder sieht mich an, als wäre ich verrückt geworden.

«Warum sollte ich dabei zuschauen wollen? Warum sollte irgendwer dabei zuschauen wollen, wie ein Haufen Dreg-Abschaum durch die Stadt zieht?»

Ich weiß nicht, was ich darauf erwidern soll. Also zucke ich nur die Achseln und starre aus dem Fenster.

Zu Hause schaue ich nicht wie sonst in der Küche vorbei, um unser Dienstmädchen Priya um einen Snack zu bitten. Stattdessen gehe ich direkt in die Bibliothek im obersten Stockwerk des Hauses. Von hier aus hat man einen weiten Ausblick bis hinunter auf die Stadt. Die Hauptstraße schlängelt sich nach rechts. Von dort wird der Zirkus kommen.

Ich sehe die anderen Kinder, Dutzende von ihnen, wie sie auf den Pfählen der Zäune hocken, die die Felder umschließen. Von hier oben habe ich eine weit bessere Sicht, aber ich wäre trotzdem lieber dort unten, bei ihnen, zusammengekauert in der Kälte, mit baumelnden Beinen, um wie sie bei jedem Lachen kleine Wölkchen auszustoßen.

Es sieht da unten so viel lustiger aus. Es sieht aus wie Freiheit.

Ewig passiert gar nichts, dann kommen vier riesige Lastwagen den Hügel herabgefahren.

Sechs Dregs und ein Wächter springen aus jedem Lastwagen, und die Dregs beginnen sofort, große Eisenwände aufzustellen und so vier Felder zu einer großen Fläche abzugrenzen. Sie arbeiten schnell, und schon bald ist das Zirkusgelände vor neugierigen Blicken abgeschirmt.

Das macht alles noch rätselhafter und geheimnisvoller: Wenn man den Zirkus sehen will, muss man Eintritt bezahlen. Eine freie Sicht darauf hat man nicht, es sei denn, man schaut von weit oben, so wie ich, und es gibt nicht viele Menschen, deren Status so wichtig ist, dass sie so weit oben wohnen wie wir.

Sobald sie fertig sind, springen die Männer zurück in die Lastwagen und rauschen davon. Die Kinder starren gegen die kilometerlange Eisenwand.

Der Zirkus muss unfassbar riesig sein, wenn er so viel Platz braucht.

Danach wird es wieder still. Ein paar Kinder haben keine Lust mehr und gehen nach Hause zum Abendessen, aber dafür tauchen neue auf, und dann kommen die anderen wieder zurück. Noch immer gibt es keine Spur vom Zirkus selbst.

Ich gehe nicht zum Abendessen nach unten, also bringt mir Priya meine Portion auf einem kleinen Tablett herauf. Ich esse nicht viel davon; ich bin zu sehr damit beschäftigt, aus dem Fenster zu schauen und meinen Hals zu recken.

Endlich kann ich eine glitzernde und funkelnde Parade erkennen, die sich den Hügel hinaufarbeitet.

Die Kinder können sie zuerst noch nicht sehen, doch dann, als ihre Spitze den Hügelkamm erreicht hat, springen sie plötzlich alle auf, stellen sich auf die Zaunpfähle, schubsen und drängeln.

Sechs Schimmel, geschmückt mit funkelnden Glitzerketten, traben voran; auf ihren Rücken stehen Mädchen und Jungen in durch winzige Dioden erleuchteten Paillettenkostümen. Sie springen in die Luft, vollführen einen Salto nach dem anderen und landen immer wieder auf ihren Füßen, es ist unglaublich.

Hinter ihnen trabt ein schimmernder Palomino, viel größer als die Schimmel. Man merkt sofort, dass sein feuriges Temperament nur schwer zu zügeln ist: Bei jedem Schritt hebt er die Beine ganz hoch, sein Hals ist gebeugt.

Ein Mann steht auf seinem Rücken. Er trägt einen komischen kleinen Anzug und ein Äffchen auf der Schulter. In den Händen hält er einen großen Korb und wirft den Kindern daraus Bonbons zu. Sie hüpfen auf und nieder, schreien nach ihm und recken gierig die Hände.

Jetzt kommen hübsche, kleine, pastellfarbene Waggons, riesige Ausrüstungsanhänger und noch größere Lastwagen, in denen die Dregs und der Rest der Tiere untergebracht sind, nehme ich an.

Ganz zuletzt fährt ein langer, offener Wagen, erleuchtet von tausend bunten Lichtern. Menschen sitzen darin – die Zirkusleute – und winken den Kindern zu. Clowns jonglieren mit Bällen, Akrobaten schlagen Saltos, und zwei Feuerschlucker verschlingen gefährlich lodernde Fackeln.

Weit über der Parade dreht ein Mädchen, eine Seiltänzerin, ihre Pirouetten.

Ein heller Scheinwerfer folgt ihren Bewegungen und Sprüngen am tintenschwarzen Himmel.

Das Drahtseil ist zwischen zwei hohen Stangen gespannt und verbindet den letzten mit dem ersten Waggon. Sie tanzt und springt über die gesamte Länge der Prozession, in so fließenden Bewegungen, als bestünde sie aus Wasser. Laserstrahlen zeichnen bunte Formen, Feuerwerkskörper schießen hoch in den Himmel und fallen als funkelnder Sternenregen um sie herum zu Boden.

Ihr Bild wird in unzähligen Hologrammen in den Himmel projiziert. Wohin ich auch schaue, tanzt und springt und überschlägt sich ihre Gestalt, erhellt sie die Dunkelheit.

Sie muss noch kilometerweit zu sehen sein.

Eines der Hologramme steht direkt vor meinem Fenster, nur Zentimeter über meinem Kopf. Plötzlich schaut sie auf, und ich sehe ihr direkt in die Augen. In ihrem Blick liegt etwas Stählernes; sie ist sehr schön, aber etwas an ihr lässt mich erschaudern. Ich weiß, dass es nicht wirklich sie ist, die mich anschaut, aber sie wirkt so nah, als könnte ich sie berühren. Ich öffne das Fenster so weit es geht und strecke die Hand nach ihr aus, nach dem Licht, das sie ausstrahlt, aber meine Finger greifen ins Leere.

In diesem Augenblick schwöre ich mir etwas. Was immer passiert, was immer Mutter und Vater sagen – ich werde zum Zirkus gehen.

Hoshiko

Die Kinder auf den Zäunen jubeln und schreien, als wir kommen. Die meisten hüpfen vor lauter Aufregung auf und ab, ihre Hände greifen nach den Süßigkeiten, die Silvio in die Menge wirft.

Ich lächele strahlend auf sie hinunter, während ich meine Flickflacks vollführe, ich winke und werfe ihnen Küsse zu, wenn ich auf dem Drahtseil tanze.

Ich hasse sie.

Ich hasse sie alle.

Ich denke darüber nach, sie anzuspucken.

Das ist es also: London. Vor zehn Jahren kam der Zirkus das letzte Mal hierher – kurz bevor ich ausgewählt wurde. Es kann nicht später sein als sechs Uhr, aber es ist schon dunkel, und die Millionen Lichter der Gebäude glitzern und funkeln.

In der Mitte der gewaltigen Stadt ragt aus dem Labyrinth der Wolkenkratzer und Bürogebäude das berühmte Haus der Macht auf. Es strahlt in gelbem Licht und ist so riesig, dass ich jedes einzelne Detail erkennen kann, selbst von hier aus, während ich mich überschlage und tanze. Es sieht genauso aus, wie Amina es beschrieben hat. Unten türmen sich Hunderte und Aberhunderte schwarzer Skulpturen aus glänzendem Ebenholz. Sie sind ineinander verschlungen und verschränkt, liegen übereinander, erdrücken einander: eine riesige Pyramide sich windender Dregs.

