Die Aufzeichnungen des Malte Laurids
Brigge
Ich sehe seit einer Weile ein, daß ich Menschen, die in
der Entwicklung ihres Wesens zart und suchend sind, streng davor
warnen muß, in den Aufzeichnungen Analogien für das zu finden, was
sie durchmachen; wer der Verlockung nachgibt und diesem Buch
parallel geht, muß notwendig abwärts kommen; erfreulich wird es
wesentlich nur denen werden, die es gewissermaßen gegen den Strom
zu lesen unternehmen.Diese Aufzeichnungen indem sie ein Maß an sehr angewachsene
Leiden legen, deuten an, bis zu welcher Höhe die Seligkeit steigen
könnte, die mit der Fülle dieser selben Kräfte zu leisten
wäre.R.M.R (Aus den Briefen vom Februar
1912)
II. September, rue Toallier.
So, also hierher kommen die Leute, um zu leben, ich würde eher
meinen, es stürbe sich hier. Ich bin ausgewesen. Ich habe gesehen:
Hospitäler. Ich habe einen Menschen gesehen, welcher schwankte und
umsank. Die Leute versammelten sich um ihn, das ersparte mir den
Rest. Ich habe eine schwangere Frau gesehen. Sie schob sich schwer
an einer hohen, warmen Mauer entlang, nach der sie manchmal
tastete, wie um sich zu überzeugen, ob sie noch da sei. Ja, sie war
noch da. Dahinter? Ich suchte auf meinem Plan: Maison
d'Accouchement. Gut. Man wird sie entbinden—man kann das. Weiter,
rue Saint-Jacques, ein großes Gebäude mit einer Kuppel. Der Plan
gab an Val-de-grâce, Hôspital militaire. Das brauchte ich
eigentlich nicht zu wissen, aber es schadet nicht. Die Gasse begann
von allen Seiten zu riechen. Es roch, soviel sich unterscheiden
ließ, nach Jodoform, nach dem Fett von pommes frites, nach Angst.
Alle Städte riechen im Sommer. Dann habe ich ein eigentümlich
starblindes Haus gesehen, es war im Plan nicht zu finden, aber über
der Tür stand noch ziemlich leserlich: Asyle de nuit. Neben dem
Eingang waren die Preise. Ich habe sie gelesen. Es war nicht
teuer.Und sonst? ein Kind in einem stehenden Kinderwagen: es war
dick, grünlich und hatte einen deutlichen Ausschlag auf der Stirn.
Er heilte offenbar ab und tat nicht weh. Das Kind schlief, der Mund
war offen, atmete Jodoform, pommes frites, Angst. Das war nun mal
so. Die Hauptsache war, daß man lebte. Das war die
Hauptsache.Daß ich es nicht lassen kann, bei offenen Fenster zu
schlafen. Elektrische Bahnen rasen läutend durch meine Stube.
Automobile gehen über mich hin. Eine Tür fällt zu. Irgendwo klirrt
eine Scheibe herunter, ich höre ihre großen Scherben lachen, die
kleinen Splitter kichern. Dann plötzlich dumpfer, eingeschlossener
Lärm von der anderen Seite, innen im Hause. Jemand steigt die
Treppe. Kommt, kommt unaufhörlich. Ist da, ist lange da, geht
vorbei. Und wieder die Straße. Ein Mädchen kreischt: Ah tais-toi,
je ne veux plus. Die Elektrische rennt ganz erregt heran, darüber
fort, fort über alles. Jemand ruft. Leute laufen, überholen sich.
Ein Hund bellt. Was für eine Erleichterung: ein Hund. Gegen Morgen
kräht sogar ein Hahn, und das ist Wohltun ohne Grenzen. Dann
schlafe ich plötzlich ein.Das sind die Geräusche. Aber es giebt hier etwas, was
furchtbarer ist: die Stille. Ich glaube, bei großen Bränden tritt
manchmal so ein Augenblick äußerster Spannung ein, die
Wasserstrahlen fallen ab, die Feuerwehrleute klettern nicht mehr,
niemand rührt sich. Lautlos schiebt sich ein schwarzes Gesimse
voroben, und eine hohe Mauer, hinter welcher das Feuer auffährt,
neigt sich, lautlos. Alles steht und wartet mit hochgeschobenen
Schultern, die Gesichter über die Augen zusammengezogen, auf den
schrecklichen Schlag. So ist hier die Stille.Ich lerne sehen. Ich weiß nicht, woran es liegt, es geht
alles tiefer in mich ein und bleibt nicht an der Stelle stehen, wo
es sonst immer zu Ende war. Ich habe ein Inneres, von dem ich nicht
wußte. Alles geht jetzt dorthin. Ich weiß nicht, was dort
geschieht.Ich habe heute einen Brief geschrieben, dabei ist es mir
aufgefallen, daß ich erst drei Wochen hier bin. Drei Wochen
anderswo, auf dem Lande zum Beispiel, das konnte sein wie ein Tag,
hier sind es Jahre. Ich will auch keinen Brief mehr schreiben. Wozu
soll ich jemandem sagen, daß ich mich verändere, bleibe ich ja doch
nicht der, der ich war, und bin ich etwas anderes als bisher, so
ist klar, daß ich keine Bekannten habe. Und an fremde Leute, an
Leute, die mich nicht kennen, kann ich unmöglich
schreiben.Habe ich es schon gesagt? Ich lerne sehen—ja, ich fange an.
