Die Arena: Letzte Entscheidung - Hayley Barker - E-Book

Die Arena: Letzte Entscheidung E-Book

Hayley Barker

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Beschreibung

Nachdem Hoshiko und Ben den Zirkus in Brand gesetzt haben, sind sie nun auf der Flucht. Doch Bens Mutter wird alles daran setzen, um ihn zu finden und Rache zu nehmen; ihn in die Enge zu treiben und dazu zu zwingen, sich für Hoshiko zu opfern. Denn die tödlichste Show der Welt ist wieder zurück. Und wenn Ben dachte, er würde ihre dunkelsten Geheimnisse schon kennen, dann muss er nun feststellen, dass er das wahre Ausmaß des Schreckens unter dem Kuppeldach erst jetzt kennenlernen wird - als die neue Attraktion des Zirkus ...

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Hayley Barker

Die Arena

Letzte Entscheidung

Roman

Aus dem Englischen von Christiane Steen

Über dieses Buch

Nachdem Hoshiko und Ben den Zirkus in Brand gesetzt haben, sind sie nun auf der Flucht. Doch Bens Mutter wird alles daran setzen, um ihn zu finden und Rache zu nehmen; ihn in die Enge zu treiben und dazu zu zwingen, sich für Hoshiko zu opfern. Denn die tödlichste Show der Welt ist wieder zurück. Und wenn Ben dachte, er würde ihre dunkelsten Geheimnisse schon kennen, dann muss er nun feststellen, dass er das wahre Ausmaß des Schreckens unter dem Kuppeldach erst jetzt kennenlernen wird - als die neue Attraktion des Zirkus ...

Vita

Hayley Barker hat fast achtzehn Jahre als Englischlehrerin gearbeitet, bevor sie sich in Vollzeit dem Schreiben widmete. Sie liebt Jugendbücher, und ihre Romane veröffentlicht zu sehen, ist für sie das größte Abentuer ihres Lebens. Sie lebt mit ihrem Mann, zwei Söhnen und einem etwas hyperaktiven Hund in Essex.

Für Mum und Dad

Hoshiko

Ich weiß nicht, ob ich vom Verkehrslärm draußen wach werde, der sich mit der Rushhour verstärkt, oder von der Sonne, die durch die Risse in den Fensterläden dringt, doch ich bin die Erste, die an diesem Morgen aufwacht – um mich herum die schlafenden Umrisse der anderen, still und regungslos, die offenbar nichts von der Helligkeit oder dem Konzert aus Hupen und Motorlärm mitbekommen.

Ich strecke meine Glieder und genieße den ungewohnten Luxus von Frieden. Ich glaube, ich habe mich nicht so entspannt gefühlt seit … na ja, eigentlich noch nie. Im Zirkus war das Leben ganz bestimmt nicht entspannt – nicht wenn der Tod ständig im Schatten lauert und jeden Abend Menschen mit sich nimmt, ein Lächeln im Gesicht. Und mein eigenes Leben war auch nicht gerade ruhig, seit ich die Granate geworfen habe, um die Arena in die Luft zu sprengen und den furchtbaren Zirkusdirektor Silvio Sabatini zu töten.

Jetzt ist all das beinahe ein Jahr her, und wir haben es immer noch nicht geschafft, aus London rauszukommen. Dabei waren wir so voller Hoffnung. Wir wollten uns eine Weile erholen und dann einen der Häfen von Essex oder Kent ansteuern, auf ein Boot steigen und in die Freiheit fahren – an einen besseren Ort. Doch so ist es nie gekommen. Überall, wo wir auftauchen, folgen uns misstrauische Blicke, und wir sind dem Dröhnen der Polizeipfeifen, ihren Sirenen und ihren stampfenden Stiefeln immer nur einen Schritt voraus. Jedes Mal, wenn wir versuchen, aus der Stadt zu fliehen, versperren uns Barrikaden den Weg, und ihr Netz zieht sich immer enger um uns zusammen.

Wenn man zu den meistgesuchten Verbrechern des Landes gehört, ist man immer auf der Flucht. Man schaut ständig über die Schulter, kann nie ausruhen, darf niemals stehen bleiben, wird auf Schritt und Tritt verfolgt.

So oft schon war es fast vorbei. So oft wurden wir fast geschnappt. Unsere Fotos werden an praktisch jedes Gebäude gestrahlt, und jedem, der Informationen über unseren Aufenthaltsort geben kann, winkt eine große Belohnung. Es ist schwer, sich zu verstecken, wenn man derartig bekannt ist, und einen Zirkusaffen bei sich zu haben macht es nicht einfacher. Dies ist die vierte Nacht in Folge, die wir hier in diesem verlassenen Büro im obersten Stock eines Wohnblocks kampieren. Jack hat erzählt, dass die gesamte Belegschaft, die hier einmal gearbeitet hat, eines Morgens wie gewohnt zur Arbeit kam und erfuhr, dass die Firma bankrott war, dass sie alle ihren Job verloren hatten und nach Hause gehen sollten.

Ich weiß nicht, woher er solche Sachen weiß, aber Jack scheint immer ein sicheres Versteck für uns zu finden. Er war über zwanzig Jahre lang Pure-Polizist, bevor er seine Deckung aufgab und uns direkt vor der Nase von Bens Mutter aus dem Zirkus brachte. In dieser Nacht rettete er Greta und mich vor dem sicheren Tod, und nur ihm haben wir es zu verdanken, dass wir bis jetzt überlebt haben. Er hat seine Kontakte überall und ist die ganze Zeit über bei uns geblieben.

Nicht dass wir besonders weit gekommen sind. Nicht dass wir überhaupt irgendwohin gekommen sind.

Ich schaue mich in dem riesigen Büro um. Es wirkte ein bisschen unheimlich, als wir hier ankamen und im schwachen Schein von Jacks Taschenlampe die unbenutzten Schreibtische sahen, die Kaffeebecher, die man einfach hatte stehenlassen, und die Fotos mit den lächelnden Pure-Kindern, die uns aus den Rahmen angrinsten. Wenn es nicht so modrig riechen und die vertrockneten Pflanzen ihre Blätter nicht so traurig hängen lassen würden, könnte man denken, die Leute wären erst gestern Abend gegangen. Es wirkt, als wäre in diesem Büro die Zeit stehengeblieben, als halte es den Atem an, nur eine Weile, bis es wieder genutzt wird.

Jetzt fühlt es sich nicht mehr unheimlich an. Es ist vertraut, fast wie ein Freund. Es hat uns Schutz gegeben, uns behütet, ohne im Gegenzug etwas von uns zu verlangen.

Jeden Morgen sagt Jack, wir sollten lieber packen und woanders hinziehen, weil es ein Fehler sei, zu lange an ein und demselben Ort zu bleiben; es sei zu riskant. Er wird immer nervöser. Ich sehe, wie er sich weiter hinten im Büro auf die andere Seite dreht, und ich seufze leise. Sobald er aufwacht, wird er uns alle hochscheuchen und weiterziehen wollen.

Ich verstehe nicht, warum wir nicht einfach hierbleiben können. Niemand nutzt dieses Büro, und bestimmt ist es sicherer zu bleiben, als wieder da rauszugehen, wo wir sichtbar sind. Jacks Freunde vom Widerstand können uns zu essen und zu trinken bringen, und wenn wir wirklich nicht aus der Stadt hinauskommen, dann können wir hier wenigstens ausharren – meinetwegen auch für immer.

Ich werde den anderen das vorschlagen, wenn sie wach sind. Ben und Greta werden mich sicher unterstützen.

Mein Rücken tut mir weh, und meine Wangen brennen vom Liegen auf dem kratzigen Teppich. Ich bewege meine Zehen. Sie sind eingeschlafen, weil ich die ganze Nacht in derselben Haltung gelegen habe. Immerhin tun sie nicht mehr weh. Es hat eine Weile gedauert, aber jetzt bin ich wieder gesund – jedenfalls äußerlich. Ben auch: Sein Bein ist beinahe vollkommen verheilt; Haut ist über die klaffende Wunde gewachsen, und man kann nicht mehr erkennen, dass er mal gehinkt hat. Auch die Wunden in unserem Inneren, die klaffenden Löcher, die niemals heilen – die die Form von Amina und Prya haben –, sind jetzt leichter zu ertragen. Der Schmerz wird niemals ganz weggehen, und das will ich auch gar nicht – immerhin sind beide unseretwegen gestorben –, aber wir können jetzt über sie sprechen, ohne total zusammenzubrechen.

Mein Mund ist völlig ausgetrocknet. Ich muss wirklich was trinken. So leise ich kann, schäle ich mich aus den abgewetzten Decken, in die ich mich gehüllt habe, und richte mich auf. Ben neben mir dreht den Kopf. Er legt seine Hand auf mein Bein, doch seine Augen bleiben geschlossen, und sein Atem geht langsam und gleichmäßig.

Als ich ihn anschaue, wie er da so liegt, schlägt mein Herz schneller. Seine Wangen sind dunkel und kratzig von Bartstoppeln, und wenn er wach ist, ähnelt er bereits dem Mann, der er einmal sein wird. Aber wenn er schläft, sieht sein süßes Gesicht genauso aus wie an diesem ersten Morgen, als ich ihn im Zirkus unter meinem Bett schlafen sah und so sehr versuchte, ihn zu hassen.