Ganz oben, über all den Figuren, erhaben über die Welt, steht glänzend und gleißend eine riesige Goldstatue, getragen von den verschlungenen, gebeugten Körpern unter ihr. Ein Mann – ein Superman –, der nur aus Muskeln zu bestehen scheint und sanft auf die Stadt hinunterlächelt.

Ich schaudere und spüre, wie ich fast das Gleichgewicht verliere, weil mich die Konzentration verlässt.

Dieses Monument steht für alles, was falsch läuft auf der Welt. Es steht für Dominanz und Stolz und Macht. Es steht für die Unterdrückung der vielen durch die wenigen. Es steht für das Böse.

Ich kann den Blick nicht abwenden. Die Wagen fahren unterdessen durch die riesigen Metalltore, die sich mit einem Krachen hinter uns schließen, das weithin hallt.

Immerhin ist es das letzte Mal, dass ich das Monument sehen muss, bis wir die Stadt wieder verlassen. Es ist überhaupt das Letzte, was irgendjemand von uns von der Außenwelt sehen wird, bis wir in zwei Wochen alles wieder abbauen und uns zu einem neuen Ziel auf den Weg machen. Eigentlich sollte es uns egal sein, wo wir sind und in welcher Stadt wir unser Lager aufschlagen; die Leute, die Nacht für Nacht zu uns strömen, sind überall gleich.

Aber es ist doch etwas anderes, hier zu sein, im Zentrum von allem: hier, wo die Gesetze gemacht werden, hier, wo das Haus der Macht ist.

Mich schaudert es erneut, dann springe ich vom Seil.

Kaum dass die Tore hinter uns ins Schloss gefallen sind, steigt Silvio von seinem Palomino-Hengst.

«Umzingelt sie und bringt sie dazu, sofort das Lager aufzubauen!», befiehlt er den Wächtern. «Zeit ist Geld!» Der lächelnde, gutmütige Süßigkeitenspender ist verschwunden, und seine Lippen sind ungeduldig aufeinandergepresst.

Ich versuche, zu Greta und Amina zu gelangen, aber ich schaffe es nicht rechtzeitig. Sie sind schon zu einem der Felder geführt worden, und ich bleibe in einer anderen Gruppe.

Peng! Eine Peitsche knallt auf meinen Rücken. Wir werden zu einem großen Haufen Baumaterialien getrieben.

«Worauf wartet ihr, ihr Idioten?», kreischt Silvio. Seine Peitsche trifft mich erneut, trifft uns alle. Wir drängen uns aneinander, aber die Peitschenschläge prasseln unerbittlich auf uns nieder. «Runter mit euch, geht auf alle viere und fangt an zu bauen!»

Ben

Den ganzen Abend sitze ich in der Bibliothek am Fenster und sehe dabei zu, wie vor meinen Augen eine riesige Stadt errichtet wird. Hohe Gerüste, große Metallwände, sorgfältig zusammengefügt von Dutzenden Dregs. Die wallenden goldenen und roten Stoffe, die schließlich daran befestigt werden, lassen die Konstruktionen aussehen wie Hunderte von Zelten, jedes mit einem kuppelförmigen Dach, das in den Himmel ragt. Aber es sind keine Zelte. Es sind feste Gebäude; damit die Tiere nicht ausbrechen können, nehme ich an, und die Dregs auch nicht.

Es gibt ein paar größere und viele kleinere Gebäude, die durch geschlossene Gänge hoch über dem Boden alle miteinander verbunden sind. Das bedeutet, dass die Dreg-Artisten keinen Fuß mehr nach draußen setzen müssen, sobald die Konstruktion steht. So bleiben sie hübsch von den Pures getrennt und bewegen sich wie in einer riesigen Ameisensiedlung im Himmel. Wahrscheinlich wimmeln sie darin tatsächlich wie fleißige Arbeiterameisen herum, eilen geschäftig hierhin und dorthin, um uns zu unterhalten.

Ich versuche, das Mädchen zu entdecken, aber auch auf dem Zirkusgelände, das bisher von großen Scheinwerfern beleuchtet war, wird es nun nach und nach dunkel, und aus dieser Entfernung sehen alle Dregs gleich aus. Ich sehe ihr Hologramm, es wird in einer Wiederholungsschleife abgespielt. Etwa zehn Projektionen strahlen sie noch immer in den Himmel.

Ich überlege die ganze Zeit, wie ich meine Eltern davon überzeugen kann, dorthin zu gehen und die Vorstellung zu sehen. Sie werden niemals ja sagen – nicht bei ihrer Einstellung zu den Dregs. Aber ich muss. Ich muss sehen, ob es stimmt, was alle anderen über den Zirkus sagen. Ich muss sie sehen, wie sie über das Drahtseil tanzt.

Hoshiko

Wir arbeiten bis in die Nacht hinein. Meine Hände bluten, und ich wanke vor Erschöpfung, als man uns in unsere Schlafsäle treibt und die Türen hinter uns abschließt.

Endlich: sechs ganze Stunden ohne Wächter, kein Silvio, keine Pures. Nachts halten sie es nicht für nötig, uns zu bewachen – es ist auch billiger, nehme ich an. Außerdem ist es ja nicht so, als könnten wir irgendwohin.

Ich suche unter all den Menschen nach Greta und Amina. Auf den ersten Blick würde man wahrscheinlich denken, dass wir Zirkusleute eigentlich gar nichts gemeinsam haben. Wir haben alle verschiedene Hautfarben und unterschiedliche Religionen; eine buntere Truppe lässt sich nur schwer finden. Wenn man aber genauer hinsieht, sind wir einander ähnlicher, als man zunächst denken würde.

Nur wenige Mitglieder des Dreg-Zirkus schaffen es bis ins Erwachsenenalter, also sind wir fast alle jung, aber die meisten sehen viel älter aus, als sie in Wirklichkeit sind. In jedem einzelnen Gesicht, selbst in denen der allerkleinsten Kinder, liegen Sorge und Erschöpfung, und viele sind durch Narben und Verletzungen gezeichnet – ins Fleisch geschnittene Erinnerungen daran, wie gefährlich es ist, was wir tun.

In einer anderen Welt würde jeder von uns seinen eigenen Weg gehen, aber hier bilden wir eine Gemeinschaft. Wir teilen eine Existenz, dieselben Sorgen, dasselbe Leid, denselben Hass. Wir stützen den anderen, wenn wir können, tragen des anderen Last, soweit es uns möglich ist. Diese Menschen sind jetzt meine Familie – die einzige Familie, an die ich mich überhaupt erinnere.

Insgesamt sind wir ungefähr fünfzig, manchmal ein paar mehr, manchmal ein paar weniger, wenn neue Gesichter auftauchen und alte, oder noch nicht so alte, wieder verschwinden.

Ich erblicke Greta am anderen Ende des Raumes. Sie kommt sofort zu mir herüber, schlingt die Arme um meine Taille und schmiegt ihren Kopf an meinen Bauch.

«Ich habe dich vermisst!», sagt sie. «Ich hasse es, wenn wir nicht zusammenarbeiten.»

«Ich auch», erwidere ich. «Wo ist denn Amina?»

«Sie ist schon auf der Krankenstation. Einer der neuen Jungs hat sich beim Aufbau der Gerüste den Arm eingequetscht.»

Ich erschaudere. Das ist gar nicht gut. Wenn sein Arm zu sehr verletzt ist, kann er vielleicht nicht auftreten, und wenn er seinen Zweck nicht erfüllt, ist er überflüssig für sie, und wir alle wissen, was das bedeutet.

«Amina glaubt, dass sie es hinkriegen kann. Das hat sie mir jedenfalls gesagt.» Sie legt die Stirn in Falten. «Aber vielleicht stimmt es auch nicht; sie sagt mir ja nie, was wirklich los ist.»