Es geht noch schlecht. Aber ich will meine Zeit
ausnutzen.Daß es mir zum Beispiel niemals zum Bewußtsein gekommen ist,
wieviel Gesichter es giebt. Es giebt eine Menge Menschen, aber noch
viel mehr Gesichter, denn jeder hat mehrere. Da sind Leute, die
tragen ein Gesicht jahrelang, natürlich nutzt es sich ab, es wird
schmutzig, es bricht in den Falten, es weitet sich aus wie
Handschuhe, die man auf der Reise getragen hat. Das sind sparsame,
einfache Leute; sie wechseln es nicht, sie lassen es nicht einmal
reinigen. Es sei gut genug, behaupten sie, und wer kann ihnen das
Gegenteil nachweisen? Nun fragt es sich freilich, da sie mehrere
Gesichter haben, was tun sie mit den andern? Sie heben sie auf.
Ihre Kinder sollen sie tragen. Aber es kommt auch vor, daß ihre
Hunde damit ausgehen. Weshalb auch nicht? Gesicht ist
Gesicht.Andere Leute setzen unheimlich schnell ihre Gesichter auf,
eins nach dem andern, und tragen sie ab. Es scheint ihnen zuerst,
sie hätten für immer, aber sie sind kaum vierzig; da ist schon das
letzte. Das hat natürlich seine Tragik. Sie sind nicht gewohnt,
Gesichter zu schonen, ihr letztes ist in acht Tagen durch, hat
Löcher, ist an vielen Stellen dünn wie Papier, und da kommt dann
nach und nach die Unterlage heraus, das Nichtgesicht, und sie gehen
damit herum.Aber die Frau, die Frau: sie war ganz in sich hineingefallen,
vornüber in ihre Hände. Es war an der Ecke rue
Notre-Dame-des-Champs. Ich fing an, leise zu gehen, sowie ich sie
gesehen hatte. Wenn arme Leute nachdenken, soll man sie nicht
stören. Vielleicht fällt es ihnen doch ein.Die Straße war zu leer, ihre Leere langweilte sich und zog
mir den Schritt unter den Füßen weg und klappte mit ihm herum,
drüben und da, wie mit einem Holzschuh. Die Frau erschrak und hob
sich aus sich ab, zu schnell, zu heftig, so daß das Gesicht in den
zwei Händen blieb. Ich konnte es darin liegen sehen, seine hohle
Form. Es kostete mich unbeschreibliche Anstrengung, bei diesen
Händen zu bleiben und nicht zu schauen, was sich aus ihnen
abgerissen hatte. Mir graute, ein Gesicht von innen zu sehen, aber
ich fürchtete mich doch noch viel mehr vor dem bloßen wunden Kopf
ohne Gesicht.Ich fürchte mich. Gegen die Furcht muß man etwas tun, wenn
man sie einmal hat. Es wäre sehr häßlich, hier krank zu werden, und
fiele es jemandem ein, mich ins Hôtel-Dieu zu schaffen, so würde
ich dort gewiß sterben. Dieses Hôtel ist ein angenehmes Hôtel,
ungeheuer besucht. Man kann kaum die Fassade der Kathedrale von
Paris betrachten ohne Gefahr, von einem der vielen Wagen, die so
schnell wie möglich über den freien Plan dort hinein müssen,
überfahren zu werden. Das sind kleine Omnibusse, die fortwährend
läuten, und selbst der Herzog von Sagan müßte sein Gespann halten
lassen, wenn so ein kleiner Sterbender es sich in den Kopf gesetzt
hat, geradenwegs in Gottes Hôtel zu wollen. Sterbende sind
starrköpfig, und ganz Paris stockt, wenn Madame Legrand,
brocanteuse aus der rue des Martyrs, nach einem gewissen Platz der
Cité gefahren kommt. Es ist zu bemerken, daß diese verteufelten
kleinen Wagen ungemein anregende Milchglasfenster haben, hinter
denen man sich die herrlichsten Agonien vor stellen kann; dafür
genügt die Phantasie einer Concierge. Hat man noch mehr
Einbildungskraft und schlägt sie nach anderen Richtungen hin, so
sind die Vermutungen geradezu unbegrenzt. Aber ich habe auch offene
Droschken ankommen sehen, Zeitdroschken mit aufgeklapptem Verdeck,
die nach der üblichen Taxe fuhren: Zwei Francs für die
Sterbestunde.Dieses ausgezeichnete Hôtel ist sehr alt, schon zu König
Chlodwigs Zeiten starb man darin in einigen Betten. Jetzt wird in
559 Betten gestorben. Natürlich fabrikmäßig. Bei so enormer
Produktion ist der einzelne Tod nicht so gut ausgeführt, aber
darauf kommt es auch nicht an. Die Masse macht es. Wer giebt heute
noch etwas für einen gut ausgearbeiteten Tod? Niemand. Sogar die
Reichen, die es sich doch leisten könnten, ausführlich zu sterben,
fangen an, nachlässig und gleichgültig zu werden; der Wunsch, einen
eigenen Tod zu haben, wird immer seltener. Eine Weile noch, und er
wird ebenso selten sein wie ein eigenes Leben. Gott; das ist alles
da. Man kommt, man findet ein Leben, fertig, man hat es nur
anzuziehen. Man will gehen oder man ist dazu gezwungen: nun, keine
Anstrengung: Voilŕ votre mort, monsieur. Man stirbt, wie es gerade
kommt; man stirbt den Tod, der zu der Krankheit gehört, die man hat
(denn seit man alle Krankheiten kennt, weiß man auch, daß die
