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Beschreibung

Der Siegeszug der Vernunft

Die Vordenker der Aufklärung kämpften dafür, dass der Mensch sich von seinen Vorurteilen befreit, dass er sich nicht von Gefühlen oder unhinterfragten Glaubenssätzen bestimmen lässt, sondern in seinen Entscheidungen und Überzeugungen allein auf Wissen und Vernunft vertraut. Das vielgestaltige und vielstimmige, europaweite Projekt der Aufklärung propagierte religiöse Toleranz, Bürger- und Menschenrechte, Emanzipation, Bildung und persönliche Handlungsfreiheit und war Ausgangspunkt radikaler Veränderungen, die bis in unsere Tage zu spüren sind. In Überblicksdarstellungen und Porträts berühmter Aufklärer wie Voltaire, Jean-Jacques Rousseau, Immanuel Kant oder Gotthold Ephraim Lessing beschreiben SPIEGEL-Autoren und Historiker die große Vielfalt der aufklärerischen Ideen und fragen zugleich, welches Erbe diese Epoche hinterlassen hat.

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Seitenzahl: 277

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Zum Buch

Die Vordenker der Aufklärung kämpften dafür, dass der Mensch sich von seinen Vorurteilen befreit, dass er sich nicht von Gefühlen oder unhinterfragten Glaubenssätzen bestimmen lässt, sondern in seinen Entscheidungen und Überzeugungen allein auf Wissen und Vernunft vertraut. Das vielgestaltige und vielstimmige, europaweite Projekt der Aufklärung propagierte religiöse Toleranz, Bürger- und Menschenrechte, Emanzipation, Bildung und persönliche Handlungsfreiheit und war Ausgangspunkt radikaler Veränderungen, die bis in unsere Tage zu spüren sind. In Überblicksdarstellungen und Porträts berühmter Aufklärer wie Voltaire, Jean-Jacques Rousseau, Immanuel Kant oder Gotthold Ephraim Lessing beschreiben SPIEGEL-Autoren und Historiker die große Vielfalt der aufklärerischen Ideen und fragen zugleich, welches Erbe diese Epoche hinterlassen hat.

Zum Herausgeber

Johannes Saltzwedel, geboren 1962, arbeitet seit 1991 als Redakteur für den SPIEGEL. Er hat literaturgeschichtliche und bibliographische Studien veröffentlicht, unter anderem zur Goethezeit und zu Rudolf Borchardt. Er ist Herausgeber zahlreicher SPIEGEL / DVA-Bücher darunter »Die Bibel« (2015) und »Rom« (2016).

Johannes Saltzwedel (Hg.)

Die Aufklärung

Das Drama der Vernunft vom 18. Jahrhundert bis heute

Cord-Friedrich Berghahn, Sebastian Borger, Annette Bruhns, Angela Gatterburg, Alexandra Gittermann, Christoph Gunkel, Till Kinzel, Nils Klawitter, Uwe Klußmann, Alexander Košenina, Romain Leick, Bettina Musall, Dietmar Pieper, Jan Puhl, Michael Sontheimer, Hans-Ulrich Stoldt, Eberhard Straub, Andreas Wassermann, Susanne Weingarten

Deutsche Verlags-Anstalt

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Die Texte dieses Buches sind erstmals in dem Heft »Die Aufklärung. Philosophen und Revolutionäre verändern die Welt« (Heft 2/2017) aus der Reihe SPIEGELWISSEN erschienen.1. Auflage August 2017Copyright © 2017 Deutsche Verlags-Anstalt, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München, und SPIEGEL-Verlag, Hamburg, Ericusspitze 1, 20457 HamburgUmschlag: Büro Jorge Schmidt, MünchenUmschlagmotive: © AKG (Lessing, Rousseau, Herder, Montesquieu, Voltaire, Kant, Paine, Hume)Gestaltung und Satz: DVA / Andrea MogwitzGesetzt aus der Adobe GaramondISBN 978-3-641-21641-2V001www.dva.de

Inhalt

Vorwort

Labor der Ideen

Das Wort »Aufklärung« hat bis heute nichts von seiner verblüffenden Magie verloren – Von Johannes Saltzwedel

KAPITEL I: VOMGLAUBENZURERKENNTNIS

Im Zeichen des Kometen

Der Skeptiker Pierre Bayle weckte in seinen Zeitgenossen die kritische Vernunft – Von Christoph Gunkel

Gott als Uhrmacher

Natürliche Religion – Von Johannes Saltzwedel

Aufklärer in Europa

Reformer verändern das geistige Klima: Sechs Pioniere im Kurzporträt – Von Johannes Saltzwedel

Republik des Geistes

Engagierte Wissenschaftler auf dem Weg in die neue Öffentlichkeit – Von Till Kinzel

»Wichtig war die Suche«

Der Ideenhistoriker Martin Mulsow erforscht die häufig bedrohte Existenz der Radikalaufklärer – Von Johannes Saltzwedel

Angst vor Kühen

In der Sierra Morena spürten Auswanderer die harte Realität aufgeklärten Daseins – Von Alexandra Gittermann

Nervensäfte in Bewegung

Das Kaffeehaus, ein Treffpunkt der Pariser Philosophen – Von Johannes Saltzwedel

Ein Realist aus Neapel

Der gewitzte Ökonom und Salonlöwe Ferdinando Galiani – Von Alexandra Gittermann

Kriegsherr im Reich der Ideen

Friedrich der Große und sein aufmüpfiger Gesprächspartner Voltaire – Von Uwe Klußmann

Alles hat seinen Zweck

In Voltaires bitterbösem »Candide« hagelt es Katastrophen

»Madame bewirken Wunder«

Was Zarin Katharina II. dem Denker Diderot erwiderte – Von Uwe Klußmann

Wider den alten Unfug

Die »Encyclopédie« – Wissensspeicher der Epoche und Arsenal kritischer Erkenntnis – Von Jan Puhl

KAPITELII: VERNUNFTFÜREINEBESSEREWELT

Die Macht der Sinne

Umgänglich, aber kompromisslos: David Hume ließ nur die Erfahrung gelten – Von Sebastian Borger