Ich lache trocken auf. Greta hat recht; selbst wenn man den armen Jungen wegbringt, wird Amina es ihr nicht sagen – sie wird sich irgendeine Geschichte ausdenken. Sie versucht alles, um ihr die schlimmen Details zu ersparen. Das machen wir beide so. Es ist hier so gut wie unmöglich, aber keine von uns möchte, dass das Licht, das immer noch in ihren Augen leuchtet, schneller verlöscht, als es unbedingt sein muss.

Amina hat dasselbe früher mit mir gemacht: Sie hat mir geschönte Versionen der Wahrheit erzählt. Sie würde es immer noch tun, wenn ich es zuließe. Aber inzwischen ist das sinnlos geworden – jede Illusion, die ich über das Leben hatte, ist längst tot.

Heute wird in den Schlafsälen nicht viel geplaudert, und der Gemeinschaftsbereich leert sich bald, weil die meisten schon ins Bett gehen. Wir alle sind völlig erschöpft; einen Zirkus aufzubauen ist schmerzhafte körperliche Arbeit, und sie halten es meist nicht für nötig, uns am ersten Abend etwas zu essen zu geben.

Kurz denke ich darüber nach, auf Amina zu warten, aber das bringt nichts. Vielleicht bleibt sie die ganze Nacht fort, und wenn nicht, wäre sie wütend auf mich, wenn ich für sie wachbleibe.

«Du brauchst deinen Schlaf», sagt sie immer. «Denk dran, was mit mir passiert ist.»

Sie hat recht. Wir müssen jede Gelegenheit nutzen, uns auszuruhen.

«Ich bin so müde», sage ich zu Greta, «ich gehe jetzt ins Bett.»

Sie schaut mit ihren blauen Augen bittend zu mir hoch, und ich muss lächeln; die unausgesprochene Frage steht so deutlich in ihrem Blick.

«Nein», protestiere ich schwach. «Auf keine Fall. Die Stockbetten sind zu schmal für zwei. Und du liegst doch im Bett daneben.»

«Bitte!», bettelt sie. «Ich kann überhaupt nicht schlafen, wenn ich allein im Bett liegen muss.»

«Aber ich werde kein Auge zutun, wenn du neben mir herumzappelst.»

«Ich zappele nicht, versprochen. Ich liege ganz still. Ich mache mich ganz klein, du wirst gar nicht merken, dass ich da bin.»

Ich schüttele den Kopf. Jede Nacht gibt mir Greta dasselbe Versprechen, und jeden Morgen wache ich auf und liege halb auf dem Boden, während sie sich im Bett ausstreckt.

Sie lächelt zu mir hoch. «Bitte?»

Die Diskussion ist vollkommen sinnlos. Sie weiß, dass ich ihr nichts abschlagen kann. Sie hat mich sofort um ihren kleinen Finger gewickelt, als sie vor fast einem Jahr kam. Und wenn ich jetzt nein sage, wird mich ihr Weinen vom Schlafen abhalten.

«Okay», gebe ich schließlich nach, genau wie wir beide es schon vorher wussten. «Aber nur heute Nacht. Morgen schläfst du allein.»

Sie nickt ernst. «So machen wir es, Hoshi.»

Wir gehen durch den schmalen Mittelgang des Frauenschlafsaals zu unseren Betten an der hinteren Wand.

Heute ist es ruhig hier, es herrscht eine erschöpfte Stille. In der Nacht nach dem Aufbau ist es immer so; alle sind noch müder als sonst, und Schlaf wird wichtiger als alles andere.

Normalerweise ist es anders. Die Nacht ist die einzige Gelegenheit für uns, zusammen zu sein, und obwohl wir immer, absolut immer todmüde sind, bemühen wir uns, wenigstens noch eine halbe Stunde wach zu bleiben. Manchmal üben wir lesen und schreiben, aber nicht so oft, wie wir es eigentlich müssten. Es ist schwierig, sich zu konzentrieren, wenn jeder einzelne Knochen im Körper schmerzt und man kaum die Augen offen halten kann. Meistens sitzen wir nur zusammen, und eines der älteren Kinder erzählt eine Geschichte. Manchmal eine ausgedachte, eine Phantasie, die uns eine kurze, wunderbare Zeit lang auf einem fliegenden Teppich fortbringt von diesem Ort des Schmerzes und in eine magische Welt entführt – mit wunderschönen Prinzessinnen und gutaussehenden Prinzen und prächtigen Palästen, mit Feen, die mit einem Schwung ihres Zauberstabes alles besser machen. Aber meistens sind es wahre Geschichten. Ein Bericht oder eine Erinnerung, ein Ereignis aus der Vergangenheit, über unsere Herkunft und darüber, wie die Welt zu dem wurde, was sie heute ist. Nur so können wir etwas darüber lernen, wer wir sind, was wir sind. Immer wenn ich diese Geschichten höre, wird der eiserne Knoten in meinem Magen größer und das Gefühl der Ungerechtigkeit wächst, wird immer schwerer zu ertragen, immer mächtiger. Die anderen fühlen es ebenso, das weiß ich, aber sie scheinen besser damit zurechtzukommen als ich. Amina hat es irgendwie geschafft, ihre Gefühle in Widerstandskraft umzuwandeln; in Hoffnung, nicht Hass. Sie ist sich sicher, dass das alles nicht ewig so bleiben wird.

«Sieh dir doch nur die Geschichte an», sagt sie. «Immer verändert sich etwas, und alles kommt irgendwann zu einem Ende. Mauern werden eingerissen, Regierungen gestürzt, die Menschen erheben sich.»

Ich liebe Amina, aber sie hat unrecht.

Diesen Zirkus gibt es nun schon über vierzig Jahre. Vierzig Jahre lang bezahlen die Pures Geld, um hierherzukommen. Vierzig Jahre lang werden Dreg-Kinder ihren Familien entrissen und dazu gezwungen, im Namen der Unterhaltung hier aufzutreten. Vierzig Jahre Brutalität, Qual, Tod. Das Böse sitzt tief im Herzen der Gesellschaft. Wie kann es jemals enden?

Ich lege mich in mein hartes kleines Bett, Greta kriecht neben mich und kuschelt sich dicht an mich.

Als ich gerade denke, dass sie jetzt ihre Schlafposition gefunden hat, springt sie wieder auf und holt Lucy, ihre Puppe. Das schmuddelige Bündel aus nicht zueinanderpassenden Lappen, so liebevoll zusammengeflickt, ist alles, was sie von zu Hause mitnehmen konnte, und sie schläft niemals ohne.

Sie dreht sich zu mir um, und ich spüre ihren warmen Atem in meinem Gesicht.

«Greta!», flüstere ich. «Hör auf mich anzuatmen!»

«Entschuldigung», flüstert sie zurück, bewegt sich aber nicht. «Hast du die Statue gesehen?»

«Ja.»

«War die nicht riesig?»

«So groß nun auch wieder nicht. Eigentlich fand ich sie gar nicht so beeindruckend.»

«Echt nicht? Ich mochte den großen Goldmann.»

Der große Goldmann – sie hat ja keine Ahnung, was er darstellt. Ich bin froh darüber.

«Es ist aufregend, oder?», sagt sie. «Dass wir jetzt in der Hauptstadt sind?»

«Nein! Warum sollte es aufregend sein? Was macht das schon für einen Unterschied? Es ist ja nicht so, als würden wir uns hier die Sehenswürdigkeiten angucken!»

«Nein, das weiß ich, aber … immerhin kommen ganz viele wichtige Leute, um uns zuzuschauen; das hat Silvio gesagt.»