verschiedenen letalen Abschlüsse zu den Krankheiten gehören und
nicht zu den Menschen; und der Kranke hat sozusagen nichts zu
tun).In den Sanatorien, wo ja so gern und mit so viel Dankbarkeit
gegen Ärzte und Schwestern gestorben wird, stirbt man einen von den
an der Anstalt angestellten Toden; das wird gerne gesehen. Wenn man
aber zu Hause stirbt, ist es natürlich, jenen höflichen Tod der
guten Kreise zu wählen, mit dem gleichsam das Begräbnis erster
Klasse schon anfängt und die ganze Folge seiner wunderschönen
Gebräuche. Da stehen dann die Armen vor so einem Haus und sehen
sich satt. Ihr Tod ist natürlich banal, ohne alle Umstände. Sie
sind froh, wenn sie einen finden, der ungefähr paßt. Zu weit darf
er sein: man wächst immer noch ein bißchen. Nur wenn er nicht
zugeht über der Brust oder würgt, dann hat es seine Not.Wenn ich nach Hause denke, wo nun niemand mehr ist, dann
glaube ich, das muß früher anders gewesen sein. Früher wußte man
(oder vielleicht man ahnte es), daß man den Tod in sich hatte wie
die Frucht den Kern. Die Kinder hatten einen kleinen in sich und
die Erwachsenen einen großen. Die Frauen hatten ihn im Schooß und
die Männer in der Brust. Den hatte man, und das gab einem eine
eigentümliche Würde und einen stillen Stolz.Meinem Großvater noch, dem alten Kammerherrn Brigge, sah man
es an, daß er einen Tod in sich trug. Und was war das für einer:
zwei Monate lang und so laut, daß man ihn hörte bis aufs Vorwerk
hinaus.Das lange, alte Herrenhaus war zu klein für diesen Tod, es
schien, als müßte man Flügel anbauen, denn der Körper des
Kammerherrn wurde immer größer, und er wollte fortwährend aus einem
Raum in den anderen getragen sein und geriet in fürchterlichen
Zorn, wenn der Tag noch nicht zu Ende war und es gab kein Zimmer
mehr, in dem er nicht schon gelegen hatte. Dann ging es mit dem
ganzen Zuge von Dienern, Jungfern und Hunden, die er immer um sich
hatte, die Treppe hinauf und, unter Vorantritt des Haushofmeisters,
in seiner hochseligen Mutter Sterbezimmer, das ganz in dem
Zustande, in dem sie es vor dreiundzwanzig Jahren verlassen hatte,
erhalten worden war und das sonst nie jemand betreten durfte. Jetzt
brach die ganze Meute dort ein. Die Vorhänge wurden zurückgezogen,
und das robuste Licht eines Sommernachmittags untersuchte alle die
scheuen, erschrockenen Gegenstände und drehte sich ungeschickt um
in den aufgerissenen Spiegeln. Und die Leute machten es ebenso. Es
gab da Zofen, die vor Neugierde nicht wußten, wo ihre Hände sich
gerade aufhielten, junge Bediente, die alles anglotzten, und ältere
Dienstleute, die herumgingen und sich zu erinnern suchten, was man
ihnen von diesem verschlossenen Zimmer, in dem sie sich nun
glücklich befanden, alles erzählt hatte.Vor allem aber schien den Hunden der Aufenthalt in einem
Raum, wo alle Dinge rochen, ungemein anregend. Die großen, schmalen
russischen Windhunde liefen beschäftigt hinter den Lehnstühlen hin
und her, durchquerten in langem Tanzschritt mit wiegender Bewegung
das Gemach, hoben sich wie Wappenhunde auf und schauten, die
schmalen Pfoten auf das weißgoldene Fensterbrett gestützt, mit
spitzem, gespanntem Gesicht und zurückgezogener Stirn nach rechts
und nach links in den Hof. Kleine, handschuhgelbe Dachshunde saßen,
mit Gesichtern, als wäre alles ganz in der Ordnung, in dem breiten,
seidenen Polstersessel am Fenster, und ein stichelhaariger,
mürrisch aussehender Hühnerhund rieb seinen Rücken an der Kante
eines goldbeinigen Tisches, auf dessen gemalter Platte die
Sčvrestassen zitterten.Ja, es war für diese geistesabwesenden, verschlafenen Dinge
eine schreckliche Zeit. Es passierte, daß aus Büchern, die
irgendeine hastige Hand ungeschickt geöffnet hatte, Rosenblätter
heraustaumelten, die zertreten wurden; kleine, schwächliche
Gegenstände wurden ergriffen und, nachdem sie sofort zerbrochen
waren, schnell wieder hingelegt, manches Verbogene auch unter
Vorhänge gesteckt oder gar hinter das goldene Netz des Kamingitters
geworfen. Und von Zeit zu Zeit fiel etwas, fiel verhüllt auf
Teppich, fiel hell auf das harte Parkett, aber es zerschlug da und
dort, zersprang scharf oder brach fast lautlos auf, denn diese
Dinge, verwöhnt wie sie waren, vertrugen keinerlei Fall.Und wäre es jemandem eingefallen zu fragen, was die Ursache
von alledem sei, was über dieses ängstlich gehütete Zimmer alles
Untergangs Fülle herabgerufen habe,—so hätte es nur eine Antwort
gegeben: der Tod.Der Tod des Kammerherrn Christoph Detlev Brigge auf Ulsgaard.
