Die Fischerkinder. Im Auge des Sturms - Melissa C. Feurer - E-Book

Die Fischerkinder. Im Auge des Sturms E-Book

Melissa C Feurer

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Beschreibung

Mitte des 22. Jahrhunderts, irgendwo in Nordeuropa. Die junge Mira lebt in einem streng autoritär geführten Staat. Als Tochter eines hohen Beamten ist sie privilegiert. Doch nachdem sie sich der verbotenen Untergrundorganisation der „Fischerkinder“ angeschlossen hat, ist ihr Leben in ständiger Gefahr. Als die Gruppe auffliegt, gelingt ihr mit dem geheimnisvollen Chas die Flucht. Ihr gemeinsamer Freund Filip jedoch wird verhaftet und verschleppt. Wider alle Vernunft entschließen sich Mira und Chas, in die Hauptstadt des Regimes zu reisen, um den verzweifelten Versuch zu wagen, Filip aus dem Gefängnis zu befreien. Doch schon bevor sie ihr Ziel überhaupt erreichen, droht ihre Reise ein jähes Ende zu nehmen …

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Teil 1: Das verbotene Buch

Teil 2: Im Auge des Sturms

Melissa C. Feurer

Im Auge des Sturms

Roman

Für Mama – die geduldige Lektorin und Leserin meiner allerersten Schreibversuche

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

ISBN 978-3-96140-091-1

© 2018 by Joh. Brendow & Sohn Verlag GmbH, Moers

Einbandgestaltung: Brendow Verlag, Moers

Titelfoto: fotolia artyway; fotolia Martin Capek; fotolia Oleksandr Moroz

Satz: Brendow Web & Print, Moers

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2018

www.brendow-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Kapitel 1: Schlaflose Nächte

Kapitel 2: In der Falle

Kapitel 3: Die Flucht

Kapitel 4: Angst

Kapitel 5: Unter der Oberfläche

Kapitel 6: In Flammen

Kapitel 7: Vacabunite

Kapitel 8: Im Untergrund

Kapitel 9: Das Medium

Kapitel 10: Überwachung

Kapitel 11: Simons neue Aufgabe

Kapitel 12: Das Versprechen

Kapitel 13: Mit Gottes Hilfe

Kapitel 14: Der Rat der Rebellen

Kapitel 15: Untergetaucht

Kapitel 16: Ein verzweifelter Plan

Kapitel 17: Der Kronprinz

Kapitel 18: Zukunftspläne

Kapitel 19: Technische Fortschritte

Kapitel 20: Auf dem Gründerball

Kapitel 21: In die Tiefe

Kapitel 22: Heldenhaft

Kapitel 23: Landesflucht

Weitere Informationen

Kapitel 1

Schlaflose Nächte

Mira schlug das Herz bis zum Hals, als sie die gläserne Tür aufstieß und in die Kühle des Ladens trat. An den Wänden stapelten sich Konserven, vor ihr erstreckte sich eine ganze Insel mit welk aussehendem Gemüse. Es war schwer zu sagen, wie weit der Raum nach hinten reichte. Vom grellen Sonnenlicht draußen war Mira geblendet. Ihre Augen hatten sich noch nicht an das orangestichige Flackern aus den Röhren an der Decke des Ladens gewöhnt. Doch wenn sie an das kleine Geschäft in Leonardsburg dachte, in dem sie und ihre Familie für gewöhnlich die wertvollen Rationskarten gegen Lebensmittel eingetauscht hatten, dann wurde ihr von der Größe dieses fremden Ladens regelrecht schwindlig.

Cem, benannt nach ihrem allerersten Präsidenten − lange vor Beginn der Monarchie − gehörte zu den größten Städten des Landes. Mira hatte im Staatsgeografieunterricht alles über Einwohnerzahlen, Bevölkerungsdichte und Infrastruktur gelernt, aber die Stadt mit eigenen Augen zu sehen war etwas ganz anderes. Sie war nur wenige Kilometer von Leonardsburg entfernt, und doch war Mira nie hier gewesen. Im Vergleich zu Cem erschien ihr Heimatort ihr plötzlich wie ein Dorf. Felder und Armenviertel waren um ein Vielfaches größer als die beschaubare Innenstadt von Leonardsburg, in deren Sicherheit Mira aufgewachsen war – ehe sie eine verbotene Schrift gestohlen, ein Fischerkind und damit Teil einer illegalen Kleinstgruppe geworden und durch den Verrat ihrer besten Freundin zur Flucht gezwungen worden war.

Ein hysterisches Lachen bahnte sich den Weg durch Miras Kehle hinauf. Nur mit Mühe konnte sie es hinunterschlucken. So betrachtet sollte der Kauf von ein wenig Wasser, Brot und Verbandsmaterial keine große Sache für sie sein. Das Problem war das kleine Plastikbändchen an ihrem Arm. Ihr Ausweis, den sie an der Kasse würde scannen müssen. Ihr Ausweis, der möglicherweise einen Alarm auslösen würde, weil sie eine flüchtige Siebzehnjährige war, die in Verdacht stand, mit einer konspirativen Kleinstgruppe unter einer Decke zu stecken. Gleich nachdem ihre Eltern sie als vermisst gemeldet hatten, musste diese Information binnen Sekunden landesweit über die staatlichen Computer verbreitet worden sein. Das Einlesen ihrer neunstelligen ID würde sie verraten, und sie hatte keine Ahnung, wie viel Zeit ihr dann blieb, um − egal ob mit oder ohne die bezahlten Güter − zu fliehen. Vielleicht gar keine.

Um ihren zum Zerreißen angespannten Nerven eine Chance zu geben, sich zu beruhigen, trat sie an ein Regal und gab vor, dessen Inhalt mit Interesse zu studieren. Sie hoffte, dass sie wie eine ganz normale spätnachmittägliche Kundin aussah, die nach Dienst- oder Schulschluss den Wocheneinkauf für die Familie erledigte.

Und wenn sie sich weigerte, ihr ID-Band zu scannen? Oder wenn sie nur so tat, als ob? Natürlich entsprangen diese Überlegungen nur ihrer Angst. Mira wusste genau, dass sie mit einem solch billigen Trick nicht davonkäme. Es war unvermeidlich, das Armband zu scannen, und eigentlich − so viel stand fest − sollte sie deshalb schlichtweg nicht hier sein. Es wäre besser, sich von Regenwasser und Feldfrüchten zu ernähren, ja, wahrscheinlich sogar besser, zu verhungern, als aufgegriffen zu werden.

Seit Tagen diskutierte sie mit Chas über diesen Punkt. Er war völlig aus dem Häuschen gewesen − sofern man bei einem so beherrschten Menschen von solch einer starken Gefühlsregung überhaupt sprechen konnte −, dass Mira noch das Armband trug, das sie als legale, existierende und vor allem handelsfähige Bürgerin auswies.

„Das wird uns nur nichts bringen“, hatte Mira geseufzt, als er sie darauf hingewiesen hatte. „Es ist nämlich auch eine tickende Zeitbombe. Besser, ich werde es gleich los.“ Augenblicklich hatte sie Anstalten gemacht, sich das Plastikband vom Handgelenk zu reißen, doch Chas hatte entsetzt ihren Arm ergriffen.

„Wir werden es noch brauchen“, hatte er heftig widersprochen. „Du kannst Lebensmittel damit kaufen. Und Wasser. Vielleicht rettet es uns das Leben.“

„Vielleicht liefert es mich aber auch ans Messer.“ Mira hatte ihm ihren Arm entzogen. „Meine Eltern hatten genug Zeit, mich als vermisst zu melden. Da werde ich mit diesem Ding gerade noch in einen Laden spazieren und es unter einen dieser Scanner halten.“

Chas hatte dazu reichlich wenig gesagt, aber Mira hatte das Bändchen dennoch nicht weggeworfen. Nicht weil sie vorgehabt hatte, es jemals wieder zu benutzen − sie war ja nicht lebensmüde −, sondern um Chas nicht unnötig aufzuregen. Die Brandwunde, die er sich bei ihrer Flucht zugezogen hatte, setzte ihm schon genug zu.

Diese Verletzung war der Grund, warum Mira nach langem Hin und Her in einem Lebensmittelgeschäft in Cem stand und Konserven studierte. Zu hungern, am Morgen nicht zu wissen, was sie im Verlauf des Tages essen sollten − damit konnte sie für eine Weile leben. Aber Chas war verletzt. Ein solches Landstreicherleben war nichts für jemanden mit einer entzündeten, kräftezehrenden Wunde.

Mira starrte auf ihre eigenen zitternden Hände, während sie zwei Flaschen mit Wasser und einen Laib in Papier gewickeltes Brot auf den Tresen legte.

Der Mann an der Kasse sah von seinen Unterlagen auf, über denen er brütete, seitdem Mira den Laden betreten hatte. Er war ausgesprochen ordentlich gekleidet. Neben seinem Hemd hatte Miras Bluse einen deutlichen Gelbstich, und sie hoffte, dass ihm die Risse an ihren Ellbogen nicht auffielen. Ihr braunes Haar war vielleicht ordentlich geschnitten; immerhin hatte sie bis vor Kurzem in der wohlorganisierten Innenstadt von Leonardsburg gelebt und zumindest augenscheinlich ein rechtschaffenes Leben geführt. Aber sicher sah man deutlich, dass es schon seit Tagen nicht mehr gewaschen worden war. Sie spürte, wie es ihr strähnig in die Stirn hing, und widerstand nur mühsam dem Drang, es zurückzustreichen.