«Greta, an denen ist absolut nichts Besonderes. Sie sind kein bisschen besser als du oder ich; keiner von denen.»

«Trotzdem. Ich mag es, all diese Leute in ihren feinen Kleidern anzusehen.»

Ich schlucke meine Erwiderung herunter. Amina hat recht; wir müssen unser Bestes geben, ihre Unschuld zu bewahren, damit sie ein Kind bleiben kann, solange es geht.

Man könnte sicher sagen, dass Greta für mich wie eine kleine Schwester ist, aber eigentlich ist sie mehr. Ich bin vielleicht erst sechzehn, aber ich fühle mich wie ihre Mutter.

Die Wahrheit ist, dass ich sie und Amina mehr liebe als irgendjemand anderen auf dieser ganzen verkorksten Welt. Mehr als meine eigene Familie sogar – schließlich habe ich die seit elf Jahren nicht mehr gesehen.

Der Hauptgrund, aus dem ich jeden Abend um mein Überleben kämpfe, ist der, dass ich Greta trainieren muss. Ich will nicht, dass sie da raus und auftreten muss, weiß Gott will ich das nicht, aber ich muss sichergehen, dass sie bereit dazu ist, wenn sie sie dazu zwingen. Ich muss dafür sorgen, dass sie sicher ist. Obwohl ich weiß, dass mein Wert sinkt, je besser sie wird.

Ich kann mich noch an jede Einzelheit ihrer Ankunft erinnern, als wäre es gestern gewesen. Es war kurz nach Aminas Unfall, und wir waren zur Probe in der Manege.

Silvio hatte mir drei Tage gegeben, um die Aufführung auf mich allein zuzuschneiden. Vorher waren wir viele Jahre zu zweit aufgetreten. Wir waren sehr aufgeregt; wir hatten Angst, er könnte plötzlich entscheiden, Amina doch nicht zu behalten und stattdessen auszusortieren. Wir fürchteten, dass er hereinkommen und sie fortbringen könnte und dass ich sie nie wiedersehen würde.

Ich verlor immer wieder das Gleichgewicht und rutschte vom Drahtseil ab. Amina bemühte sich sehr, ihren Ärger zu unterdrücken, aber selbst sie schaffte es nicht ganz. Sie sagte nichts, aber ich wusste, dass sie Angst hatte: um mich ebenso wie um sich selbst. Wenn ich das Publikum nicht auch allein begeistern würde, wäre nicht mehr nur sie in Gefahr. Sie versuchte, es nicht zu zeigen, aber bei jedem Fehler sah ich, wie ihre Schultern sich verspannten und sie die Zähne zusammenbiss.

Eine ganz ungewohnte, angespannte Stille herrschte zwischen uns. Dann sprang die große Tür auf, Silvio kam herein und zerrte diesen schmutzigen kleinen Fetzen von einem Mädchen an seinem weißblonden Haar hinter sich her.

«Darf ich euch unseren Neuzugang vorstellen!», verkündete er höhnisch grinsend. «Sie hat gerade die Selektion bestanden. Nicht mit Glanz und Gloria, aber in der Not frisst der Teufel Fliegen. Die anderen waren verdammt furchtbar; diese hier hat immerhin ein bisschen Potenzial, denke ich, und Flexibilität.» Er bog ihr den Arm unnatürlich weit auf den Rücken, und sie schrie auf.

Er musterte mich abschätzig von oben bis unten. «Wie läuft es mit den Proben?», fragte er misstrauisch.

«Gut», antworteten Amina und ich wie aus einem Munde.

«Wollen wir’s hoffen. Hochseilakrobatik ist immer noch unsere größte Attraktion, Gott weiß warum. Sieh zu, dass du die Massen auch allein anziehst, Mädchen. Ich will hier nicht alles niederreißen und noch mal von vorn anfangen müssen.»

Seine Worte schwebten bedrohlich in der Luft.

Während er sprach, wendete Greta den Blick keine Sekunde von mir. Ihre Lippe zitterte, sie hatte ihre großen Augen weit aufgerissen und bat mich mit flehendem Blick, etwas zu unternehmen. Endlich ließ er sie los und stieß sie so hart von sich fort, dass sie als zusammengekrümmtes Häuflein vor meinen Füßen landete.

«Jedenfalls ist diese Straßenratte erst einmal meine Versicherung. Trainiere sie, aber schnell», befahl er und verschwand.

Sie schaute zu mir auf und sagte genau die Worte, die wir alle sagen. Dieselben Worte, die sie Nacht für Nacht wiederholte, wenn ich sie in meinen Armen hielt und sie sich in den Schlaf weinte. Die Worte, die sie jetzt nicht mehr sagt. Die Worte, die auch ich nicht mehr sage. Wann habe ich damit aufgehört? Ich kann mich nicht erinnern. Als die Bilder von zu Hause von einer Erinnerung zu einem Märchen verblassten, als dieser böse Ort jeden guten Gedanken verdrängt hatte und für mich wahrer wurde als alles, was vorher gewesen war.

«Ich will zu meiner Mami.»

An diesem Tag konnten wir nicht mehr proben.

Amina und ich hoben das gebrochene kleine Wesen vom Boden hoch und versuchten, den Schmerz zu stillen, es zu versorgen und seine winzigen Flügel zu heilen. Und bis heute haben wir es geschafft, mit Aminas Verbänden und Pflastern und Salben und mit viel Schutz und Liebe und Unterstützung. Vermutlich ist sie jetzt stärker als zuvor, aber sie gehört immer noch nicht hierher. Keiner von uns tut das, aber ganz besonders Greta ist viel zu gut für diese Welt: zu zart und zu zerbrechlich. An einem Ort wie diesem wird sie nicht lange überleben können. Sie ist wie ein Schmetterling, und Schmetterlinge brauchen Sonnenschein und Luft, Raum und Freiheit, keine Scheinwerfer und keine verriegelten Türen. Schmetterlinge sind verletzlich; ihre Flügel zerreißen zu leicht.

Es kann jeden Tag so weit sein, dass Silvio Greta befiehlt, zum ersten Mal aufzutreten. Eigentlich bin ich überrascht, dass er es nicht schon längst getan hat. Wenn er es doch tut, wird sie es schaffen; ich weiß, dass sie es schaffen wird. Ich sage ihr immer wieder, dass sie beinahe bereit ist, auch wenn sie mir nicht glaubt. Sie ist so begabt, so ein Naturtalent dort oben; die Menge wird sie lieben. Wie sollte sie auch nicht? Grimmiger Stolz wallt jedes Mal in mir auf, wenn ich sie ansehe, und umso mehr habe ich dann das Bedürfnis, sie zu beschützen.

Ich bin nicht die Einzige, die in Greta einen Schmetterling sieht. Silvio hat ihr tatsächlich den Shownamen Schmetterling gegeben. Er sieht ihre Schönheit und Zerbrechlichkeit als Ware, als etwas, das er in eine Marke verwandeln kann. Der Schmetterling und die Katze, das sind Greta und ich.

Ben

Ich kann nicht schlafen, also warte ich, bis es ganz still geworden ist, und dann tue ich, was ich immer tue, wenn ich jemanden zum Reden brauche – ich schleiche hinunter in den Küchentrakt, um Priya zu suchen.

Sie backt gerade Brot. Der warme Duft umhüllt mich, als ich durch die schwere Tür trete.

Sie schaut auf und schüttelt den Kopf, als sie mich sieht.

«Warum bist du um diese Zeit noch wach?», sagt sie streng. Aber sie tut nur so, als wäre sie böse – ich sehe am Funkeln in ihren Augen, dass sie sich über meinen Besuch freut.