Denn dieser lag, groß über seine dunkelblaue Uniform
hinausquellend, mitten auf dem Fußboden und rührte sich nicht. In
seinem großen, fremden, niemandem mehr bekannten Gesicht waren die
Augen zugefallen: er sah nicht, was geschah. Man hatte zuerst
versucht, ihn auf das Bett zu legen, aber er hatte sich dagegen
gewehrt, denn er haßte Betten seit jenen ersten Nächten, in denen
seine Krankheit gewachsen war. Auch hatte sich das Bett da oben als
zu klein erwiesen, und da war nichts anderes übrig geblieben, als
ihn so auf den Teppich zu legen; denn hinunter hatte er nicht
gewollt.Da lag er nun, und man konnte denken, daß er gestorben sei.
Die Hunde hatten sich, da es langsam zu dämmern begann, einer nach
dem anderen durch die Türspalte gezogen, nur der Harthaarige mit
dem mürrischen Gesicht saß bei seinem Herrn, und eine von seinen
breiten, zottigen Vorderpfoten lag auf Christoph Detlevs großer,
grauer Hand. Auch von der Dienerschaft standen jetzt die meisten
draußen in dem weißen Gang, der heller war als das Zimmer; die
aber, welche noch drinnen geblieben waren, sahen manchmal heimlich
nach dem großen, dunkelnden Haufen in der Mitte, und sie wünschten,
daß das nichts mehr wäre als ein großer Anzug über einem
verdorbenen Ding.Aber es war noch etwas. Es war eine Stimme, die Stimme, die
noch vor sieben Wochen niemand gekannt hatte: denn es war nicht die
Stimme des Kammerherrn. Nicht Christoph Detlev war es, welchem
diese Stimme gehörte, es war Christoph Detlevs Tod.Christoph Detlevs Tod lebte nun schon seit vielen, vielen
Tagen auf Ulsgaard und redete mit allen und verlangte. Verlangte,
getragen zu werden, verlangte das blaue Zimmer, verlangte den
kleinen Salon, verlangte den Saal. Verlangte die Hunde, verlangte,
daß man lache, spreche, spiele und still sei und alles zugleich.
Verlangte Freunde zu sehen, Frauen und Verstorbene, und verlangte
selber zu sterben: verlangte. Verlangte und schrie.Denn, wenn die Nacht gekommen war und die von den übermüden
Dienstleuten, welche nicht Wache hatten, einzuschlafen versuchten,
dann schrie Christoph Detlevs Tod, schrie und stöhnte, brüllte so
lange und anhaltend, daß die Hunde, die zuerst mitheulten,
verstummten und nicht wagten sich hinzulegen und, auf ihren langen,
schlanken, zitternden Beinen stehend, sich fürchteten. Und wenn sie
es durch die weite, silberne, dänische Sommernacht im Dorfe hörten,
daß er brüllte, so standen sie auf wie beim Gewitter, kleideten
sich an und blieben ohne ein Wort um die Lampe sitzen, bis es
vorüber war. Und die Frauen, welche nahe vor dem Niederkommen
waren, wurden in die entlegensten Stuben gelegt und in die
dichtesten Bettverschläge; aber sie hörten es, sie hörten es, als
ob es in ihrem eigenen Leibe wäre, und sie flehten, auch aufstehen
zu dürfen, und kamen, weiß und weit, und setzten sich zu den andern
mit ihren verwischten Gesichtern. Und die Kühe, welche kalbten in
dieser Zeit, waren hülflos und verschlossen, und einer riß man die
tote Frucht mit allen Eingeweiden aus dem Leibe, als sie gar nicht
kommen wollte. Und alle taten ihr Tagwerk schlecht und vergaßen das
Heu hereinzubringen, weil sie sich bei Tage ängstigten vor der
Nacht und weil sie vom vielen Wachsein und vom erschreckten
Aufstehen so er mattet waren, daß sie sich auf nichts besinnen
konnten. Und wenn sie am Sonntag in die weiße, friedliche Kirche
gingen, so beteten sie, es möge keinen Herrn mehr auf Ulsgaard
geben: denn dieser war ein schrecklicher Herr. Und was sie alle
dachten und beteten, das sagte der Pfarrer laut von der Kanzel
herab, denn auch er hatte keine Nächte mehr und konnte Gott nicht
begreifen. Und die Glocke sagte es, die einen furchtbaren Rivalen
bekommen hatte, der die ganze Nacht dröhnte und gegen den sie,
selbst wenn sie aus allem Metall zu läuten begann, nichts
vermochte. Ja, alle sagten es, und es gab einen unter den jungen
Leuten, der geträumt hatte, er wäre ins Schloß gegangen und hätte
den gnädigen Herrn erschlagen mit seiner Mistforke, und so
aufgebracht war man, so zu Ende, so überreizt, daß alle zuhörten,
als er seinen Traum erzählte, und ihn, ganz ohne es zu wissen,
daraufhin ansahen, ob er solcher Tat wohl gewachsen sei. So fühlte
und sprach man in der ganzen Gegend, in der man den Kammerherrn
noch vor einigen Wochen geliebt und bedauert hatte. Aber obwohl man
so sprach, veränderte sich nichts. Christoph Detlevs Tod, der auf
