Die Ausreißer – Sehnsucht nach Meer - Melissa C. Feurer - E-Book

Die Ausreißer – Sehnsucht nach Meer E-Book

Melissa C Feurer

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Beschreibung

Nele wird in der Schule wegen ihrer Schüchternheit und ihres Übergewichts gemobbt. Dass ihre Familie religiös und ihre Patentante ausgerechnet ihre Religionslehrerin ist, hilft natürlich auch nicht gerade. Lars’ Mutter ist vor Jahren gestorben. Seitdem hat er nur noch seinen Vater, und der investiert alles Geld und alle Zeit in Alkohol. Noah ist von zu Hause abgehauen und hält es nirgendwo lange aus. Seine einzige Gefährtin ist die Hündin Cassiopeia. Angel gibt nicht viel von sich preis – nicht, warum sie wegläuft, nicht, woher die Narben an ihren Unterarmen stammen, und schon gar nicht, warum sie solche Angst vor ihrem Stiefvater hat. Vier Jugendliche. Vier Gründe, alles hinter sich zu lassen. Ein Ziel: das Meer. Nele will ihren Vater suchen, Lars seinem endlich entkommen. Als die beiden den Aussteiger Noah kennen lernen, ergreifen sie ihre Chance und machen sich mit ihm und seiner Hündin Cassiopeia auf den Weg an die Nordsee. Unterwegs stößt die verschlossene Angel zu ihnen und macht die Gruppe komplett. Doch die Reise ans Meer läuft nicht ganz so glatt, wie die vier sich das zu Beginn vorgestellt haben, zumal nicht nur Trampen, Containern und Nächte unter freiem Himmel dazugehören, sondern auch der schmerzhafte Weg zu sich selbst ...

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Melissa C. Feurer Die Ausreißer – Sehnsucht nach Meer

www.fontis-verlag.com

Für Katha, meine treue Testleserin, Kommentatorin

Melissa C. Feurer

Die Ausreißer

Sehnsucht nach Meer

Jugendroman

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

© 2018 by Fontis-Verlag Basel

Umschlag: Spoon Design, Olaf Johannson, Langgöns Fotos Umschlag: View Apart, shutterstock.com (Jugendliche); oneinchpunch, shutterstock.com (Meer) Illustrationen Kapitelstart: Melissa C. Feurer E-Book-Vorstufe: InnoSet AG, Justin Messmer, Basel E-Book-Herstellung: Textwerkstatt Jäger, Marburg

ISBN (EPUB) 978-3-03848-490-5

Inhalt

Kapitel 1: Karlstadt

Kapitel 2: Frankfurt

Kapitel 3: Gießen

Kapitel 4: Buchholz in der Nordheide

Kapitel 5: Hamburg

Kapitel 6: Glückstadt

Kapitel 7: Cuxhaven

Kapitel 8: Glückstadt

Kapitel 9: Karlstadt

Kapitel 10: Gießen

Kapitel 1

Karlstadt

Nele liegt im Gras am Rande des Fußballfeldes, lässt sich die Sonne ins Gesicht scheinen und träumt von ihrem perfekten Schultag.

An diesem perfekten Tag wird sie zwar wie an jedem wirklichen Tag von ihren Mitschülern getriezt, aber wie jedes Mal in ihren Träumen passiert dann etwas ganz Wunderbares.

Mareike und Theresa haben ihr Federmäppchen ausgeleert und ein Lineal mit der Aufschrift «Jesus liebt dich» aus dem Chaos darin herausgefischt, das sie nun durch die Reihen reichen. Obwohl Nele mit brennendem Gesicht auf die Tischplatte starrt, weiß sie genau, wo sich das Lineal gerade befindet. Die gehässigen Kommentare und das Lachen verraten ihr die exakte Position.

«Jesus liebt dich?» Das ist Elli, die selbsterklärte Queen der Klasse 9c. Die Hälfte der Jungs gehört zu ihrem Fanclub, inklusive Michael. «Jesus liebt Nele Zimmermann?», fragt sie mit ihrer melodiösen, süßen Stimme, die Nele durch und durch geht. «Na, wenigstens einer.»

Bis zu diesem Punkt ist es eigentlich kein Traum: Es ist erst vorhin ganz genau so passiert.

Aber in Neles Traum springt Michael an dieser Stelle auf und entreißt Elli das Lineal. «Ich finde es total daneben, wie ihr euch über Nele lustig macht!», ruft er, und vorne an der Tafel lässt Herr Schön vor Schreck die Kreide fallen und wirbelt herum.

«Was soll der Lärm?», brüllt er und besprenkelt die Schüler in den ersten Reihen mit Spucketröpfchen.

Das macht er immer, wenn er wütend ist. Deshalb will auch niemand freiwillig vorne sitzen.

Die meisten Schüler lassen sich von Herrn Schön einschüchtern. Aber Michael natürlich nicht. Jedenfalls nicht in Neles Tagtraum.

Mit seinen fast ein Meter achtzig steht Michael da wie ein Baum. «Herr Schön», sagt er mit fester Stimme. «Kriegen Sie eigentlich gar nicht mit, was hinter Ihrem Rücken abgeht? Die trampeln alle auf Nele herum, und keiner tut was dagegen.»

Dem alten Herrn Schön vorne an der Tafel fallen fast die Augen aus dem Kopf – Elli, Mareike und Theresa übrigens auch –, als Michael aus seiner Reihe schlüpft und mit großen Schritten den Raum durchquert.

«Hier.» Er gibt Nele ihr Lineal zurück. «Das gehört wohl dir.»

Nele errötet noch mehr, als sie es endlich wagt, Michael direkt in das schöne, entschuldigend dreinblickende Gesicht zu sehen.

«D…, danke.» Sie kann es einfach nicht glauben. Wie hätte sie auch ahnen können, dass die Spuckekügelchen und gemeinen Bemerkungen von Michael nur dazu da waren, seine Freunde darüber hinwegzutäuschen, dass er eigentlich an Nele Zimmermann und nicht an Queen Elli interessiert ist?

«Und es stimmt nicht», fährt er jetzt ein bisschen leiser fort. «Es stimmt nicht, dass nur einer dich liebt, Nele. Du bist ein tolles Mädchen und …»

Bevor Nele allerdings in den Genuss von Michaels Liebeserklärung vor versammelter Klasse kommt, trifft sie ein Ball am Kopf und katapultiert sie zurück in die Realität und auf das sonnenbeschienene Fußballfeld, an dessen Rand sie liegt. Der Störenfried prallt an ihr ab und rollt vom Feld. Michael und ein Junge der gegnerischen Mannschaft jagen ihm nach.