„Ist das alles, was Sie brauchen?“ Mira hatte den Eindruck, den Ladeninhaber mit ihrem Einkauf eher zu belästigen. Vielleicht machte man in einer Stadt wie Cem keine solch bescheidenen Besorgungen. Mira hätte beileibe mehr gebraucht. Gemüse oder Obst, das Chas half, wieder zu Kräften zu kommen, einen Rucksack, um ihre wenigen Habseligkeiten zu verstauen, desinfizierende Salbe. Aber sie hatte nur eine einzige Rationskarte übrig.

„Fast alles.“ Sie zwang sich zu einem Lächeln. „Haben Sie Verbandsmaterial?“

Der Mann ließ den Stift sinken und seufzte. „Pflaster oder Verbände?“, fragte er und erhob sich.

„Verbände.“ Mira nestelte, nun, da sie ihre Einkäufe abgelegt hatte, an ihrem Ausweisband herum.

„Scan es doch schon einmal“, wies der Verkäufer sie an, während er sich an einem Schrank hinter dem Tresen zu schaffen machte.

Mira zögerte. Ihr Plan war es gewesen, nach dem Scannen ihres Armbands so schnell wie möglich das Weite zu suchen. Aber nicht ohne das Verbandsmaterial, das Chas so dringend benötigte. Wenn sie zur Flucht gezwungen war, ehe sie die Verbände hatte, wäre alles umsonst gewesen.

Der Mann hinter dem Tresen öffnete einige Kartons im Inneren des Schrankes. Mira zog die Rationskarte aus ihrer Tasche, strich sie sorgfältig glatt und legte sie neben ihre Einkäufe.

Aber dann hatte sie keine Ausrede mehr. Umständlich schob sie ihren Ärmel zurück und streckte das Handgelenk unter das blaue Licht des Scanners. Ein Klicken ertönte, und Mira fuhr zusammen. Sekundenlang herrschte Stille. Erst als der Mann eine knisternde Packung Verbände auf den Tresen fallen ließ, wurde Mira bewusst, dass sie den Atem angehalten hatte. Wie versteinert starrte sie auf den silbernen Scanner. Kein Alarm erschallte. Gar nichts geschah.

„Na dann“, sagte der Mann und lehnte sich wieder über seine Unterlagen. „Auf Wiedersehen.“

„Auf Wiedersehen.“ Der Scanner verschwamm vor Miras Augen, und ein dicker Kloß bildete sich in ihrer Kehle. Hastig raffte sie ihre Einkäufe zusammen, presste sie an den Körper und rannte Hals über Kopf aus dem Laden.

Ihre Eltern hatten sie nicht gemeldet. Mira rannte den ganzen Weg zu dem Versteck, in dem sie Chas zurückgelassen hatte, und konnte an nichts anderes denken. Der neunstellige Code auf ihrem Armband war ein Fingerabdruck ihrer Identität. Alles, von ihrem Bürgerstatus über ihre Noten im Staatsunterricht bis hin zu jedem noch so kleinen Einkauf, den sie je getätigt hatte, war damit einsehbar. Vorstrafen, eingeschränkte Rechte, verdächtige Verhaltensweisen − alles wurde gespeichert. Ihr Code hätte einen Alarm auslösen oder zumindest eine Warnung an den Ladenbesitzer abgeben müssen, dass sie auf der Flucht war und aufgehalten werden musste.

Und die einzige Erklärung, warum das nicht passiert war, war die, dass ihre Eltern sie nie als vermisst gemeldet hatten. Dass sie immer noch so taten, als befände sich ihre Tochter mit einer ansteckenden Krankheit in ihrem Zimmer und habe das Haus nie verlassen.

Aber warum? Ihre Mutter hatte ihr geholfen, zu fliehen. Sie hatte Mira sicher wissen wollen. Aber ihr Vater, der nichts so sehr liebte wie den Staat und seine Gesetze … war auch er zum Lügner geworden, um sie zu decken?

„Was ist passiert?“ Chas richtete sich auf, als Mira nach Luft ringend ihr Lager erreichte und fast über ihn stolperte. Sie konnte nicht antworten. Ihre Kehle war zu eng und die Atemluft zu knapp.

Sie ließ sich neben Chas auf den Boden sinken und presste beide Hände an ihren stechenden Brustkorb.

„Haben sie dich verfolgt?“ Chas schloss die Finger seiner unverletzten Hand um ihre Schulter und zog Mira tiefer hinter die grüngelb wuchernden Wände ihres Verstecks. Er hatte von Anfang an darauf bestanden, dass sie ihr Lager verborgen hinter den langen Halmen eines Gerstenfeldes aufschlügen. Sorgfältig hatte Mira gerade so viel Fläche des wertvollen Getreides flach gedrückt, wie sie unbedingt brauchten.

Chas machte Anstalten, aufzustehen, aber Mira schüttelte den Kopf. „Meine Eltern“, krächzte sie, als sie wieder halbwegs Luft bekam. „Sie haben mich nicht gemeldet.“ Erneut stiegen ihr Tränen in die Augen. „Oh Gott, sie riskieren Kopf und Kragen für mich.“

Sie spürte, wie Chas’ Griff um ihre Schulter sich löste. Stattdessen wanderte seine Hand an ihre Wange und umschloss warm ihr Gesicht. Nur Chas konnte so viel Trost in eine so simple Berührung legen. „Weil sie dich lieben“, sagte er leise. „Du würdest das Gleiche für sie tun. Und für die anderen. Oder mich.“

Ein kleines Lächeln stahl sich auf Miras Lippen. „Für dich habe ich schon Kopf und Kragen riskiert.“ Sie schniefte und schob den Gedanken an ihre Eltern mühsam beiseite. „Ich hab frische Verbände. Wie … wie geht es deinem Arm?“

„Fabelhaft“, erwiderte Chas und zog schnell die Hand von ihrer Wange zurück, um die Wunde an seinem Arm zu verbergen. Mira kannte Chas mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass sie die falsche Frage gestellt und den Moment zerstört hatte. Aber sie musste sich um Chas’ Wunde kümmern, ob es ihm gefiel oder nicht.

„Lass mich sehen.“ Ohne auf sein Einverständnis zu warten, griff sie nach seinem Arm und schälte vorsichtig den alten Verband von der verbrannten Haut. Chas protestierte nicht. Er starrte mit zusammengebissenen Zähnen an ihr vorbei und vermied es, seinen Arm auch nur mit einem einzigen Blick zu streifen.

Mira selbst zwang sich, hinzusehen. Sie kannte sich mit Brandwunden nicht aus. Überhaupt hatte sie keine Erfahrung mit Verletzungen jedweder Art. Das Schlimmste, was sie sich je zugezogen hatte, war ein aufgeschürftes Knie gewesen. Vielleicht ließ der Anblick von Chas’ Arm deshalb Übelkeit in ihr aufsteigen. Hätte die Wunde nach so vielen Tagen nicht längst besser aussehen müssen? Müsste sie nicht anfangen zu heilen, neue Haut zu bilden?

„Und?“, knurrte Chas.

Mira schluckte. „Wird schon.“ Sie versuchte, nicht zu atmen, während sie den frischen, weißen Verband um Chas’ Arm wickelte. Im Kontrast sah sie erst, wie schmutzig der alte gewesen war. Eigentlich hätte sie die Wunde desinfizieren müssen, schmerzlindernde Salbe auftragen, kühlen … irgendetwas. Aber sie war schon dankbar, dass sie diesen neuen, sauberen Verband hatten.

„Tut es sehr weh?“, fragte sie, während sie das Ende in zwei Streifen riss und diese fest verknotete.

Chas winselte wegen des plötzlichen Drucks auf seiner Wunde. „Nette Freunde hast du da in Leonardsburg“, knurrte er, während er gereizt blinzelte, weil seine Augen vor Schmerz zu tränen begonnen hatten. „Sehr nette Freunde, die mit diesen Dingern auf Menschen schießen.“

„Das sind nicht meine Freunde.“ Mira biss sich auf die Unterlippe. Jetzt hatte sie sich von Chas provozieren lassen, obwohl sie genau wusste, dass seine Forschheit nichts mit ihr zu tun hatte. Er hatte Schmerzen, und es frustrierte ihn, so eingeschränkt und abhängig zu sein. Und Wut war nun einmal die beste Maske, um solche Gefühle zu verbergen. Schon seit Tagen versteckte er sich dahinter.

„Abgesehen von Filip kenne ich keinen der Wachmänner. Und Filip hat uns beiden das Leben gerettet, falls du dich noch daran erinnerst.“

„Ja, ist er nicht großartig?“, erwiderte Chas, entzog ihr seinen frisch verbundenen Arm und legte sich rittlings auf die niedergedrückten Ähren. Mira wartete noch eine Weile, verletzt von seinen Worten. Dann tat sie es Chas gleich und starrte in den Himmel, der über ihnen immer dunkler wurde.

Chas war manchmal nicht der umgänglichste Reisegefährte und auch nicht die beste Begleitung für den Fall, dass sie aufgegriffen wurden; immerhin war er der flüchtige Sohn des Königs und damit eine Mischung aus Kronprinz und Hochverräter. Aber er war auch der einzige Vertraute, den Mira noch hatte. Sie hatte ihre Familie zurückgelassen, und die Fischerkinder waren gezwungen, getrennte Wege zu gehen. Wenn sie an das Ziel ihrer Reise dachte − das Gefängnis der Hauptstadt Vacabunite, in dem Filip ihretwegen auf seinen Prozess wegen Landesverrats wartete −, war sie dankbar, dass Chas bei ihr war. Seine Wunde mochte sie aufhalten, und seine Launen waren unberechenbar, aber ohne ihn hätte sie niemals den Mut gehabt, ihren Weg fortzusetzen.