Ich setze mich auf einen Schemel und schaue ihr beim Arbeiten zu. Hier unten ist es trotz der Öfen kalt, und ich reibe mir die Oberarme. Priya wirft mir einen Blick zu, unterbricht sofort, was sie tut, und geht zum Küchenschrank. Vorsichtig holt sie ihren Sari heraus. Ich wickele mich dankbar hinein und muss daran denken, wie sie ihn mir zum ersten Mal gezeigt hat. Eines kalten Morgens war ich hier unten und unterhielt mich mit ihr, als ich zu frösteln begann. Sie schnalzte missbilligend mit der Zunge und wollte, dass ich zurück nach oben ging, wo geheizt wurde, oder mir zumindest einen Pullover holte, aber ich hörte nicht auf sie und blieb frierend auf meinem Schemel hocken.

Sie sah mich nachdenklich an, dann trat sie an den Küchenschrank, in dem sie die Vorräte aufbewahrte, und holte ihn aus seinem Versteck. Er lag unter einem Sack Reis verborgen und war in Packpapier gewickelt. Ich werde nie vergessen, wie schön er aussah, als sie ihn ausschüttelte. An jenem Tag stand die schwache Wintersonne ganz niedrig am Himmel, und ihr Schein fiel direkt durch die Küchenfenster. Der fließende Stoff des Sari schien das Licht aufzufangen und zurück in den Raum zu strahlen. Türkisfarbener Satin, durchwirkt mit goldenen und violetten Fäden, wie die Federn eines Pfaus. Kühl und schwer fühlte er sich an.

«Sag es aber niemandem», flüsterte sie. «Es ist verbotene Ware.»

Ich wusste zuerst nicht, was sie damit meint, aber sie erklärte es mir irgendwann. Der Sari war das Hochzeitskleid ihrer Großmutter, aus einer anderen Zeit. Ihre Mutter hatte ihn aufbewahrt und ihr geschenkt. Als sie traditionelle indische Gewänder für illegal erklärten, versteckte Priya ihn bei sich zu Hause, aber dort war es so feucht, dass sie befürchtete, ihn zu verderben. Daher schmuggelte sie ihn in unser Haus.

«Eines Tages schenke ich ihn meiner Tochter», sagte sie. «Vielleicht kann sie darin heiraten, wenn sich die Dinge für uns zum Besseren wenden.»

In diesem Moment wurde mir zum ersten Mal klar, dass sie eine eigene Familie hatte. Zum ersten Mal begriff ich, dass sich ihr Leben gar nicht ausschließlich um mich drehte oder darum, uns eine Dienerin zu sein.

Ich überredete sie, mir mehr von ihnen zu erzählen. Am Anfang war sie vorsichtig, aber es fiel ihr schwer, sich zurückzuhalten. Ganz besonders, wenn ich sie nach ihren Kindern fragte, Nila und Nihal.

Ich habe sie immer ein wenig beneidet, diesen Jungen und dieses Mädchen, denen ich nie begegnet bin. Ich weiß, dass das absurd klingt – ich habe alles, und sie haben nichts –, aber wenn sie von ihnen spricht, glänzen ihre Augen, und dann fühle ich mich immer ein wenig traurig und leer. Sie liebt sie so sehr, das merkt man. Sie sieht sie nur ein paar Stunden im Monat, an ihrem halben freien Tag, aber sie lebt für diese Zeit.

Ich frage mich, ob die Augen meiner Mutter auch so strahlen, wenn sie von mir spricht. Ich kann es mir nicht vorstellen. Ich glaube nicht, dass sie mich überhaupt je erwähnt – sie ist sicher viel zu sehr damit beschäftigt, über Wichtigeres zu reden.

Priya hat schon damit begonnen, einen neuen Teig vorzubereiten, geübt kneten ihre Hände Wasser und Mehl zusammen, bis sie sich zu einer weichen Masse verbinden.

«Was ist denn los?», fragt sie. «Was hält den jungen Herrn diesmal vom Schlafen ab?»

«Der Zirkus», antworte ich. «Ich will unbedingt hingehen, aber ich weiß, dass Mutter und Vater es mir nicht erlauben werden.»

Sie hält in der Bewegung inne und sieht mich an. Ihre Gesichtszüge wirken plötzlich ungewöhnlich hart. «Warum willst du unbedingt dorthin?»

«Warum denn nicht?», erwidere ich. «Alle sagen, dass es ganz toll ist.»

«Ja», versetzt sie trocken, und ihre Stimme klingt brüchig. «Das tun sie sicher.»

Sie knetet den Teig jetzt heftiger, bearbeitet ihn mit den Fäusten, bis er nachgibt. Immer und immer wieder klatscht sie ihn auf die Arbeitsplatte und schlägt hinein. Es wirkt fast, als verprügele sie ihn statt eines Menschen. Auf einmal herrscht in der Küche eine ganz andere Stimmung. Priya beachtet mich nicht mehr und konzentriert sich voll auf den Teig. Ihre Lippen sind fest aufeinandergepresst, die Schultern hochgezogen.

Es ist ganz anders als sonst, wenn ich mich zu ihr in die Küche schleiche. Normalerweise plaudern wir stundenlang miteinander, obwohl wir beide wissen, dass es verboten ist.

Ich sitze betreten da und schaue ihr zu.

Es dauert eine Ewigkeit, bis sie endlich wieder spricht.

«Wenn du wirklich glaubst, dass du so etwas genießen kannst», sagt sie.

«Warum sollte ich es denn nicht genießen?»

Sie schaut mich mit einem merkwürdigen Blick an, den ich noch nie an ihr gesehen habe.

«Soll ich dir wirklich sagen, warum?», fragt sie.

«Ja, bitte.»

«Also …» Sie verstummt für einen Augenblick und scheint sich dann einen Ruck zu geben. «Ach, hör nicht auf mich. Es ist doch ganz egal, was ich denke. Ich bin nur ein Dreg; ich weiß ja gar nicht, wovon ich rede.» Sie dreht mir den Rücken zu und sagt: «Ich glaube, du solltest jetzt ins Bett gehen. Es gehört sich nicht, dass du hier unten bei mir bist.»

Das hat sie noch nie gesagt. Sie nimmt eine Tüte Karotten und beginnt sie ungeheuer schnell mit einem Messer zu zerkleinern, hack hack hack.

Warum spielt es für sie so eine große Rolle, ob ich zum Zirkus gehe oder nicht?

«Priya?» Ich weiß auch nicht, warum ich plötzlich so befangen bin. «Ist alles in Ordnung mit dir?»

«Alles gut.» Ihre Stimme klingt beherrschter als sonst. «Was soll denn sein?»

«Ich weiß es auch nicht», erwidere ich. «Ich weiß nicht, was ich falsch gemacht habe.»

Sie seufzt und wendet sich mir wieder zu. «Nein», sagt sie jetzt sanfter, «das tust du wohl nicht.» Sie legt das Messer hin und lehnt sich gegen die Arbeitsplatte. Ihr Körper sinkt in sich zusammen, als würde es ihn viel Kraft kosten, sich den ganzen Tag aufrecht zu halten. Sie schaut mir jetzt direkt in die Augen. «Der Zirkus ist kein zauberhaftes Wunderland, Ben. Sondern ein Straflager.»

Sie geht durchs Zimmer und schaut aus dem Fenster auf die Stadt hinunter. Von hier aus sieht man die Dächer des Zirkus, die bunt erleuchtet sind und funkeln.

«Darin leben vor allem Kinder, die meisten jünger als du.» Sie lacht kalt und freudlos auf. «Es sind kaum Erwachsene dort, soweit ich weiß. Glaubst du, sie haben dieses Leben gewählt, Ben? Meinst du, sie wollten ihre Familie verlassen und wie Waisen aufwachsen?»