Im letzten Moment kann Nele sich aufrichten und ein bisschen zur Seite rücken. Sie tut ihr Bestes, nicht im Weg zu sein. Manche unbeliebten Schüler haben das Talent, sich einfach unsichtbar zu machen. Keiner nimmt jemals von ihnen Notiz, und keiner macht sich die Mühe, sie zu verspotten.

Lars ist so ein Unsichtbarer. Man muss das Feld lange nach ihm absuchen, bis man ihn entdeckt. Er steht in der Verteidigung und ist so reglos wie der Torpfosten. Manchmal wünscht Nele sich wirklich, sie wäre so unsichtbar wie er.

«Ups!» Wieder trifft sie der Ball, gefolgt von einem Turnschuh.

«Da liegt ja ein Walfisch im Weg.»

Wenigstens ist es nicht Michael, der das sagt. Nein, der steht daneben und grinst. Muss er ja auch, wenn niemand wissen soll, dass er Nele Zimmermann eigentlich ganz süß findet.

«Der Hausmeister sollte hier dringend mal durchgreifen», fügt Piet hinzu, ehe er mit dem Ball an Michael vorbeirennt. «Meeresvegetation am Spielfeldrand … das ist total daneben.»

«Vegetation sind Pflanzen», will Nele einwerfen, traut sich aber nicht. Michael kann nichts dafür, dass seine Freunde strohdumm sind.

Die beiden sprinten mit dem Ball zu ihren lachenden Mitschülern zurück, und das Spiel geht weiter, als wäre nichts passiert. Nele kauert sich auf ihrem Platz zusammen, aber davon wird sie weder dünner noch unsichtbar. Zumindest nicht unsichtbar genug, damit ihre Sportlehrerin, Frau Heller, sie nicht sieht, als sie das Spiel abpfeift und als Nächstes die Mädchen auf das Feld kommandiert.

Die anderen haben am gegenüberliegenden Spielfeldrand gesessen und die Jungs angefeuert. Elli hat sich Pompons aus Papierstreifen gebastelt, die sie Michael beim Wechsel samt einem Handkuss zuwirft.

«Umwerfend gespielt», ruft sie und rennt in ihren superkurzen Hotpants auf das Feld. Wer so lange, dünne Beine hat wie Elli, kann so etwas tragen. Aber auch wenn es gut aussieht, ist es ziemlich billig.

Nele fragt sich, ob Michael das auch aufgefallen ist.

«Diesmal spielt sie in eurem Team», bemerkt Elli schnippisch, als ihr Blick auf Nele fällt, die leider immer noch nicht unsichtbar ist. «Wir hatten sie letztes Mal.»

Theresa verzieht das Gesicht, aber weil Frau Heller in der Nähe ist, sagt sie nichts. Es hat sowieso keinen Sinn, Elli zu widersprechen, die es gewohnt ist, immer ihren Willen zu bekommen. Zu Hause ist sie Papis Liebling und in der Schule die Queen der 9c.

Obwohl es schon vorher ausgemacht ist, wer Nele abbekommt, wird sie als Vorletztes ins Team gewählt, und Elli stellt sicher, dass auch jeder weiß, dass sie lieber Janine mit den zwei linken Füßen hat als ausgerechnet Nele Zimmermann.

Es hat keinen Sinn, ihnen zu sagen, dass sie sich wegen Nele gar nicht streiten müssten. Sie würde liebend gerne auf das Spiel verzichten und stattdessen wieder am Spielfeldrand in der Sonne liegen. Aber daraus wird nichts.

«Verteidigung», befiehlt Theresa, als die Mädchen sich auf ihre Positionen begeben. «Und steh mir nicht im Weg rum.»

Nele gibt sich mehr Mühe, Theresa nicht im Weg zu stehen, als sich am Spiel zu beteiligen.

Frau Heller ruft immer wieder: «Ran an den Ball, Nele! Komm schon, beweg dich ein bisschen!», doch wenn Nele in neun Jahren Sportunterricht eines gelernt hat, dann ist es, Ballkontakt um jeden Preis zu vermeiden. Aber nicht einmal das ist ein sicheres Mittel, der Kritik der anderen zu entgehen.

Sie springt zur Seite, als Elli mit dem Ball auf sie zustürmt, und bekommt prompt Ärger, weil sie sich nicht genug für das Team eingesetzt hat. Obwohl sie weiß, dass sie es ihnen sowieso nie recht machen kann, bleibt sie beim nächsten Angriff wie ein Fels im Weg stehen, auch wenn das Herz ihr dabei in den Ohren hämmert. Gleich wird Elli mit voller Wucht auf sie prallen.

Aber nein, sie schießt. Der Ball fliegt haarscharf an Nele vorbei, sie landet im Gras und der Ball im Tor. Immerhin hat sie es versucht. Zumindest redet sie sich das ein, während sie sich mühsam aufrappelt. Mareike sieht das anders.

«Ich hab den Ball nicht kommen sehen!», bellt sie von ihrem Platz im Tor über das ganze Feld. «Nele mit ihrem fetten Hinterteil stand im Weg!»

Eigentlich hat Nele sich schon in der sechsten Klasse vorgenommen, ihren Mitschülern nie mehr die Genugtuung zu geben, vor ihnen zu heulen. Aber für einen einzigen Tag ist das einfach zu viel. Die Tränen verschleiern ihr Blickfeld, während sie vom Feld stolpert, dabei beinahe den unsichtbaren Lars umrennt und sich in den Umkleidekabinen verkriecht.

Zu Hause steht Nele vor dem Spiegel und reicht genau von einer Seite zur anderen. Ihr Spiegelbild füllt die gesamte Fläche aus. Einen Schritt zurückgetreten sieht die Sache schon viel besser aus.

Sie dreht sich zur Seite, zieht den Bauch ein und betrachtet sich. So ist es eigentlich ganz okay. Klar, ein bisschen rund, aber jedenfalls nicht wie ein Wal. Ob sie einfach ein völlig verzerrtes Bild von sich selbst hat und ihre Mitschüler sie so sehen, wie sie wirklich ist?

Mit einem hässlichen Gefühl in der Magengrube tritt Nele erneut einen Schritt nach vorne, so dass sie wieder vom linken Spiegelrand zum rechten reicht. Einen Schritt nach hinten zu treten macht sie ja leider auch nicht wirklich dünner.

Unter der Dachschräge in ihrem Zimmer kann man den Regen besonders laut auf das Dach trommeln hören. Die blöde Schräge in ihrem neuen Zimmer kann Nele nicht leiden. Und Regen auch nicht. Von dem schönen Sommertag ist nichts übrig geblieben. Aber so kann sie sich wenigstens den Rest des Tages zu Hause verkriechen und muss ihrer Mutter nicht schon wieder erklären, warum sie bei dem sonnigen Wetter nicht mit ihrer Freundin Susan oder ihren Mitschülerinnen ins Karlstädter Freibad gehen will.