Ihre erste richtige Mahlzeit seit Tagen nahmen sie in eisigem Schweigen ein, und als schließlich die Nacht über ihnen hereinbrach, legte Chas sich so weit von ihr entfernt schlafen wie in ihrem kleinen Lager irgend möglich. Es war kein geeigneter Ort für einen Verletzten. Aber Mira hütete sich, irgendetwas dergleichen zu sagen und Chas noch mehr zu verstimmen. Stattdessen rückte sie bis ans jenseitige Ende ihres Lagerplatzes und legte sich mit dem Rücken zu Chas auf den harten Grund.

Sie war noch nicht eingeschlafen, als sie eine Bewegung hinter sich wahrnahm. Zuerst hörte sie nur das Rascheln, und ihre Glieder versteiften sich, bereit, aufzuspringen. Doch dann spürte sie die Berührung an ihrem Rücken: Chas legte sich wortlos hinter sie und bettete den verletzten Arm auf ihre Schulter.

Mira regte sich nicht. Sie versuchte, so ruhig und gleichmäßig wie möglich weiterzuatmen, um Chas nicht wieder zu verscheuchen. Sie wusste nicht, ob er lediglich ihre Nähe suchte oder ob diese Geste vielleicht eine wortlose Entschuldigung für sein grobes Verhalten war. Jedenfalls war es typisch für Chas, nicht viele Worte zu verlieren. Er kam einfach zu ihr. Mira würde keine Fragen stellen. Mit Chas’ Arm auf ihrer Schulter und seiner Wärme im Rücken schlief sie ein.

Klein-Ararat brannte. Der Berg, der den Fischerkindern so lange als sicheres Versteck gedient hatte, das Hüttendorf in seinem Inneren, das hohe Gras, die Bäume − alles stand in Flammen. Das Feuer verschlang den Ort, an dem die geheime, vom Staat gesuchte Gruppe Schutz gefunden und sich getroffen hatte, wo sie Edmunds Geschichten aus der verbotenen Schrift gelauscht, miteinander gesungen und gebetet hatten.

Mira kniff die Augen zusammen, um trotz der sengenden Hitze und Helligkeit etwas sehen zu können. Wo waren die anderen? Wo war Chas, wo der kleine Ari? Hörte sie nicht Skive in der Ferne bellen? Vielleicht waren er und Happy in einer der brennenden Hütten eingeschlossen.

Mira rannte den Trampelpfad in Richtung Hüttendorf hinab. Zu beiden Seiten knackte die Glut im Unterholz. Die Hitze nahm zu. Sie stach auf Miras Haut, brannte in ihrem Gesicht und trieb ihr den Schweiß aus den Poren.

„Edmund!“

Mira riss den Kopf herum. Sie hätte Chas’ tiefe Stimme überall wiedererkannt − auch wenn sie sie noch nie in solcher Panik gehört hatte.

„Edmund!“

Mira stolperte über einen auf den Weg gefallenen Ast. Der Aufschlag auf dem Boden presste die Luft aus ihren Lungen. Die Hitze nahm schlagartig ab. Kalte Luft schlug ihr ins Gesicht, nur etwas Warmes, Unnachgiebiges umfing sie.

Mira riss die Augen auf. Das Hüttendorf war verschwunden und mit ihm das Feuer, der Brandgeruch. Die Feuersbrunst Klein-Ararats machte einer kühlen Nacht in einem Gerstenfeld nahe Cem Platz. Nur die Hitze war noch da. Sie ging von Chas hinter ihr aus, der die Arme schraubstockartig um sie geschlungen hatte.

„Edmund!“ Er drückte sie noch ein wenig fester.

Mira fiel das Atmen in seiner Umklammerung schwer. „Chas“, flüsterte sie. „Chas!“ Nur mühsam konnte sie sich aus seinem Griff befreien. Sie packte seine Arme und schüttelte ihn. „Wach auf, Chas. Es ist nur ein Traum.“

Aber Chas wand sich nur, als stecke auch er in dem Albtraum des brennenden Berges fest, wo er um den Menschen fürchten musste, der ihm von allen am wichtigsten war: Edmund Porter, Anführer der Fischerkinder und für Chas beinahe so etwas wie ein Vater.

Mira schüttelte ihn heftiger, doch Chas schlug ihre Hände beiseite, ohne aus seinem Traum zu erwachen. Erst jetzt, als sie gezwungen war, ihn loszulassen, wurde Mira bewusst, welche Hitze von seinem Körper ausgegangen war. Chas’ Haut glühte, das dunkle Haar war schweißgetränkt, und noch immer murmelte er fiebrig den Namen des väterlichen Buchhändlers. Edmund − wenn er nur da wäre! Er wüsste, was zu tun wäre. Er würde Chas wach bekommen, ihn versorgen, für ihn beten.

„Oh Gott“, murmelte Mira. „Bitte lass ihn aufwachen!“ Die gleiche verzweifelte Bitte wieder und wieder flüsternd, griff Mira nach der noch fast vollen Wasserflasche. Ihre Finger zitterten so sehr, dass sie ihr beim Öffnen aus den Händen glitt und das kostbare Nass in den trockenen Erdboden sickern ließ. Mit dem, was übrig war, tränkte Mira den alten Verband, um damit Chas’ Stirn zu kühlen. Es erschien ihr wenig, was sie tun konnte. Zu wenig. Die Hitze von Chas’ Haut erinnerte Mira an die sengende Glut aus ihrem Albtraum.

„Nein!“ Unwillig schüttelte Chas Mira samt dem feuchten Tuch ab und fuhr hoch. Sogleich entwich ihm ein leiser Schrei, weil er sich dabei auf seinen verletzten Arm gestützt hatte.

Mira versuchte, ihn an den Oberarmen zu packen und wieder zu Boden zu drücken, doch Chas war aufgebracht und stärker als sie. Er schlug ihre Hände so heftig zur Seite, dass Mira zurück auf ihr hartes Lager fiel.

Einen Moment blieb sie liegen und rieb sich den schmerzenden Nacken. Dann schob sich unvermittelt Chas’ erhitztes Gesicht zwischen sie und den Sternenhimmel. Er war so nah, dass sie trotz der Dunkelheit sehen konnte, wie fiebrig seine Augen glänzten. „Mira?“ Er schüttelte sie unsanft. „Bitte, Mira! Wir müssen hier weg, wir müssen …“

Hastig richtete Mira sich auf und wurde sogleich von Chas in eine knochenbrechende Umarmung gezogen. „Es geht dir gut“, murmelte er heiser in ihr Haar. „Es geht dir gut. Es geht dir gut. Aber … Edmund! Wir müssen …“

„Chas.“ Mira versuchte, sich aus seiner Umklammerung zu befreien. „Du tust mir weh. Chas!“ Endlich schaffte sie es, seine Arme abzustreifen. Dankbar, die kühle Nachtluft wieder zu spüren, rang sie einen Moment nach Atem. „Es war nur ein Traum, Chas“, keuchte sie. „Wir sind in Sicherheit.“

Chas’ Augen huschten hastig hin und her, als suche er nach etwas, das ihre Worte widerlegte. „Und Edmund?“

Langsam, als würde sie mit einem Kind sprechen, sagte Mira: „Edmund ist nicht hier. Aber ich bin sicher, ihm geht es auch gut.“ Wenn das nur um alles in der Welt die Wahrheit war!

„Und dir auch“, stellte Chas unnötigerweise fest und fuhr sich über die schweißnasse Stirn. Immer noch machte er einen desorientierten Eindruck. So verloren sah er aus, dass Mira die Arme um ihn schlang und seinen vor Fieber glühenden Körper an sich drückte.

„Mir auch“, flüsterte sie an seiner Schulter. „Und du kommst auch wieder in Ordnung. Hörst du?“

Chas reagierte nicht auf ihre Frage. Er ließ seine gesunde Hand fahrig ihren Rücken auf und ab wandern. Die Berührung war ihr unangenehm. Seit dem Tag ihrer Flucht aus Leonardsburg gab es immer wieder solche Momente inniger Nähe zwischen ihnen. Dabei hatten sie nie über den Kuss und das, was er eigentlich für sie bedeutete, geredet. Und diese unausgesprochene Sache machte die Vertrautheit zwischen ihnen so kompliziert.

In seinen Fieberfantasien gefangen, schien es Chas allerdings gar nicht zu kümmern, und er hielt Mira zu fest, als dass sie ihn hätte abschütteln können. „Ich dachte … Es war nur ein Traum, ja?“

„Ja.“

„Aber …“ Er schluckte. „Aber wenn dir etwas passiert wäre … ich hab mich noch gar nicht richtig bedankt.“

Wenn sein Zustand ihr nicht solche Angst gemacht hätte, hätte Mira gelacht. Morgen würde Chas sich in Grund und Boden schämen für die Dinge, die er im Fieberwahn gesagt hatte. Er war niemals rührselig, und obwohl sein Verhalten irgendwie niedlich war, war es das, was Mira am meisten alarmierte. Mehr noch als die unnatürliche Hitze, die von seinem Körper ausging, oder der glasige Blick.

„Ich hab dir nie gesagt, dass du … du bist wundervoll“, krächzte Chas, ohne die Umarmung zu lösen.

„Chas, nein …“ Sie musste ihn aufhalten. Sie wollte mit ihm über das sprechen, was da zwischen ihnen war. Aber doch nicht so! Er würde jedes Wort morgen bitter bereuen.