Schnörkelreiche Sittenlehre

Moralische Wochenschriften brachten das Licht der Vernunft unters Volk – Von Nils Klawitter

Der Bild-Erzähler

Bürgerliche Moral in den Stichen des Daniel Chodowiecki – Von Alexander Košenina

Das schlagfertige Rehlein

Drei Frauen, die das Aufklären nicht den Männern überließen – Von Bettina Musall

Herold des Natürlichen

Jean-Jacques Rousseau, radikaler Selbsterforscher und pädagogischer Utopist – Von Romain Leick

Entdecker des Nichts

Ein nüchterner Verstandesmensch am Steuerrad: James Cook erforschte die Südsee – Von Annette Bruhns

Der mechanische Mensch

Materialismus – Von Andreas Wassermann

Der Sklavenhalter als Freiheitsheld

Kochkunst und Revolution: Thomas Jefferson, Gründervater der USA, in Paris – Von Dietmar Pieper

»Forurteile fon tifer Wurzel«

Die sarkastische Rechtschreib-Kritik des Dichters Friedrich Gottlieb Klopstock

KAPITELIII: NEUGIERUNDSENSIBILITÄT

In Sprache denken

Gotthold Ephraim Lessing, Deutschlands Aufklärer par excellence – Von Cord-Friedrich Berghahn

Moses Mendelssohn

Ein großer Vordenker der jüdischen Emanzipation – Von Cord-Friedrich Berghahn

Waisenkind auf Glückssuche

Er war mehr als ein Benimmpapst: Das bewegte Leben des Freiherrn Adolph von Knigge – Von Angela Gatterburg

»Stillschweigen und Geheimnis«

Die Welt der Freimaurer, Illuminaten und Rosenkreuzer – Von AngelaGatterburg

Der Guillotine entkommen

Thomas Paines unermüdlicher Kampf für die Menschenrechte – Von Michael Sontheimer

»Die Erde ist vielleicht ein Weibchen«

Der Physiker Lichtenberg experimentierte auch mit Wörtern und Gedanken – Von Hans-Ulrich Stoldt

Fortschritt für alle

Geschichtsphilosophie – Von Andreas Wassermann

Extreme Stimmungen

Franz Xaver Messerschmidt und seine Grimassenwelt – Von Johannes Saltzwedel

Gegner der Aufklärung

Sechs Zweifler im Kurzporträt – Von Johannes Saltzwedel

Preußisch gebändigt

Im diskussionsfreudigen Berlin fand Immanuel Kant eifrige Leser und Gesprächspartner – Von Alexander Košenina

KAPITELIV: DASERBEDEREPOCHE

Tragik des Verstehens

Der Universaldenker Johann Gottfried Herder sah die Probleme des Zeitalters genau – Von Johannes Saltzwedel

Tugend und Terror

War die Aufklärung schuld an der Französischen Revolution? – Von Eberhard Straub

Der grüne Lord

Im Naturparadies der englischen Gärten triumphiert die aufgeklärte Ästhetik – Von Susanne Weingarten

ANHANG

Chronik

Buchhinweise

Autorenverzeichnis

Dank

Personenregister

Bildnachweis

Vorwort

So manche Kulturepoche lebt überwiegend in Klischees fort: Da denkt man beim Stichwort Mittelalter zuerst an Ritterburgen, und unter den römischen Kaisern sollen Sklavenelend und Prasserei geherrscht haben. Seltsamerweise hat es die Aufklärung kaum zu ähnlich plakativen Gedächtnisbildern gebracht – bis auf die eine, alles überstrahlende Metapher vom Licht der Vernunft, das dem Dunkel von Aberglauben und Despotie sein verdientes Ende beschert. Unwiderstehlich bündelt sie die vielen geistigen Entwürfe und politischen Bestrebungen der Epoche zum erhellenden Strahl, zum großen Sog des Fortschritts, zu einem Aufbruch in menschlichere, zivilisiertere und schlicht bessere Zeiten. Als sei das Wort von einem Imageberater erfunden, so suggestiv, ja parolenhaft weist es ins unabdingbar Positive, Wahre und Richtige.

Nahmen die Zeitgenossen den tiefgreifenden Wandel ihrer Ziele und Maßstäbe tatsächlich so wahr? Darf man die Aufklärung überhaupt als intellektuelle Bewegung auffassen? Oder ist der Begriff eher ein bequemes Deckelwort für recht unterschiedliche, manchmal gar widersprüchliche Überzeugungen, die am falschen Ort auch verderblich wirken konnten? Wer solche Fragen vorweg entscheiden wollte, täte den staunenswerten Energien von Fragelust, Eigensinn und Utopismus, die sich im 18. Jahrhundert entluden, sehr wahrscheinlich Unrecht. Denn gerade dass man nach Wahrheiten suchen und über die richtige Lösung diskutieren konnte, stellte für viele Aufklärer das eigentlich Neue und Anregende ihres Zeitalters dar.

Wie porträtiert man eine Epoche, die den undogmatischen Wettstreit der Argumente und Theorien, unterstützt durch Forschung mit dem Ziel frei zugänglichen Wissens, als wichtigste neue Errungenschaft der Zivilisation sah? Anstatt die Vielfalt mit starren Definitionen in ein Raster zu pressen oder krampfhaft eine große kulturgeschichtliche Linie zu ziehen, wie manche früheren Historiker der Aufklärung es versucht haben, entscheidet sich dieses Buch für ein Mosaik der Ideen, Ereignisse und Gestalten. Zu vielfältig sind die Wechselwirkungen, zu verästelt das Geflecht der Debatten, als dass sie sich lehrbuchhaft in Paragraphen gliedern ließen. Selbst die vier Hauptteile sollen keine scharfe Abgrenzung suggerieren, sondern schlicht der Übersichtlichkeit dienen.