Vielleicht ist der ständige Regen diesen Sommer eine Antwort auf Neles Gebete. Aber eigentlich glaubt sie nicht, dass es Gott sonderlich interessiert, ob sie sich in einem Badeanzug im Schwimmbad vor ihren Mitschülern blamiert oder nicht. Es gibt immerhin wichtigere Dinge auf der Welt als Neles Probleme mit ihrer Figur.

«Nele?» Die Stimme ihrer Mutter tönt trotz des Regens laut durch die ganze Dreizimmerwohnung. Sie ist es gewohnt, durch ein zweistöckiges Haus zu rufen, wenn sie will, dass ihre Töchter sie hören, und an das kleine Apartment hat sie sich noch nicht angepasst. Ungeduldig wie immer wartet sie keine Antwort ab, ehe sie noch mal ruft: «Nele! Kommst du zum Abendessen?»

Nele ist überhaupt nicht nach Essen zumute, aber im Hause Zimmermann ist es eine ungeschriebene Regel, dass man sich zu allen Mahlzeiten um den Tisch versammelt. Früher um die ausziehbare Tafel im Esszimmer ihres Hauses und jetzt um das klapprige Ding, das in der Küche steht.

Mit einem letzten Blick auf ihr Spiegelbild wendet Nele sich um und stolpert prompt über ein Barbiepferd samt Kutsche. Das kalte Gefühl in ihrem Bauch verstärkt sich. Sie hasst nicht nur die Dachschräge und den klapprigen Küchentisch und den Regen, sondern auch, jetzt mit ihrer kleinen Schwester Katie ein Zimmer teilen zu müssen. Die schönen Buchenmöbel aus ihrem alten Zimmer haben sie mit Biegen und Brechen in den Raum gequetscht, weil Nele sie auf keinen Fall zurücklassen wollte, aber Katies Sachen – das Bett, das bunte Regal und die vielen Spielzeuge – ruinieren die gemütliche Atmosphäre völlig.

Neles Mutter sitzt schon am Küchentisch und ist dabei, Katie ein Butterbrot zu schmieren. Mit ihren sieben Jahren könnte Katie das sicher schon ganz gut selbst, doch diesen Gedanken behält Nele lieber für sich. Streit mit ihrer Mutter hätte ihr heute gerade noch gefehlt. Und nach einem langen Arbeitstag braucht es gar nicht viel, um diese zu reizen.

«Hattest du einen schönen Schultag?», fragt Mama, und ihr Lächeln sieht mal wieder ziemlich müde aus. Katie sorgt dafür, dass Nele die Antwort erspart bleibt. Das ist auch gut so, weil Nele ihre Mutter wirklich nicht gerne anlügt.

«Wir haben heute das Schreibschrift-R gelernt. Und Tom kann das R nicht richtig rollen und muss deswegen zum Lokomopäder.»

«Zum Logopäden.» Mama legt Katie das fertige Brot auf den Teller und hält sie zurück, als sie sogleich hineinbeißen will. «Erst beten. Das weißt du doch.»

Obwohl bei Zimmermanns immer vor dem Essen gebetet wird, vergisst Katie das regelmäßig. Vor allem, seit es einmal für ein paar Wochen keine Gebete gab, gleich nachdem Papa ausgezogen war. Das ist jetzt aber auch schon fast ein Jahr her, und Katie erinnert sich wahrscheinlich gar nicht so genau daran.

Kaum hat ihre Mutter das Gebet beendet, setzt Katie ihren Bericht fort. Nele kaut auf einer Essiggurke herum und hört nicht richtig zu. In Gedanken versucht sie, sich einen neuen Tagtraum mit Michael und ihr in der Hauptrolle auszudenken, aber nach dem heutigen Tag ist das gar nicht so einfach.

«Was ist los, Große?», fragt ihre Mutter dann doch irgendwann. «Hast du keinen Hunger?» Mama nennt Nele groß, ihre Mitschüler nennen sie dick. Ob sie damit alle das Gleiche meinen?

«Bin ich fett?», rutscht es ihr heraus, und Mama verschluckt sich an ihrem Brot. Ziemlich lange hustet sie, während Katie große Augen macht und Nele auf eine Antwort wartet.

«Wer immer das zu dir gesagt hat, hat sich sehr hässlich verhalten. Es ist nicht schön, jemanden wegen seines Aussehens zu hänseln.»

«Bin ich fett oder nicht?» Nele blinzelt die Tränen zurück. Ein Heulanfall am Tag reicht.

«Nele», sagt ihre Mutter behutsam, und Katies Ausführungen über das Schreibschrift-R sind vergessen. «Du bist vielleicht keines von diesen Hungermodels, aber du bist auch ganz bestimmt nicht fett. Lass dir so was doch nicht einreden.»

Nele erwidert überhaupt nichts. Normalerweise spricht sie solche Dinge zu Hause nicht an. Es reicht immerhin, dass ihre Figur in der Schule ständig Thema Nummer eins ist. Und zu Hause gibt es auch genug andere Probleme.

Ihrer Mutter scheint das Thema genauso peinlich zu sein. Deshalb lassen sie es auch schnell fallen und widmen sich wieder Tom und dem Schreibschrift-R. Trotzdem hört Mama nicht auf, ihr sorgenvolle Blicke zuzuwerfen.

Vielleicht versteht sie Nele ja sogar ein bisschen. In der Grundschule hat sie sich immer Gedanken gemacht, wenn Nele mit ihren Mitschülern nicht klarkommen wollte, und ist regelmäßig zur Klassenlehrerin und einmal sogar zur Schulleitung gerannt. Aber dann hat Nele sich mit Susan angefreundet, und für ein, zwei Schuljahre war alles besser gewesen.

Bis zum Wechsel auf das städtische Gymnasium. Da kam Susan in die Parallelklasse, und alles ging wieder von vorne los. Nele ist sich klar, dass sie ihren Mitschülern auch einfach zu viele Gründe für Spott bietet: Keine Freunde zu haben ist eine Sache. Dick und unsportlich zu sein und zu allem Überfluss aus einer christlichen Familie zu kommen eine andere. Und das Schlimmste ist, wenn dann auch noch der Vater wegen einer anderen Frau abhaut.

Neles Mutter muss wissen, was ihre älteste Tochter durchmacht. Vielleicht kann sie irgendetwas unternehmen, wenn Michael es schon in Wirklichkeit nie tun wird. Aber gerade als Nele ein bisschen Hoffnung schöpft, beweist ihre Mutter einmal wieder, wie wenig sie das ganze Dilemma erfasst hat.

«Ach ja, Nele, ehe ich es vergesse», sagt sie und nippt an ihrem Leitungswasser. «Hast du diese Woche noch eine Stunde bei Tante Bea?»