„Doch, das bist du. Und so wunderschön. Wie … was soll ich machen, wenn dir etwas passiert? Ich kann nicht ohne dich … ich kann nicht nach Amerika gehen.“

Endlich zog Mira sich aus seiner Umarmung zurück. „Du solltest schlafen, Chas“, sagte sie sanft, aber bestimmt. Er wusste nicht, was er da redete. Nicht nach Amerika? Der Wunsch, dieses Land zu verlassen, trieb Chas an, solange sie ihn kannte, auch wenn sie das am Anfang nicht geahnt hatte. Er wollte nach Amerika zurück, seit sein Vater, König Auttenberg, ihn während der politischen Unruhen dort in Sicherheit gebracht hatte. Nur dort würde er frei und sicher sein. Frei von den Erwartungen seines Vaters und sicher vor den Konsequenzen seiner Flucht aus dessen Residenz, seines Verrates am eigenen Land. Chas musste das Land verlassen. Das wusste Mira so gut wie er.

„Komm schon.“ Sie zwang ihn mit sanfter Gewalt, sich wieder auf das Lager aus platt gedrückten Gerstenhalmen zu legen.

Seine gesunde Hand hielt sie an der Bluse fest. „Bleibst du hier?“

„Natürlich.“ Sie ließ sich widerstandslos an seine Seite ziehen, obwohl die Heftigkeit seiner Umklammerung und die Hitze seines Körpers ihr Unbehagen verursachten.

Was geschah mit Chas? War es die Verletzung an seinem Arm, die einfach nicht heilen wollte? Hatte sie sich entzündet? Mira wusste nichts über Brandwunden, hatte keine Ahnung, ob das Fieber daher rühren konnte, und noch weniger, was zu tun war, um es zu stoppen. Woher sollte sie Medizin für Chas bekommen? Selbst wenn sie die nötigen Sonderrationskarten hätte und wüsste, welches Medikament er brauchte, konnte sie nicht einfach in ein staatliches Gesundheitszentrum gehen und es für ihn besorgen. Nicht ohne ärztliche Zustimmung. Und kein Arzt würde ihr die geben, ohne Chas zuvor angesehen zu haben. Aber Chas ansehen − das ging nicht. Er hatte kein Ausweisband, er existierte offiziell überhaupt nicht. Und das war noch besser als die andere Wahrheit. Besser ein Vergessener ohne Identität als Nicholas Auttenbergs Sohn. Der verschwundene Kronprinz. Ein Verräter.

Miras Gedanken drehten sich im Kreis und ließen sie keinen Schlaf mehr finden. Die glühende Hitze von Chas’ verkrampftem Körper tat ihr Übriges. Sie konnte nur wieder und wieder die gleichen Überlegungen und Gedanken wälzen und lautlos beten.

Irgendwann wurde Chas’ Atem ruhiger und sein Griff lockerer. Aber Mira machte kein Auge mehr zu.

Am nächsten Morgen bereute Chas seine Worte nicht. Mira war sich ziemlich sicher, dass er sich nicht einmal an sie erinnerte. Zwar bekam sie ihn nach einigem Rütteln und gutem Zureden wach, doch schien er ihr sehr weit weg. Fast vermisste sie seine Ruppigkeit, mit der er jeder Art von Fürsorge begegnet war, solange sie nun schon unterwegs waren. Wenigstens hatte sie dabei den Eindruck gehabt, dass er auf dem Wege der Besserung war. Nun war er kaum ansprechbar. Er starrte nur apathisch vor sich hin, und wenn er sprach, dann mit schleppender Stimme und ohne jeden Zusammenhang.

Mira wusste keinen anderen Weg, als den Plan, der in den vielen Stunden des Wachliegens in Chas’ fiebriger Umarmung in ihr gereift war, in die Tat umzusetzen.

„Hör zu, ich muss dich an einen sichereren Ort bringen“, erklärte sie Chas unnötigerweise. „Weißt du noch, wir haben doch den Schrottplatz gesehen, als wir hier angekommen sind, und überlegt, dort unser Lager aufzuschlagen.“ Es schien ihn nicht großartig zu interessieren. Er lag auf der Seite wie ein verwundetes Tier, die Augen zwar geöffnet, den Blick jedoch glasig ins Nichts gerichtet oder auf irgendetwas, das nur er sehen konnte. Klein-Ararat vielleicht oder Edmund. Mira wusste es nicht.

Es war nicht leicht, Chas in eine stehende Position zu hieven. Er war schwerer, als seine drahtige Statur vermuten ließ, und machte nicht die geringsten Anstalten, mitzuhelfen und ihr ein wenig des Gewichts abzunehmen.

Mira erinnerte sich daran, wie sie Ari nach dem verheerenden Feuer in den Armenvierteln den ganzen Weg bis nach Klein-Ararat getragen hatte. Aber Ari war ein unterernährter Siebenjähriger. Chas dagegen überragte sie um einen halben Kopf und machte es ihr fast unmöglich, ihn aus dem Gerstenfeld zu schleifen, ohne verräterische Spuren zu hinterlassen.

„Bitte“, keuchte Mira, als sie endlich am Rand des Feldes angekommen waren. „Bitte, Chas, du musst dich zusammenreißen. Nur für ein paar Minuten.“ Ihre Kehle brannte, und ein paar vereinzelte kalte Tränen rannen über ihr erhitztes Gesicht. „Wenn sie uns erwischen … Chas!“

Sie drohte unter seinem Gewicht einzuknicken, als Chas’ Blick sich auf ihr verzweifelt verzogenes Gesicht fokussierte. „Nicht weinen“, krächzte er.

Ein erleichtertes Lachen zwang sich aus Miras Kehle. Zum ersten Mal an diesem Morgen nahm Chas sie wirklich und wahrhaftig wahr. „Du musst mithelfen, Chas“, sagte sie eindringlich. „Es ist nicht weit, aber alleine schaffe ich es nicht.“

Chas antwortete nicht, doch er setzte sich, schwer auf ihre Schultern gestützt, langsam in Bewegung. Mira sah, wie viel Mühe es ihn kostete, wie er um jeden Schritt, jeden Atemzug rang. Aber gemeinsam schafften sie es bis zu dem Platz, den Mira im Sinn hatte. Er war näher an der Stadt als ihr Lager im Gerstenfeld, aber gut geschützt und viel schneller zu erreichen. Kein vernünftiger Mensch würde einen Fuß auf das heruntergekommene Gelände voller rostiger Autowracks setzen. Zerbeulte Metallruinen mit glaslosen Fenstern und zerkratztem Lack drängten sich dicht an dicht, waren zu ganzen Türmen und Bergen angehäuft, die keinen allzu stabilen Eindruck machten.

Obwohl sie unter Chas’ Gewicht alle Kraft für den Rest des Weges brauchte, konnte Mira nicht umhin, die plumpen Fahrzeuge neugierig zu betrachten. Kaum zu glauben, dass früher nahezu jede Familie, wenn nicht jeder Mensch, ein solches Ungetüm besessen hatte und damit herumgefahren war. Weite Strecken sogar, weiter, als sie je in ihrem Leben gereist war, weiter als die Grenzen ihres Landes.

Nach Verbot des Imports hatten die Menschen die antriebslosen Maschinen auf Geländen außerhalb der Städte gesammelt. Ohne Benzin, ohne Erdgas, ohne irgendwelche derartigen Rohstoffvorkommen im eigenen Land waren sie nutzlos geworden. Das Metall freilich war anfangs noch wiederverwendet worden, aber mittlerweile hatte der Rost die Oberhand gewonnen. Das Gelände am Rande von Cem war verlassen, die Autowracks wurden Wetter und Verfall überlassen. Mit einem klammen Gefühl in der Magengrube musste Mira an einen Friedhof denken.

Hinter einem einigermaßen standfest aussehenden Berg aus Karosserien und Reifen ließ Mira Chas zu Boden sinken. Sein Hemd war von der Anstrengung schweißgetränkt, das schwarze Haar klebte ihm nass und schmutzstarr an der Stirn, und sein Blick war wieder ins Nichts gerichtet.

„Danke“, flüsterte Mira, halb an ihn, halb an Gott gewandt, und wischte sich selbst den Schweiß von der Stirn. Ihre Beine fühlten sich an, als wollten sie ihr jeden Moment den Dienst versagen, und sie gab dem Drang nach, sich ebenfalls kurz zu setzen. Sie trocknete mit ihrem Ärmel Chas’ Stirn ab und suchte nach seinem Puls, aber mehr als dessen rasendes Klopfen beunruhigte sie die immer noch unnatürliche Hitze seiner schweißnassen Haut.

„Du musst durchhalten.“ Mira schluckte. Sie hatte nur eine vage Vorstellung davon, was Chas fehlte, und keine Ahnung, welche Medikamente er brauchte. Aber welche Wahl hatte sie? Einfach hierzubleiben war keine Option. Sie konnten nicht länger abwarten und darauf hoffen, dass Chas von selbst wieder zu Kräften kommen würde. Und dann war da ja auch noch Filip, für den mit jedem Tag der Prozess näher rückte. Doch fortsetzen konnten sie ihren Weg nicht. Das würde Chas nicht schaffen. Und zurücklassen konnte Mira ihn auf keinen Fall. Schon gar nicht in diesem Zustand.

Also was hätte sie tun sollen? Sie konnte nicht tatenlos abwarten, während Chas immer schwächer wurde. Ihr Vorhaben war wahnwitzig, einen besonders guten Plan hatte sie nicht. Sie wusste noch nicht einmal, wie genau sie es anstellen wollte. Aber eines wusste sie mit Sicherheit: Sie musste es versuchen.