Ulsgaard wohnte, ließ sich nicht drängen. Er war für zehn Wochen
gekommen, und die blieb er. Und während dieser Zeit war er mehr
Herr, als Christoph Detlev Brigge es je gewesen war, er war wie ein
König, den man den Schrecklichen nennt, später und
immer.Das war nicht der Tod irgendeines Wassersüchtigen, das war
der böse, fürstliche Tod, den der Kammerherr sein ganzes Leben lang
in sich getragen und aus sich genährt hatte. Alles Übermaß an
Stolz, Willen und Herrenkraft, das er selbst in seinen ruhigen
Tagen nicht hatte verbrauchen können, war in seinen Tod
eingegangen, in den Tod, der nun auf Ulsgaard saß und
vergeudete.Wie hätte der Kammerherr Brigge den angesehen, der von ihm
verlangt hätte, er solle einen anderen Tod sterben als diesen. Er
starb seinen schweren Tod.Und wenn ich an die andern denke, die ich gesehen oder von
denen ich gehört habe: es ist immer dasselbe. Sie alle haben einen
eigenen Tod gehabt. Diese Männer, die ihn in der Rüstung trugen,
innen, wie einen Gefangenen, diese Frauen, die sehr alt und klein
wurden und dann auf einem ungeheueren Bett, wie auf einer
Schaubühne, vor der ganzen Familie, dem Gesinde und den Hunden
diskret und herrschaftlich hinübergingen. Ja die Kinder, sogar die
ganz kleinen, hatten nicht irgendeinen Kindertod, sie nahmen sich
zusammen und starben das, was sie schon waren, und das, was sie
geworden wären.Und was gab das den Frauen für eine wehmütige Schönheit, wenn
sie schwanger waren und standen, und in ihrem großen Leib, auf
welchem die schmalen Hände unwillkürlich liegen blieben, waren zwei
Früchte: ein Kind und ein Tod. Kam das dichte, beinah nahrhafte
Lächeln in ihrem ganz ausgeräumten Gesicht nicht davon her, daß sie
manchmal meinten, es wüchsen beide?Ich habe etwas getan gegen die Furcht. Ich habe die ganze
Nacht gesessen und geschrieben, und jetzt bin ich so gut müde wie
nach einem weiten Weg über die Felder von Ulsgaard. Es ist doch
schwer zu denken, daß alles das nicht mehr ist, daß fremde Leute
wohnen in dem alten langen Herrenhaus. Es kann sein, daß in dem
weißen Zimmer oben im Giebel jetzt die Mägde schlafen, ihren
schweren, feuchten Schlaf schlafen von Abend bis Morgen.Und man hat niemand und nichts und fährt in der Welt herum
mit einem Koffer und mit einer Bücherkiste und eigentlich ohne
Neugierde. Was für ein Leben ist das eigentlich: ohne Haus, ohne
ererbte Dinge, ohne Hunde. Hätte man doch wenigstens seine
Erinnerungen. Aber wer hat die? Wäre die Kindheit da, sie ist wie
vergraben. Vielleicht muß man alt sein, um an das alles
heranreichen zu können. Ich denke es mir gut, alt zu
sein.Heute war ein schöner, herbstlicher Morgen. Ich ging durch
die Tuilerien. Alles, was gegen Osten lag, vor der Sonne, blendete.
Das Angeschienene war vom Nebel verhangen wie von einem lichtgrauen
Vorhang. Grau im Grauen sonnten sich die Statuen in den noch nicht
enthüllten Gärten. Einzelne Blumen in den langen Beeten standen auf
und sagten: Rot, mit einer erschrockenen Stimme. Dann kam ein sehr
großer, schlanker Mann um die Ecke, von den Champs-Elysées her; er
trug eine Krücke, aber nicht mehr unter die Schulter geschoben,—er
hielt sie vor sich her, leicht, und von Zeit zu Zeit stellte er sie
fest und laut auf wie einen Heroldstab. Er konnte ein Lächeln der
Freude nicht unterdrücken und lächelte, an allem vorbei, der Sonne,
den Bäumen zu. Sein Schritt war schüchtern wie der eines Kindes,
aber ungewöhnlich leicht, voll von Erinnerung an früheres
Gehen.Was so ein kleiner Mond alles vermag. Da sind Tage, wo alles
um einen licht ist, leicht, kaum angegeben in der hellen Luft und
doch deutlich. Das Nächste schon hat Töne der Ferne, ist
weggenommen und nur gezeigt, nicht hergereicht; und was Beziehung
zur Weite hat: der Fluß, die Brücken, die langen Straßen und die
Plätze, die sich verschwenden, das hat diese Weite eingenommen
hinter sich, ist auf ihr gemalt wie auf Seide. Es ist nicht zu
sagen, was dann ein lichtgrüner Wagen sein kann auf dem Pont-neuf
oder irgendein Rot, das nicht zu halten ist, oder auch nur ein
Plakat an der Feuermauer einer perlgrauen Häusergruppe. Alles ist
vereinfacht, auf einige richtige, helle plans gebracht wie das
Gesicht in einem Manetschen Bildnis. Und nichts ist gering und
überflüssig. Die Bouquinisten am Quai tun ihre Kästen auf, und das
frische oder vernutzte Gelb der Bücher, das violette Braun der
Bände, das größere Grün einer Mappe: alles stimmt, gilt, nimmt teil