«Ich weiß nicht», antworte ich. «Vielleicht sind sie gerne frei, so ohne ihre Mums und Dads. Und überhaupt, es sind ja nur …» Ich verstumme gerade noch rechtzeitig, bevor ich den Gedanken ganz ausspreche.

«Nur Dregs? Wolltest du das sagen?»

Ich lasse den Kopf hängen. Ich wollte sie nicht noch mehr verärgern.

Sie geht zurück zum Küchentresen und beginnt wieder, Karotten zu zerhacken. «Du hast natürlich recht. Es sind ja nur Dreg-Kinder im Zirkus, die sind ja egal. Dregs haben ja keine Gefühle, stimmt’s?»

Ich schweige.

«Es muss ja stimmen. Das erzählen sie euch in der Schule, nicht wahr? Das sagen eure Eltern, das sagt eure Regierung. Natürlich stimmt es.»

Ich weiß nicht recht, ob sie eine Antwort von mir erwartet. Ich weiß auch nicht, was ich sagen soll, also bleibe ich einfach still sitzen.

In mir breitet sich ein merkwürdiges Gefühl aus, während ich ihr dabei zusehe, wie sie wütend auf das Gemüse einhackt; es fühlt sich ein bisschen an wie Schuld und auch ein wenig wie Scham. Aber es ergibt keinen Sinn. Warum nur fühle ich mich, als hätte ich etwas falsch gemacht?

Schließlich falte ich den Sari zusammen und lege ihn auf den Schemel. Dann schleiche ich aus der Küche und zurück ins Bett.

Hoshiko

Amina ist immer noch nicht zurück, und alle in unserem Schlafsaal schlafen längst, außer mir. Greta liegt in meinen Armen, ihr Atem geht tief und ruhig. Ich verberge mein Gesicht in ihrem weichen Haar und ziehe sie an mich.

Wie werde ich mich wohl fühlen, wenn sie irgendwann allein schlafen will? Ich werde es schrecklich finden, das weiß ich jetzt schon.

Dieser nächtliche Trost, den ich ihr spende – er wirkt in beide Richtungen. Normalerweise lindert es auch meinen Schmerz ein wenig, wenn wir miteinander kuscheln. Aber heute Nacht nicht. Heute Nacht wollen sich all die Erinnerungen, all die Wut, all die Ängste einfach nicht beruhigen. Sie wollen sich nicht unterdrücken lassen, sie sickern durch die Ritzen der Mauern, die ich in meinem Inneren errichtet habe, und quälen mich.

Ich versuche, an etwas anderes zu denken, aber die Bilder fliegen durch meine Gedanken wie aufgewirbelte Schwarzweiß-Aufnahmen.

Eine Sekunde lang sehe ich Mum, Dad und Miko, so wie sie waren, als ich sie zum letzten Mal gesehen habe, die Arme nach mir ausgestreckt, ein eingefrorenes Gemälde. Ich versuche, nach ihnen zu greifen, ihre Finger zu berühren, aber da sind sie schon verschwunden, ein verschwommener Fleck, der sich weiter und weiter von mir entfernt. Bevor ich auch nur ihre Augen, ihre Gesichter erkennen kann, bevor ich mich erinnere, wie sie gewesen sind, entgleiten sie meinem Griff; das tun sie immer.

Warum kann ich mich nicht mehr erinnern? Warum ist alles fort? Alles zu einem Nichts verblasst, sodass ich nur diese flüchtigen, quälenden Blicke auf sie erhaschen kann?

Greta erinnert sich noch. Manchmal, wenn es hier ganz besonders schlimm ist, versetzt sie sich zurück nach Hause. Sie bekommt diesen abwesenden Blick, und dann weiß ich, dass sie gerade ganz woanders ist. Ich weiß auch, dass es alles für sie nur noch schwieriger macht, aber trotzdem beneide ich sie manchmal, dieses kleine Mädchen neben mir. Sie hat sie noch nicht verloren, ihre Familie, so wie ich.

Mir macht es Angst, wie leidenschaftslos meine Gedanken geworden sind. Die Bilder von dem Ort, der einst mein Zuhause war, sind verschwommen und unscharf, wie Dunstschwaden. Ich versuche, sie zu greifen, aber sie gleiten mir durch die Finger. Sobald ich jemanden genauer zu erkennen versuche, kommt es mir vor, als würde ich in die Vergangenheit eines anderen Menschen blicken, selbst wenn es meine eigene Mutter ist. Ich kann nicht mehr unterscheiden, was eine echte Erinnerung ist und was ich mir später ausgedacht habe, um die Lücken zu füllen.

Genau aus diesem Grund verbieten sie den Zirkusartisten den Kontakt zu ihren Familien: um die Fesseln zu durchschlagen, die uns binden. Damit wir uns nicht nach Hause zurücksehnen.

Ich hasse die Erkenntnis, dass es funktioniert.

Früher habe ich oft um sie geweint. Ich war ganz erfüllt von einer hungrigen, verzweifelten Sehnsucht nach meiner Mutter und meinem Vater und nach meinem kleinen Bruder. Er war erst eins, als ich ging. Ein pausbäckiges kleines Kerlchen, daran erinnere ich mich, so unmöglich es jetzt auch erscheint. Wie kann er in den Slums, in denen wir gelebt haben, pausbäckig gewesen sein? Meine Mum hat ihn noch gestillt, deshalb. Sie war sehr blass und schwach, wie ein zerbrechliches Zweiglein. Er hat ihr alle Nährstoffe ausgesaugt, genau wie ich vor ihm.

Sie hat sich für ihn aufgeopfert, für uns beide, und verging dabei still, mit einem sanften Lächeln auf den Lippen. So war sie: selbstlos, weich, geduldig. Mehr kann ich nicht sehen, wenn ich zurückschaue: eine immer blasser werdende Kontur. Eines Tages werde ich irgendwie herausfinden, was aus meiner Familie geworden ist.

Ich drehe mich um und starre gegen die Wand, kratze an dem rissigen und schmutzigen Putz.

Ein Tröpfchen, ein Rinnsal, eine Flut: der Damm bricht.

Aus dem Nichts steigt ein riesiger Schluchzer in mir auf. Ich vergrabe mein Gesicht im dünnen Kissen und versuche, das Geräusch zu ersticken. Aber das wird nicht funktionieren; wenn noch irgendjemand wach ist, wird er mich hören. Ich habe die anderen oft genug im Dunkeln schluchzen hören, um das zu wissen.

Ich weine eigentlich nicht mehr. Was ist nur los mit mir heute Nacht? Das Letzte, was ich will, ist, Greta aufzuwecken. Es würde sie verunsichern; sie hat mich noch nie so erlebt. Niemand hat das. Niemand außer Amina.

Schließlich ziehe ich langsam meinen Arm unter ihr hervor und stehe auf, so vorsichtig ich kann. Ich tappe leise zum Fenster und halte mich am Gitter fest, lehne den Kopf gegen das kalte Metall und schaue hinaus.

Ganz oben, so weit oben, dass sie die Sterne zu berühren scheinen, liegen die riesigen Häuser der Reichen, ihre Anwesen, die um die Stadt herum erbaut wurden. In einem von ihnen brennt noch Licht, im obersten Stockwerk, und im erleuchteten Fenster erkenne ich den Umriss eines Menschen.

Ich höre ein Geräusch hinter mir und drehe mich um: Amina kommt aus der Krankenstation, gähnt und tritt zu mir.

«Wie geht es dem Patienten?», frage ich.

Sie lächelt mich kläglich an. «Ganz gut, glaube ich. Ich meine, es ist ein glatter Bruch und würde problemlos verheilen, wenn …» Sie muss den Satz nicht zu Ende führen; ich weiß, was sie meint. Wenn man ihm die Zeit ließe, würde der Bruch verheilen, aber wenn der Junge nicht arbeitet und dem Zirkus kein Geld bringt, wird Silvio nicht lange Geduld mit ihm haben.