Chas regte sich nicht mehr. Entweder er war vor Erschöpfung eingeschlafen, oder er hatte das Bewusstsein verloren. Aber das war ihr recht. So konnte er wenigstens nicht fragen, wohin sie ging und was sie vorhatte.

Kapitel 2

In der Falle

Das Gesundheitszentrum war eine Festung. Mira hatte den gesamten Morgen und einen Großteil des Nachmittags damit zugebracht, das Gebäude und das rege Treiben außen herum zu beobachten. Da gingen wichtig aussehende Staatsgesundheitsbeamte ein und aus, wurden Kranke gebracht, Spaziergänge in Krankenhauskluft unternommen, Lebensmittel geliefert und Müllsäcke abgeholt.

Mira suchte seit Stunden fieberhaft nach einer Schwachstelle. Blieb die Tür hinter einem der Beamten länger als nötig offen, sodass sie hindurchhuschen konnte, ohne ihr Armband zu scannen? Gelangte jemand durch den Besuchereingang, ohne von der Frau hinter dem Schalter aufgehalten zu werden? Blieb der Lieferanteneingang unbeaufsichtigt offen stehen? Aber nichts davon war der Fall.

Mira überlegte, was die Helden in ihren Lieblingsromanen an ihrer Stelle getan hätten. Sich als Staatsgesundheitsbeamter ausgegeben vielleicht, eine Krankheit vorgetäuscht und sich selbst im Gesundheitszentrum aufnehmen lassen, um nachts aus dem Zimmer zu schleichen. Ein Fenster eingeschlagen, den Feueralarm ausgelöst, einen Tunnel gegraben. Aber all diese Ideen, die in Büchern so gut funktionierten, erschienen Mira für die Realität zu kurzsichtig. Zu viel konnte schiefgehen, zu viel stand auf dem Spiel. Mira konnte nicht riskieren, erwischt und eingesperrt zu werden.

Als es schließlich dämmerte, saß Mira immer noch auf einem Stein im Hinterhof und sprang jedes Mal in die Büsche hinter sich, wenn sich etwas regte. Doch auch das wurde seltener. Der geschäftige Tagesbetrieb hatte schon vor Stunden ein Ende gefunden. Die Besucher waren gegangen. Dort drinnen, hinter den hell erleuchteten Fenstern, wurden jetzt vermutlich Kranke versorgt, bekamen Brot und Suppe zum Abendessen, um wieder zu Kräften zu kommen, nahmen Medikamente ein und schliefen in weichen Betten.

An so einen Ort gehörte Chas. Nicht auf einen rostigen, schmutzigen Autofriedhof. Vielleicht war es dumm von Mira, ihn jetzt noch zu decken. Was, wenn er starb? Würde es wirklich so schlimm sein, wenn seine wahre Identität ans Licht käme? Ein Skandal wäre es natürlich − verschwundener Kronprinz wieder aufgetaucht! Aber konnten sie ihn wirklich als Verräter anklagen? Er war immerhin Nicholas Auttenbergs Sohn! Vielleicht sollte sie ihn einfach zum Gesundheitszentrum bringen. Chas hatte weder Kraft, Fragen zu stellen, noch, sich zu wehren. Und vielleicht rettete es ihm das Leben.

Je länger sie darüber nachdachte, desto sinnvoller erschien ihr diese Idee. Sie hatte keine Ahnung, wie man einen Kranken richtig versorgte − zumal sie nur eine vage Vermutung hatte, was Chas fehlte und dass das Fieber von einer Infektion seiner Wunde herrühren musste. Es sah auch nicht so aus, als hätte Gott vor, ihre verzweifelten Gebete zu erhören und ihr Zugang zu den Medizinvorräten des Zentrums zu verschaffen. Vielleicht weil er wusste, dass Chas dort draußen keine Chance hatte.

Mira erhob sich und streifte sich Staub und Steinchen von der Kleidung, da ließ das Knirschen von Reifen auf Asphalt sie zusammenschrecken. Abgesehen davon, bog der elektrische Lieferwagen nahezu lautlos in den Hinterhof ab. Miras angespannter Körper reagierte schneller als ihr müde gewordenes Gehirn: Sie sprang zurück in ihren Unterschlupf.

Aus dem sicheren Versteck hinter den Büschen beobachtete sie, wie ein glatzköpfiger Mann ausstieg und pfeifend den Laderaum öffnete. Er verschwand in dessen Innerem und schleppte bald darauf einen Stapel Holzkisten die Laderampe hinunter. Durch die Lücken zwischen den Latten konnte Mira silberne Dosen erkennen. Konserve an Konserve stapelten sich Lebensmittel in den Kisten.

Wenigstens das konnte sie tun. Chas würde all seine Kräfte für den Transport zum Gesundheitszentrum brauchen. Und Mira auch, denn wenn sein Zustand sich nicht auf wundersame Weise verbessert hatte, würde sie ihn wieder mehr tragen als stützen müssen. Ihnen beiden würde eine richtige Mahlzeit guttun.

Mira wartete, bis der Glatzköpfige mit den Kisten sein Armband gescannt hatte und durch den Lieferanteneingang verschwunden war. Noch während sich die Türen hinter ihm schlossen, schoss sie aus ihrem Versteck und geradewegs auf den weißen Lieferwagen zu. An den offenen Türen schlug ihr der berauschende Duft frischen Brotes entgegen. Schwindlig vom bloßen Gedanken daran, kletterte sie in den Laderaum.

Der schmale Durchgang war mit deckenhoch gestapelten Kisten und Boxen gesäumt. Und auf jeder einzelnen klebten Etiketten, deren Aufschrift Miras Magen zum Knurren brachte: „Eingelegte Pfirsiche“, „Laugengebäck“, „Essiggurken“, „Marmelade + Apfelmus“, „Fruchtsaft“, „Mehl“, „Zucker“ und „Räucherschinken“.

Mira zwängte sich zwischen die Stapel aus verpackten Lebensmitteln und riss den erstbesten Karton auf. Er war bis zum Rand mit kleinen Papiertütchen voller Milchpulver gefüllt. Mira griff mit beiden Händen hinein und stopfte sich ein gutes Dutzend davon in die Hosentaschen, ehe sie den nächsten Karton öffnete. Und dann den nächsten. Sie belud ihre Arme mit allem, dessen sie habhaft werden konnte: Konserven mit Bohnen, Pfirsiche und Brot − es war ihr egal, ob irgendetwas davon zusammenpasste.

Als sie beim besten Willen nicht mehr tragen konnte, erschrak Mira vor sich selbst. Sie hatte nicht gewusst, wie sehr Hunger einem Menschen zusetzen konnte. Aber nach Tagen mit nichts oder kaum etwas im Magen waren ihr beim Anblick des vielen Essens sämtliche Sicherungen durchgebrannt. Sie hatte wie im Rausch Lebensmittel zusammengerafft und gar nicht auf die Zeit geachtet, die sie sich schon im Inneren des Lieferwagens befand.

Draußen schepperte es. Vor Schreck ließ Mira beinahe ihre Beute fallen.

„Der Rest kommt nach hinten in Lagerraum 3. Fahr rein!“, brüllte eine Männerstimme draußen, und zu Miras Entsetzen näherten sich nur einen Augenblick später knirschende Schritte. Sie wich an die Wand hinter ihrem Rücken zurück, so tief in eine der Lücken zwischen den Kistenstapeln wie nur irgendwie möglich. Aber die Tür am Ende des Lieferwagens hatte sie nach wie vor im Blick. Der Glatzköpfige erschien zwischen den offenen Türflügeln. Mira hielt den Atem an und schickte ein Stoßgebet nach dem anderen zum Himmel. Er durfte sie nicht sehen. Er durfte sie einfach nicht sehen. Aber es war ein Ding der Unmöglichkeit, dass er es nicht tat.

Der Glatzkopf kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf. Dann griff er mit beiden Händen nach den Türen und zog sie mit einem heftigen Ruck zu.

Dunkelheit und Stille umhüllten Mira. Ihr eigener Herzschlag kam ihr unnatürlich laut vor, und sie wagte nicht, sich auch nur einen Millimeter zu bewegen.

Draußen schepperte es wieder, und mit einem sanften Vibrieren erwachte der Lieferwagen unter ihr zum Leben und setzte sich fühlbar in Bewegung.

Endlich fiel die Starre von Mira ab. Lauter, als es vermutlich klug war, ließ sie die gesammelten Lebensmittel in eine der aufgerissenen Kisten sinken. Möglicherweise konnte sie die Türen von innen öffnen und entkommen. Vielleicht …

Mira hielt in der Bewegung inne, als die Erkenntnis durch die Panik zu ihr hindurchsickerte: Sie steckte nicht in der Falle. Jedenfalls nicht ausschließlich. Sie befand sich auch auf dem Weg hinter die unüberwindbaren Mauern der Festung.

Woher wussten die Helden in Romanen immer, wann der richtige Moment für den tollkühnen Sprung ins Ungewisse da war? Mira lauerte in der Dunkelheit des Lieferwagens, während ihre Gedanken sich überschlugen. Sollte sie die Tür aufstoßen und hinausspringen? Aber was, wenn sie mitten in eine Halle voller Menschen platzte? Sollte sie warten, bis der Glatzköpfige die Türen öffnete? Aber wie sollte sie dann an ihm vorbei nach draußen gelangen? Was, wenn er den Laderaum betrat und ihr den Weg zur Tür versperrte?