und bildet eine Vollzähligkeit, in der nichts fehlt.Unten ist folgende Zusammenstellung: ein kleiner Handwagen,
von einer Frau geschoben; vorn darauf ein Leierkasten, der Länge
nach. Dahinter quer ein Kinderkorb, in dem ein ganz Kleines auf
festen Beinen steht, vergnügt in seiner Haube, und sich nicht mag
setzen lassen. Von Zeit zu Zeit dreht die Frau am Orgelkasten. Das
ganz Kleine stellt sich dann sofort stampfend in seinem Korbe
wieder auf, und ein kleines Mädchen in einem grünen Sonntagskleid
tanzt und schlägt Tamburin zu den Fenstern hinauf.Ich glaube, ich müßte anfangen, etwas zu arbeiten, jetzt, da
ich sehen lerne. Ich bin achtundzwanzig, und es ist so gut wie
nichts geschehen. Wiederholen wir: ich habe eine Studie über
Carpaccio geschrieben, die schlecht ist, ein Drama, das 'Ehe' heißt
und etwas Falsches mit zweideutigen Mitteln beweisen will, und
Verse. Ach, aber mit Versen ist so wenig getan, wenn man sie früh
schreibt. Man sollte warten damit und Sinn und Süßigkeit sammeln
ein ganzes Leben lang und ein langes womöglich, und dann, ganz zum
Schluß, vielleicht könnte man dann zehn Zeilen schreiben, die gut
sind. Denn Verse sind nicht, wie die Leute meinen, Gefühle (die hat
man früh genug),—es sind Erfahrungen. Um eines Verses willen muß
man viele Städte sehen, Menschen und Dinge, man muß die Tiere
kennen, man muß fühlen, wie die Vögel fliegen, und die Gebärde
wissen, mit welcher die kleinen Blumen sich auftun am Morgen. Man
muß zurückdenken können an Wege in unbekannten Gegenden, an
unerwartete Begegnungen und an Abschiede, die man lange kommen
sah,—an Kindheitstage, die noch unaufgeklärt sind, an die Eltern,
die man kränken mußte, wenn sie einem eine Freude brachten und man
begriff sie nicht (es war eine Freude für einen anderen—), an
Kinderkrankheiten, die so seltsam anheben mit so vielen tiefen und
schweren Verwandlungen, an Tage in stillen, verhaltenen Stuben und
an Morgen am Meer, an das Meer überhaupt, an Meere, an Reisenächte,
die hoch dahinrauschten und mit allen Sternen flogen, —und es ist
noch nicht genug, wenn man an alles das denken darf. Man muß
Erinnerungen haben an viele Liebesnächte, von denen keine der
andern glich, an Schreie von Kreißenden und an leichte, weiße,
schlafende Wöchnerinnen, die sich schließen. Aber auch bei
Sterbenden muß man gewesen sein, muß bei Toten gesessen haben in
der Stube mit dem offenen Fenster und den stoßweisen Geräuschen.
Und es genügt auch noch nicht, daß man Erinnerungen hat. Man muß
sie vergessen können, wenn es viele sind, und man muß die große
Geduld haben, zu warten, daß sie wiederkommen. Denn die
Erinnerungen selbstes noch nicht. Erst wenn sie Blut werden in uns,
Blick und Gebärde, namenlos und nicht mehr zu unterscheiden von uns
selbst, erst dann kann es geschehen, daß in einer sehr seltenen
Stunde das erste Wort eines Verses aufsteht in ihrer Mitte und aus
ihnen ausgeht.Alle meine Verse aber sind anders entstanden, also sind es
keine.—Und als ich mein Drama schrieb, wie irrte ich da. War ich
ein Nachahmer und Narr, daß ich eines Dritten bedurfte, um von dem
Schicksal zweier Menschen zu erzählen, die es einander schwer
machten? Wie leicht ich in die Falle fiel. Und ich hätte doch
wissen müssen, daß dieser Dritte, der durch alle Leben und
Literaturen geht, dieses Gespenst eines Dritten, der nie gewesen
ist, keine Bedeutung hat, daß man ihn leugnen muß. Er gehört zu den
Vorwänden der Natur, welche immer bemüht ist, von ihren tiefsten
Geheimnissen die Aufmerksamkeit der Menschen abzulenken. Er ist der
Wandschirm, hinter dem ein Drama sich abspielt. Er ist der Lärm am
Eingang zu der stimmlosen Stille eines wirklichen Konfliktes. Man
möchte meinen, es wäre allen bisher zu schwer gewesen, von den
Zweien zu reden, um die es sich handelt; der Dritte, gerade weil er
so unwirklich ist, ist das Leichte der Aufgabe, ihn konnten sie
alle. Gleich am Anfang ihrer Dramen merkt man die Ungeduld, zu dem
Dritten zu kommen, sie könnten ihn kaum erwarten. Sowie er da ist,
ist alles gut. Aber wie langweilig, wenn er sich verspätet, es kann
rein nichts geschehen ohne ihn, alles steht, stockt, wartet. Ja und
wie, wenn es bei diesem Stauen und Anstehn bliebe? Wie, Herr
Dramatiker, und du, Publikum, welches das Leben kennt, wie, wenn er
verschollen wäre, dieser beliebte Lebemann oder dieser anmaßende
junge Mensch, der in allen Ehen schließt wie ein Nachschlüssel?