Nele sinkt das Herz in die Hose, als sie langsam nickt. Diese Frage kann nichts Gutes bedeuten. Bea – oder Frau Bachmann, wie sie in der Schule natürlich genannt wird – ist nicht wirklich Neles Tante. Aber ihre Patin und außerdem Religionslehrerin.

Nele mag Tante Bea eigentlich sehr gerne. Allerdings nur außerhalb der Schule. Wenn man dick und unsportlich ist und eine christliche Familie hat, ist es nämlich nicht gerade hilfreich, wenn die Religionslehrerin der ganzen Klasse Anekdoten über die kleine Nele im Kindergottesdienst erzählt.

«Ich hab noch ein Liederbuch von ihr hier», fährt ihre Mutter fort, die keine Ahnung zu haben scheint, was in Nele vorgeht. «Nimm es doch bitte für sie mit, ja? Seit ich den neuen Dienstplan habe, bin ich nicht mehr dazu gekommen, mich mit Tante Bea auf einen Kaffee zu treffen, und sie will ihr Buch bestimmt wiederhaben.»

Nele bringt es nicht übers Herz, ihre Mutter zu enttäuschen. Deshalb schreit sie nicht: «Das kannst du nicht von mir verlangen!», und fängt auch nicht wieder an zu heulen, obwohl ihr wirklich danach ist.

Stattdessen nickt sie tapfer und überlegt schon einmal fieberhaft, wie man seiner Religionslehrerin ein christliches Liederbüchlein mit in den Unterricht bringen kann, ohne dass es jemand mitbekommt.

Es regnet immer noch. Schwere Tropfen zerbersten auf der erhitzten Erde und trommeln auf das Wellblechdach des Gartenhäuschens.

Die Schrebergartenbesitzer ärgern sich schwarz über den verregneten Sommer, weil ihnen die Kirschen auf den Bäumen aufplatzen und ihre Beete langsam zu matschigen Sumpflandschaften werden.

Ein Schrebergartenbesitzer wird sich sogar ganz besonders ärgern. Zumindest falls er herausfindet, dass jemand sein Gartenhäuschen als Unterschlupf für eine regnerische Nacht ausgewählt hat. Aber wer den Schlüssel unter der Fußmatte versteckt, der darf sich über ungebetene Gäste nicht wundern.

Noah steht unter der Überdachung der kleinen Hütte mit den Sprossenfensterchen und spuckt Kirschkerne in die Himbeersträucher am Zaun. Viele der roten Früchte sind tatsächlich aufgeplatzt, und wahrscheinlich werden sie ohnehin den Vögeln überlassen.

Noah wischt sich den roten Saft an seiner Stoffhose von den Fingern und starrt weiter in den strömenden Regen. Das Wasser sammelt sich auf dem erdigen Boden zu schmutzigen Pfützen.

«He, Cas!» Er hebt einen Ast auf und hält ihn hoch. «Schau, was ich da habe.»

Der zu seinen Füßen liegende Mischling hebt träge den Kopf und sieht ihn an, als wolle er sagen: «Bist du jetzt total übergeschnappt?»

«Na los, hol ihn dir!» Damit schleudert Noah den Stock hinaus in den Regen. Cassiopeia sieht ihm nach und bettet den Kopf wieder auf ihre Vorderpfoten. Nachdem sie den ganzen Tag ununterbrochen gelaufen sind, ist sie erschöpft.

Noah kann es ihr nicht verdenken. «Immerhin haben wir die Stadt noch vor Einbruch der Dunkelheit erreicht», rechtfertigt er sich und lässt sich neben seiner Hündin in die Hocke sinken. Ihr zottiges Fell zu kraulen und dem Prasseln des Regens zu lauschen, lässt ihn ganz ruhig und nachdenklich werden.

Auch er ist mitgenommen von dem langen Fußmarsch. Fast automatisch wandert seine Hand zu seiner linken Hosentasche, deren Inhalt bei der Berührung leise knirscht.

«Wie die Sintflut», murmelt er, als das Wasser seine Füße umspült und Cassiopeias Fell tränkt. Die Geschichte seines biblischen Namensvetters und seiner Arche mochte Noah schon als Kind am liebsten. «Aber zum Schluss hat Gott versprochen, nie mehr eine solche Flut zu schicken, die alles auslöscht. Auch wenn es gerade ganz danach aussieht, als hätte er es sich anders überlegt», fügt er hinzu und blickt durch die Regenfäden zum Himmel. Aber einen Regenbogen kann er nirgendwo sehen.

Am nächsten Tag hat es aufgehört zu regnen, und bis Mittag hat die Sonne beinahe alles getrocknet. Die Blätter rascheln wieder im warmen Wind, und nur manchmal löst sich noch ein Wassertropfen von den Zweigen. Auf den Straßen sind nur die tiefsten Pfützen als feuchte Flecken zurückgeblieben.

Noah und Cassiopeia schlendern in Richtung Karlstädter Ortsschild. Bis zum Abend werden sie der Landstraße folgen, immer weiter, und sich dann entweder ein neues Nachtlager oder eine Mitfahrgelegenheit suchen. Ihr Ziel ist Würzburg, und wer weiß, vielleicht werden sie dort zur Abwechslung ein paar Tage bleiben. Vielleicht auch nicht. Die meisten Städte ist Noah schon nach wenigen Stunden leid. So wie Karlstadt.

Am Morgen sind sie hier angekommen und haben sich in der Stadt umgesehen. Zwar liegt sie ganz idyllisch am Main und hat eine richtige historische Altstadt mit Mauer und allem Drum und Dran, aber es ist dennoch eine Stadt, mit Supermärkten und Schulen, Stadtbibliothek, Busverkehr und Industrie. Auf ihn wirkt sie anstrengend, obwohl sie weder ein verschlafenes Nest ist, in dem jeder jeden kennt und es eine Menge Tratsch gibt, noch eine betriebsame Großstadt. Groß genug aber immerhin, um ein winziges Krankenhaus, einen Bahnhof und auch ein Gymnasium zu haben.

An diesem Morgen hat Noah die Schüler ihre Ranzen, Taschen und Beutel von den Bushaltestellen zum Eingang schleppen sehen. Träge, obwohl es ein so schöner Morgen war. Aber wer könnte ihnen das verübeln? Als Noah noch in die Schule ging, war er auch kein Frühaufsteher. Der ewige Trott in diesen Mühlen kann einem aber auch jeden noch so sonnigen Tag verderben.

Dieses Jahr könnte er sein Abi machen. Während draußen der Sommer erst so richtig beginnt und die Welt wieder aufblüht, müsste er in finsteren Klassenzimmern hocken und büffeln. «Bin ich froh, dass wir abgehauen sind», sagt er zu Cassiopeia, die damit beschäftigt ist, an einer Pfütze zu schnuppern.