Ich werde mir später etwas zu trinken holen. Ich lege mich wieder hin und kuschle mich an ihn. Seine Arme legen sich um mich, und ich passe meinen Atem seinem an.

Ein paar Augenblicke lang bin ich glücklich. Nicht auf eine ausgelassene Weise, sondern auf eine ruhige. Es ist ein tiefes, stilles Glück. Wir sind auf der Flucht, und wir wissen nicht, was als Nächstes passiert, aber wir sind lebendig und zusammen, und das ist alles, was zählt. Hier gehöre ich hin, genau hier.

Plötzlich Schüsse. Das Geräusch von splitterndem Holz, Schritte, Hunderte, die die Treppe heraufkommen.

Sofort sitzen wir alle kerzengerade. Ich sehe in Bens vor Schreck weit aufgerissene Augen.

«Was ist los?» Greta klammert sich an Bojo, der direkt neben ihr schläft, sogar auf demselben Kissen, auch wenn wir ihr alle gesagt haben, dass es unhygienisch ist, sein Bett mit einem Affen zu teilen. Seine kleinen Arme sind fest um ihren Hals geschlungen, und er sieht uns alle besorgt und verwirrt an.

Jack ist bereits aufgesprungen. «Was los ist?», sagt er mit grimmigem Gesicht. «Sie sind hier, das ist los. Sie haben uns gefunden.»

Ben

Ich brauche ein oder zwei Sekunden, um mich zu sammeln und zu begreifen, was passiert. Selbst als Jack sagt, dass sie jetzt da sind, kann mein Gehirn die Bedeutung der Worte nicht erfassen. Ich weiß nicht, warum es so ein Schock für mich ist – wir haben fast ein Jahr auf diesen Tag gewartet.

Auf den Tag, an dem sie uns schließlich eingeholt haben.

Dutzende von Malen haben wir versucht, aus der Stadt zu fliehen. Dutzende von Malen mussten wir umkehren, weil wir auf Straßenblockaden trafen oder auf Polizeibarrieren, die uns den Weg versperrten. Dutzende von Malen mussten wir flüchten, mussten uns verstecken. Dutzende von Malen sind wir nur ganz knapp entkommen.

Ich weiß nicht, ob meine Mutter die Suche nach uns persönlich finanziert oder ob sie, was wahrscheinlicher ist, öffentliche Gelder dafür verwendet, aber in jedem Fall wurden keine Kosten und Mühen gescheut. Auf jeder Straßenlaterne, in jedem Ladenfenster, auf jedem Wolkenkratzer sind unsere Bilder zu sehen.

Wir hatten gehofft, dass die Verbissenheit, mit der man nach uns sucht, irgendwann abnimmt, doch sie scheint sich im Gegenteil noch gesteigert zu haben.

Vor ein paar Wochen sahen wir unsere Porträts eines Morgens sogar auf der Fassade des PowerHouse, des riesigen Regierungsgebäudes im Zentrum von London. Die kolossale Statue des grinsenden goldenen Mannes – der den reinen, den überlegenen Teil der Gesellschaft symbolisiert und sich stolz über dem Haufen armer, unterdrückter Dregs erhebt, die er unter seinen Füßen zerquetscht – verschwindet nun hinter dem weltgrößten GESUCHT-Plakat. Tag und Nacht starren die Gesichter von Englands meistgesuchten Kriminellen von dort oben auf die Stadt herab. Hoshi, Greta, Jack, ich.

Das Kopfgeld, das sie auf uns ausgesetzt haben, wird jede Woche angehoben. Darum, meint Jack, sind wir niemals sicher.

«Alle Menschen haben einen Preis», sagt er immer, «selbst die Guten. Die Polizei wird nicht aufhören, nach uns zu suchen, nicht nach allem, was mit dem Zirkus passiert ist; und nicht wenn der Sohn einer der wichtigsten Politikerinnen des Landes dabei ist. Und irgendwann werden sie uns schnappen. Ganz sicher.»

Jetzt ist es so weit; sie sind hier, in diesem Gebäude, sie kommen über die Haupttreppe herauf, direkt auf uns zu. Man kann sie hören. Es sind sehr viele.

Die anderen werden viel schneller aktiv, rennen los in Richtung Notausgang. Als sie die Tür erreichen, dreht Hoshi sich nach mir um.

«Schnell!», zischt sie. «Beeil dich, Ben, wir müssen sofort hier raus!»

Erst jetzt erwache ich aus meiner Lähmung. Ich laufe hinterher, stürze noch mal zurück, packe meine Waffe und renne ihnen nach.

Die Schritte sind jetzt noch näher, und eine dröhnende Stimme brüllt Befehle. Hier geht es offenbar nicht um einen Überraschungsangriff, sie geben sich nicht mal Mühe, leise zu sein. Wieso nicht?

Weil sie euch schon längst umstellt haben, sagt eine Stimme in meinem Kopf.

Als ich durch den Notausgang ins Treppenhaus trete, treffen meine Augen auf Jacks. Ich sehe den schicksalsergebenen Ausdruck in seinem Gesicht, und ich weiß, dass ich recht habe.

Wir laufen die Treppen hinunter. Jack, Hoshi und ich, alle mit unseren Waffen. Vor uns bleibt Greta plötzlich stehen und schaut uns mit weit aufgerissenen Augen an.

Sie strömen von unten zu uns hoch, ganze Polizeistaffeln.

Wir drehen uns um, doch über uns sind noch mehr, sie schwärmen durch die Tür, die Schutzschilde vor sich gehalten, und von allen Seiten richten sich Pistolen auf uns.

Das ist es also. Das ist das Ende.

Die Zeit ist um.

Hoshiko

«Stehen bleiben!», schreit eine Stimme, und auf der Treppe über uns tritt ein Polizist vor. «Lasst die Waffen fallen. Ihr kommt hier nicht raus, wir haben euch komplett umstellt.»

Bewaffnete Uniformierte blockieren uns den Weg nach oben und nach unten. Durch das Fenster sehe ich Dutzende Polizeiwagen mit Blaulicht vor dem Gebäude stehen.

Was sollen wir jetzt tun? Ich sehe zu Jack, suche in seinem Gesicht nach Antworten. Er findet einen Ausweg, ihm gelingt immer das Unmögliche, seit er uns so unverfroren aus dem Zirkus gebracht hat.

Ich versuche seinen Blick aufzufangen, aber er schaut gar nicht auf. Sein Ausdruck ist niedergeschlagen. So hat er noch nie ausgesehen, niemals, noch nicht einmal in den schwärzesten Stunden.

Es gab Tage im letzten Jahr, an denen Greta schluchzend ihren Kopf in die Hände legte; Tage, an denen Ben vor Erschöpfung und Verzweiflung auf den Boden sank; Tage, an denen ich so mürrisch und übellaunig war, dass ich stundenlang mit niemandem sprach. Wir hatten alle unsere dunklen Momente, wir drei. Aber nicht Jack. Egal, was passierte, Jacks Augen strahlten immer Optimismus aus. Er ist nie deprimiert. Er gibt niemals auf.

Bis jetzt.

All meine Hoffnung fällt in sich zusammen, als er seine Waffe senkt, sie vorsichtig auf den Boden legt und die Hände hebt. Er ergibt sich.

Was soll er auch sonst tun? Wir sind erledigt.

Vermutlich werden sie uns alle umbringen. Auf jeden Fall werden sie Jack, Greta und mich töten. Jack ist ein Verräter, und Greta und ich sind sogar noch Schlimmeres. Dreg-Aufständische, Dreg-Entführer – Dreg-Teufel, wenn man den Plakaten und den neuesten Berichten glaubt.

Bojo klettert das Geländer rauf und runter und schnattert verängstigt beim Anblick der Polizisten, die um uns herumstehen. Greta klammert sich an mich, sie schlingt ihre Arme so fest um mich, dass ich kaum atmen kann.

Ich streichle ihr über die Haare.

Dann drehe ich mich zu Ben. Ich nehme an, dies ist das letzte Mal, dass ich ihn sehe. Ich muss mir alle Einzelheiten seines Gesichts genau einprägen. Ich muss sie mir ins Hirn brennen, damit ich es, solange ich lebe, nicht vergesse, so wie ich die Gesichter der anderen vergessen habe – meiner Eltern, meines kleinen Bruders. Selbst Aminas Bild ist mir nicht geblieben. Wenn ich in meiner Erinnerung danach suche, dann erscheint es nur langsam, ist nicht mehr scharf und kristallklar. Ich werde das nicht noch einmal zulassen, nicht mit Ben. Ich muss mit meinem inneren Auge ein Foto machen oder, noch besser, ein Video, das ich behalten und immer wieder abspielen kann.

Aber er sieht mich nicht an, und er hat seine Waffe auch nicht gesenkt. Er hält sie immer noch im Anschlag, starrt den Mann an, der vorgetreten ist; den Mann, der offenbar das Sagen hat.

«Lass die Waffe fallen», wiederholt er. «Du verschwendest deine Zeit, Benedict Baines.»