Geistig im Mittelpunkt stand für die frühen Aufklärer zweifellos die Ablehnung der überkommenen christlichen Dogmen. Zermürbt vom blutigen Dauerzwist der Konfessionen, aller spitzfindigen theologischen Debatten müde, zudem von wachsenden naturwissenschaftlichen Kenntnissen in ihrem Selbstbewusstsein gestärkt, wagten immer mehr führende Köpfe Europas den bislang öffentlich heiklen Schritt vom Glauben zur Erkenntnis. Je stärker sich die Überzeugung durchsetzte, dass Wissen und Wahrheit auch unabhängig von religiöser Offenbarung möglich, ja erst auf diese Art wahrhaft legitim waren, desto eifriger entwarfen kühne Reformer Modelle plausibleren, naturgemäßeren Daseins und reklamierten Vernunft für eine bessere Welt. Das skeptische Überprüfen sämtlicher Erkenntnisfundamente ging Hand in Hand mit dem optimistischen Drang zur bürgerlichen Kolonisation von Welt und Wissen.

Auf dem Höhepunkt des aufklärerischen Enthusiasmus hatte die Grundlagendebatte alle Lebensbereiche erfasst: Von der Kosmologie bis zum Kochrezept blieb keine Kenntnis unbefragt; Neugier und Sensibilität ließen auf ein menschliches Miteinander ohne den alten Standesdünkel hoffen, schufen neuen, »empfindsame« Bühnen- und Literaturformen und beflügelten die geschichtsphilosophische Spekulation. Freilich kamen die neuen Fortschrittstheorien sogleich auch selbst auf den Prüfstand, und ausgerechnet besonders radikale Befürworter geistiger Transparenz fanden sich zur gleichen Zeit in Geheimbünden zusammen.

Jacob Burckhardts Maxime, der menschliche Geist sei ein »Wühler«, erscheint im Rückblick an wenigen Epochen so deutlich zu belegen wie an der Aufklärung, die schließlich ihre eigenen Grundlagen hinterfragt. Dennoch ist das Erbe der Epoche mehr als die ernüchternden Relikte eines großen geistig-moralischen Experiments: In ihrem Optimismus tief erschüttert durch den blutigen Ausgang der Revolution und die napoleonischen Kriege, versuchte eine junge Generation um 1800 die geistige Freiheit ihrer Eltern mit bürgerlicher Sicherheit zu verbinden. Die Ideenkathedralen des nachkantischen Idealismus, so könnte man behaupten, signalisieren diese Wendung der aufklärerischen Energie ins Innere und dialektisch Konstruktive. Mit der Rückwendung zu christlich-katholischen Formen scheint das Aufklärerpathos vollends in sein resignatives, ja restauratives Gegenteil umgeschlagen. Doch war vom emanzipatorisch-kritischen Geist des verflossenen Jahrhunderts genug übrig, um fortzuwirken: Wissenschaftliche Philologie und Hermeneutik, empirisch-experimentelle Biologie, Chemie und Medizin, aber auch die Verbreitung von Schulbildung und bürgerlicher Wohlfahrt im 19. Jahrhundert zehrten noch lange von alten aufklärerischen Idealen.

Und die Gegenwart? Nie war Aufklärung so wichtig wie heute, könnte man in Anlehnung an einen pfiffigen alten Werbespruch behaupten – mit Recht. Aber wer die Verfechter kritischer Vernunft von einst kennt und sie ernst nimmt, wird hinzufügen: Aufklärung findet nicht statt, wenn alle schon wissen, wo es langgehen soll. Radikales Fragen kann wehtun, und Vernunft ist nichts Bequemes. Auch daran möchte dieses Epochenpanorama erinnern. Anregende Lektüre!

Hamburg, im Herbst 2017

Johannes Saltzwedel

Labor der Ideen

Was war die Aufklärung? Es liegt in der Natur dieser lebhaften Epoche, dass sie sich einer klaren Definition widersetzt. Entscheidend für die Aufbruchstimmung des Zeitalters war das kritisch-unbefangene Fragen.

Von Johannes Saltzwedel

Walpurgisnacht! Ausgelassen tollt auf dem Blocksberg die Hexenschar. Faust und Mephisto mischen sich ins Getümmel. Da tritt plötzlich ein Spielverderber auf. »Verfluchtes Volk! Was untersteht ihr euch!«, ruft er den frivolen Spukgestalten zu. Als sie nicht weichen, schreit er wutentbrannt: »Ihr seid noch immer da! Nein, das ist unerhört. Verschwindet doch! Wir haben ja aufgeklärt! … Wie lange hab ich nicht am Wahn hinausgekehrt, Und nie wird’s rein; das ist doch unerhört!«

Als Goethe 1808 den ersten Teil seines »Faust«-Dramas erscheinen ließ, brauchte er keinem zu erklären, wer der humorlose Alte sein sollte: Friedrich Nicolai (1733 bis 1811), Großverleger in Berlin, Buchautor, streitbarer Intellektueller und ein Hauptverfechter dessen, was man Aufklärung nannte. Immer wieder hatte der einstige Freund Lessings für gesunden Menschenverstand getrommelt, hatte wortreich Aberglauben, Vorurteile und Engstirnigkeit verteufelt. Nun wurde der Veteran, von halb nackten Hexen umringt, zur Witzfigur.

Aufklärung als Lachnummer? Schon pikant, dass gerade Weimars Vorzeigepoet so derbe austeilte. Denn Goethe verdankte den geistigen Errungenschaften des abgelaufenen Jahrhunderts viel – vom frühen Zweifel am Christentum der Vorfahren bis zur lebenslangen Leidenschaft, das Walten der Natur zu verstehen.

Mit der legendären Definition, Aufklärung sei »der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit«, hatte der Philosoph Immanuel Kant Ende 1784 eine Vielzahl von Zielen und Hoffnungen früherer Jahrzehnte auf den Begriff zu bringen versucht. »Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen« sei der wahre Ausweis geistiger Mündigkeit, somit »der Wahlspruch der Aufklärung«.

Geschickt hatte Kant damit eine Brücke zu seinem eigenen Programm selbstkritischer Vernunft gebaut, das auch »Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft« vorsah. Schon sein Fortsetzer Hegel wertete das Denken des Königsbergers als »die methodisch gemachte Aufklärung«.

