Die Bar-Bolz-Bande, Band 1 - Henry F. Noah - E-Book

Die Bar-Bolz-Bande, Band 1 E-Book

Henry F. Noah

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Beschreibung

Für einen Platz im "Team Amerika" würde Mark alles geben. Aber die Streetkicker wollen von ihm nichts wissen und stattdessen Derik, den brasilianischen Ballkünstler, für ihre Mannschaft gewinnen. Ausgerechnet mit Derik freundet Mark sich an. Als die beiden von einem geheimen Beachsoccer-Camp erfahren, wittern sie ihre Chance und treffen eine tollkühne Entscheidung ... Die Barbolz-Bande - Sonne, Sand und Soccer ... das spannendste Fußballabenteuer aller Zeiten!

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Seitenzahl: 213

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Über die Autoren

Jan Birck, geb. 1963, arbeitet als Illustrator, Art Director (Werbung, Trickfilm, CD-ROM), Cartoonist und CD-ROM-Gestalter. Von ihm sind über 100 erfolgreiche Bücher und CD-ROM-Gestaltungen für verschiedene Verlage erschienen und er ist der Gestalter der Bestsellerreihe „Die Wilden Fußballkerle“

Birck lebt mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen in München.

Henry F. Noah, geb. 1973, arbeitete mehrere Jahre als Konzeptentwickler in einem Trickfilmstudio. Seit 1996 ist er freier Autor mit Schwerpunkt Kinder- und Animationsfilm. Noah schrieb Drehbücher für zahlreiche Film- und Fernsehprojekte und lebt heute in München.

Jan Birck / Henry F. Noah

BARFUSS AUF SIEG

Mit Illustrationen von Jan Birck

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Originalausgabe

© 2010 Baumhaus Verlag in der Bastei Lübbe AG, Köln

Lektorat: Sigrid Vieth

Titelbild: © Jan Birck

Umschlaggestaltung: Jan Birck

Alle Rechte vorbehalten

Datenkonvertierung E-Book:

Urban SatzKonzept, Düsseldorf

ISBN 978-3-8387-1188-1

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Inhalt

Kicken oder quatschen wir?

Manchester gegen Barcelona

Schicksalswege

Grönlands Abschied

Die Farbe der Vorahnung

Das sprengte alles!

Ich gegen mich

Die Sechs

Der Cup

Einfallswinkel gleich Ausfallswinkel

ED für Erstdiagnose

Barfuß auf Sieg

Großes Theater

Der Sieben-Jahre-Zyklus

Toastbrote lügen nicht

Der Cayenne-Joker

Die Flucht

Eine Reise ins Unbekannte

Das Meer

Samurai-Soccer

Der Aufbruch

Ein kolossales Stadion

Barbados

Alex ist die Tochter eines Fußballstars und lebt auf einer Luxusyacht. Doch glücklich ist sie dort nicht. Sie hat das Talent ihres Vaters geerbt, darf aber erst spielen, als Mark, Derik, Yo-Shi und Victor sie aus ihrem goldenen Käfig befreien.

Pizzo spielt mit vier Füßen.

Victor spielt Schlagzeug, liebt Hamburger und hatte einige Kilo zu viel auf den Rippen … bis die Bar-Bolz-Bande ihn aufnimmt. Denn er besitzt Fähigkeiten, von denen er selbst nichts ahnte.

Mark hat seit einem Autounfall ein Handicap: Sein linkes Bein ist zwei Zentimeter kürzer als sein rechtes. Dank harten Trainings und eisernen Willens hat er diesen Nachteil aber längst wieder wettgemacht. Barfuß auf Sand ist er nahezu unschlagbar.

Yo-Shi ist die Tochter einer Japanerin. Klar, dass sie manchmal Beachsoccer und fernöstliche Kampftechniken miteinander vermengt … mit durchschlagenden Ergebnissen.

Derik ist in Brasilien aufgewachsen und mit einem Fußball unter dem Arm geboren worden. Er lässt sich durch (fast) nichts aus der Ruhe bringen und ist auf dem Spielfeld ein wahrer Ballkünstler.

Kicken oder quatschen wir?

Die ganze Luft roch nach Erde. Der Asphaltweg, der zum Jahnstadion führte, war noch nass, aber das Gewitter, das sich heute über die Stadt ergossen hatte wie eine galaktische Wasserbombe, hatte sich längst verzogen. Die Sonnenstrahlen blitzten messerscharf durch die Baumkronen. Licht wie in Zeitlupe, dachte ich.