Ben lässt den Arm sinken. Er schaut zu Greta, dann zu Jack, dann sieht er mich an. Für einen langen Moment sieht er mich an. Unsere Blicke versinken ineinander. Wir sagen nichts, doch unsere Augen sprechen eine Million Worte.

Dann strafft er die Schultern, hebt den Kopf mit stählernem Blick. Er hebt wieder die Waffe, doch diesmal richtet er sie nicht auf den Polizisten; er hält sie sich an die Schläfe.

«Nein», sagt er. «Nein, ich lasse die Waffe nicht fallen. Lassen Sie die anderen gehen, oder ich erschieße mich.»

Ben

Es ist keine spontane heroische Geste. Ich habe immer gewusst, dass ich das tun würde, wenn ich die Gelegenheit dazu bekomme. Es ist keine selbstlose Tat; es ist ein kalkuliertes Risiko, das sich hoffentlich auszahlt.

Hoshi, Greta, Jack – womit können sie schon handeln? Ihre Leben bedeuten der Polizei gar nichts, sie bedeuten der Regierung nichts, und sie bedeuten meiner Mutter nichts, die ohne Zweifel im Hintergrund die Fäden zieht. Sie will ganz sicher, dass sie alle sterben.

Aber ich soll nicht sterben, zumindest glaube ich das. Das wäre nicht ihr Stil. Wenn ich irgendwas über meine Mutter weiß, dann dass sie sehen will, wie ich zu ihr zurückgekrochen komme. Sie will mir ihren Willen aufzwingen, mich wieder zu ihrem braven kleinen Jungen machen. Sie will gewinnen.

Diese Polizisten haben also den Befehl bekommen, mir möglichst kein Haar zu krümmen. Und darauf setze ich. Wenn ich recht habe, werden sie auf keinen Fall wollen, dass ich mir eine Kugel in den Kopf jage, nicht nach all diesen Monaten der Suche.

Hoshi sieht mich entsetzt an.

«Ben, hör auf damit.»

«Es ist alles gut», flüstere ich ihr zu. Dann sage ich laut und mit fester Stimme: «Tot nütze ich Ihnen gar nichts. Man hat Ihnen befohlen, mich lebendig abzuliefern, egal, was es kostet. Stimmt’s?»

Der Polizist oben auf der Treppe antwortet nicht. «Senk deine Waffe, Benedict», sagt er dann. «Es ist vorbei.»

«Ja», antworte ich mit leicht zitternder Stimme. «Ja, es ist vorbei, und zwar für Sie, wenn ich mich erschossen habe. Ich werde es tun, das verspreche ich. Lassen Sie die anderen gehen.»

In seinen Augen flammt Panik auf. Ich hatte recht. Ich wusste es.

«Wenn Sie sie gehen lassen, nehme ich die Waffe runter. Und komme mit Ihnen, sobald die anderen frei sind.»

Ich kann seine Gedanken beinahe sehen: Was ist besser, ein lebendiger Benedict Baines und drei geflohene Gesetzlose oder ein toter Benedict Baines und drei gefangene Gesetzlose? Er schaut die anderen Polizisten fragend an, doch sie sehen ebenso ratlos aus wie er.

«Warum sollte ich dir glauben?», sagt er. «Woher weiß ich, dass du zu deinem Wort stehst?»

«Das wissen Sie nicht», antworte ich ihm. «Aber denken Sie doch mal nach.» Meine Hand greift nach Hoshis, umfasst sie zum letzten Mal. «Was bleibt mir noch, wenn Sie sie verhaften?»

«Wir wollen euch beide», sagt er. «Wir wollen nur mit euch reden. Niemand wird verletzt.»

«Erwarten Sie wirklich, dass wir Ihnen das glauben? Dass sie Hoshi dann gehen lassen oder Greta und Jack? Dass Sie sie freundlich ziehen lassen, nach allem, was sie getan haben? Ich bitte Sie. Wir alle wissen doch, was Sie ihnen antun werden!»

Ich senke die Pistole, richte sie auf mein Herz.

«Bitte», sage ich. «Bitte lassen Sie sie gehen. Dann tue ich, was immer Sie wollen. Ich geben Ihnen mein Wort.»

Hoshiko

Ich kann nicht glauben, dass das wirklich passiert. Er richtet die Waffe auf sein Herz, direkt vor unseren Augen!

«Ben, du musst damit aufhören», sage ich vorsichtig. «Es ist zu spät. Es ist vorbei – wir müssen tun, was sie sagen.»

Er dreht sich zu mir um, und seine Augen brennen. «Das ist die einzige Möglichkeit, wie wir alle überleben», flüstert er mir eindringlich zu. «Bitte. Bitte, wenn du die Chance bekommst, dann lauf. Lauf, so schnell und so weit du nur kannst.» Er umklammert seine Pistole, den Lauf immer noch gegen seine Brust gepresst. «Ich werde dich finden», sagt er. «Wo immer du auch bist, eines Tages werde ich dich finden.»

Jack berührt Ben am Arm.

«Kumpel, das kannst du nicht machen», sagt er leise. Dann wendet er sich an den Polizisten, der schweigend oben auf der Treppe wartet. «Lassen Sie die Mädchen gehen, behalten Sie uns.» Er stößt ein trockenes Lachen aus. «Bitte sehr, ich verdopple sein Angebot: zwei statt einem.»

«Nein!» Bens Ton klingt entschieden. «Sie lassen sie alle gehen, sonst beende ich es gleich hier.»

«Keiner von euch geht irgendwohin.» Der Polizist oben auf der Treppe scheint endlich seine Fassung wiedergewonnen zu haben.

«Wenn du dich umbringen willst, Baines, nur zu: Das erspart uns nur Arbeit.»

Ben schüttelt den Kopf. «Sie haben zu lange gezögert – Sie haben sich verraten. Sie werden mich nicht erschießen, sonst hätten Sie es schon getan.»

Das folgende Schweigen dehnt sich endlos aus.

In meinem Kopf schwirrt es. In einem Punkt hat er recht: Greta und mich werden sie definitiv umbringen, wir sind für sie bloß Dreg-Abschaum. Und Jack werden sie auch umbringen – als abtrünnigen Polizisten –, denn in ihren Augen hat er Verrat begangen. Doch Benedict Baines, Sohn von Vivian Baines, der Ministerin für Dreg-Kontrolle und angehenden Präsidentin – was werden sie mit ihm machen, wenn sie ihn haben? Auch er hat sein Land verraten, jedenfalls heißt es so, doch in seinen Adern fließt Pure-Blut.

Trotzdem, was er vorhat, ist viel zu riskant. Wir haben so viel durchgemacht. Jetzt gibt es uns nur noch zusammen, nur noch alle vier.

«Wir haben gesagt, wir würden immer zusammenhalten», sage ich zu ihm. «Ich lasse dich nicht zurück. Ich kann dich nicht zurücklassen. Nicht nachdem so viel passiert ist.»

Seine Augen fließen fast über, so flehend blickt er mich an.

«Bitte», sagt er zu mir. «Bitte lass mich das tun. Du musst.» Er schaut zu Greta, die sich immer noch an mich klammert und untypischerweise nichts sagt.

Ich sehe zu ihr hinunter. Sie hat solche Angst, dass ich sie zittern fühle, und ich weiß, er hat recht. Sie ist noch so jung. Ich kann nicht zulassen, dass sie sie mitnehmen und töten, nicht wenn es eine Chance zur Flucht gibt – und ohne mich geht sie nirgendwohin, das hat sie mittlerweile ziemlich klargemacht.

Wir müssen fliehen, wenn wir die Möglichkeit dazu bekommen. Ich werde Ben verlassen müssen; es gibt keinen anderen Weg.

«Richtet die Waffen weiter auf sie», sagt der Polizist zu seinen Kollegen. «Ich muss jemanden anrufen.»

Er drängt sich an ihnen vorbei und geht durch die Tür zurück in das verlassene Büro.

Er ist ungefähr eine Minute lang weg. Es ist still, niemand sagt ein Wort.

Als er zurückkehrt, sieht er noch unsicherer aus als vorher.

«Okay», sagt er zu Ben. «Okay, wir machen es so. Aber drück nicht ab.»

Ben

«Ich will sicher sein, dass man ihnen nicht folgt», sage ich zu dem befehlshabenden Polizisten. «Ich will sie gehen sehen.»

Ich schaue noch einmal zu Hoshi. «Mir wird nichts geschehen», sage ich. «Versprochen.» Ich nicke Jack zu, lächle Greta an, dann sehe ich Hoshi wieder in die Augen. «Sei vorsichtig», sage ich. «Pass auf dich auf. Was auch immer geschieht.»

Ich wende mich ab, und die Polizisten weichen zurück, als ich durch sie hindurch die Treppen hinauf ins Büro gehe, die Pistole wieder an die Schläfe gepresst.

Drinnen trete ich an die großen Panoramafenster heran und ziehe die Blenden mit der freien Hand hoch.

Draußen ist strahlendes Wetter, keine Wolke steht am Himmel.