Wie sollte sie das entscheiden? Ein falscher Schritt, ein unüberlegter Atemzug, und alles flöge auf. Es stand zu viel auf dem Spiel, um es einfach darauf ankommen zu lassen!

„Zeig mir den richtigen Moment“, betete sie. Konnte Gott nicht eine Kiste geradewegs von ihrem Stapel fallen lassen, als Zeichen, dass die Luft jetzt rein war? Mira starrte die Kartons an, während das Klopfen ihres eigenen Herzens ihr in den Ohren dröhnte. Aber nichts geschah.

Um ganz genau zu sein, überhaupt nichts. Es blieb totenstill um den Lieferwagen. Der Motor war abgestellt worden, alle Schritte, alles Scheppern, alle Geräusche waren verstummt.

Es kostete Mira eine gefühlte Ewigkeit in der beengenden, stillen Dunkelheit, um endlich ganz sicher zu sein: Sie war alleine. Jetzt oder nie musste sie es wagen, die Türen zu öffnen, um zu entkommen.

„Bitte, bitte lass sie nicht verschlossen sein!“ Mira drückte eine schwitzige Handfläche gegen das Metall, und die Tür gab unter dem Druck nach.

Im ersten Moment brannte das helle Licht mehrer Neonröhren zu sehr in Miras Augen, als dass sie sich hätte umsehen können. Dann suchte sie die Umgebung hastig mit ihren Blicken ab. Eine Lagerhalle, klein, unordentlich und verlassen.

Auf zittrigen Knien ließ Mira sich aus dem Laderaum gleiten, verschloss die Türen hinter sich und sah sich ausgiebig um. Das metallene Tor zum Hof war wieder fest verriegelt. Zwei weitere Türen mündeten in den Lagerraum. Türen, die tiefer in das Gesundheitszentrum führen mussten. Mira befand sich hinter den feindlichen Linien. Jetzt musste sie nur noch den Ort finden, an dem die Medikamente aufbewahrt wurden.

Ihre Schritte, sich öffnende und schließende Schranktüren, ihre eigenen Atemzüge − alles hallte unnatürlich und viel zu laut in Miras Ohren. Über ihrem Kopf flackerte eine Neonröhre und ließ ihre Bewegungen bizarre Schatten auf den Betonboden werfen.

Sie hatte jedes Gefühl dafür verloren, wie lange sie sich schon im staatlichen Gesundheitszentrum befand und wie viele Räume sie bereits vergeblich durchkämmt hatte, an jeder Tür mit klopfendem Herzen innehaltend und auf Stimmen auf der anderen Seite lauschend.

Mira stürzte zu einer weiteren Reihe spindähnlicher Schränke und riss mit zittrigen Fingern einige Türen und Schubladen auf. Ordentlich gefaltete Handtücher und Bettlaken stapelten sich auf den Regalbrettern, ein Sammelsurium aus offenbar ausrangiertem, staubigem Geschirr im nächsten Fach.

Warum eigentlich war sie hier unten noch niemandem begegnet? Bei dem geschäftigen Treiben, das sie durch die Fenster in den oberen Stockwerken beobachtet hatte, war es ein Wunder, dass sie noch nicht entdeckt worden war. Sie hatte das Gefühl, ihr Glück nicht überstrapazieren zu dürfen. Aber sie konnte nicht einfach gehen. Nicht ehe sie nicht wenigstens irgendetwas gefunden hatte, das Chas helfen konnte.

Mit beunruhigend laut dröhnenden Schritten hastete sie zu einer Tür und riss sie auf. Dahinter erstreckte sich im Halbdunkel ein weiterer Raum voller Schränke. Als Mira einen davon aufzog, musste sie sich die Faust auf die Lippen pressen, um keinen Triumphschrei auszustoßen. Feinsäuberlich einsortiert lagerten darin Infusionen, Tabletten, Säfte und Tinkturen. Etiketten auf den Regalböden wiesen aus, mit was sie es zu tun hatte. Mira las einige davon und versuchte, irgendwie schlau aus den medizinischen Fachbegriffen zu werden. Irgendetwas, das sie vielleicht einmal in einem Buch gelesen hatte, musste ihr doch weiterhelfen! Was wirkte fiebersenkend, desinfizierend, irgendwie kräftigend? Brauchte Chas ein Antibiotikum, und wenn ja, welches? Oder Schmerztabletten?

Ein Geräusch draußen im Lagerraum ließ Mira zusammenfahren. Sie sah sich hektisch nach einem Versteck um, aber der Raum war leer bis auf die Schränke. Ihr blieb keine Zeit!

Wie zuvor im Lieferwagen raffte sie mit beiden Händen zusammen, was sie irgendwie in ihre Taschen stopfen konnte. Schächtelchen mit Pillen oder Tinkturen, Fläschchen, Dosen, Ampullen − was sie in die Finger bekam. Sie fand sogar ein paar Rollen Verbände und Kompressen, die sie sich aus Mangel an weiterem Stauraum in den Hosenbund klemmte.

Sie schaffte es gerade noch, ihre Bluse über die verräterischen Ausbeulungen zu zerren, ehe die Tür aufgestoßen wurde.

Für einen Moment starrte der Mann im Türrahmen sie einfach nur an, und Mira starrte zurück, als wären sie sich unschlüssig, wer schockierter über den Anblick des jeweils anderen war. Dann riss Mira sich aus der Erstarrung und stürzte blindlings los.

Der Mann war so verdutzt, dass sie es beinahe an ihm vorbeigeschafft hätte. Aber nur beinahe. Im letzten Moment hechtete er zwischen sie und ihren Fluchtweg. Mira geriet ins Straucheln. Die wenigen Sekunden, die sie brauchte, um ihr Gleichgewicht wiederzufinden, reichten aus. Der Mann ergriff ihre Oberarme und hielt sie fest.

„Patienten haben hier unten nichts verloren.“ Er musterte Mira mit zusammengekniffenen Augen. Dann, viel ruhiger und langsamer, als würde er mit einem Kleinkind sprechen, fragte er: „Auf welche Station gehörst du denn?“

Verunsichert erwiderte Mira seinen Blick. Ihr Atem hatte sich noch nicht wieder beruhigt, und sie konnte nicht umhin, immer wieder hastig in Richtung Ausgang zu sehen.

Der Griff des Mannes um ihre Arme lockerte sich, in seinem Gesicht lag jetzt unverkennbar Besorgnis. „Ich wollte dich nicht erschrecken. Hast du dich verlaufen?“ Immer noch sprach er sehr langsam.

Endlich dämmerte es Mira. Der Mann hielt sie für geistig verwirrt, für psychisch krank oder körperlich so erschöpft, dass sie nicht bei klarem Verstand war. Kein Wunder: Sie musste in ihrer Panik über sein plötzliches Auftauchen völlig wahnsinnig ausgesehen haben.

„Ähm …“, machte sie, um endlich auf seine Fragen zu reagieren. Was sollte sie sagen? Hinter ihrer Stirn jagten sich die Gedanken.

„Ich bringe dich nach oben, ja?“

„Ähm“, machte Mira noch einmal dümmlich und beschloss in Sekundenbruchteilen, dass sie mitspielen musste. Nur so konnte sie noch unbeschadet aus der Sache herauskommen. Vielleicht sogar mit den Medikamenten für Chas.

„Ich hab mich verlaufen.“ Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Alles in ihr war in Alarmbereitschaft. Dennoch gab sie sich alle Mühe, arglos und verloren auszusehen.

Während er sie am Arm aus dem Lagerraum in ein Treppenhaus führte, betrachtete Mira den Mann aus dem Augenwinkel. Er war dick, mit kräftigen Oberarmen und großen, fleischigen Händen. Den weißen Kittel eines Staatsgesundheitsbeamten trug er nicht.

„Weißt du, wie dein Pfleger heißt?“, fragte er freundlich, während er Mira die Treppe hinaufbugsierte.

„Nein.“ Es hatte keinen Sinn, einen Namen zu erfinden. Diese Tarnung würde allzu schnell auffliegen. Schneller noch als die der ahnungslosen Geistesverwirrten. „Irgendetwas mit M … oder N. Vielleicht war es auch P. Ich weiß nicht mehr.“

„Na, auch nicht so schlimm.“ Sie hatten den oberen Treppenabsatz erreicht und betraten ein geräumiges Foyer. Am anderen Ende konnte Mira den unbesetzten Empfang und die verschlossenen Schiebetüren sehen, die auf den Vorplatz hinausführten. Den ganzen Tag über hatte sie die Eingänge von außen betrachtet und überlegt, wie sie hineinkommen sollte. Jetzt hätte sie einiges dafür gegeben, wieder dort draußen zu sein. Mit den Medikamenten natürlich.

Der Dicke schob sie behutsam weiter. „Das werden wir gleich haben“, versicherte er. „He! Ihr da, macht euch hier mal nützlich!“

Miras Herz setzte einen Schlag aus. Auf den Ruf ihres Begleiters hin traten zwei Wachmänner aus einer Nische bei den Türen und eilten zu ihnen.

„Wir brauchen jemanden mit einem Scanner. Die junge Dame hier hat sich verlaufen und findet ihre Station nicht mehr.“

Miras rechte Hand umschloss fast automatisch das Band an ihrem linken Handgelenk. Sie wollte einen Schritt zurückmachen, stieß aber gegen den Bauch des Mannes, der sie heraufgebracht hatte.

Die Wachmänner musterten sie. Einer der beiden hatte so stechend blaue Augen, dass Mira das Gefühl hatte, von seinem Blick regelrecht durchleuchtet zu werden.