Zunächst hatte Kant freilich weniger den eigenen Ansatz propagieren wollen. Wie viele vor ihm im Europa des 18. Jahrhunderts trat er ein für die »Befreiung aus dem Aberglauben« in jeder denkbaren Form, ja »von Vorurteilen überhaupt«. Wer eigenständig dachte und urteilte, so die große Hoffnung, würde sich – mit den Worten des Sozialwissenschaftlers Horst Stuke – »von allen Autoritäten, Lehren, Ordnungen, Bindungen, Institutionen und Konventionen« emanzipieren, »die der kritischen Prüfung durch die autonome menschliche Vernunft nicht standzuhalten« vermochten.

Es ging also um einiges, von Kirchenmacht und Herrschergewalt bis hinunter zum schlicht Althergebrachten. Nur ein Beispiel: Dasss es böse Zauberkünste gebe, hatte man schon um 1500 öffentlich bezweifelt, aber noch 1756 war eine vermeintliche Hexe in Landshut geköpft und verbrannt worden; 1782, ganze zwei Jahre vor Kants Wortmeldung, hatte man in der Schweiz eine andere arme Verdächtige hingerichtet, nun zur Empörung halb Europas. Das Licht klarer Vernunft strahlte mancherorts anscheinend noch nicht sehr hell; weiterhin gab es reichlich zu tun.

Bis heute hat sich diese aktivistische Stimmung gehalten. Kein Wunder, dass nahezu täglich lautstark für Aufklärung plädiert wird. Kaum etwas scheint näherzuliegen, als mit dem Appell an das Licht der Vernunft zu punkten.

Da fordern stramme Westler, aber auch reformerische Muslime vom Islam, er solle endlich wie das Christentum eine Phase der Aufklärung durchlaufen – einige behaupten gar, das sei schon passiert. Entschieden Säkulare sehen freilich auch das Christentum als Feind aufgeklärter Ratio, somit als schädlich für Freiheit, Demokratie, Gleichberechtigung und Menschenrechte. Erzliberale beklagen, dass die stetig wachsende obrigkeitliche Bemutterung – von der Videoüberwachung bis hin zu wohlmeinend-absurden Packungshinweisen – die aufgeklärte Mündigkeit der Bürger ersticke.

Aus naturwissenschaftlicher Sicht wurde mit Sorge vor esoterischen und neoreligiösen Weltbildern unlängst eine »zweite Aufklärung« gefordert. Anwälte ökologischer Natürlichkeit klären regelmäßig über bedenkliche Stoffe im Essen, über Strahlenrisiken oder genmanipulierte Lebensmittel auf – ganz zu schweigen vom umfassend volkspädagogischen Ansatz der Kölner Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, der sogar »gesundheitliche Chancengleichheit« umfasst.

Aber auch im Kleinen ließe sich kaum ein positiver besetztes Wort finden. Verdacht auf Rassismus oder missliebige Frömmigkeit, Furcht vor Autokraten oder Datenabgreiferei: Stets sind »Werte der Aufklärung« wie Toleranz, Freiheitlichkeit und Gleichheitsideale zitierbar. Ein Essayist warnt vor der Preisgabe der universellen Menschenrechte unter dem Titel »Die Niederlage der politischen Vernunft – Wie wir die Errungenschaften der Aufklärung verspielen«. Und eine Publizistin weiß kein größeres Lob für ihre Kollegin als: »Die kommt beinhart aus der Aufklärung.«

Wäre die Sache nur so einfach. Denn was Aufklärung war, ist oder sein sollte, darüber kursieren denkbar unterschiedliche Vorstellungen. Nicht einmal die segensreiche Wirkung des Aufklärens ist verbürgt. So gut wie jeder selbst ernannte Lichtverbreiter hat zum Beispiel ernüchtert sehen müssen, dass sich das, was er für vernünftig hält, nie komplett durchsetzen lässt – Paradefall Nicolai. Schlimmer noch: Hundert Prozent Vernunft zu fordern liefe auf Gesinnungskontrolle und totalitären Zwang hinaus. Diese »Dialektik der Aufklärung« haben schon 1947 ausgerechnet die linken Sozialtheoretiker Max Horkheimer und Theodor W. Adorno hervorgehoben.

Es waren beileibe nicht die ersten Zweifel an der vermeintlichen Heilsbotschaft. Kant selbst merkte 1790 an, dass »das bloß Negative … die eigentliche Aufklärung ausmacht«. Vorurteile, Denkverbote und Klassengrenzen zu überwinden bedeutete eben nicht, dass an ihre Stelle Besseres trat. Hegel sah in der Aufklärung später einfach »Eitelkeit des Verstandes«, die unentwegt pedantisch die »Nützlichkeit aller Dinge« gesucht und so »im Felde des Endlichen« stehen geblieben sei. Waren die »lumières« (wörtlich: Lichter, Erleuchtungen), wie die aufgeklärte Epoche bis heute auf Französisch heißt, am Ende bloß eine Ära geistigen Kahlschlags?

Holzhammerurteile solcher Art, aber auch ihr Gegenteil, die oft wiederholten Beschwörungen überzeitlich heilsamer Vernunft, hat der Kulturhistoriker und »Encyclopédie«-Experte Robert Darnton 1996 mit nüchternen Worten zurückgewiesen. Aufklärung sei zunächst schlicht eine »Kampagne zur Veränderung des Bewusstseins« gewesen, getragen vom neuen Intellektuellentyp der »philosophes«, Literaten mit Gruppengeist und hellwachem Öffentlichkeitssinn.

Beginnen lässt Darnton diese geistige Bewegung am Ausgang des 17. Jahrhunderts. Sein Kollege Martin Mulsow, führender Kenner der sogenannten Radikalaufklärer, stimmt zu: Als die zermürbenden Konfessionskriege erstarben und zugleich eine Fülle naturwissenschaftlicher Entdeckungen viele scheinbare Selbstverständlichkeiten infrage stellte, sei die »kritische Masse« erreicht worden, die den morschen spätbarocken Denkhorizont sprengen konnte.