Das PowerHouse beherrscht auch von hier aus die Skyline. Alle anderen Bauwerke – der alte Glockenturm Big Ben, die zerfallenen Überreste des alten Parlamentsgebäudes, der große weiße Palast – erblassen unter dem triumphierenden Lächeln der glänzenden Statue. Das war genau die gewünschte Wirkung beim Bau vor vielen Jahren: die Demonstration einer neuen Weltordnung.

Vier Gesichter starren von der Fassade auf die darunterliegende Stadt und hüllen das ganze Gebäude in ihre Farben.

Es ist reines Wunschdenken, zu glauben, dass die anderen entkommen könnten, wenn die ganze Stadt, das ganze Land, die ganze Welt weiß, wie sie aussehen.

Aber zumindest können sie es jetzt versuchen. Ich habe sie nicht gerettet, aber ich habe ihnen zumindest einen Aufschub ermöglicht. Es ist das Beste, was ich tun konnte.

«Ich werde diese Pistole erst senken, wenn ich gesehen habe, dass sie verschwunden sind», sage ich zu den Polizisten, die hinter mir stehen. «Ich kann Ihre Spiegelbilder im Fenster beobachten. Wenn Sie mir näher kommen oder wenn ich irgendjemanden sehe, der meinen Freunden folgt, dann drücke ich den Abzug.»

Der Anführer stöhnt entnervt auf. «Ihr habt gehört, was er gesagt hat!», blafft er die restlichen Polizisten verärgert an. «Lasst sie gehen!»

Hoshiko

Am Fuße der Treppen öffnet jemand die Tür, und helles Tageslicht fällt auf den Boden des Flures. Die Polizisten unter uns senken die Waffen und weichen bis zur Wand zurück, bilden einen schmalen Gang zwischen sich. Ich spüre, wie sich ihre Blicke in meinen Rücken bohren, als ich die Treppe hinunter und in die Wärme des Morgens trete, als ich einfach vorbeigehe an allen Polizeiwagen mit ihren blinkenden Blaulichtern.

Ich drehe mich um und sehe hinauf.

Ben steht hoch oben am Fenster und hält sich noch immer die Waffe an die Schläfe.

Werden wir uns jemals wiedersehen, wenn ich jetzt gehe?

Ich mache einen zögernden Schritt.

«Hoshi.» Jacks Hand greift meinen Arm. «Wir müssen es tun.»

Ich schüttle den Kopf. «Ich kann nicht. So darf es nicht enden.» Ich mache mich los und laufe zurück zum Gebäude.

«Hoshi!», kreischt Greta. «Lass mich nicht allein!»

Die panische Angst in ihrer Stimme lässt mich sofort stehen bleiben.

Jack holt mich ein.

«Ich habe einen Fehler gemacht», sage ich zu ihm. «Ich muss zurück. Wenn ich mich freiwillig stelle, dann lassen sie Ben vielleicht in Ruhe! Ich bin doch diejenige, die sie bestrafen wollen. Nimm du Greta mit, kümmere dich um sie. Ihr seid ohne mich sicherer. Weniger sichtbar.»

«Du hast doch gehört, was Ben gesagt hat! Er hat sich das genau überlegt. Er tut es für dich, für Greta, für uns alle.»

In meinem Kopf dreht sich alles.

«Du weißt, dass ich recht habe, Hoshi. Wir müssen weiter. Für ihn, für Ben. Und für Greta. Das hier ist nicht das Ende. Die Dinge werden sich zum Besseren wenden. Und wenn es so weit ist, werdet ihr wieder zusammen sein.»

Jack glaubt fest daran, das weiß ich. Er musste seine Verlobte Alice verlassen, als er uns gerettet hat. Sie war ebenfalls im Widerstand, und als seine Tarnung aufflog, war sie in großer Gefahr. Er rief sie an, sobald wir weit genug vom Zirkus entfernt waren, und sagte, sie müsse fliehen, bevor man sie festnehmen und verhören würde. Sie hatte schon falsche Pässe und Geld besorgt, und als die Polizei bei ihr auftauchte, war sie längst verschwunden.

Eine Frau, die wir noch nicht einmal kennen, ist unseretwegen auf der Flucht. Jack sagt, sie würde uns niemals die Schuld geben und dass sie beide immer wussten, was es heißt, im Widerstand zu sein.

Er hofft, dass sie bald nach Hause kommen kann. Er sagt, die Unterstützung für die Dregs sei mittlerweile so stark geworden, dass wir kurz vor dem Beginn einer neuen Welt stehen, wo alle gleichberechtigt leben können. Nächste Woche sind Wahlen, und zum allerersten Mal ist eine Pro-Dreg-Kandidatin aufgestellt. Jack meint, die Chancen ständen ziemlich gut für sie und dann könnte Alice zurückkommen und wir würden vielleicht begnadigt.

Ich wünschte, ich könnte ebenso optimistisch sein wie er, aber das bin ich nicht. Diese Welt ist zu grausam, als dass sich die Dinge jemals ändern könnten.

Ich schaue zwischen Jack und Ben hin und her.

Als Jack wieder spricht, klingt seine Stimme unerwartet streng. «Wag es nicht, Ben jetzt im Stich zu lassen, Hoshi! Du weißt, dass es nur einen Weg gibt, ihm das, was er jetzt tut, zurückzuzahlen?»

Ich schüttle den Kopf.

«Wir werden kämpfen! Wir kämpfen, um am Leben zu bleiben, genau wie immer.»

Ich starre ihn an und dann auf das kleine blonde Mädchen hinter uns, das seinen Affen fest umklammert hält. Dann schaue ich wieder hinauf zu Ben. Er hebt seine Hand und winkt.

Ich winke zurück. Ich forme noch einmal die Worte mit den Lippen, wie Monate zuvor – als die Polizei uns zuletzt umzingelt hatte. Ich liebe dich. Ich glaube, er formt dieselben Worte zurück.

«Komm», sagt Jack. «Lass uns hier verschwinden.»

Während wir langsam davongehen, Jack, Greta und ich, folgen uns hinter den Fenstern und auf dem Platz die Augen von hundert Polizisten.

An der Ecke drehe ich mich noch einmal um. Dort steht Ben am Fenster, jetzt nur noch eine kleine Figur. Ich hebe noch einmal die Hand, und er winkt zurück, und ich spüre, wie mein Herz in tausend Stücke zerbricht.

Ben

Ich stehe am Fenster, halte mir die Pistole an den Kopf und schaue ihnen nach, wie sie kleiner und kleiner werden, bis sie schließlich nicht mehr zu sehen sind.

Schon als ich Hoshi zum allerersten Mal sah, damals, als der Zirkus in die Stadt kam und sie vom Drahtseil stürzte, wusste ich tief in mir drin, dass sie mein Leben verändern würde.

Wir waren so lange auf der Flucht, dass ein Teil von mir schon glaubte, so würde es immer sein. Dass wir vier Gesetzlosen für immer zusammenblieben.

Vorher hatte ich ein einfaches Leben: Es gab Essen auf Verlangen, ich wohnte in einem warmen Haus, hatte saubere Kleidung. Wenn man auf einmal ohne diese Dinge ist, von denen man vorher im Überfluss besaß, dann ist das wie ein Schock. Mein Rücken schmerzt jetzt ständig vom Schlafen auf schmutzigen Fußböden und vom Kriechen durch enge Räume. Mein Kopf juckt permanent, sehnt sich nach cremigem Shampoo. Meine Lippen sind aufgesprungen, mein Bauch ist eingefallen, und ich werde jeden Tag dünner.

Aber ich vermisse mein altes Leben kein bisschen, falls ihr das denkt. Damals war ich verblendet. Ich lebte in einer Seifenblase. Dabei war alles, was ich hatte, mit Bosheit und Kälte und Grausamkeit erkauft worden.

Hoshi und ich und Greta und Jack, wir wurden ein Team, ein enges, starkes Team. So etwas hatte ich nie zuvor gekannt. Dieses Gefühl der Zusammengehörigkeit, mit Menschen zu sein, von denen ich wusste, dass sie durch dick und dünn mit mir gehen würden.

Manchmal schaute ich die drei an und fragte mich, ob sie überhaupt wussten, was sie taten, als sie für einen Jungen wie mich so viel opferten – für einen Jungen, dessen Mutter solch schreckliche Dinge getan hatte. Aber sie gaben mir nie die Schuld daran, nicht ein einziges Mal, keiner von ihnen. Aus irgendeinem unverständlichen Grund konnten diese Menschen – die so viel tapferer und weiser, so viel besser waren als ich – etwas in mir sehen, etwas an mir lieben.

Jetzt werden sie es vielleicht ohne mich schaffen. Mein Zurückbleiben bedeutet einen Menschen weniger, um den sie sich sorgen müssen. Vielleicht schaffen sie es endlich auf den Kontinent, dann kann Jack wieder mit seiner Verlobten zusammen sein. Dort ist alles besser. Die Menschen sind toleranter, die Grenzen sind offen, die Gesellschaft ist bunt. Ich könnte alles ertragen, wenn ich wüsste, dass Hoshi und Greta frei wären, wirklich frei, zum ersten Mal in ihrem Leben. Selbst wenn es bedeuten würde, dass sie in einem anderen Land sein müssten; selbst wenn es hieße, sie nie wiederzusehen.