Cas und er sind sich nicht lange nach Beginn seiner Reise begegnet und sind seitdem zusammen unterwegs und die besten Freunde. Er hat keine Ahnung, woher die übermütige Mischlingsdame gekommen ist, aber er ist sich ziemlich sicher, dass auch sie vor etwas davongelaufen ist. Vielleicht hat man sie misshandelt, eingesperrt oder sogar ausgesetzt oder in ein Tierheim gebracht. Jedenfalls gehört sie jetzt zu ihm und ist vielleicht zum ersten Mal richtig frei.

Genau wie er.

Ein warmer Wind kräuselt die glatte Oberfläche der Pfützen und zerzaust Cas das struppige Fell. Wahrscheinlich zieht spätestens gegen Abend wieder ein Gewitter auf. Die heiße Luft zaubert schwummerige Spiegelungen auf die aufgeheizte Straße. Sie haben das Ortsschild jetzt fast erreicht.

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite huscht eine getigerte Katze vorbei. Zu spät greift Noah nach dem gelben Tuch, das er Cassiopeia als Halsband umgebunden hat. Sie ist schon losgerannt, um Jagd auf die Katze zu machen. Cas liebt es, andere Tiere zu jagen.

Alles geht so schnell, dass Noah sich gar keine Gedanken darüber machen kann, dass es auch für einen Menschen gefährlich ist, einfach so auf die Straße zu springen. So knapp vor dem Ortsschild halten sich die meisten Leute an keine Geschwindigkeitsbegrenzungen.

Ein silberner Mercedes kommt mit quietschenden Reifen ein paar Meter von ihm entfernt zum Stehen. Cassiopeia hat weniger Glück. Sie jault auf, als das Auto sie mitten in ihrem ungestümen Sprint erwischt. Das Geräusch schmerzt in Noahs Ohren.

«Cas!» Mit einem Satz ist er bei ihr. Sie ist nicht eingeklemmt, aber der Aufprall hat sie einen guten Meter nach vorne geschleudert, wo sie auf der erhitzten Straße liegt und sich aufzurappeln versucht. Noah hält sie fest, damit sie sich nicht selbst noch mehr verletzt.

«Oh Gott, das tut mir so leid!» Der Fahrer des Mercedes – ein Typ im Anzug – steigt aus und rauft sich das dünner werdende Haar. «Was rennt ihr denn auch einfach auf die Straße? Ich hätte ebenso gut dich anfahren können!»

Hätte er doch! Noah krault Cas beruhigend am Hals, und ein dicker Klumpen bildet sich in seinem Magen, als er sieht, wie frisches rotes Blut ihr braungeflecktes Fell durchtränkt, direkt oberhalb des linken Hinterbeins. Cassiopeia will die Wunde ablecken, aber er lässt sie nicht.

«Da vorne ist das Ortsschild. Hier muss man, ob’s einem passt oder nicht, fünfzig fahren!», brüllt Noah den Fahrer des Mercedes an. Bescheuertes Bonzenauto. Seine Eltern fahren auch so einen, und Geschwindigkeitsbegrenzungen sind in ihren Augen etwas für Leute mit billigeren Autos.

Cassiopeias Jaulen versetzt ihm einen Stich im Herzen, und er lässt den Mercedesfahrer links liegen, um sich wieder seinem Hund zuzuwenden. Er muss Cas zurück in die Stadt bringen, so viel steht fest. Sie winselt, als er versucht, sie hochzuheben, und dabei ganz schön ins Wanken gerät. Sie ist schwerer, als er erwartet hat.

«Ich kann dich zu einem Tierarzt fahren», bietet der Anzugtyp an und sieht nervös auf seine silberne Armbanduhr. Vermutlich will er klarmachen, was für ein großzügiges Angebot das ist. Seine wertvolle Zeit und – schmutzig und voller Blut, wie Noah und Cassiopeia sind – eine Fahrt in seinem teuren Auto.

Aber Noah schüttelt nur den Kopf. «Nicht nötig», knurrt er und versucht, die sich sträubende Cassiopeia auf seine Schultern zu hieven, um so das verletzte Bein zu schonen. Unerwartet kommt ihm ein Paar fremder Hände zur Hilfe.

«Das sieht ziemlich schlimm aus.» Ein Junge mit kurzem Haar, das genauso braun und vom Wind zerzaust ist wie das von Cassiopeia, ist an seine Seite geeilt. Er ist größer als Noah, aber offensichtlich jünger. Das ist kein Kunststück, weil Noah für seine achtzehn Jahre ziemlich klein geraten ist.

«Ich hab kein Geld für einen Tierarzt», murmelt Noah, und seine eigene Aussage trifft ihn. Normalerweise lebt es sich ganz gut ohne Kreditkarte, Zuhause und Job. Aber der Gedanke, Cas nicht helfen zu können, nur weil er kein Geld hat, bringt ihn fast um. Lieber würde er stehlen, als sie sterben zu lassen. Sie ist ja alles, was er hat.

«Ich wohne gleich da drüben», sagt der Fremde, und obwohl er nicht weiß, wie ihm das helfen soll, folgt Noah ihm mit Cas auf den Schultern zum Straßenrand.

Der Mercedesfahrer steht noch einen Moment ratlos da, dann zuckt er die Schultern und geht zu seinem Wagen zurück. «Also kommt ihr alleine zurecht, oder?», fragt er noch, ehe er einsteigt und weiterfährt. Noah könnte schreien. Dieser ignorante Typ mit seinem blöden silbernen Mercedes!

«Komm mit.» Der Fremde dreht sich um und macht Anstalten, Noah den großen Rucksack abzunehmen. Aber weil Cassiopeias Gewicht zum größten Teil darauf gestützt ist, lässt er es schnell wieder bleiben und geht stattdessen wieder voran. «Dann kannst du die Wunde säubern und sie dir in Ruhe ansehen.»

Noah folgt ihm und sagt besser nicht, dass er von so etwas keine Ahnung hat und dass ihm ohnehin schon schlecht wird, wenn er nur daran denkt, sich genauer anzusehen, was Cas passiert ist.

«Ich bin übrigens Lars.» Der Fremde hält kurz inne und sieht zu, wie Noah unter Cassiopeias Gewicht strauchelt. «Geht es so mit dem Hund?»

«Sie heißt Cassiopeia.» Noah rückt sie behutsam so zurecht, dass sie ihm nicht von den Schultern rutschen kann. «Und ich bin Noah.»

Lars führt Noah zu einem Wohnblock, und sie fahren mit einem engen Aufzug in den dritten Stock. Das gesamte Haus könnte eine Renovierung vertragen oder wenigstens ein bisschen mehr Licht. Die Wohnung, in die Lars Noah führt, ist genauso düster wie das Treppenhaus, und der beißende Geruch von Schnaps liegt in der Luft.