Gelehrte wie René Descartes, John Locke, Isaac Newton und Gottfried Wilhelm Leibniz, aber auch etliche Laborvirtuosen wie die Briten Robert Boyle oder Robert Hooke erwiesen die Unzulänglichkeit des überkommenen aristotelischen Wissenschaftsgebäudes. Theologische Forscher und Skeptiker wie Richard Simon, Baruch de Spinoza, Nicolas Malebranche und Pierre Bayle rüttelten an den altgewohnten kirchlichen Dogmen. Naturrechtler wie Samuel von Pufendorf und Christian Thomasius gründeten den Staat auf einen Gesellschaftsvertrag ohne religiöse Prämissen.

Warum Gottes Eingreifen voraussetzen, wenn auch natürliche Erklärungen möglich waren? Voller Neugier und Zuversicht machten sich unabhängige Köpfe auf allen Gebieten daran, für Weltverständnis und Lebensform des Menschen eigenständige, vernunftgemäße Grundsätze zu entwickeln, immer geleitet vom »Zauberwort« (Edgar Salin) der Natürlichkeit.

Allein dass Denker zunehmend in ihrer Muttersprache, nicht mehr im Gelehrtenlatein argumentierten, sorgte für frischen Wind. So weist der scharfsinnige Philologe und Philosophiehistoriker Arbogast Schmitt (»Wie aufgeklärt ist die Vernunft der Aufklärung?«) darauf hin, dass der Begriff des Bewusstseins erst durch das auf Leibniz fußende aufklärerische Denkgebäude des Hallenser Philosophen Christian Wolff (1679 bis 1754) unter Fachleuten geläufig wurde.

Aber nicht nur ein paar Spezialisten sollten von der neuen Diskussionsfreude profitieren. Die meisten Aufklärer sahen sich verpflichtet, möglichst vielen Zeitgenossen die Chance der Vernunft zu vermitteln. »Von Sokrates wurde gesagt, er hätte die Philosophie vom Himmel gebracht, um unter den Menschen zu wohnen; und ich möchte wohl wünschen, dass von mir gesagt würde, ich hätte die Philosophie aus den Studierstuben und Büchersälen, Schulen und Collegien gebracht, damit sie in den Gesellschaften und Versammlungen, an den Teetischen und in Caffeehäusern wohnen möchte«, verkündete 1711 der Mitgründer des englischen Blatts »The Spectator«, Joseph Addison (1672 bis 1719), ein selbst ernannter Kämpfer gegen die Übel »des Lasters und der Torheit«. Nicht anders dachte sein französischer Kollege, der literarisch-intellektuelle Tausendsassa Voltaire (1694 bis 1778).

In den meisten ihrer Ziele waren Europas Intellektuelle nahezu einig: religiöse Toleranz, Bildung für möglichst viele Menschen, freie öffentliche Diskussion um die besten Argumente und Methoden, bürgerliche Solidarität statt Fürstenwillkür und Untertanengeist, Vernunft und Selbstdisziplin zum Wohl nicht nur eines Landes, sondern globaler Humanität. Doch wie sich dergleichen Ideale verwirklichen ließen und wo der Schwerpunkt liegen sollte, blieb umstritten.

Überdies wechselte mancher die Ansichten fast so schnell wie die Hemden; schwer macht es seinen Bewunderern zum Beispiel der quecksilbrige Diderot. Sogar Voltaire, der jahrzehntelang vehement die Kirche bekämpft hatte, wurde auf die Dauer zögerlicher und verkündete: »Wenn Gott nicht existierte, müsste man ihn erfinden.« Ohne Bezug auf einen himmlischen Vater zerfielen gesellschaftliche Bande, so fürchtete der alte Spötter, und die Moral verlöre ihren altgewohnten Ankerpunkt; Gott – es brauche ja nicht der christliche zu sein – bleibe »Zaum des Übeltäters und Hoffnung des Gerechten«.

Wenn schon die größten Denker des Zeitalters keine einheitlichen Konzepte verfolgten, wundert es nicht, dass auch Kenner bis heute alle Mühe haben, den »direkten Weg zur Menschheit, den das 18. Jahrhundert gehen wollte« (so der Kulturhistoriker Richard Benz), bündig zu beschreiben.

Ältere Nachschlagewerke halten sich bei dem Stichwort ohnehin zurück – die Aufklärung genießt tatsächlich noch gar nicht lange den Rang einer Kulturepoche. In der »Encyclopaedia Britannica« von 1911 zum Beispiel fehlt ein Artikel zum »Enlightenment«. Erst 1932 plädierte der Ideenhistoriker Ernst Cassirer mit seinem Buch »Die Philosophie der Aufklärung« eindringlich dafür, dass man im emanzipatorischen Wollen der europaweit führenden Köpfe das Hauptmerkmal des ganzen Zeitalters erblicken könne – allerdings vorwiegend als »unablässig-fluktuierende Bewegung« des Geistes.

Mit seinem breiten Ansatz, der in der Aufklärung weniger feste Lehren als einen intellektuellen Stil erblickte, eine »Denkform«, der es ganz allgemein um »die Kraft und die Aufgabe der Lebensgestaltung« aus natürlicher Vernunft ging, schloss sich Cassirer in souveräner Eigenständigkeit dem großen Heidelberger Soziologen Max Weber an. Weber hatte fachübergreifend, von der Ökonomie bis zur Musikgeschichte, den Leitgedanken verfochten, wichtigstes Merkmal der Moderne sei die »Entzauberung der Welt«.

Zur ersten Näherung bleibt diese Einordnung nützlich, aber man hat ihr schon häufig vorgeworfen, sie sei unvollständig. Wenn es nur um das heilsame Licht der Ratio ging, weshalb hatten sich dann sogar Genies vom Range eines Newton oder Leibniz mit den trüben Deutungskünsten der Alchemie oder der Astrologie beschäftigt? Wie ließ sich die Hochkonjunktur pietistischer bis asketischer Sekten im 18. Jahrhundert erklären? Standen elitäre Geheimbünde, die ebenfalls zu dieser Zeit aufblühten, nicht erst recht quer zum aufklärerischen Ideal freiheitlichen Bürgersinns?