Als ich mir ein Leben ohne Hoshi vorstelle, bildet sich ein schwerer Kloß in meinem Hals. Was für eine Bedeutung hat es dann überhaupt noch, was mit mir geschieht?

Ich drehe mich um.

Sie sind immer noch hier, mindestens ein Dutzend Polizisten, die Schilde erhoben, die Waffen auf mich gerichtet. Ich habe mir diese Szene schon so oft vorgestellt, habe sie genau so geplant: wie ich mich ausliefere, damit Hoshi und die anderen gehen können. Es hat funktioniert, es ist genauso gelaufen, wie ich es wollte. Das Problem ist nur, ich habe mir nie überlegt, was danach passieren würde. Was werden sie nun mit mir machen: mit Benedict Baines, dem Rebellen? Mit Benedict Baines, dem Gesetzlosen?

Auf einmal weiß ich die Antwort. Ich weiß genau, wohin sie mich bringen werden, weiß genau, zu wem.

«Sie bringen mich zu meiner Mutter, stimmt’s? Sobald ich die Waffe senke.»

Ihre Blicke huschen nervös hin und her, doch niemand sagt etwas. Wenn sie es nicht abstreiten, muss es wahr sein.

Meine Mutter ist Ministerin für Dreg-Kontrolle, aktuell kandidiert sie für das Amt der Präsidentin. Sie hasst jeden, der kein Pure-Engländer ist. Sie nennt diese Menschen Abschaum. Sie glaubt, die Welt wäre ohne sie ein besserer Ort. Sie will sie ‹entsorgen›.

Nach allem, was ich in den letzten Monaten getan habe, muss sie förmlich verrückt werden vor Wut. Meine Mutter ist daran gewöhnt, Leute zu kontrollieren, ihren Willen zu bekommen, und nun bin ich, ihr eigener Sohn, von zu Hause weggelaufen, habe einen Sicherheitsbeamten angegriffen, mich als Polizist ausgegeben, habe dabei geholfen, einen Zirkus in die Luft zu jagen und fast ein Jahr auf der Flucht verbracht. Ein Jahr, in dem ich sie blamiert, ihr Schande gebracht habe. Und warum das alles? Wegen einer Dreg-Seiltänzerin.

Was wird sie sagen? Was wird sie tun?

Was immer es ist, es ist mir egal. Ihre Macht über mich ist gebrochen. Sie wird mich nie wieder in ihren schüchternen kleinen Jungen verwandeln können. Sie wird niemals gewinnen.

Ich kenne mich jetzt. Ich weiß, was richtig ist. Ich kenne die Wahrheit.

Auf einmal möchte ich sie sehen, um ihr das zu sagen. Ich will ihr in die Augen sehen: entschlossen und ohne Reue. Ich will, dass sie sieht, wer ich jetzt bin, dass ich kein bisschen bin wie sie, dass sie mir nichts bedeutet.

Ich schaue die Polizisten an, die immer noch fürchten, dass ich den Abzug drücke. Vielleicht sollte ich das. Vielleicht sollte ich mich jetzt sofort erschießen. Aber ich werde es nicht tun. Ich will es nicht. Ich will nicht sterben, nicht solange Hoshi, Greta und Jack noch dadraußen sind. Ich will weiterkämpfen, für sie. Ich will leben.

Ich werfe die Pistole hin und trete mit erhobenen Händen einen Schritt vor.

«Dann mal los, lasst es uns hinter uns bringen», sage ich. «Bringt mich zu Vivian Baines.»

Hoshiko

Sobald wir außer Sichtweite sind, rennen wir los.

«Wo sollen wir hin?», frage ich Jack. «Sie finden uns doch sowieso. Bestimmt können Sie uns tracken, überall sind Kameras.»

«Nein», sagt er. «Nicht überall.»

Er führt uns weiter und weiter weg vom Stadtzentrum ins Randgebiet, huscht eine dunkle Gasse entlang, dann noch eine und noch eine.

«Wohin laufen wir?», fragt Greta. Bojos kleine Affenarme sind fest um ihren Hals geschlungen, und sie keucht schwer, während sie versucht, mit Jacks langen Schritten mitzuhalten.

«An den einzigen Ort, wo die Kameras uns nicht finden können», sagt er. «Der einzige Ort, wo es sich ihrer Meinung nach gar nicht lohnt, welche zu installieren.»

Es gibt nur einen Ort, den er damit meinen kann.

Wir laufen in Richtung der Slums.

Greta zerrt im Laufen an meiner Hand. «Was meint Jack, Hoshi?», fragt sie mit drängender Stimme. «Wohin laufen wir?»

Ich schaue zu ihr hinunter. Sobald ich das ‹S›-Wort ausspreche, wird sie durchdrehen, das weiß ich.

«Lauf einfach weiter.»

«Jack!», ruft sie ihm hinterher. «Wo willst du hin?»

«Zu den Slums», antwortet er kurz über die Schulter.

Greta bleibt wie angewurzelt stehen und reißt mich mit aller Kraft zurück.

«Nein! Ich will nicht. Du hast gesagt, da müssen wir niemals hin!»

«Wir haben keine andere Wahl mehr, Greta. Sie werden uns folgen. Jetzt komm!»

Ich ziehe sie am Arm, aber sie geht keinen Schritt.

Vor uns blickt Jack sich um und läuft zu uns zurück, sein Gesichtsausdruck ist panisch.

«Was macht ihr denn? Los! Sobald Ben die Waffe sinken lässt, werden sie mit allen Mitteln versuchen, uns zu fassen!»

«Aber du hast doch gesagt, wir müssen niemals in die Slums! Du hast gesagt, hier in der Stadt sind wir sicherer!»

«Ich weiß, dass ich das gesagt habe, Greta, aber sie tracken uns! Die Slums sind der einzige Ort, wo wir noch die Chance haben, sie abzuschütteln!»

Sie will immer noch nicht weiter. In der Ferne ertönt eine Sirene, die langsam lauter wird. Jack seufzt auf. Ich merke, wie verzweifelt er ist, aber er versucht ganz sanft und ruhig mit Greta zu sprechen.

«Greta. Wir müssen in die Slums. Wir haben keine Wahl. Vielleicht ist es ja gar nicht so schlimm.»

«Nein», sagt sie bockig. «Ich will aber nicht.»

Er wirft verzweifelt die Hände in die Luft. «Jetzt komm! Wir haben für so was keine Zeit!»

Wir hören jetzt mehr Sirenen: lauter, näher.

Was kann ich nur tun? Wir haben immer versucht, Greta zu beschützen, uns immer bemüht, ihr die Flucht wie ein Abenteuer zu verkaufen. Dafür ist es jetzt zu ernst. Es wird Zeit, ihr zu sagen, in welcher Gefahr wir schweben.

«Hörst du das Geräusch?», sage ich. «Das gilt uns, Greta! Sie sind uns auf den Fersen, und wenn sie uns noch einmal schnappen, dann werden sie uns wirklich umbringen. Hast du verstanden? Sie werden uns töten!»

Ich laufe hastig weiter und zerre sie unsanft am Arm hinter mir her.

Sie hat aufgehört sich zu wehren, und ihre Füße rennen im gleichen Rhythmus wie meine, während sie leise, erstickte Angstlaute von sich gibt.

Die Gebäude um uns herum werden immer schäbiger, immer heruntergekommener. Viele sind verrammelt, mit Graffiti übersät, und wir müssen über Hundehaufen und Scherben springen, die die Fußwege bedecken, vorbei an ausgebrannten Autos und zerbeulten Einkaufswagen.

Ich habe von Straßen wie diesen gehört: Straßen, die sie Niemandsland nennen. Noch kein Slumgebiet, aber nah genug, dass kein respektabler, reiner Pure auch nur eine Minute hier verbringen würde. Schließlich sehen wir doch jemanden: Ein Mann hockt in einer Tür und umklammert eine Flasche.

«Habt ihr Kleingeld?», ruft er uns schwach hinterher.

Danach sehen wir noch mehr Leute. Sie hocken wie er in Türrahmen, der Gestank nach Urin kündigt sie schon von weitem an, oder sie kommen aus dunklen Ecken auf uns zu und grapschen nach uns.

Sie alle haben den gleichen leeren, irren Blick in den Augen.

«Was sind das für Menschen?», frage ich Jack im Laufen. «Pures oder Dregs?»

«Weder noch», antwortet er. «Die sind im Limbo, die armen Teufel.» Er wird etwas langsamer und spricht gedämpft, während er neben mir herläuft. «Es sind vermutlich Pures oder waren es einmal. Pures, die aus irgendeinem Grund vom Weg abgekommen sind. Vielleicht haben sie ein Verbrechen begangen und sind auf der Flucht, so wie wir. Aber wahrscheinlicher ist, dass sie irgendwie zerbrochen sind … vielleicht sind sie geisteskrank, oder sie wurden Opfer irgendeiner Tragödie oder eines Verlustes, von dem sie sich nicht erholt haben.»

«Wieso bekommen sie keine Hilfe?»

Ich dachte immer, dass alle Pures im Schlaraffenland leben. Ich war mir sicher, sie alle leben im Paradies.