Amina genießt die zweifelhafte Ehre, als einziger Dreg im Zirkus geduldet zu sein, der nicht mehr auftreten kann. Sie ist jetzt zwanzig, das ist recht alt für die Menschen hier. Noch vor anderthalb Jahren war sie eine unserer besten Artistinnen. Aber eines Nachts fiel sie, und das sollte das Ende sein. Sie war die ganze Nacht mit einem kranken Kind aufgeblieben – Aran, so hieß er – und hatte versucht, ihn ins Leben zurückzulocken, nachdem eine Gruppe von Pures ihn für ihren kranken Sport missbraucht hatte. Sie konnte nichts tun, er starb, aber sie hatte nicht geschlafen, seit Tagen nicht. Nur deshalb konnte es passieren.

An jenem Tag waren Bogenschützen in der Arena, zwölf an der Zahl. Das Timing in der Manege ist schon bei normalen Auftritten das Wichtigste für uns Trapez- und Hochseilartisten, aber wenn wir gleichzeitig den tödlich scharfen Pfeilen ausweichen müssen, die von allen Seiten auf uns niederprasseln, fällt es schwer, sich zu konzentrieren.

Ich erinnere mich genau, wie ich an der Trapezschaukel zu ihr schwang, meine Hände nach ihr ausstreckte und darauf wartete, dass sie sie ergriff, wie sie es Millionen Male vorher getan hatte. Ich erinnere mich an den Pfeil, der sirrend durch die Luft flog und sich in ihren Hals bohrte, um dort noch kurz zu erzittern, während das Publikum begeistert jubelte. Ich erinnere mich an ihren Mund, der sich erschrocken öffnete, daran, wie sie die Augen aufriss. Sie verlor die Konzentration, nur für einen winzigen Augenblick, mehr nicht, aber ein winziger Augenblick ist in unserem Geschäft viel zu lang. Sie verpasste ihren Moment. Sie verfehlte meine Hände, ihr Fuß rutschte vom Draht ab. Nur einen Millimeter zu kurz, nur den Bruchteil einer Sekunde zu spät, mehr brauchte es nicht.

Wie in Zeitlupe schwinge ich in meiner Erinnerung auf sie zu, und ich muss hilflos zusehen, wie sie fällt. Ihre Arme, die sich mir entgegenstrecken; ihre Augen, so groß und voller Angst, und sie fällt, fällt, fällt in die Manege unter ihr.

Die Pures überrannten in jener Nacht die Arena; sie beachteten die Sicherheitsanweisungen nicht, drängten sich zwischen den Wächtern hindurch und kletterten über die Absperrungen. Hunderte von ihnen, alle gierig darauf, sie als Erste zu fassen zu kriegen. Ein brodelnder, rasender Mob.

Im einen Augenblick sehe ich sie auf den Boden auftreffen, im nächsten haben sie sich schon auf sie gestürzt.

Und es heißt immer, wir seien keine Menschen.

Es ist beinahe zum Lachen. Diese Pures mit ihren Allüren und diesem Überlegenheitsgehabe, das sie wie eine Krone tragen. Sie sind Tiere, Bestien, jeder Einzelne von ihnen.

Gott allein weiß, warum Amina in jener Nacht nicht starb. Sie dachten, sie sei längst tot. Und sie hätten ihren Körper wohl vollends in Stücke gerissen, wenn die Wächter die Kontrolle über die Arena nicht wiedererlangt hätten.

Seitdem ist sie nicht mehr dieselbe. Man kann nicht auf dem Hochseil tanzen, wenn Arme und Beine mehrfach gebrochen sind, wenn Rippen zerschmettert und die Finger überstreckt und nutzlos sind.

Nur weil sie heilen kann, lässt Silvio Amina bleiben. Sie hat natürlich keine Heilerausbildung, aber ihre Mutter konnte ihr die Grundlagen beibringen, als sie noch ganz klein war, bevor sie sie mitnahmen, und seitdem versorgt sie uns. Niemand sagt ihr, was sie tun soll, sie weiß es einfach. Es liegt ihr im Blut. Offenbar liegt die Gabe zu heilen, das Verständnis der Medizin, seit Generationen in ihrer Familie.

Deshalb duldet Silvio sie. Sie ist ihm immer noch von Nutzen, anders als all die anderen. Sie senkt Kosten, hält Leute für ihn am Leben, die sonst gestorben wären, sie repariert und flickt sein bestes Kapital, stellt sie wieder auf die Beine und auf die Bühne. Für einen echten, ausgebildeten Arzt würde er niemals Geld ausgeben, stattdessen ruft er Amina, damit sie die Wunden versorgt.

Ein einziges Mal habe ich mehr für ihn gefühlt als puren Hass – das war, als er ihr Leben verschonte.

Vorher hatte ich ihre Stärke als selbstverständlich hingenommen. Sie wirkte immer so tapfer, so kriegerisch. Meine Heldin. Ohne Aminas Training, ohne ihre Unterstützung hätte ich es niemals geschafft. Sie schenkte mir den Glauben an ein Leben nach diesem Ort; an ein Ende dieser erbärmlichen Existenz. Sie ist natürlich immer noch meine Heldin, aber jetzt weiß ich, dass sie nicht unbesiegbar ist. Ich weiß, dass ich versuchen muss, sie zu beschützen, ebenso wie sie versucht, mich zu beschützen.

Ich spüre, wie sie mich prüfend ansieht. «Du hast geweint», stellt sie fest. «Was ist los?»

«Ich weiß es eigentlich nicht», seufze ich. «Gar nichts. Alles. Du musst doch völlig erschöpft sein. Geh ins Bett, ehrlich, mir geht es gut.»

Sie lächelt, rührt sich aber nicht. Sie legt den Arm um meine Taille, und wir stehen Seite an Seite und schauen in die vom Mondlicht erhellte Nacht hinaus.

Ich lehne meinen Kopf an ihre Schulter, auf ihre wilden Locken.

«Ich habe an meine Familie gedacht. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wie meine Mum aussieht», erzähle ich.

Einen Moment lang schweigt sie.

«Es ist hart», sagt sie dann. «Ich vergesse auch Dinge.»

«Wirklich?»

Sie nickt traurig.

«Aber wer du bist und woher du kommst, das können sie dir nicht nehmen. Du behältst deine Familie bei dir, das sage ich mir immer. Die Einzelheiten verschwimmen vielleicht ein wenig, aber unsere Lieben verlieren wir nie; sie bleiben hier, ganz tief in uns. Sie machen uns zu denen, die wir sind.»

Amina findet immer genau die richtigen Worte, damit es mir besser geht.

«Glaubst du, dass es sich jemals ändern kann?», frage ich. «Das alles?»

Ihre Antwort kommt sofort und entschlossen.

«Ja. Wenn wir weiter daran glauben. Wenn wir die Hoffnung nicht aufgeben. Wenn wir zusammenhalten. Ja, es wird sich etwas ändern. Sieh mal», sie deutet über die Gebäude der Stadt zum Horizont. «Die Sonne geht schon bald auf.»

Sie streicht mir sanft übers Haar, und meine Schultern entspannen sich. Dann nimmt sie mich bei der Hand und führt mich zu meinem Bett. Ich kuschele mich an Greta, und sie steckt die dünne Decke um mich herum fest und setzt sich neben uns auf den Boden. Sie streichelt mir das Haar wie früher, in meinen ersten Tagen hier.

Ich schlafe ein.

Ben

Als ich nach unten in den Frühstückssaal komme, sitzen dort schon alle und essen schweigend. Francis hat sein Handy in der Hand und spielt irgendein brutales Spiel – Dreg Destruction offenbar. Vater liest die Nachrichten auf seinem Tablet, und Mutter liest ihre E-Mails.