Hatte Gott nicht manchmal eine seltsame Art, sich mitzuteilen? Mit einer solchen Deutlichkeit, dass einem angst und bange wurde? Ich hatte schon oft überlegt, ob ihm vielleicht ab und zu langweilig war. Oder ob er sich zu wenig beachtet fühlte. So wie ich. Ein schöner harmloser Landregen hätte es an einem 1. Juni doch auch getan.

Mit diesen Gedanken bog ich am Ende des von Schlaglöchern übersäten Weges in den kleinen Trampelpfad ein, den ich in den letzten Wochen höchstpersönlich niedergetrampelt hatte, so oft war ich schon hier gewesen. Er führte direkt hinter das verfallene Clubhaus, und von dort konnte man das gesamte Spielfeld überblicken.

Das Jahnstadion wurde seit Jahren nicht mehr genutzt und hätte eigentlich längst abgerissen werden sollen. Aus irgendeinem Grund geschah das aber nicht. Wahrscheinlich weil die Stadt kein Geld hatte. Oder keine Lust.

So schritt der natürliche Verfall der alten Sportstätte Jahr für Jahr fort und man konnte regelrecht zusehen, wie die Natur sich ihren Lebensraum langsam zurückeroberte. Mir gefiel das. Die steinernen Zuschauerränge waren schon komplett überwuchert, hauptsächlich mit Brombeerbüschen und Efeu. Selbst die vielen „Betreten verboten“-Schilder, für die sich sowieso kein Mensch interessierte oder je interessiert hatte, dienten höchstens noch als Kletterstangen für Schlingpflanzen und Schnecken. Ein geheimnisvoller Ort mitten in einer geheimnislosen Stadt, die zusehends in die Höhe wuchs. Was hier unten passierte, interessierte kaum noch jemanden.

Mich allerdings schon.

Hollywood und die Jungs waren gerade eingetroffen und kickten sich routiniert ein paar Bälle zu. Ich blieb wie immer ganz still, damit sie mich nicht bemerkten. Wie echte Profis sahen sie aus, und wieder einmal musste ich mir eingestehen, dass ich alles dafür gegeben hätte, einer von ihnen zu sein. Aber das war wohl nur Typen wie diesem Derik vorbehalten. Er war neu in der Schule und sprach nur, wenn er gefragt wurde. Außerdem lag sein Notendurchschnitt irgendwo zwischen vier und fünf. Perfekte Voraussetzungen für eine steile Karriere als Fußballer.

Hollywood und seine Clique, die sich als „Team Amerika“ seit dem letzten Jahr einen Namen in der Streetsoccer-Szene gemacht hatten, suchten seit einiger Zeit einen neuen Allrounder für ihre Mannschaft. Einen der schießen, passen und Tore machen konnte. Einen Goalgetter wie man in Fachkreisen sagt, technisch top, blitzschnell und zäh wie Schweinsleder. Kurzum: einen, der alles hatte, was mir niemand zutraute. Sich auf den freien Platz im Team zu bewerben, wäre in meinem Fall so sinnvoll gewesen wie Pudelmützen in der Wüste zu verkaufen. Wirklich gute Talente müssen nicht auf sich aufmerksam machen, sie werden entdeckt. Den Satz hatte ich mal irgendwo gelesen. Und leider brachte er die Wahrheit auf den Punkt.

Es war Viertel nach vier, als Derik sich endlich blicken ließ. Fünfzehn Minuten später als vereinbart und für Hollywood Grund genug, ihm einen Anschiss de Luxe zu verpassen. Das konnte er gut. Zu meinem Erstaunen ließ Derik das allerdings völlig kalt. Nachdem er seinen Rüffel kassiert hatte, schnappte er sich den Ball und legte ihn einfach auf den Anstoßpunkt. „Kicken oder quatschen wir, Holly?“ Das war das Einzige, was er sagte und so verdammt cool, dass ich es mir am liebsten aufgeschrieben hätte. Aber dafür blieb keine Zeit mehr, denn schon eine Sekunde später hatte er sein Feuerwerk gezündet.

Mit einem kurzen Lupfer hob er das Leder auf seine Fußspitze und balancierte es auf dem Spann, während seine blitzschnellen Augen nach einem geeigneten Korridor Ausschau hielten, durch den er seinen Triumphzug antreten konnte. Zwei, drei Mal hüpfte der Ball vom linken auf den rechten Fuß, bevor Derik ihn sich Volley vorlegte und mit einer dreiviertel Körperdrehung die Mitte zwischen Rock the Rock und Santiago suchte – und fand.