«Wenn sie um medizinische oder finanzielle Hilfe bitten oder um eine Schlafmöglichkeit für die Nacht, dann werden sie abgewiesen», antwortet er. «Die Pures wollen nicht, dass diese Leute ihre Welt durcheinanderbringen, dass sie dadurch weniger strahlend und perfekt aussieht. Also nimmt man ihnen den Status, man klassifiziert sie als Dregs, und wenn man einmal ein Dreg ist, kann man nie wieder zurück. Darum sind sie hier; sie verstecken sich vor jedem, der sie erkennen könnte. Sie glauben, das hier ist immer noch besser als ein Leben in den Slums.»

«Und ist das so?»

Er schaut mich an und zuckt die Schultern. «Soweit ich weiß, ist da nicht viel dran.»

Ich blicke ihn an. Er war selbst einmal ein Pure. Er hatte einen Job. Er hatte ein Zuhause.

Mir ist wahrscheinlich nur andeutungsweise klar, was Jack und Ben alles für uns geopfert haben – der Polizist und der Sohn der Ministerin. Sie haben dem Leben, das sie kannten, den Rücken gekehrt, ein angenehmes Leben voller Privilegien aufgegeben, um sich für uns zu erheben, um uns zur Seite zu stehen.

Wohin gehört Jack jetzt? Und Ben, wohin gehört er? Auch sie sind im Limbo. Sind sie jetzt Dregs wie wir? Oder gehören sie zu dieser Sorte verzweifelter Kreaturen, die müde nach uns greifen, während wir an ihnen vorbeilaufen?

Nein. Sie sind keins von beidem. Sie haben die Etiketten abgenommen, mit denen man sie bei ihrer Geburt versehen hat. Sie sind Helden, meine Helden, und sie gehören zu uns.

Die Sehnsucht nach Ben erfüllt mich. Ich hoffe, es geht ihm gut. Was werden sie mit ihm tun? Was, wenn ich ihn nie wiedersehe? Ich ertrage es nicht, ihn zu verlieren, nicht jetzt.

Ich schiebe den Gedanken beiseite. Ich darf so nicht denken; wenn ich es tue, breche ich zusammen. Ich muss mich aufs Laufen konzentrieren, darauf, bald in Sicherheit zu sein. Für Greta.

Wir erreichen den maroden Holzzaun, der die Slums vom Rest der Stadt trennt.

«Wir können nicht über den Hauptübergang gehen, wir müssen uns irgendwo hier durchquetschen. Wenn wir einfach am Zaun entlanglaufen, sollten wir früher oder später eine Lücke finden», sagt Jack. Ich sehe, was er meint. Es ist ein maroder Zaun, verrottetes Holz, der schon von allein nach innen kippt.

«Ich hätte gedacht, die Slums wären viel besser gesichert», sage ich. «Die Zäune um den Zirkus waren alles Elektrozäune. So kann doch jeder Dreg einfach drüberklettern oder ihn eintreten.»

Jack nickt. «Das könnte man meinen, und das tun sie auch hin und wieder, aber warum sollte irgendein Dreg die Slums verlassen, außer um zu arbeiten?»

«Um zu fliehen!»

«Wohin denn? Wo sollten sie hin? Was sollten sie tun?»

Ich denke nach. Er hat recht: Ein Dreg kann nirgendwohin. Niemand von uns hat Geld, niemand von uns hat Pässe. Die Dregs sind in den Slums gefangen, auch ohne hohe Zäune. Immerhin sind sie hier vor den Pures geschützt.

Wir laufen an der Grenze entlang und suchen nach einem Durchgang. Die Sirenen klingen von Sekunde zu Sekunde lauter und näher.

Jack fängt an, gegen den Zaun zu treten. Ich mache mit und dann auch Greta, sie stößt, so fest sie kann, mit ihrem kleinen Bein gegen das Holz. Der Zaun ist so alt und verrottet, dass er nachgibt; eine Latte zerbricht, und durch den Spalt kann man in den Slum dahinter sehen.

«Klettert durch», sagt Jack. «Schnell!»

Ich quetsche mich hindurch. Ein Holzsplitter kratzt mich am Arm. Greta reicht mir vorsichtig erst Bojo, dann folgt auch sie, dahinter Jack, der die zerbrochene Latte sorgsam wieder zusammenschiebt.

Wir drücken uns keuchend und mit geschlossenen Augen gegen den Zaun, während die Sirenen zuerst immer näher kommen und dann an uns vorbeiziehen.

Ich schaue mich neugierig und beklommen um.

Riesige Hügel ragen zu jeder Seite von uns in die Höhe, sie bäumen sich wie Berge auf. Allein der Geruch – ein vergammelter, modrig-süßer Gestank – reicht aus, um zu wissen, dass es Müllberge sind. Greta rümpft die Nase, und ich muss würgen. Dunkle Schatten schweben über jedem Hügel: verschwommene, sich bewegende Wolken. Fliegen, erkenne ich, als eine auf meiner Wange landet. Ich wische sie angeekelt weg. Krähen und Elstern picken geschäftig im vergammelnden Müll und unterbrechen kurz, um uns anzuschauen, bevor sie ihre Aasfresserei fortsetzen. Fette, glänzende Ratten huschen hierhin und dorthin. Hinter einer Ecke taucht eine größere Figur auf, sie geht gebückt und wühlt im Müll. Es ist ein Mensch, ein winziger, schmutziger Junge, der offenbar nach etwas Brauchbarem sucht. Er schaut uns mit hohlen, interesselosen Augen an. Etwas weiter weg, auf einem der anderen Hügel, sehe ich weitere Kinder, die dasselbe tun.

Vor uns breiten sich Tausende und Abertausende kleiner, wackliger Behausungen aus, so weit das Auge reicht. Zumindest glaube ich, dass es Behausungen sind, aber es ist schwer zu sagen. Sie sind alle zerfallen, lehnen sich erschöpft gegeneinander. Verrostetes Metall, Holz, Pappe – eine schiefe Metropolis aus Armut und Verderben.

Wir stehen da und nehmen all das in uns auf. Das sind sie also, die riesigen Londoner Slums.

Als die Pure-Schutzgesetze beschlossen wurden, die Menschen und ihre Rechte nach Rasse und Herkunft kategorisieren, wollten die Pures nicht mehr, dass die Dregs weiterhin in ihrer Nähe wohnten und ihre schöne Stadt verschmutzten, daher vertrieben sie sie aus ihren Häusern und Nachbarschaften. Das Problem war nun aber, dass sie sie dennoch in der Nähe haben mussten, damit alles weiterhin so lief, wie die Pures es gewohnt waren: um die Kanalisation zu reinigen, den Müll zu entsorgen, die Straßen zu bauen – um all diese Jobs zu erledigen, für die sich die Pures für zu fein halten. Darum beschlagnahmten sie hektarweise grünes Umland und stopften alle Dregs hinein.

Das machten sie in allen Städten so, doch die Londoner Slums sind die berüchtigtsten, und das aus vielen Gründen. Sie sind jetzt über fünfundzwanzig Jahre alt, und es ist offensichtlich, dass man kein Geld investiert hat, seit man die Dregs hierhin ausgespuckt hat.

An meinen eigenen Slum erinnere ich mich kaum noch. Ich war erst fünf, als sie mich holten. Ich frage mich, ob es dort auch so aussah. Es war sicher viele Meilen weit weg von hier, ich weiß es nicht mehr. Ich glaube, meine Mutter hat mir nie den Namen des Ortes genannt, an dem wir lebten, und falls doch, dann habe ich ihn längst vergessen. Ich habe mir immer gesagt, dass ich eines Tages dahin zurückfinden werde, aber selbst wenn ich irgendwann die Möglichkeit hätte, danach zu suchen, würde ich gar nicht wissen, wo ich anfangen sollte.

Als sich meine Augen an die Umgebung gewöhnt haben, kann ich Bewegungen in einigen der Hütten erkennen, dann hören wir kreischende Stimmen, und eine Gruppe schäbig gekleideter Kinder läuft vorbei. Sie kicken eine Blechdose und lachen.

«Was machen wir jetzt?», fragt Greta, und ihre Unterlippe zittert.

Jack schüttelt den Kopf. «Gibt nicht viel, was wir machen können», sagt er. «Wir müssen losgehen und jemanden um Hilfe bitten.»

Ben

Die Polizisten vorn im Auto schweigen, während wir uns durch den dichten Verkehr der Stadt quälen. Wir fahren nicht nach Süden in Richtung meines alten Zuhauses, und auch an dem grinsenden Denkmal vor dem PowerHouse fahren wir nur vorbei, also bringen sie mich auch nicht ins Büro meiner Mutter.

Ich schaue hinauf zu dem riesigen Bild von Hoshi. Es wurde natürlich manipuliert – all die Schönheit und Anmut, die Hoshi ausmacht, wurde mit einem Knopfdruck entfernt. Ihre Augen ähneln nun schmalen, kalten Feuersteinen, ihr Mund drückt Aggression aus. Sie sieht völlig fremd aus. Eine Million Meilen von dem Mädchen entfernt, das ich kenne.