Wie, wenn ihn, zum Beispiel, der Teufel geholt hätte? Nehmen wirs
an. Man merkt auf einmal die künstliche Leere der Theater, sie
werden vermauert wie gefährliche Löcher, nur die Motten aus den
Logenrändern taumeln durch den haltlosen Hohlraum. Die Dramatiker
genießen nicht mehr ihre Villenviertel. Alle öffentlichen
Aufpassereien suchen für sie in entlegenen Weltteilen nach dem
Unersetzlichen, der die Handlung selbst war.Und dabei leben sie unter den Menschen, nicht diese
'Dritten', aber die Zwei, von denen so unglaublich viel zu sagen
wäre, von denen noch nie etwas gesagt worden ist, obwohl sie leiden
und handeln und sich nicht zu helfen wissen.Es ist lächerlich. Ich sitze hier in meiner kleinen Stube,
ich, Brigge, der achtundzwanzig Jahre alt geworden ist und von dem
niemand weiß. Ich sitze hier und bin nichts. Und dennoch, dieses
Nichts fängt an zu denken und denkt, fünf Treppen hoch, an einem
grauen Pariser Nachmittag diesen Gedanken:Ist es möglich, denkt es, daß man noch nichts Wirkliches und
Wichtiges gesehen, erkannt und gesagt hat? Ist es möglich, daß man
Jahrtausende Zeit gehabt hat, zu schauen, nachzudenken und
aufzuzeichnen, und daß man die Jahrtausende hat vergehen lassen wie
eine Schulpause, in der man sein Butterbrot ißt und einen
Apfel?Ja, es ist möglich.Ist es möglich, daß man trotz Erfindungen und Fortschritten,
trotz Kultur, Religion und Weltweisheit an der Oberfläche des
Lebens geblieben ist? Ist es möglich, daß man sogar diese
Oberfläche, die doch immerhin etwas gewesen wäre, mit einem
unglaublich langweiligen Stoff überzogen hat, so daß sie aussieht,
wie die Salonmöbel in den Sommerferien?Ja, es ist möglich.Ist es möglich, daß die ganze Weltgeschichte mißverstanden
worden ist? Ist es möglich, daß die Vergangenheit falsch ist, weil
man immer von ihren Massen gesprochen hat, gerade, als ob man von
einem Zusammenlauf vieler Menschen erzählte, statt von dem Einen zu
sagen, um den sie herumstanden, weil er fremd war und
starb?Ja, es ist möglich.Ist es möglich, daß man glaubte, nachholen zu müssen, was
sich ereignet hat, ehe man geboren war? Ist es möglich, daß man
jeden einzelnen erinnern müßte, er sei ja aus allen Früheren
entstanden, wüßte es also und sollte sich nichts einreden lassen
von den anderen, die anderes wüßten?Ja, es ist möglich.Ist es möglich, daß alle diese Menschen eine Vergangenheit,
die nie gewesen ist, ganz genau kennen? Ist es möglich, daß alle
Wirklichkeiten nichts sind für sie; daß ihr Leben abläuft, mit
nichts verknüpft, wie eine Uhr in einem leeren Zimmer—?Ja, es ist möglich.Ist es möglich, daß man von den Mädchen nichts weiß, die doch
leben? Ist es möglich, daß man 'die Frauen' sagt, 'die Kinder',
'die Knaben' und nicht ahnt (bei aller Bildung nicht ahnt), daß
diese Worte längst keine Mehrzahl mehr haben, sondern nur unzählige
Einzahlen?Ja, es ist möglich.Ist es möglich, daß es Leute giebt, welche 'Gott' sagen und
meinen, das wäre etwas Gemeinsames?—Und sieh nur zwei Schulkinder:
Es kauft sich der eine ein Messer, und sein Nachbar kauft sich ein
ganz gleiches am selben Tag. Und sie zeigen einander nach einer
Woche die beiden Messer, und es ergiebt sich, daß sie sich nur noch
ganz entfernt ähnlich sehen,—so verschieden haben sie sich in
verschiedenen Händen entwickelt. (Ja, sagt des einen Mutter dazu:
wenn ihr auch gleich immer alles abnutzen müßt.—) Ach so: Ist es
möglich, zu glauben, man könne einen Gott haben, ohne ihn zu
gebrauchen?Ja, es ist möglich.Wenn aber dieses alles möglich ist, auch nur einen Schein von
Möglichkeit hat,—dann muß ja, um alles in der Welt, etwas
geschehen. Der Nächstbeste, der, welcher diesen beunruhigenden
Gedanken gehabt hat, muß anfangen, etwas von dem Versäumten zu tun;
wenn es auch nur irgend einer ist, durchaus nicht der Geeignetste:
es ist eben kein anderer da. Dieser junge, belanglose Ausländer,
Brigge, wird sich fünf Treppen hoch hinsetzen müssen und schreiben,
Tag und Nacht. Ja er wird schreiben müssen, das wird das Ende
sein.Zwölf Jahre oder höchstens dreizehn muß ich damals gewesen
sein. Mein Vater hatte mich nach Urnekloster mitgenommen. Ich weiß
nicht, was ihn veranlaßte, seinen Schwiegervater aufzusuchen. Die
beiden Männer hatten sich jahrelang, seit dem Tode meiner Mutter,
nicht gesehen, und mein Vater selbst war noch nie in dem alten
Schlosse gewesen, in welches der Graf Brahe sich erst spät
zurückgezogen hatte. Ich habe das merkwürdige Haus später nie
wiedergesehen, das, als mein Großvater starb, in fremde Hände kam.