Im Rückblick auf die tödlichen Weltanschauungskonflikte des frühen 20. Jahrhunderts merkten Horkheimer und Adorno 1947 geradezu pathetisch an: Wer bedingungslos für Vernunft kämpfe, lasse sich damit nur auf eine Ersatz-»Mythologie« ein. Mit solch einem Bekenntnis laufe man Gefahr, ebenso totalitär zu denken oder gar zu handeln wie bisherige Ideologen.

Ein wichtiges Argument gegen überzogenes Aufklärerpathos, gewiss. Kulturhistoriker der Zeit zwischen 1700 und 1800 konnten mit dem kecken Theoriedreh allerdings nicht viel anfangen. Roy Porter, Fachmann für die Sozialgeschichte des 18. Jahrhunderts, hat die Horkheimer-Adorno-These schlicht »historischen Unsinn« genannt.

Dennoch: Als pure Erfolgsstory ließ sich die Aufklärung fortan nicht mehr erzählen. Und 1983 bestärkten Gernot und Hartmut Böhme alle Zweifler noch einmal. In ihrem Buch »Das Andere der Vernunft« legten die Brüder den Erzaufklärer Kant gewissermaßen auf die Analytikercouch, um nachzuweisen, dass die Weltsicht des Philosophen einer intellektuellen Selbstamputation gleichkomme. Alles Vage, Leibliche oder kurios Überschießende falle der rigiden Ratio zum Opfer.

Kant als selbstentfremdeter Seelenkrüppel, seine Vernunftlehre eine gigantische Verdrängung – angstneurotische Abdichtung gegen die weitaus wildere, buntere Flut von Welt und Geist? Auch diese steile These gilt bei Fachleuten inzwischen als erledigt, schon weil sie Kants wegweisende, aller Psychologie vorausliegende Einsicht ausblendet, dass unsere Erkenntnis durch die Strukturierung nach Raum, Zeit und Kausalität geradezu weltschöpferische Kräfte entfaltet.

Zudem ist Kant ein heikler Gewährsmann, denn seine Vernunftkritik stellt philosophisch eher eine späte Folge, wenn nicht eine Revision aufklärerischen Denkens dar. Das hat der Ideenhistoriker Panajotis Kondylis schon 1981 demonstriert. Als geistige Hauptrichtung der Epoche betrachtet Kondylis vielmehr die »Rehabilitation der Sinnlichkeit«. Der langwierige Kampf gegen die Deutungshoheit der Theologie sei, so Kondylis, gerade nicht in einem Feldzug der Vernunft gewonnen worden, sondern durch entschlossenen »Antiintellektualismus« im Rahmen einer Aufwertung der »niederen Erkenntniskräfte«.

Vereinfacht gesagt: Augen, Ohren und Gefühle, denen die logisch-mathematisch fundierte Wissenschaft zuvor misstraute, erwiesen sich in diesem Zeitalter grenzenlos experimentierender Neugier als wertvolle, schließlich sogar als unentbehrliche Quellen der Erkenntnis. Für das große Projekt, im Menschen nicht mehr ein abhängiges Geschöpf, sondern ein autonomes Glied der allumfassenden Natur zu sehen, war Erfahrungswissen unabdingbar. Dafür nahm man selbst die Schwächen materialistischen Denkens in Kauf.

So ließ beispielsweise 1754 Étienne Bonnot de Condillac, Gesprächspartner von Rousseau und Diderot, in einem Traktat »Über die Empfindungen« eine Statue allmählich Sinnesdaten empfangen: Erst kann sie nur riechen, dann hören, schmecken, sehen und schließlich auch tasten. Das Gedankenexperiment sollte zeigen, dass geistiges Leben allein aus der Verknüpfung äußerer Eindrücke entstehe; auf die häufig postulierten »angeborenen Ideen« könne man verzichten. Der pfiffige Gedankenspieler Julien Offray de la Mettrie wagte sogar noch mehr: Er beschrieb den Menschen als Maschine; was man Seele nenne, seien bloß stoffliche Wechselwirkungen.

Natürlich ging das den meisten Aufklärern zu weit – allzu quälend offen blieb die Frage, wer denn die famose Maschine konstruiert habe. Aber vielleicht gab es elegantere Lösungen? Jedenfalls mussten, sobald kein höheres Wesen mehr walten durfte, Geist und Sinnlichkeit irgendwie in der Natur verschränkt sein und dabei obendrein begriffliche, ja sogar moralische Maßstäbe erzeugen. Für Panajotis Kondylis kreisen die meisten Aufklärerdebatten um diesen Problemkern.

Doch der ideenhistorische Ansatz ist eben nur einer unter vielen möglichen. Fragt man Sozialgeschichtler nach der Aufklärung, weisen sie auf die Krise der absolutistischen Staatsform und die geistige Belebung durch Konfessionsflüchtlinge wie die Hugenotten hin. Medienhistorikern ist die deutlich raschere Verbreitung des sprunghaft wachsenden Wissens wichtig. Literaturwissenschaftler sehen die Abkehr von antiken Gattungsmustern als Anbruch nationalsprachlich selbstbewusster Dichtung. Kulturkundler belegen, wie nachhaltig sich der europäische Horizont durch die Erwerbung und oft konfliktträchtige Bewirtschaftung von überseeischen Kolonien erweiterte.

Noch viele andere Gesichtspunkte ließen sich aufzählen – von begeistert bis tief skeptisch. Dennoch ist die Magie des Sprachbildes ungebrochen: Fällt das Wort Aufklärung allein, entfaltet es eine Leuchtkraft und Energie, die so gut wie immer positiv aufgefasst wird.

Das ist letztlich auch gut so – denn die Grundfragen nach Vernunft und Humanität, Menschlichkeit und Natürlichkeit, um die einst gerungen wurde, sind ja keineswegs beantwortet. So zwingt der Blick zurück in das Zeitalter, das sie aufwarf, zur Selbstanalyse. Aufklärung studieren heißt darum zugleich, sie immer wieder neu zu betreiben. Diese verblüffende Fernwirkung hebt die Epoche über viele andere heraus.