Ich schaue weg. Wohin fahren wir bloß? Zuerst überlege ich, ob sie mich vielleicht direkt ins Gefängnis bringen wollen, aber auch daran fahren wir vorbei.

Der Verkehr wird schließlich ruhiger, wir verlassen die Stadt und biegen in eine Landstraße ein. Wir fahren einen steilen Hügel hinauf und wieder hinunter, und erst jetzt begreife ich, welches Ziel wir ansteuern.

Ein riesiges Kuppeldach erhebt sich über die Bäume, rote und weiße Seile spannen sich von seiner Spitze bis zum Boden. Ich starre hinauf, schaue zu den anderen Gebäuden, die sich daneben erheben; es werden immer mehr, je näher wir kommen. Unzählige weitere Kuppeldächer in Orange und Grün und Pink und Lila, wie lustige bunte Lollis.

Mein Blut gefriert.

Wir wussten, dass das geschehen würde, natürlich wussten wir es. Wir waren auf der Flucht, aber nicht auf dem Mond. Gerade erst war die Arena niedergebrannt, da plante die Regierung bereits den Wiederaufbau, plante einen größeren, besseren Zirkus mit dauerhaftem Sitz hier in der Hauptstadt. Ich glaube, auf diese Weise wollten sie sich rückwirkend doch noch zum Sieger erklären, wollten so all die Demonstranten und Aktivisten zum Schweigen bringen, die gegen den Zirkus protestierten. Sie beschlagnahmten Land im Umland von London, hektarweise Land, und bauten den Zirkus wieder auf. Diesmal jedoch als beständiges Gebäude.

Ein größerer, besserer, aufregenderer Zirkus, stand auf den Plakaten, mit einer Menge unglaublicher, spektakulärer Attraktionen.

Als wir näher kommen, erhebt sich vor mir eine Achterbahn, in der Ferne ist ein Riesenrad zu sehen. Die Zirkusshows und die Buden reichen offenbar nicht mehr – jetzt gibt es auch noch einen Jahrmarkt. Nein, keinen Jahrmarkt: einen riesigen Themenpark.

Ich denke an alles, was Hoshi, Greta und ich geschafft haben. Wir haben die Arena in die Luft gejagt. Wir sind entkommen. Aber wofür?

Sie haben Amina getötet, den Menschen, den Hoshi über alles in der Welt liebte – sie haben sie in der Arena erhängt und ihre Körperteile im Internet an den Höchstbietenden verkauft. Sie haben Priya getötet – den einzigen Menschen auf der Welt, der mir die Wahrheit gesagt hat – und sie in einen Zombie verwandelt, damit ausgelassene Pures fröhlich auf sie schießen konnten.

Wozu sind Amina und Priya gestorben?

Für nichts. Wir haben nichts erreicht.

Der Zirkus hat sich wieder erhoben, hat sich den Staub aus dem Gewand geklopft und ist nur noch größer und stärker geworden als je zuvor.

Menschen werden für die Unterhaltung der Pures sterben, genau wie sie es immer getan haben; und die Peitsche des Direktors wird auf die nackten Rücken armer Dregs schlagen.

Doch wer immer es jetzt ist, er kann nicht so böse sein wie Silvio Sabatini. Allein bei dem Gedanken an ihn schaudere ich. Zumindest ihn haben wir vernichtet. Das werden sie uns niemals nehmen können.

«Wieso bringen Sie mich hierher?», frage ich die Polizisten vor mir.

Doch sie beachten mich gar nicht.

Wir fahren an einem Straßenschild vorüber. Der Zirkus, steht darauf. Zweihundert Meter.

«Halten Sie an!», rufe ich.

Wir biegen links ab, passieren ein großes Clownsgesicht aus Plastik, das uns im Vorüberfahren mit rollenden Augen irre angrinst, fahren dann eine lange Auffahrt entlang, an den riesigen leeren Besucherparkplätzen vorbei, bis wir eine Mauer erreichen, die mit knallbunten, dreidimensionalen Bildern von Löwen und Elefanten und Akrobaten und weiteren Clowns übersät ist.

Der Polizist am Steuer fährt sein Fenster herunter und tippt einen Code in eine Tastatur ein. Die Mauer bewegt sich, es ist keine feste Wand, sondern ein großes Doppeltor. Die Türen schwingen langsam auf, und Musik beginnt zu spielen.

Es ist dieselbe Musik wie früher, eine fröhliche Leierkasten-Zirkusmusik, die mich einst, in einem früheren Leben, mit freudiger Aufregung erfüllt hat. Nun erzeugt sie Angst und Hass. Panik steigt in mir auf.

«Halten Sie an!», schreie ich. Aber sie achten überhaupt nicht auf mich. Ich versuche die Tür zu öffnen. Sie ist blockiert. «Halten Sie an! Halten Sie das Auto an!»

Es ist zwecklos.

Ich will nicht hier sein. Ich hätte nie zulassen dürfen, dass sie mich mitnehmen. Als Hoshi und Greta und Jack fort waren, hätte ich mich einfach erschießen sollen.

Wir befinden uns nun in einem Open-Air-Eingangsbereich, an deren Rand mehrere Ticketschalter stehen – sie sind glänzend und nagelneu. In ihrer Mitte hängt ein riesiges Schild in hellen Neonfarben.

Willkommen im Zirkus!, ist darauf zu lesen. The Show Must Go On!

Hoshiko

Zögernd gehen Greta und ich hinter Jack auf die Hütten zu, Bojo klebt an Gretas Fersen. Es ist unheimlich still; ich vermute, die meisten Leute sind in der Stadt, um die Arbeiten zu verrichten, die die Pures für unter ihrer Würde halten. Die langweiligen Arbeiten, die gefährlichen Arbeiten, die schmutzigen Arbeiten. Doch es gibt Menschen hier, ich kann sie fühlen – eine Million Augen, die uns aus dem Verborgenen beobachten.

Ich halte den Blick gesenkt. Ich kann mich nicht erinnern, mich je so beklommen und unwohl gefühlt zu haben. Der Boden unter unseren Füßen ist schlammig, obwohl es seit Wochen nicht geregnet hat.

Als wir die Hütten erreicht haben, bleibt Jack stehen.

«Ich glaube, es ist besser, wenn ihr zwei fragt», sagt er, «und ich mich ein bisschen im Hintergrund halte.»

Gretas bestürzter Gesichtsausdruck spiegelt mein Gefühl. Die Medien behaupten zwar, wir seien furchtlose Rebellen, aber das stimmt nicht. Ich will nicht den nächstbesten Fremden hier um Hilfe bitten.

Wie könnten sie uns denn auch helfen, wenn sie selbst nichts haben? Und warum sollten sie?

«Wieso?», frage ich Jack.

Er windet sich. «Weil ich nicht so aussehe wie sie, darum. Ich bin fast zweiundvierzig Jahre alt und habe immer noch alle Zähne im Mund. Meine Haare sind mir nicht ausgefallen, und ich bin immer noch ziemlich kräftig, selbst nach einem Jahr auf der Flucht. Wenn sie mich sehen, dann sehen sie einen Pure.»

Mein Herz sinkt noch tiefer.

Jack hat mir alles über die Slums erzählt. Er hat mir und Ben immer wieder klargemacht, dass die Slums der einzige Ort seien, wohin wir niemals fliehen könnten, wo wir uns niemals verstecken sollten, weil Ben und Jack Pures sind. Selbst die Polizisten mit ihren Waffen meiden die Slums, wenn sie können, sagt Jack. Die Dregs sind sich hier selbst überlassen, und es sind zu viele hungrige, wütende, verzweifelte Menschen, als dass es ein friedlicher Ort sein könnte.

Greta drückt meine Hand.

«Wir machen es zusammen», sagt sie.

Ich schaue auf sie herab, und ich fasse ein wenig Mut. Sie hat sich von ihrer Panik erholt und ist bereit, zu tun, was getan werden muss. Sie war schon immer die Tapferste von uns.

«Und was willst du machen?», frage ich Jack.

«Ich halte mich im Hintergrund. In Hörweite. Wenn ihr mich braucht, ruft ihr.»

Als wir in Richtung Hütten gehen, werfe ich einen Blick zurück zu ihm. Er hat sich eine Wollmütze aufgesetzt und diesen niedergeschlagenen Blick, den die meisten Dregs haben, aber es stimmt: Er sieht trotzdem anders aus als sie. Natürlich tut er das – er wurde in einer anderen Welt geboren.

Jack redet nie viel über sein früheres Leben. Aber eines Abends, noch am Anfang unserer Flucht, erzählte er mir und Ben, was damals passiert ist, das ihm zu dem machte, der er heute ist: tapfer und loyal und gut.

Wir kampierten damals noch draußen im Wald. Es war eine kalte Nacht, und wir zündeten ein Feuer an und saßen da und redeten die ganze Zeit, während Greta und Bojo sich in der Wärme der Flammen zusammengerollt hatten und schliefen.

Jack meinte, hier draußen im Wald zu sein erinnere ihn an das Zuhause seiner Kindheit. Seine Eltern besaßen ein großes Gut mit viel Land, doch seine Mutter starb, als er noch klein war, und sein Vater war immer nur damit beschäftigt, die Ländereien zu verwalten. Niemand hatte viel Zeit für Jack, deshalb wurde er auf ein Internat geschickt.