Als die Tür hinter ihnen ins Schloss fällt, ist Noah bereits von Kopf bis Fuß schweißgebadet.

«Wohnst du hier allein?»

Lars schüttelt den Kopf. «Bei meinem Vater.» Dann schweigt er wieder und lotst Noah zu einer Tür am Ende des Flurs. Der bekommt vor Sorge um Cassiopeia gar nicht richtig mit, wie Lars hastig eine andere Tür zuschiebt. Aus dem Raum dahinter dringt dröhnendes Schnarchen.

«Warte, ich hole Handtücher.»

Unvermittelt findet Noah sich alleine in Lars’ Zimmer wieder. Es ist ein enger und stickiger Raum, aber im Gegensatz zu dem, was Noah ansonsten von der Wohnung gesehen hat, sauber und ordentlich. Alles scheint seinen Platz zu haben.

Es ist ein komisches Gefühl, so mir nichts, dir nichts mitten im Privatleben eines völlig Fremden zu stehen. Vor allem, wenn man wie hier das Gefühl hat, in etwas eingedrungen zu sein, das man besser gar nicht gesehen hätte.

Lars kommt zurück und breitet Handtücher auf dem Bett aus, damit Noah die blutende Hündin endlich ablegen kann. Sie will sofort aufstehen, aber er lässt es nicht zu. Blut hat er noch nie sehen können. Alles, von der übelkeitserregenden Farbe über den metallischen Geruch bis hin zu dem glitschigen Gefühl unter seinen Fingern, lässt Noah fast schwarz vor Augen werden. Ginge es nicht um Cas, würde er lieber davonlaufen, als das blutgetränkte Fell zu berühren. Als er das offene Fleisch sieht, droht sein Mageninhalt in seinem Hals nach oben zu wandern und hinterlässt einen sauren Geschmack.

«Lass mich mal.» Lars versucht, ihn wegzuschieben, aber Noah rückt erst zur Seite, als er hinzufügt: «Und beruhig den Hund, damit er mich nicht beißt.»

In der Tat hat Cassiopeia zu knurren begonnen und wird erst still, als Noah ihren Kopf in seine Hände nimmt und sie vorsichtig krault.

«Schon okay, Cas», redet er ihr zu, während Lars sich über das verletzte Bein beugt. «Die Wunde scheint nicht tief zu sein», stellt er fest. «Allerdings ziemlich groß. Ich schätze, das sollte desinfiziert werden.»

Noah nickt, krault weiter Cassiopeias Ohren und lässt Lars machen. Als dieser ihre Verletzung desinfiziert, muss Noah sie grob festhalten, weil sie sich auf Lars stürzen will, doch alles andere lässt sie friedlich über sich ergehen.

«Danke, Mann», würgt Noah schließlich hervor, als Cas mit dem Kopf in seinem Schoß schläft und Lars die blutigen Handtücher wegräumt. Cassiopeias Bein hat er großflächig verbunden.

Es bricht Noah fast das Herz, sie so zu sehen. «Weiß nicht, was ich gemacht hätte, wenn du nicht aufgetaucht wärst.»

Lars bleibt diplomatisch. «Länger könnt ihr auf keinen Fall hierbleiben.» Während er Cas versorgt hat, war er ganz ruhig und kompetent. Als hätte er das schon hundertmal gemacht. Aber jetzt wird er sichtlich nervös. «Könnt ihr irgendwo … ich meine, wohnst du hier in der Stadt?»

Er sieht Noah und Cas natürlich an, dass sie nirgendwo wohnen. Der Rucksack, der alles beinhaltet, was Noah besitzt, lehnt neben ihnen an der Wand. Eine Wasserflasche und ein zweites Paar Schuhe hängen daran. Sie beide sind überall zu Hause. Sie bleiben nirgendwo lange. Aber jetzt ist Cassiopeia verletzt, und Noah weiß zum ersten Mal nicht, wohin er gehen soll.

«Ja», sagt er trotzdem. «Kann ich meine Tasche später holen? Gleichzeitig kann ich das Ding und Cas nicht so weit tragen.»

«Kein Problem.» Lars zuckt unbehaglich die Achseln. Er muss ahnen, dass die beiden in Schwierigkeiten sind, aber er sagt nichts. Logisch. Nach allem, was Noah mitbekommen hat, hat Lars seine eigenen Probleme.

Theresa, Elli und Nele spielen ein Spiel. Das Liederbuch, das Nele Tante Bea geben soll, ist der Ball, den Theresa und Elli sich zuwerfen, während Nele versucht, ihn aus der Luft zwischen ihnen zu fangen. Weil sie nicht besonders sportlich ist, gelingt es ihr natürlich nicht, und einmal fällt sie sogar auf die Nase. Der Rest der Klasse grölt vor Lachen.

Das ist der Moment, in dem in ihren Tagträumen Michael dazwischengeht. Er würde aufspringen und mit seinem muskulösen Arm das Buch aus der Luft fangen, als wäre nichts dabei, und mit Autorität in der Stimme sagen: «Hört sofort auf damit!»

Aber in Wirklichkeit lösen sich nur langsam die ersten Seiten aus der Ringheftung des Büchleins und segeln zu Boden. Nele will sie einsammeln, aber Mareike ist schneller.

«‹Heilig ist der Herr›», liest sie vor, und die ganze Klasse lacht so laut, dass Elli und Theresa einen Moment ganz vergessen, den Rest des Liederbuches hin- und herzuwerfen. «‹Ein Liederbuch für bibeltreue Christen.› Mein Gott, wie putzig.»

«Gib es her!», schreit Nele und will Mareike die Seiten aus der Hand reißen. Trotz der Demütigung ist alle Scheu vergessen. Noch nie war sie so wütend. Wütend genug, um sich auf Mareike zu stürzen. Aber die weicht geschickt aus.

«Oder wie klingt das hier?» Mareike bückt sich nach einer weiteren Liederbuchseite. «‹Im Sturm sing ich zu dir.» Sie lacht so hässlich, dass Nele sich wirklich fragt, was Piet an dieser bösen Hexe findet. Ein tiefer Ausschnitt und Make-up können doch wohl nicht über so viel Niederträchtigkeit hinwegtäuschen.

«‹Ich glaubte fest daran, dass du uns deine Hand reichst und die Tränen stillst›», liest Mareike vor, und Theresa kreischt: «Wie süß, ein Lied für schwere Zeiten!»