KAPITEL IVOMGLAUBENZURERKENNTNIS

Im Zeichen des Kometen

Als Kämpfer gegen den Aberglauben wollte der französische Philosoph Pierre Bayle ganz genau wissen, wie die Welt beschaffen ist. Von vielen Seiten angefeindet, schrieb er als Summe seines Nachdenkens ein gewaltiges Lexikon.

Von Christoph Gunkel

Am frühen Morgen des 14. November 1680 in Coburg wollte Gottfried Kirch eigentlich nur nach dem abnehmenden Halbmond sehen. Seit 15 Jahren gab er volkstümliche, astronomische Kalender heraus, die reißenden Absatz fanden. Doch in dieser Nacht sah der 40-Jährige neben dem Mond etwas sehr Seltsames, »eine Art nebelige Stelle von ungewöhnlichem Äußeren«, wie er aufgeregt notierte. Hatte Kirch als Erster einen Kometen per Teleskop entdeckt? Oder eine unbekannte Spiralgalaxie?

In den Wochen danach wurde Kirchs merkwürdiger Stern von den Philippinen aus gesichtet, dann über China, Rom, Nordamerika, Rotterdam. Er strahlte immer heller, bis er tagsüber gar mit bloßem Auge zu erkennen war. Bald war klar, dass es sich um einen außergewöhnlichen Kometen handelte, dessen goldener Schweif sich spektakulär über das halbe Firmament erstreckte und dessen Kopf »groß wie der Mond« wirke, wie der französische Astronomielehrer Jean de Fontaney beeindruckt festhielt.

C/1680 V1, wie der Komet heute offiziell heißt, zog nicht nur Sternenforscher in den Bann, sondern wühlte auch das Volk auf: Zeigte Gott so seinen Zorn über die sündigen Menschen? Die Kirchen mahnten zur Buße; Flugblätter warnten vor der »erschrökklichen Fakkel« am Himmel, die »ein allgemeines Verderben« vorhersage.

Auch einem Landsmann Fontaneys, Pierre Bayle, ließ der Komet keine Ruhe. Ihn ängstigte, was viele Menschen in dem Himmelskörper zu sehen glaubten. Also griff Bayle, Querdenker und Philosoph aus einer streng protestantischen Familie, zur Feder und schrieb. Jahrelang. Der Komet von 1680 veränderte sein Leben radikal, denn mit ihm begann sein riskanter Feldzug gegen den Aberglauben, gegen die Unvernunft und speziell die Dogmen der katholischen Kirche. Der Komet sollte Bayle berühmt machen – und verhasst.

Mehr als zwei Jahre lang arbeitete sich Bayle an dem Himmelskörper ab. Als Professor an der protestantischen Akademie in Sedan sei er von »bestürzten Personen« mit Fragen über den Kometen »geplagt« worden, begründete er den gewaltigen Aufwand. Weil es ihm oft nicht gelungen sei, den Verängstigten Mut zuzusprechen, suchte er nach philosophischen und religionstheoretischen Beweisen, warum Kometen keine Zeichen Gottes sein können. In 263 oft ausufernden Kapiteln veröffentlichte Bayle 1683 sein erstes Werk: »Verschiedene Gedanken über den Kometen«.

Der harmlose Titel täuschte. Scharfzüngig und radikal wie kaum ein Denker seiner Zeit wetterte der Franzose gegen zentrale Positionen der Kirche: Den Priestern warf er vor, sie hielten die Menschen durch »Furcht vor den Göttern« in »Unterwürfigkeit«. Um sie gefügig zu machen, habe man es für nötig erachtet, »alle Erderschütterungen, alle Ergießungen der Flüsse, alle brennenden Körper, die über unseren Häuptern ganz neu erschienen, so hoch zu erheben, wie es nur möglich war«.

Bayle argumentierte weiter, die Angst vor einem Naturphänomen wie dem Kometen sei »ein Überbleibsel des heidnischen Aberglaubens«. Er verglich diesen Aberglauben gar mit einer »Krankheit«, mit der sich die Kirche infiziert habe – und zwar bewusst, denn viele katholische Gebräuche gingen auf heidnische Kulte zurück. Auf diese Weise habe die frühe Kirche versucht, Ungläubige an sich zu binden. Scharf kritisierte Bayle die Auffassung, es sei nützlich, wenn »der Pöbel« Irrtümer der Kirche nicht kenne: »Es muss erlaubt sein, die Wahrheit aller Dinge zu untersuchen und bekannt zu geben.«

Bayles Argumentation gipfelte in seiner provokantesten These: Der Atheismus sei dem Heidentum vorzuziehen. Gottesleugner seien nämlich oft weniger sündhaft als gläubige »Götzendiener«, weil ihnen der Hang zur Missionierung fehle. Im gottesfürchtigen 17. Jahrhundert, in dem Europa 30 Jahre lang einen verheerenden Krieg ausgefochten hatte, der auch wesentlich ein Glaubenskrieg gewesen war, bedeutete so eine Aussage einen Skandal. Bayle jedoch fragte mit gespielter Unbekümmertheit: »Woher kommt es aber, dass alle Welt sich die Atheisten als die gottlosesten Leute vorstellt, die totschlagen, schänden und rauben, was sie nur können?«

Damit schockierte der Franzose nicht nur die Katholiken, sondern verprellte auch viele protestantische Glaubensbrüder. Fortan wurde ihm unterstellt, er sei Feind jeder Religion und in Wahrheit selbst Atheist. Noch mehr als ein halbes Jahrhundert später warnte selbst ein liberaler Geist wie der Literaturtheoretiker Johann Christoph Gottsched, der Bayles Buch ins Deutsche übersetzen ließ: Der Leser möge sich in Acht nehmen vor »anstößigen Sätzen, die zu bösen Folgerungen Anlass geben könnten«.

Pierre Bayle, der Skeptiker und Provokateur, hätte diese Warnung wohl als Kompliment verstanden. Er ist zwar heute weit weniger bekannt als sein berühmter Zeitgenosse John Locke, der Begründer des Liberalismus und Vorkämpfer für den Rechtsstaat. In Forderungen wie etwa der nach religiöser Toleranz war Bayle aber weit radikaler.