«In den Ferien, wenn ich heimkam, war ich immer ziemlich auf mich allein gestellt», erzählte er. «Ich konnte machen, was ich wollte, solange ich nicht im Weg war und niemandem Mühe machte. Es gab immer eine Menge Farmarbeiten zu erledigen, was bedeutete, dass viele Dregs gebraucht wurden – für die Arbeit auf den Feldern, die Stallarbeit und solche Sachen. Die meisten Leute kamen und gingen – besonders zur Erntezeit waren es viele –, aber ein paar Familien wohnten auch dauerhaft auf dem Gelände, in Baracken, die mein Vater ihnen im Tausch für ihre Arbeit überlassen hatte.

In einer dieser Baracken lebte eine griechische Familie, und der älteste Junge, Andreas, war genauso alt wie ich. Seit wir ganz klein waren hatten wir zusammen in den Feldern und Wäldern gespielt. Wenn es ging, verbrachte ich jede Minute des Tages mit ihm. Natürlich war das nicht erlaubt, aber auf einem Gut mitten im Nirgendwo achtete niemand auf solche Sachen.

Wenn man jung ist, glaubt man, dass solche Zeiten ewig so weitergehen. Es war ganz egal, dass Andreas ein Dreg war und ich ein Pure oder dass sein Vater eigentlich ein Leibeigener war, der lange, harte Stunden unter dem strengen Kommando meines Vaters ackerte.»

Jacks Augen füllten sich mit Tränen, als er das sagte. Er unterbrach sich und legte Brennholz nach. Dann setzte er sich wieder hin und erzählte weiter.

«Andreas war mein bester Freund. Ich lebte für diese Tage, wo wir uns selbst überlassen waren und völlig frei. Wir angelten und bauten uns Hütten im Wald, und wenn unsere leeren Bäuche uns sagten, dass wir nach Hause mussten, gingen wir in seine Baracke und bettelten um etwas zu essen. Seine Familie war in jeder Hinsicht anders als meine. Sie lebten zu siebt in dem kleinen Haus: Maria und Alessandro, die Eltern, und fünf Kinder. Es war immer laut, und tatsächlich schien es, als seien alle glücklich. Sie hatten natürlich kein Geld, aber Alessandro war ein geschickter Jäger und Sammler, und irgendwas köchelte immer auf dem Herd. Maria gab auch mir zu essen, und ich aß es gern, obwohl ich zu Hause alles hätte haben können, was ich wollte. Das Essen, das unser Koch zubereitete, schmeckte nie so lecker wie die Eintöpfe von Andreas’ Mutter.

In einem Sommer kam ich aus dem Internat nach Hause und ging direkt zur Baracke, um Andreas zu treffen, so wie immer, doch er war nicht da. Seine Mutter erzählte mir, dass er nun mir vierzehn auf dem Gut helfen müsse, und das war dann praktisch das Ende unserer Freundschaft. Ich sah ihn zwar ständig, doch er musste immer arbeiten, und wir hatten keine Zeit mehr füreinander. Ich weiß, es war falsch von mir, aber ich machte ihm deshalb Vorwürfe. Es fühlte sich so an, als wäre er erwachsen geworden und ich immer noch ein Junge geblieben, als hätte er einfach keine Zeit mehr für unsere kindlichen Abenteuer, weil er jetzt ein Mann war.»

Jack stand auf und verschwand zwischen den Bäumen. Ich wollte ihm nachgehen, aber Ben meinte, wie sollten warten.

«Er kommt schon zurück», sagte er. «Er wird es uns erzählen, wenn er bereit dazu ist.»

Also warteten wir dort am Feuer. Jack blieb lange weg. Es war schon sehr spät, und mir fielen allmählich die Augen zu, auch wenn ich auf keinen Fall einschlafen wollte. Am Ende hatte Ben recht: Jack kam zurück und sprach weiter, als hätte er sich nie unterbrochen.

«Ich habe das noch nie jemandem erzählt», sagte er. «Es ist das Schlimmste, was ich je getan habe. Ihr beide haltet mich für einen guten Menschen, aber das bin ich nicht.» Dann setzte er sich mit dem Rücken zu uns und erzählte den Rest der Geschichte.

«Das war der Sommer, der alles veränderte. Mein Vater verkaufte große Teile von unserem Land, um neue Häuser zu bauen. Die Tiere wurden fortgebracht, und Bauarbeiter zogen ein. Am Tag vor meiner Rückkehr ins Internat wanderte ich allein und gelangweilt herum, und ich traf Andreas, der auf einem Feld Getreide geerntet hatte. Er schaute mich mitfühlend an, so als würde ich ihm leidtun, obwohl ich ein Pure war und er ein Dreg. Und er legte seinen Arm um meine Schultern und fragte, ob alles okay sei.

Aus irgendeinem Grund machte mich das wahnsinnig wütend. Es fühlte sich an, als sehe er in mir nur ein kleines Kind. Ich stieß ihn weg, richtig fest, mit beiden Händen, und sagte zu ihm, er solle mich gefälligst nicht anfassen. Ich nannte ihn einen widerlichen Dreg. Sein enttäuschtes Gesicht machte mich nur noch wütender. Ich weiß bis heute nicht, was in mich gefahren ist, aber ich schlug ihm direkt ins Gesicht. Ich erinnere mich noch, wie ich auf ihn herabschaute, als er da mit blutender Nase im Dreck lag, und wie ich einfach weggegangen bin. Direkt am nächsten Tag reiste ich ab.

Natürlich dauerte es nicht lange, bis meine Schuldgefühle mich einholten. Ich konnte nicht fassen, wie scheußlich ich mich benommen hatte. Ich wollte nur noch nach Hause und mich dafür entschuldigen, was ich getan hatte. Ich wusste, es würde schwer werden, aber ich musste es irgendwie wiedergutmachen. Ich würde einen Weg finden, Andreas bei der Arbeit zu helfen. Ich würde versuchen, ihm zu erklären, warum ich das getan hatte, auch wenn ich es selbst nicht verstand. Aber als ich in den Weihnachtsferien nach Hause kam, waren Andreas und seine Familie fort. Ihre Baracke war abgerissen worden, um Platz für die neuen Häuser zu schaffen, und mein Vater hatte seinen Vater entlassen.

Er war wegen meiner Bestürzung ganz überrascht, und als ich ihn immer wieder bat herauszufinden, wo sie jetzt wären, wurde er wütend. Sei vorsichtig, Jack, sagte er. Die Leute werden sich sonst noch fragen, ob du eigentlich mit den Dregs sympathisierst. Ich weiß noch, wie er mich angrinste. Du kannst dich ja dem Widerstand anschließen, spottete er.

Er meinte es als Kränkung, doch der Satz blieb mir im Gedächtnis. Ich wusste bis dahin nicht einmal, dass es eine Widerstandsbewegung gab. Das brachte mich zum Nachdenken: Es musste bedeuten, dass es Leute dadraußen gab, die nicht damit einverstanden waren, wie die Dinge liefen; Menschen, die fanden, dass wir alle gleichberechtigt behandelt werden sollten.

Ich musste meinen besten Freund suchen. Ich musste ihm sagen, dass es mir leidtat, dass ich nicht gemeint hatte, was ich gesagt und getan hatte. Ich bin nur Polizist geworden, um Andreas’ Familie zu finden. Doch es ist mir bis heute nicht gelungen – niemand macht sich die Mühe und dokumentiert, wohin Farmarbeiter gehen.

Wenn man für eine Institution wie die Polizei arbeitet, kriegen Leute schnell mit, dass deine Ansichten vielleicht nicht so stabil sind, wie sie sein sollten – man wird dann als Liberaler bezeichnet. Die Widerstandsbewegung sucht ständig nach neuen Leuten, und irgendwann nach mehreren Monaten rekrutierten sie mich.

Anderen Dregs zu helfen ist die einzige Möglichkeit, mich bei Andreas zu entschuldigen, schätze ich. Wenn ich ihn je wiedersehe, dann will ich ihm zeigen, dass ich nicht mehr das verwöhnte, grässliche Pure-Kind von damals bin.

Als der Zirkus in die Stadt kam, meldete ich mich darum sofort bei der Sicherheitstruppe. Ich wusste nicht, wozu, aber ich wusste, dass ich etwas tun musste. Bald wurde bekannt, dass Vivian Baines’ Sohn sich mit einem Dreg-Mädchen zusammengetan hat und sie gemeinsam zu fliehen versuchten, und sofort wusste ich, dass ich euch helfen musste.»

Dann schaute er Ben beschämt an. «Du warst viel mutiger als ich. Du hast von Anfang an deinen Hals riskiert. Nicht so wie ich. Du hättest dich nie so verhalten.»

«Andreas wusste bestimmt, dass du es nicht so gemeint hast», sagte ich. «Er hat dich nicht gehasst. Sicher hat er verstanden, dass du bloß verletzt und verwirrt warst. Du warst doch noch ein Kind, Jack. Sieh dir an, was du seitdem erreicht hast: Du hast uns gerettet. Ohne dich wären Greta und ich jetzt tot.»