«Das ist nicht lustig», findet Elli, und Nele glaubt für einen Moment, sich verhört zu haben. Elli schüttelt bitterernst den Kopf und spricht so leise, dass die Klasse mit dem Lachen aufhören muss, um sie zu hören. «Vielleicht hat dieses Liedchen ihr geholfen, als ihr Vater abgehauen ist. Aber, Nele, was mich schon die ganze Zeit interessiert …» Sie setzt eine extra neugierige Miene auf und fragt süßlich: «Darf das ein Christ überhaupt? Mit einer anderen Frau durchbrennen, wenn er keine Lust mehr auf seine Familie hat?»

Nele fühlt sich, als hätte Elli ihr einen Faustschlag in die Magengrube versetzt. Ausgerechnet Elli mit ihrer perfekten Familie. Nele weiß gar nicht, welcher Wunsch stärker ist: der, wieder wegzulaufen, oder der, Elli die Augen auszukratzen.

Das Lachen ihrer Klasse vibriert in ihren Ohren wie das Summen eines riesigen Hornissenschwarms. Elli mit ihrer zuckersüßen Glöckchenstimme lacht am lautesten. Sie setzt zu einem neuen Wurf mit dem Liederbuch an, das Buch fliegt einige Meter und wird dann aus der Luft gefangen. «Hört sofort auf damit!»

Schlagartig wird es still. Einen Moment lang sieht es so aus, als wäre die Welt stehengeblieben. Elli hat noch die Wurfhand erhoben, Mareike hält nach wie vor eine herausgerissene Seite in der Hand, nur das Lachen ist verstummt. Es ist natürlich nicht Michael, der das Buch gefangen hat und es Nele nun wortlos hinhält. Die Wahrheit ist beinahe noch absurder als ihr wiederkehrender Tagtraum. Derjenige, der dazwischengegangen ist, um die dicke, unbeliebte Nele zu retten, ist der unsichtbare Lars.

Nele fühlt sich wie in einem seltsamen Traum, während sie die Liederbuchseiten einsammelt und sich gerade noch rechtzeitig auf ihren Platz setzt, als Herr Schön das Klassenzimmer betritt.

Die Stunden bei ihrem steinalten Deutschlehrer gehören zu den schlimmsten, weil er so gut wie taub ist und glaubt, die Klasse hinter seinem Rücken wäre so still, wie es sich für ihn anhört.

Aber heute herrscht tatsächlich eine Totenstille in der 9c. Nele ist ganz benommen, und es liegt außerhalb ihrer Möglichkeiten, dem Unterricht zu folgen. Eine Weile versucht sie, das Liederbuch notdürftig zu reparieren, aber es sieht doch arg zerfleddert aus. Zerknickte Seiten stehen heraus, und das Cover hat einen Riss.

Als Nele es aufgibt und sich auf Herrn Schöns Monolog konzentrieren will, kann sie einfach nicht anders: Sie muss sich umdrehen und zu Lars sehen, der eben wie aus dem Nichts aufgetaucht ist, um sie zu retten.

Und sie fragt sich, warum. Warum um alles in der Welt sollte ausgerechnet der unsichtbare Lars ihr helfen? Soweit sie sich erinnert, hat sie noch nie ein Wort mit ihm gewechselt, obwohl sie seit über vier Jahren in die gleiche Klasse gehen. Überhaupt hat sie Lars nie mit seinen Mitschülern reden sehen. Er scheint nur zu sprechen, wenn ein Lehrer ihn etwas fragt und es sich nicht vermeiden lässt.

Deshalb ist er ja der unsichtbare Lars. Auch jetzt sitzt er so still und bewegungslos da, dass er fast mit seinem Umfeld zu verschmelzen scheint. Unauffällig. Unsichtbar. Er könnte ebenso gut gar nicht da sein.

Aber eben, als er das Buch gefangen und «Hört sofort auf damit» gesagt hat, da ist er nicht unsichtbar gewesen. Richtig wütend hat er ausgesehen. Als wäre es ihm nicht wie allen anderen egal, dass Nele von ihren Mitschülern schikaniert wird. Kann es offenbar auch nicht sein, denn immerhin ist er dazwischengegangen.

Wenn sie so darüber nachdenkt, weiß Nele, dass sie sich bedanken muss. Weil sich das so gehört und weil sich bisher noch nie jemand für sie eingesetzt hat. Vielleicht kann sie ihm sagen, wie mutig sie es findet, dass er ihr geholfen hat. Natürlich darf das dann wieder nicht zu ehrfürchtig klingen. Gerüchte, dass Nele Zimmermann in den unsichtbaren Lars verliebt ist, hätten ihr gerade noch gefehlt. Besser, sie versucht, Lars alleine abzupassen, damit es niemand hört.

Aber als es zur ersten Pause klingelt, tut Lars das, was er am besten kann: Er verschwindet spurlos. Nele streckt ihren Kopf über das Gewühl aus zusammenpackenden und Pausenbrot herauskramenden Schülern, aber sie kann ihn nirgendwo mehr finden.

«Suchst du deinen Helden in schimmernder Rüstung?», kommt es da auch schon von Theresa, aber irgendwie prallt die Bemerkung einfach an Nele ab. Sie schiebt sich an den Mädchen vorbei in den Flur.

In der Aula bleibt ihr Blick an dem Spruch hängen, den irgendein übermotivierter Innenarchitekt über den Eingang gepinselt hat:

«Rücksichtnahme, Offenheit und gegenseitige Achtung im Umgang miteinander sind wichtige Kennzeichen unserer Schulgemeinschaft.»

Als Schüler liest man diesen Satz einmal und ignoriert ihn dann für den Rest seiner Schulzeit, aber heute muss Nele über diese Ironie beinahe lachen. Dass pädagogisch klingende Sätze über der Tür nichts am Verhalten der Schüler ändern, hat sie oft genug am eigenen Leib erfahren. Aber Lars hat ihr geholfen. Und sie begreift einfach nicht, warum er das getan hat.

In einer entlegeneren Ecke des Schulhofs wartet sie auf ihre Freundin Susan. In der fünften Klasse, als sie untröstlich gewesen sind, dass man sie in verschiedene Klassen gesteckt hat, haben sie sich versprochen, sich jede Pause hier zu treffen. Aber das ist jetzt auch schon fast fünf Jahre her, und immer öfter sitzt Susan bei ihren Klassenkameradinnen im Steinrondell um die Ecke, wo sie ihre Taschen wie ein Nest um sich herum ausbreiten und Nagellacke und Lippenstifte in unterschiedlichen Farbtönen austauschen.

Doch heute ist Susan da. Sie kommt ein bisschen später, und ihr blonder Pferdeschwanz wippt, während sie zu Nele eilt. Nele beneidet Susan ein bisschen um ihr Aussehen. Sie ist zwar auch blond, aber ihr Haar ist dünn und glatt, während Susan hübsche, gleichmäßige Wellen hat.