Ich versuche, Priyas Blick aufzufangen, als sie den Teller vor mir abstellt, aber sie sieht mich gar nicht an. Auch das heimliche kleine Lächeln, das sie mir sonst schenkt, bleibt heute aus.

Plötzlich schnaubt Mutter verächtlich. Es klingt so angeekelt, dass wir alle aufschauen, sogar Francis. Sie schiebt Vater ihr Tablet zu, und er überfliegt die Nachricht auf dem Display. Er lacht leise und schiebt das Tablet wieder zurück.

«Ich nehme an, die Antwort lautet nein?»

«Ja! Die Antwort lautet nein!»

Ihre kühlen blauen Augen richten sich auf Francis und mich. «Sie haben uns Eintrittskarten für den Zirkus angeboten. VIP. Für die Premiere. Das ist heute Abend.»

Ich werfe Priya, die jetzt mit gesenktem Kopf in der Ecke steht, einen Blick zu. Ich will nicht, dass sie wieder wütend wird, aber diese Gelegenheit kann ich mir nicht entgehen lassen.

«Ich glaube, ich würde gern dorthin gehen», sage ich vorsichtig. Ich habe das Gefühl, dass Mutter das gar nicht gefallen wird.

Sie sieht mich an und schüttelt den Kopf. «Du willst wirklich dorthin gehen und dir diesen Schund ansehen? Zuschauen, wie sich ein Haufen Dregs erniedrigt?» Sie zieht auf ihre hämische Art eine Augenbraue hoch. «Und warum genau möchtest du das, Benedict?»

Ich winde mich unter ihrem durchdringenden Blick.

«Alle in der Schule gehen», sage ich und begreife im selben Augenblick, dass das ein ziemlich schwaches Argument ist. «Und es wäre doch auch pädagogisch sinnvoll, wenn ich einmal sehen könnte, was da draußen vor sich geht. Es ist doch gut, wenn man seinen Feind kennt und so.»

Das scheint Mutter zu denken zu geben. «Hmm. Alle in der Schule, sagst du? Francis, was meinst du dazu?»

Er zuckt die Achseln. «Ist vielleicht ganz lustig. Besonders, wenn es da Action gibt, wenn du weißt, was ich meine.» Seine Miene hellt sich auf. «Ich glaube, das würde ich mir auch gerne ansehen!»

Mein Vater stellt seine Tasse unsanft auf die Untertasse, sodass sein Kaffee bis auf den Tisch schwappt.

«Denk nicht einmal daran.» Sein Ton ist untypisch entschlossen.

«Ich muss aber darüber nachdenken, Peter», wendet Mutter ein. «Ich muss die Parteiführung im Auge behalten. Mich bei einer solchen Großveranstaltung zu zeigen, könnte zwischen Sieg und Niederlage entscheiden.»

«Nein! Ich werde nicht zulassen, dass du die Jungen nur für dein öffentliches Ansehen einem Risiko aussetzt!»

«Du tust ja so, als täte ich es aus reiner Eitelkeit. Hier geht es auch um dich und um sie. Ich arbeite für jeden in dieser Familie hart. Ich tue das für uns alle!»

«Du tust es für dich. Wir haben uns darauf geeinigt, dass wir sie beschützen wollen, egal, was auch geschieht – besonders nach dem Vorfall damals.»

Der Vorfall damals. Sie benutzen immer genau diese Worte, wenn sie es erwähnen. Als wüssten wir nicht, was gemeint ist.

Ich erinnere mich lebhaft.

Eine Hand in der Menge, die mich packt, die mich von ihnen fortzieht. Ein Messer an meinem Hals. Schüsse.

«Das ist doch schon zwei Jahre her, jetzt liegen die Dinge ganz anders. Die Dregs sind inzwischen viel besser unter Kontrolle.»

«Das macht sie nur noch rachsüchtiger, verstehst du das denn nicht? Es macht einen zweiten Versuch wahrscheinlicher, nicht weniger wahrscheinlich.»

«Wir nehmen ein paar mehr Bodyguards mit, und die Polizei ist ohnehin in der Nähe. Was können sie schon tun?»

«Eine Menge! Sie können eine Menge tun. Warum um alles in der Welt willst du die Jungen überhaupt so einem Schund aussetzen?»

«Wir können sie nicht für immer in Watte packen, Peter», antwortet sie in diplomatisch-ruhigem Ton.

«Wir packen sie nicht in Watte, wir beschützen sie, so gut wir können. Sie vor einem Haufen wütender, verbitterter Dregs zur Schau zu stellen ist einfach dumm. Dumm und gefährlich. Und das hier sind nicht irgendwelche Dregs, sondern Zirkus-Dregs. Die Niedrigsten der Niedrigen!»

Sie tut so, als hätte sie ihn nicht gehört. «Und das mediale Aufsehen – dort ist alles voller Kameras, Tausende von Leuten, die Bilder online posten.» Bei dem Gedanken daran umspielt ein Lächeln ihre Lippen.

«Wir gehen nicht. Ich verbiete es.»

Sie beugen sich beide vor und sehen einander böse an. Sie ist wie immer perfekt gekleidet: eine frisch gebügelte weiße Bluse, ein teurer Blazer, ein glattgeföhnter roter Bob. Er erzielt nicht ganz dieselbe Wirkung: Das Hemd sitzt in letzter Zeit ein wenig zu eng, die Krawatte schief, das Haar wird schütter.

Ich halte den Atem an.

Es dauert nicht lange, bis mein Vater den Blick abwendet. «Mach, was du willst. Mach, was du verdammt noch mal willst.» Seine Stimme klingt verärgert, resigniert, geschlagen, alles zusammen. «Das hast du doch sowieso immer gemacht!»

Das Lächeln erscheint wieder auf dem Gesicht meiner Mutter; ein kleines Siegeslächeln. «Nun gut, das hätten wir also geklärt. Zieht euch schick an, Jungs.» Ihre Stimme trieft vor Sarkasmus. «Wir gehen in den Zirkus!»

Hoshiko

Die Morgensirene reißt mich aus dem Schlaf. Ich muss erst vor einer Stunde eingeschlafen sein, und mein Kopf fühlt sich noch schwerer und benommener an als sonst. Neben mir ist eine warme Kuhle an der Stelle, wo Greta gerade eben noch gelegen hat. Vermutlich ist sie schon aufgestanden und rennt mit den anderen Kindern im Gemeinschaftsbereich herum. Gott weiß, woher sie die Energie zum Spielen haben. Amina ist auch nicht mehr da – sicher schaut sie nach ihrem Patienten auf der Krankenstation.

Ich reihe mich in die lange Schlange vor der Essensausgabe ein, lade mir meine Ration aufs Tablett und bemerke in einiger Entfernung Aminas dunkle, lockige Mähne. Sie sitzt in einer Ecke des Saals, ganz am Ende eines riesigen Holztisches.

Es ist schon eine Menge los hier, aber ihr gegenüber sind noch zwei freie Plätze für Greta und mich.

Ich lasse mich auf die Bank gleiten und starre auf mein Tablett. Zwei Vitaminpillen, die angeblich alle notwendigen Nährstoffe enthalten, ein gräulicher Haferkeks und ein Plastikbecher mit Milch.

Ich kann mich nicht daran erinnern, wann wir das letzte Mal Milch hatten. Amina lächelt mich schief an.

«Freu dich lieber nicht zu früh. Riech erst einmal daran, bevor du einen Schluck nimmst.»

Ich beuge mich zu dem Becher hinunter. Mein Magen dreht sich beinahe um – die Milch ist vollkommen verdorben.

Amina kichert in sich hinein. «Da werden wir heute wohl durstig bleiben müssen.»