So wie ich es in meiner kindlich gearbeiteten Erinnerung
wiederfinde, ist es kein Gebäude; es ist ganz aufgeteilt in mir; da
ein Raum, dort ein Raum und hier ein Stück Gang, das diese beiden
Räume nicht verbindet, sondern für sich, als Fragment, aufbewahrt
ist. In dieser Weise ist alles in mir verstreut,—die Zimmer, die
Treppen, die mit so großer Umständlichkeit sich niederließen, und
andere enge, rundgebaute Stiegen, in deren Dunkel man ging wie das
Blut in den Adern; die Turmzimmer, die hoch aufgehängten Balkone,
die unerwarteten Altane, auf die man von einer kleinen Tür
hinausgedrängt wurde:—alles das ist noch in mir und wird nie
aufhören, in mir zu sein. Es ist, als wäre das Bild dieses Hauses
aus unendlicher Höhe in mich hineingestürzt und auf meinem Grunde
zerschlagen.Ganz erhalten ist in meinem Herzen, so scheint es mir, nur
jener Saal, in dem wir uns zum Mittagessen zu versammeln pflegten,
jeden Abend um sieben Uhr. Ich habe diesen Raum niemals bei Tage
gesehen, ich erinnere mich nicht einmal, ob er Fenster hatte und
wohin sie aussahen; jedes mal, so oft die Familie eintrat, brannten
die Kerzen in den schweren Armleuchtern, und man vergaß in einigen
Minuten die Tageszeit und alles, was man draußen gesehen hatte.
Dieser hohe, wie ich vermute, gewölbte Raum war stärker als alles;
er saugte mit seiner dunkelnden Höhe, mit seinen niemals ganz
aufgeklärten Ecken alle Bilder aus einem heraus, ohne einem einen
bestimmten Ersatz dafür zu geben. Man saß da wie aufgelöst; völlig
ohne Willen, ohne Besinnung, ohne Lust, ohne Abwehr. Man war wie
eine leere Stelle. Ich erinnere mich, daß dieser vernichtende
Zustand mir zuerst fast Übelkeit verursachte, eine Art
Seekrankheit, die ich nur dadurch überwand, daß ich mein Bein
ausstreckte, bis ich mit dem Fuß das Knie meines Vaters berührte,
der mir gegenübersaß. Erst später fiel es mir auf, daß er dieses
merkwürdige Benehmen zu begreifen oder doch zu dulden schien,
obwohl zwischen uns ein fast kühles Verhältnis bestand, aus dem ein
solches Gebaren nicht erklärlich war. Es war indessen jene leise
Berührung, welche mir die Kraft gab, die langen Mahlzeiten
auszuhalten. Und nach einigen Wochen krampfhaften Ertragens hatte
ich, mit der fast unbegrenzten Anpasssung des Kindes, mich so sehr
an das Unheimliche jener Zusammenkünfte gewöhnt, daß es mich keine
Anstrengung mehr kostete, zwei Stunden bei Tische zu sitzen; jetzt
vergingen sie sogar verhältnismäßig schnell, weil ich mich damit
beschäftigte, die Anwesenden zu beobachten.Mein Großvater nannte es die Familie, und ich hörte auch die
andern diese Bezeichnung gebrauchen, die ganz willkürlich war. Denn
obwohl diese vier Menschen miteinander in entfernten
verwandtschaftlichen Beziehungen standen, so gehörten sie doch in
keiner Weise zusammen. Der Oheim, welcher neben mir saß, war ein
alter Mann, dessen hartes und verbranntes Gesicht einige schwarze
Flecke zeigte, wie ich erfuhr, die Folgen einer explodierten
Pulverladung; mürrisch und malkontent wie er war, hatte er als
Major seinen Abschied genommen, und nun machte er in einem mir
unbekannten Raum des Schlosses alchymistische Versuche, war auch,
wie ich die Diener sagen hörte, mit einem Stockhause in Verbindung,
von wo man ihm ein- oder zweimal jährlich Leichen zusandte, mit
denen er sich Tage und Nächte einschloß und die er zerschnitt und
auf eine geheimnisvolle Art zubereitete, so daß sie der Verwesung
widerstanden. Ihm gegenüber war der Platz des Fräuleins Mathilde
Brahe. Es war das eine Person von unbestimmtem Alter, eine
entfernte Cousine meiner Mutter, von der nichts bekannt war, als
daß sie eine sehr rege Korrespondenz mit einem österreichischen
Spiritisten unterhielt, der sich Baron Nolde nannte und dem sie
vollkommen ergeben war, so daß sie nicht das geringste unternahm,
ohne vorher seine Zustimmung oder vielmehr etwas wie seinen Segen
einzuholen. Sie war zu jener Zeit außerordentlich stark, von einer
weichen, trägen Fülle, die gleichsam achtlos in ihre losen, hellen
Kleider hineingegossen war; ihre Bewegungen waren müde und
unbestimmt, und ihre Augen flossen beständig über. Und trotzdem war
etwas in ihr, das mich an meine zarte und schlanke Mutter
erinnerte.Ich fand, je länger ich sie betrachtete, alle die feinen und
leisen Züge in ihrem Gesichte, an die ich mich seit meiner Mutter
Tode nie mehr recht hatte erinnern kö [...]