Außerdem ist Susan dünn. Nicht so dürr wie Elli und Theresa, aber schön schlank mit langen Beinen und Kurven an den richtigen Stellen. Jedenfalls findet Nele das.

«Du bist ja früh da!» Susan lässt ihren Rucksack – nagelneu und korallenrot – auf den Boden gleiten. «Hast du schon gegessen?»

Erst jetzt bemerkt Nele, dass sie ihr Pausenbrot wegen der Suche nach dem unsichtbaren Lars ganz vergessen hat. Es steckt in ihrer Tasche im Klassenzimmer. «Das hab ich wohl liegen lassen.»

Jetzt, wo Susan es erwähnt hat und prompt ihre Dose mit zwei dicken Schnitten Vollkornbrot mit Gurken und Quark auspackt, spürt Nele auch den nagenden Hunger in ihrem Bauch, den sie vorher vor Aufregung und Ärger gar nicht bemerkt hat. Wie zur Bestätigung knurrt ihr Magen.

«Na komm, dann nimm die Hälfte von meinem.» Susan hält ihr die Dose hin, und Nele greift nur zu gerne zu. Die Sandwiches sehen lecker aus, und beim ersten Bissen knacken die Gurken so richtig.

«Ich muss sowieso abnehmen», setzt Susan hinzu, während sie mit spitzen Fingern ein Stückchen Gurke von ihrem übrig gebliebenen Brot fischt und es sich in den Mund steckt. «Aber meine Mutter sieht das nicht ein. Sie weigert sich doch glatt, Magerquark auf mein Brot zu schmieren. Dabei hat das Zeug hier vierzig Prozent Fett. Davon könnte man locker die Hälfte vermeiden.»

Nele hat Susans Monolog still zugehört und muss jetzt kräftig schlucken, um den zerkauten Bissen Quarksandwich hinunterzukriegen. Plötzlich fühlt sie sich wieder unsagbar dick. «Warum … warum solltest du denn abnehmen wollen?», fragt sie mit belegter Stimme.

Susan steckt sich eine zweite Gurkenscheibe in den Mund, wischt sich die Hände ab und greift an ihren Bauch. «Na da, guck doch mal. Ich setze Fett an!»

Nele kann sich nicht zu einem zweiten Bissen Sandwich überwinden. Sie kann kein Fett an Susan sehen. Nur schön geschwungene Hüften, die ihr im Vergleich zu Theresas brettgerader Figur viel besser gefallen.

«Ich finde, du bist genau richtig», sagt sie deshalb.

Susan lächelt. Es ist eine Mischung aus Dankbarkeit und Abwinken, die wahrscheinlich so viel heißt wie: «Das kommt darauf an im Vergleich zu wem.» Klar, wenn ein Wal zu einem Karpfen sagt, er sei so schön schlank, dann ist das nicht so glaubwürdig, wie wenn es der Aal wäre, von dem das Kompliment kommt.

Nun hat Nele wirklich keinen Hunger mehr auf das angebissene Sandwich. Sie hat auch keine Lust, Susan von dem zu erzählen, was eben passiert ist. Sie würde ja doch nur die Augen verdrehen und meinen: «Ist aber auch ganz schön bescheuert von deiner Mutter, dir so ein Buch in die Schule mitzugeben.» Als wäre es ihre Schuld, dass Neles Mitschüler sie verspotten.

Aber Nele muss auch gar nicht nach einem anderen Gesprächsthema suchen, weil sie in diesem Moment über Susans Schulter hinweg sieht, wie eine schmächtige Gestalt mit braunem Haar von den Lehrern unbemerkt ins Schulgebäude huscht. Der unsichtbare Lars. Wenn man sich erst einmal seiner Existenz bewusst ist, ist er eigentlich gar nicht so unsichtbar. Jedenfalls hat Nele ihn sofort bemerkt.

«Du, ich muss mal eben …», setzt sie an und legt das Sandwich schnell in Susans Box zurück. «Ich … muss mal.» Sie wischt sich den Quark an ihrer Jeans ab und rennt los, um Lars noch einzuholen. Sie kann spüren, wie Susan ihr perplex nachsieht, aber sie hat jetzt keine Zeit für Erklärungen, wenn sie Lars alleine abpassen will. Und das scheint der perfekte Moment dafür zu sein.

Frau Heller sieht das allerdings nicht so. Sie hat Pausenaufsicht und steht mit ihrer Trillerpfeife zwischen Nele und dem Eingang, durch den Lars verschwunden ist.

«Wo willst du denn hin?», fragt sie und bremst Nele aus. «In der Pause haben die Schüler draußen zu bleiben. Besonders bei diesem schönen Wetter.»

«Es ist ein Notfall, Frau Heller», keucht Nele, von ihrem kleinen Sprint ganz außer Atem. Lars ist wahrscheinlich über alle Berge, wenn sie noch länger hier draußen herumtrödelt. Deshalb bleibt sie bei ihrer Ausrede, obwohl sie eigentlich ungern lügt: «Ich muss mal.»

Frau Heller zieht die Augenbrauen hoch. «Das kannst du ja nach dem Klingeln machen, bevor du wieder in dein Klassenzimmer gehst. Da hast du ja auch noch fünf Minuten.»

Nele könnte schreien. Warum glauben eigentlich immer alle, Nele nicht ernst nehmen zu müssen? Ihre Mutter ist nicht gerade außer sich vor Sorge wegen Neles Problemen mit ihren Mitschülern, und selbst wenn sie einer Lehrerin sagt, es handle sich hier um einen Notfall, will diese sie wegschicken.

Aber ehe Nele – völlig untypisch für sie – ungehalten werden kann, läutet die Schulglocke.

«Schon so spät?», fragt Frau Heller und sieht auf ihre Armbanduhr. «Na, dann kannst du ja jetzt …» Doch Nele ist schon an ihr vorbei zur Schultür gespurtet.

Drinnen steht sie erst mal ziemlich verloren da und weiß nicht, in welche Richtung sie gehen soll. Dann denkt sie blitzschnell nach: Wenn Lars durch die Aula gegangen wäre, würde sie ihn am anderen Ende noch sehen. Es sei denn, auch er ist gerannt.

Nele entscheidet sich für die Treppen. Ihre jetzt schon stechende Lunge ignorierend, sprintet sie nach unten.

Lars kann nicht glauben, was er da tut. Eigentlich ist er gut darin, sich aus allem herauszuhalten und jeden Ärger zu vermeiden. Mit den Lehrern, die manchmal ganz vergessen, dass er da ist, und die sich am Ende des Schuljahres dann eine mündliche Note für jemanden aus den Fingern saugen müssen, der monatelang kein Wort gesagt hat. Mit seinen Mitschülern, deren Abneigung auf Gegenseitigkeit beruht. Mit überhaupt jedem in seinem Umfeld.