„Habt ihr sie noch alle?“, blaffte Hollywood seine Jungs an, die sich gegenseitig elegant abgegrätscht hatten. Dann rannte er, fest entschlossen, die Sache selbst in die Hand zu nehmen, wie ein wutschnaubender Mustang auf Derik zu, der ihn jedoch kurzerhand wie einen blutigen Anfänger tunnelte. Was für eine Klatsche! Hollywood stand da wie am Boden festgetacktert, schaute mit offenem Mund über seine Schulter und musste mit ansehen, wie auch Philadelphias peinlicher Tackling-Versuch auf dem Hosenboden endete. Jetzt stand der Weg zum Tor frei. Weder Santiago noch Rock the Rock, die für ihre Supersprints berüchtigt waren, hätten noch irgendetwas ausrichten können, so viel war klar. Doch anstatt den Ball zu versenken und wohlverdient den Blick in die gedemütigten Mienen seiner Gegner zu genießen, dribbelte Derik kurz vor der Torlinie am Kasten vorbei und ließ ihn über die Seitenauslinie kullern. Für einen kurzen Moment war es mucksmäuschenstill. Selbst die Vögel hatten aufgehört zu singen.

Mein Herz pochte.

Wieso zum Teufel hatte Derik, für den es hier immerhin um einen Stammplatz im Team Amerika ging, das Ding nicht reingemacht? Eine logische Antwort darauf konnte ich jedenfalls nicht finden. Was aber womöglich daran lag, dass ich durch den Brombeerzweig, der sich frecherweise durch den Bund meiner Jeans direkt in meine Unterhose gebohrt hatte, kurzzeitig abgelenkt war.

Im Trudelschritt trabte Derik zurück zum Anstoßpunkt, half Philadelphia wieder auf die Beine und kommentierte seine kleine Showeinlage mit den Worten: „Nichts für ungut, Jungs, kann passieren!“ Hollywood dampfte wütend aus allen Poren, wurde knallrot wie ein Hokkaidokürbis und legte einen Finger auf sein rechtes Nasenloch, um das linke mit Hochdruck frei zu rotzen. (Ich nahm mir fest vor, das bei Gelegenheit mal zu üben.)

Rock the Rock übernahm Anstoß Nummer zwei und begann mit einem Dribbling auf die rechte Seite, bevor er den Ball zu Santiago passte, der ihn gleich an Philadelphia weitergab. Die Jungs wollten es diesmal besonders gut machen, das konnte man sehen, wobei das nachgewiesenermaßen oft dazu führte, dass es total daneben ging.

Eine Traumflanke auf Hollywood gab ihnen neues Selbstbewusstsein. Der Ball lief hin und her, von Hollywood auf Santiago, von Santiago auf Rock. Aber wo war Derik? Er machte nicht die geringsten Anstalten, die Kugel zurückzuerobern. Stattdessen wartete er seelenruhig ab, was passierte.

Bei diesem Probekick kam es nicht darauf an, Tore zu schießen. Die Jungs wollten nur testen, ob Derik das Zeug zum Streetkicker hatte. In fünf Tagen hatten sie ihr nächstes Spiel. Ein Vorrunden-Duell im diesjährigen Streetsoccer-Cup. Dort sollte sich Derik das erste Mal beweisen.

Ein halbhoher Blitzpass auf Philadelphia markierte den nächsten Angriff, um Derik aus der Reserve zu locken. Philly nahm den Ball direkt mit der Brust, ließ ihn abtropfen und kickte ihn auf Rock, der ihn mit der Präzision einer Laserkanone rüber zu Santiago schoss. Der stoppte ihn und wartete, bis Hollywood auf Position war. Plötzlich ging Derik in Lauerstellung. Jetzt wirkte er hochkonzentriert, registrierte jede Bewegung seines Gegenüber und machte den Raum zwischen Rock und Santiago dicht. Der folgende Pass von Hollywood auf Philadelphia war flach und präzise. Bevor Philly sich aber entscheiden konnte, an wen er den Ball weitergeben sollte, überrumpelte Derik ihn mit einem pfeilschnellen Antritt und grätschte ihm zwischen die Beine – ohne ihn dabei zu berühren! Meisterhaft. Flink stand er wieder auf und rannte der Kugel hinterher. Seine Oberschenkelmuskeln fletschten regelrecht die Zähne und jeder auf dem Feld wusste, dass nun wieder ein Feuerwerk explodieren würde, von dem man sich besser fernhielt.

Deriks Dribbling war perfekt. Er ließ den Ball zwischen seinen Füßen hin und her tanzen wie ein glühendes Stück Kohle. „Was ist?“, schrie Hollywood von hinten, „Holt euch das Ding!“ Doch die Jungs wussten, dass allein der Versuch einer Majestätsbeleidigung gleichgekommen wäre. So viel Respekt hatten sie.