Pierre Bayle (Crayonstich, 1762, nach einer Zeichnung von Carle van Loo)

So hat er seither all jene beeindruckt, die bereit waren, Grundsätze ins Wanken zu bringen: Ludwig Feuerbach etwa, den hitzigen Religionskritiker des 19. Jahrhunderts. Der sah in Bayle den »Guerillahäuptling aller antidogmatischen Polemiker«. Auch Marx und Engels lobten den Franzosen. Bayle habe die gesamte Metaphysik, die unter anderem nach der Existenz Gottes und dem Sinn des Lebens fragt, diskreditiert und »die Geschichte ihres Todes« geschrieben.

Zu Lebzeiten nützte Bayle solcher Ruhm herzlich wenig. Ihm standen mächtige Feinde gegenüber. 1681, ein Jahr nach der Sichtung des Kometen, musste er fliehen. Frankreichs prunksüchtiger »Sonnenkönig« Ludwig XIV. hatte begonnen, das Edikt von Nantes aufzuweichen, das den Protestanten des Landes seit 1598 Religionsfreiheit zugesichert hatte. 1685 widerrief Ludwig das Edikt, das sein Großvater Heinrich IV. einst als »unwiderrufbar« proklamiert hatte, vollständig.

Der Rechtsbruch leitete eine Ära des religiösen Fanatismus ein. Die Sucht des Königs nach absoluter, an seinem Hof gebündelter Macht ließ ihn den Katholizismus zur einzigen Staatsreligion machen. Wer weiter andere Religionen predigte, wurde eingesperrt oder hingerichtet. Hunderttausende von Hugenotten – wie die calvinistischen Protestanten Frankreichs hießen – flohen in die Nachbarländer. Das Land verlor viele seiner klügsten Köpfe.

Unter ihnen war auch Pierre Bayle. Er verließ im Sommer 1681 seine Heimat – arbeitslos, nachdem die Akademie von Sedan auf Weisung des Königs geschlossen worden war. Der Skeptiker floh nach Rotterdam, dem Zentrum einer hugenottischen Exilgemeinde. Dort fand er eine neue Stelle als Philosophieprofessor.

Flucht war für ihn keine neue Erfahrung. Schon zehn Jahre zuvor hatte er die Heimat verlassen müssen, weil er für seine Überzeugungen alles riskierte. Bayle stammte zwar aus Carla-le-Comte, einer Gemeinde am Rande der Pyrenäen, die schon während der Religionskriege im 16. Jahrhundert ein Zentrum des protestantischen Widerstands gewesen war. Zum Theologen gemacht aber hatten ihn katholische Jesuiten in Toulouse. Seine Lehrer hatten ihn derart beeindruckt, dass er 1669 zum Katholizismus übertrat – was er kurz danach als großen Irrtum erkannte. Also schwor Bayle seiner neuen Religion 18 Monate später wieder ab und konvertierte zum Protestantismus.

Dieser Religionswechsel konnte in Frankreich mit hohen Bußgeldern und dem Verlust des gesamten Eigentums bestraft werden. Bayle floh ins calvinistische Genf und studierte dort die Lehren des Rationalisten René Descartes. Geduldig wartete er ab, bis sich die Aufregung gelegt hatte. Dann bewarb er sich 1675 auf jene Professorenstelle in Sedan, die ihm der König sechs Jahre später entreißen sollte.

Bayles Rache kam aus dem Exil: Unmittelbar nach seiner Kometen-Schrift rechnete er 1683 mit dem Historiker Louis Maimbourg ab, einem neuen Liebling des »Sonnenkönigs«. Maimbourg hatte dessen Politik in seiner »Geschichte des Calvinismus« rigoros verteidigt und den Protestanten als angeblich staatszersetzenden Kräften die Schuld an den Religionskriegen und ihrer Verfolgung zugeschrieben. Bayle nahm diese tendenziöse Darstellung nun genüsslich auseinander und verwies auf widersprüchliche Quellen. Damit fragte er als einer der Ersten, inwieweit Geschichtsschreibung objektiv sein könne – der von Maimbourg sprach er diese wissenschaftliche Haltung ganz ab.

Wie die Kometen-Schrift richtete sich das Buch an ein breites Publikum, nicht nur an Akademiker. König Ludwig war über das erfolgreiche Werk derart erzürnt, dass sein Henker es öffentlich verbrannte. Das allein genügte ihm nicht: Noch bevor der Monarch das Edikt von Nantes widerrief, ließ er Bayles Bruder Jacob verhaften, der als protestantischer Dorfpfarrer in Carla-le-Comte lebte.

Jacob Bayle hatte die Gefahr geahnt, aber seine Gemeinde nicht im Stich lassen wollen. Er landete in einem Kerker der Festung La Trompette, die der König schon in jungen Jahren zu einer gewaltigen, sternförmigen Anlage im Zentrum von Bordeaux ausgebaut hatte. Pierre Bayle schrieb Bittbrief um Bittbrief für seinen unschuldigen Bruder. Doch als der König sich schließlich erweichen ließ, war es zu spät: Ausgezehrt von der Haft, starb Jacob Bayle am 12. November 1685, zehn Tage vor seiner geplanten Entlassung. Seine Witwe musste zum Katholizismus übertreten.

Von Schuldgefühlen geplagt, reagierte Pierre Bayle auf seine Weise: mit der radikalsten Forderung nach Toleranz, die bis dahin erhoben worden war. Wieder war die Schrift auf den ersten Blick ein harmloser Kommentar, der sich um eine Stelle im Lukas-Evangelium drehte: »Und der Herr sprach zu dem Knechte: Gehe aus auf die Landstraßen und an die Zäune und nötige sie, hereinzukommen, auf dass mein Haus voll werde.«

Dieser angebliche Ausspruch Jesu diente der Kirche als Begründung für die gewaltsame Missionierung von Ungläubigen. Für Bayle aber gab es »nichts Schändlicheres« als die Zwangsbekehrung. Sie bedeute »die Auslöschung aller Tugend«.