„Sind Sie völlig bescheuert?“, blaffte er den Mann hinter Mira an. „Das ist keine Patientin. Sie trägt ja Straßenkleidung. Schmutzige noch dazu.“ Seine Hand schnellte nach vorne und entriss Mira dem fürsorglichen Griff des Dicken. „Was hast du hier drinnen zu suchen, hm?“ Schmerzhaft zerrte er an ihren Armen und drehte die Handflächen nach oben. „Einen Besucherstempel hast du auch nicht. Wie bist du hier hereingekommen? Los, spuck es aus!“

„Aber, aber“, fuhr der Mann hinter Mira dazwischen, ehe diese antworten konnte. „Das ist doch kein Grund, so grob zu werden.“

„Wer hat dich gefragt? Was bist du? Eine Putzkraft? Lagerarbeiter?“ Er schnaubte. „Geh wieder an deine Arbeit und lass mich meine machen. Du bist wohl zu blöd, um eins und eins zusammenzuzählen. Die Kleine ist hier eingebrochen. Wir nehmen sie mit.“

Nun konnte Mira nicht mehr an sich halten. Sie vergaß sogar ganz, dass sie eben noch harmlos und verwirrt hatte wirken wollen. „Nein!“ Sie entriss ihre Arme dem Griff des Wachmanns und rannte blindlings auf die Türen zu. Der dicke Mann war so verdutzt von dieser plötzlichen Anwandlung, dass auch er sie einfach losließ.

Sie konnte kaum fassen, dass sie die Türen wirklich erreichte. Waren die Wachmänner so langsam oder sie in ihrer Panik so schnell? Sie hatte keine Zeit, sich umzusehen. Mit beiden Händen packte sie die Türgriffe und schob. Hinter ihr lachte einer der Wachmänner. Ihre Tatenlosigkeit machte schlagartig Sinn. Die Türen waren verschlossen.

„Nein!“, brüllte Mira erneut. Sie holte mit dem Fuß aus, um das Glas notfalls zu Bruch zu bringen. Sie musste zu Chas, musste einfach. Er brauchte Hilfe, brauchte sie! Seine im Fieberwahn gesprochenen Worte hallten ihr noch in den Ohren. Was, wenn ihr etwas zustieße? Was würde dann aus ihm werden?

Ehe ihr Fuß das Glas traf, hatten die beiden Wachmänner sie nun doch erreicht. Sie banden ihr die Hände auf dem Rücken zusammen und stopften ihr aus Mangel an Alternativen ein Knäuel Taschentücher in den Mund.

„Wir bringen sie in die Staatsjustiz. Die sollen sie einsperren, bis sie sich beruhigt hat.“

„Was, wenn noch mehr von ihnen eingedrungen sind?“, fragte der andere Wachmann.

„Ich gebe Durchsuchungsbefehl. Haltet alle Ausgänge verschlossen“, wies er den dicken Mann an, der immer noch regungslos an den Türen zum Treppenhaus stand.

„Aber …“, stammelte er. „Meine Güte, ich verstehe nicht, warum man in ein staatliches Gesundheitszentrum einbrechen sollte. Sie ist nicht einmal eine Illegale.“ Er nickte zu Miras gefesselten Händen. „Sie hat ein Armband.“

„Das ist nicht deine Sorge. Das sollen die Justizleute herausfinden“, erwiderte einer der Wachmänner, ohne Mira aus den Augen zu lassen. „Aus dem Mädchen bringst du heute kein Geständnis mehr heraus. Die ist ja völlig außer sich.“ Er betätigte einen Schalter rechts der Türen, und mit einem leisen Surren schoben sie sich auf. So einfach. Mira hätte sich ohrfeigen können.

Den ganzen Weg über den Vorplatz und schließlich die Straße hinab wand sie sich in ihren Fesseln und trat nach den beiden Wachmännern. Sie versuchte trotz des Knebels zu schreien und jemanden auf sich aufmerksam zu machen. Sie machte es den beiden so schwer, sie mit sich zu zerren, dass einer von ihnen sie kurzerhand wie einen Sack Kartoffeln auf die Schulter hievte und sie trug. Ein Teil ihrer kostbaren Schmuggelware rutschte aus seinem Versteck und fiel zu Boden. Mira rechnete damit, dass die Wachmänner sie nun durchsuchen und ihr all ihr Diebesgut abnehmen würden, doch sie hatten es noch nicht einmal bemerkt. Hoffentlich war das verlorene Medikament nicht ausgerechnet dasjenige, das Chas brauchte.

Abermals bäumte Mira sich gegen ihre Fesseln auf. Nicht einmal die verbleibenden Packungen in ihren Taschen würden Chas helfen, wenn sie nicht freikäme, um sie ihm zu bringen.

Also kämpfte Mira weiter. Die Fesseln schnitten in ihre Handgelenke, und durch die Taschentücher in ihrem Mund bekam sie kaum noch Luft, doch sie ließ nicht locker. Sie musste zurück zu Chas. Ob mit oder ohne Medikamente, alleine hatte er keine Chance. Sie hatte ihn gut versteckt. Zu gut. Auf dem Autofriedhof würde niemand ihn finden. Niemand könnte ihm helfen.

Dass sie das Staatsjustizgebäude erreicht hatten, bemerkte Mira erst, als der Wachmann, der sie getragen hatte, sie unsanft direkt vor dessen Eingangstür absetzte. „Und jetzt ist Schluss mit dem Theater“, knurrte er und zog sie mit sich hinein. Dann vermeldete er: „Einbruch im Staatsgesundheitszentrum.“

Es musste kurz nach Ausgangssperre sein. Nur eine einzige Wachfrau saß im Justizgebäude und sortierte Unterlagen.

„Sperrt sie zu den anderen“, erwiderte sie mit einem flüchtigen Blick auf Mira gelangweilt. „Wir kümmern uns morgen darum.“

„Sie hat ein Armband.“

„Das hat sie morgen auch noch. Wir kümmern uns darum.“

„Sollten wir nicht ihre Identität …“

„Bei der Verfassung!“ Die Wachfrau knallte die Unterlagen auf die Tischplatte. „Nun sperrt sie schon ein. Und nehmt ihr den Knebel ab, ehe sie daran erstickt. Sie ist schon ganz rot.“

Die Wachmänner erwiderten nichts. Eine Tür wurde aufgeschlossen und Mira hindurchgeschubst. Ohne dass jemand ihre Fessel durchschnitt oder die Taschentücher aus ihrem Mund entfernte, knallte die Tür hinter ihr ins Schloss.

Mira wollte sich gerade dagegenwerfen, als im Dunkel hinter ihr Gemurmel laut wurde.

„… noch jemanden gebracht.“

„Ein Mädchen.“

„Sie ist geknebelt.“

Ein Paar weicher Hände nahm ihr den Knebel aus dem Mund und versuchte, sie festzuhalten. Aber Mira stieß sie von sich.

„Chas!“, keuchte sie erstickt, schnappte nach Luft und verschluckte sich. „Chas … ich muss … er stirbt!“, brachte sie zwischen Husten hervor. Sie wand sich aus einem zweiten Paar Hände − größer und rauer als das erste − und warf sich gegen die Tür. „Lasst mich raus!“ Sie versuchte einzuatmen, aber das Husten machte es ihr unmöglich. Stoßweise sog sie zwischen den unkontrollierten Kontraktionen ihres Brustkorbes den Sauerstoff in ihre Lungen, bekam aber trotz aller Mühe nicht genug. Wieder und wieder warf sie ihren ganzen Körper gegen die Tür, doch dann gaben ihre Beine nach, versagten ihr einfach den Dienst, und sie sackte schwer und immer noch nach Luft schnappend auf den Boden.

„Ist okay.“ Die weichen Hände waren wieder da. Sie strichen über ihr Haar. Mira ließ es zu. Alle Kraft hatte sie verlassen.

Wie hatte sie nur so dumm sein können, sich erwischen zu lassen? Wie hatte sie so unvorsichtig sein können, während Chas in seinem Versteck gegen den Fieberwahn ankämpfte? Ob er in seinen Albträumen wieder das brennende Klein-Ararat besuchte? Der Gedanke brach Mira das Herz.

„Mira“, sagte eine Stimme über ihr leise. „Was ist mit Chas?“

Immer noch um Luft ringend, rappelte Mira sich auf und starrte durch die fast undurchdringliche Dunkelheit in das Gesicht eines Jungen, der sich besorgt über sie lehnte.

„Urs“, brachte sie hervor. „Biene!“

Die weichen Hände zogen sie in eine Umarmung, die nach trockenem Gras, Erde und Moos roch. Nicht nach dem finsteren Gefängnis, in dem sie sich befanden, sondern nach jemandem, der genau wie Chas und Mira die Nächte unter freiem Himmel verbracht hatte.

„Meine Güte, Mira, du bist es wirklich!“, sprudelte es aus Biene heraus, während sie Mira immer noch festhielt. „Es ist so gut, dich zu sehen … ich meine, nicht hier! Das ist gar nicht gut. Aber … du weißt schon.“

Beinahe musste Mira trotz der schrecklichen Umstände lachen. Urs und Biene waren hier – jetzt musste einfach alles gut werden! „Was macht ihr denn hier?“, platzte sie heraus. „Wo sind die anderen Fischerkinder? Und warum habt ihr Leonardsburg verlassen? Ist es sicher für euch hier?“

„Offensichtlich nicht.“ Ein Glucksen mischte sich in Urs’ Stimme. „Immerhin haben wir es genau wie du geschafft, eingefangen zu werden, ehe wir auch nur weiter als ein paar Kilometer gekommen sind.“

Mira bemerkte, dass er nur einen Bruchteil ihrer Frage beantwortet hatte, aber für den Moment gab es Wichtigeres. „Chas.“ Die Tränen brannten in ihrer Kehle. „Ich muss zurück zu ihm.“

„Was ist passiert?“ Bienes zarte Hand rieb ihre Schulter, doch ihre Stimme bebte.

„Er ist …“ Mira drohte an den Worten zu ersticken. „Die Wunde hat sich entzündet. Er ist wie im Wahn, er … Urs, ich glaube, er stirbt!“ Ein raues Schluchzen bahnte sich den Weg über ihre Lippen, und hätten nicht nach wie vor zwei Paar so unterschiedlicher Hände sie gehalten, wäre Mira gänzlich zusammengebrochen. Ihr ganzer Körper zitterte vor Erschöpfung und Angst.

Urs schwieg lange, ehe er antwortete. Mira dachte bereits, seine Worte über ihr eigenes Schluchzen hinweg nicht gehört zu haben. „Dann jetzt oder nie“, sagte er jedoch schließlich. „Wir haben keine Zeit zu verlieren.“

„W… was meinst du?“

„Komm.“ Biene zog Mira von der Tür weg, bis sie die jenseitige Wand im Rücken spürte. „Bleib einfach da sitzen.“

„Aber … ich muss zu Chas.“

„Schsch“, machte Biene. „Wir haben längst einen Plan. Dass wir zu dritt sind, macht es vielleicht ein wenig schwieriger, aber …“

„Still.“ Urs richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Sein bärenhafter Umriss verdeckte fast gänzlich das Licht, das durch die Ritzen der Tür fiel. „Hilfe“, polterte er dann, und alles schien bei diesem Ausruf zu vibrieren. Selbst Mira, die im Grunde wusste, dass sein Hilferuf nur Schauspiel sein konnte, schnürte die Panik in Urs’ Stimme die Kehle zu.

„Wir brauchen Hilfe! Sie ist ohnmächtig geworden!“

Auch die desinteressierte Wachfrau musste ihm jedes Wort abnehmen, denn es dauerte nur Sekunden, bis die Tür aufgeschlossen und geöffnet wurde. Im augenblicklich hereinflutenden Licht sah Mira, dass Biene am jenseitigen Ende des kleinen Zimmers zusammengesackt war und bäuchlings auf dem Fußboden lag. Urs kauerte mittlerweile neben ihr.

„Hilfe“, wimmerte er, und Mira lief ein eisiger Schauer über den Rücken, obgleich sie wusste, dass sein Leid nur gespielt war.

Die Wachfrau schloss die Tür hinter sich, aber sie näherte sich Biene tatsächlich und ging neben ihr in die Hocke. „Aus dem Weg“, herrschte sie Urs an, unternahm aber nichts, um diesen Befehl auch durchzusetzen. Urs blieb wie angewurzelt an Bienes Seite. Mira konnte sich nicht vorstellen, dass er sich auch nur im Geringsten anders verhalten würde, wenn all das hier echt gewesen wäre.

„Sie ist einfach ohnmächtig geworden. Bitte! Bitte tun sie etwas!“ Er umklammerte das Handgelenk der Wachfrau, ließ sich jedoch allzu leicht abschütteln.

Mira sah zu, wie die Wachfrau sich über Biene beugte und ihren Puls suchte. Urs hätte die zierliche Frau leicht überwältigen können. Aber stattdessen sah Mira im Zwielicht, wie er seine Hand langsam und unauffällig in Richtung des kleinen, tragbaren Scanners schob, der am Gürtel der Wachfrau baumelte. Sie dachte, er wolle ihn an sich nehmen, doch er streckte nur den Arm aus. Das blaue Licht des Scanners fiel auf seine sonnengebräunte Haut, eine kleine zackige Narbe am Handgelenk und schließlich für den Bruchteil einer Sekunde auf das weiße Armband. Kaum hörbar ertönte ein Klicken.

„Sie atmet“, stellte die Wachfrau fest, die nichts von alledem bemerkt hatte. Sie schien es nicht erwarten zu können, von Biene wegzukommen. Hastig richtete sie sich auf. „Ich bringe euch Wasser. Sie kommt schon wieder zu sich.“

Urs beugte sich wortlos über Biene, Haltung und Miene immer noch die eines Menschen, der Todesängste aussteht.

Die Wachfrau brachte ihm Wasser, verschwand dann aber hastig und ließ Urs, Mira und die immer noch regungslos auf dem Fußboden liegende Biene allein zurück.

Kapitel 3

Die Flucht

Mira spürte, wie Enttäuschung sich in ihr breitmachte, während die Tür ins Schloss fiel und das Licht aus dem Vorraum bis auf einen schmalen Streifen auf dem Fußboden reduzierte. Im Dunkel ihrer Zelle sah sie, wie Biene sich aufrichtete.

„Das war unsere Chance!“ Mira konnte den vorwurfsvollen Unterton nicht aus ihrer Stimme verbannen.

Urs schüttelte sachte den Kopf. „Es wäre nicht gut gegangen.“

Das kurze Gefühl der Hoffnung, das in ihr aufgeflackert war, machte erneut der unkontrollierten Angst Platz, die eben noch in ihrem Inneren gewütet hatte. „Aber … Chas! Ich muss zu ihm. Er braucht Hilfe!“

„Mira …“ Biene berührte ihre Hand. „Du verstehst nicht …“

„Nein, ihr versteht nicht!“ Mira zog ihre Hand weg. Gar nichts verstanden sie. Wenn niemand Chas Medikamente brachte, niemand sich um ihn kümmerte, dann würde er sterben. Ohne dass jemand auch nur ahnte, dass er sich auf dem Autofriedhof befand. Ohne dass es jemanden interessierte. Und ohne dass Mira ihm je gesagt hatte …

„Es war nicht der richtige Zeitpunkt“, sagte Urs sanft, aber bestimmt. „Der richtige Moment kommt noch. Du wirst sehen.“

Mira konnte die Nähe und leeren Worte der beiden nicht länger ertragen. Sie stand auf und schleppte ihren sich wund anfühlenden Körper hinüber zur Tür. Es tat gut, sich dort auf den Boden sinken zu lassen und die Stirn gegen den kühlen Stein zu drücken. Die Kälte stand im scharfen Kontrast zur Hitze der Tränen, die über ihre Wangen zu rinnen begannen.

„Mira …“, setze Biene abermals an, doch Urs unterbrach sie: „Da! Hört zu!“

Nicht einmal Mira, die sich direkt neben der Tür befand, hatte die Schritte und Stimmen im Vorraum gehört, ehe Urs sie darauf hingewiesen hatte.

„… in dringender Angelegenheit.“ Das war nicht die Stimme der Wachfrau, sondern die eines Mannes. „Ich fürchte, diese Sache duldet keinen Verzug. So lange soll ich hier übernehmen.“

„Und das fällt denen jetzt ein?“, fauchte die Wachfrau. Das Rascheln von Unterlagen und das Scharren von Stuhlbeinen über den Boden war zu vernehmen. „Vorhin war ich noch dort. Und der nächste Weg ist es auch nicht gerade.“

„Wenn es Ihnen lieber ist, gehe ich zurück und melde, dass Ihnen nicht danach ist.“ Die Stimme des Mannes hatte einen unverkennbar höhnischen Klang angenommen. „In Valda überlegen wir nicht zweimal, wenn unser Vorgesetzter uns etwas befiehlt. Aber das mag hier anders sein.“

„Natürlich gehe ich.“ Die Stiefel der Frau polterten Richtung Eingangstür. „Es gibt hier nicht mehr viel zu tun. Die Akten sind meine Aufgabe.“

„Dann warte ich einfach und halte die Stellung.“

Die Tür wurde geöffnet und fiel wieder ins Schloss. Mira hob den Kopf und lauschte angestrengt. Würde der fremde Wachmann die Zellentür öffnen und einen Blick hineinwerfen? Wäre das der richtige Moment, würde Urs dann etwas tun?

Sie wartete. Es fühlte sich an wie eine Ewigkeit. Doch schließlich näherten sich tatsächlich Schritte, und die Tür wurde geräuschvoll aufgeschlossen. Sekunden später blinzelte Mira abermals in das grelle Licht des Vorraums.

Im Gegenlicht konnte sie nicht mehr als die Umrisse des Wachmanns erkennen, der dort stand und sie musterte. „Drei Gefangene“, stellte er fest, und Urs nickte, obwohl es nicht gerade nach einer Frage geklungen hatte.

„Lasst eure Bändchen sehen!“

Er beugte sich über Urs’ Handgelenk, als wolle er kontrollieren, ob sein Bändchen auch echt war, und warf auch einen kurzen Blick auf die der beiden Mädchen. Mira konnte nur davon ausgehen, dass es ihm lediglich darum ging, zu wissen, ob sie überhaupt ein ID-Band hatten, denn ohne Scanner gaben ihm die weißen Plastikstreifen keinerlei Informationen. Doch er schien zufrieden, nickte ihnen knapp zu und trat wieder aus der Zelle. Die Tür zog er hinter sich ins Schloss.

„Glaubt ihr, wir können …“, setzte Mira an, aber Urs fiel ihr ins Wort: „Warte!“ Er lauschte angestrengt, und Mira tat es ihm gleich. Die Schritte des Wachmannes entfernten sich, etwas klickte, und schließlich knallte eine Tür zu.