Aber auch ich hatte so was noch nicht gesehen. Während Derik sich auf das Tor zu bewegte und den anderen ein Lehrstück in Sachen Ballbeherrschung darbot, spürte ich, wie aus meinen Händen langsam Fäuste wurden und mein Atem immer wieder aussetzte. Ich konnte seinen Abschluss kaum erwarten. Diesmal würde er den Ball doch im Tor versenken, oder? Diesmal hatte er ihn sich schließlich erkämpft. Ich sollte nicht enttäuscht werden.

Als Derik nur noch fünf Meter vom Tor trennten, verlangsamte er seinen Lauf und gab dem Ball noch einen letzten, gefühlvollen Schubser, um ihn in eine perfekte Schussposition zu bringen. Ein kurzer Blick ins linke Kreuzeck ließ seine Absicht erahnen. Dann zog er ab. Der Ball flog direkt zwischen Pfosten und Latte, passgenau durch das sich dort befindliche Loch im Netz und ungebremst auf einen dreizehnjährigen Jungen zu, der wenige Meter dahinter zwischen zwei Brombeerbüschen stand und das herannahende Kometengeschoss auf sich zufliegen sah.

Dieser Junge war ich.

Ich wusste nicht genau, ob es Engelsgesang war, den ich in den folgenden Sekunden hörte. Ich wusste nur, dass mein Kopf hinten tierisch schmerzte und dass mir vorne eine warme Flüssigkeit übers Gesicht lief, die aus meiner Nase abwärts in Richtung Hals rann und im Sekundentakt auf den Boden tropfte. Plitsch. Plitsch. Plitsch. So wie die Regentropfen, die noch immer in den Blättern über mir hingen und in der Sonne glänzten wie Diamanten. Ich spürte, wie ich langsam ohnmächtig wurde. Alles drehte sich. Als hätte jemand meine fünf Sinne mit einer Bowlingkugel einfach umgekegelt.

Der Engelsgesang wurde leiser. Harfenmusik setzte ein und ich dachte noch, dass es vielleicht ratsam wäre, den Ton nicht ganz so laut zu drehen, damit mein Versteck, das sich in den letzten Wochen so gut bewährt hatte, weiterhin geheim blieb. Aber da war kein Knopf, an dem ich hätte drehen können. Dann also nicht. Meine Nase war inzwischen zu einer gigantisch großen Trüffelknolle angeschwollen und pochte in exakt gleichem Takt wie das Plitsch-Geräusch links neben mir. Zum Luftholen eignete sie sich leider kaum noch, sodass mein Körper auf Mundatmung umstellte und ein paar Systeme, die im Moment nicht wirklich überlebenswichtig waren, herunterfuhr. Etwa die Motorik meiner Arme und Beine. Die Harfe spielte dazu passend ein paar Akkorde in Moll.

Dann ging das Licht aus. Das Letzte, an was ich mich noch erinnern kann war, wie Derik, Hollywood und die Jungs sich über mich beugten und darüber berieten, ob ich womöglich tot sei. „Wer zum Teufel ist das?“, hörte ich Philadelphia sagen, der auf eine andere Schule ging und mich gar nicht kennen konnte. „Mark Wiener“, japste Santiago, der sich zumindest ein bisschen um mein Wohlbefinden zu sorgen schien. „Unser Klugscheißer aus der ersten Reihe?“ Typisch Hollywood. Er nannte mich immer so. Ihre Stimmen wirbelten durcheinander. „Mark wer?“ – „Wiener! Wie Österreich.“ – „Verdammt, wie kommt der hierher?“ – „Was hat der hier zu suchen?“ – „Woher weiß der, wo wir trainieren?“

Wer nun genau was sagte, konnte ich nicht hundertprozentig ausmachen, da diese verdammte Harfe in meinem Kopf immer lauter wurde und sich zu allem Überfluss auch noch mit dem Gezwitscher von Vögeln vermischte, die lustig um meinen Schädel kreisten. Plötzlich packte mich jemand beim Handgelenk und fühlte meinen Puls. Ich hätte es nicht beschwören können, aber ich glaubte, es war Derik, der als Einziger die ganze Zeit nichts gesagt hatte, dafür aber genau wusste, was zu tun war. „Los, wir müssen ihn ins Krankenhaus bringen. Schnell.“

„Ins Krankenhaus?“, wiederholte Hollywood. „Und wie sollen wir das bitteschön machen?“

Santiago fummelte ein ekelhaftes Taschentuch aus seiner verschwitzten Hose und drückte es mir unter die Nase, um das Blut zu stoppen. Ich war froh, dass sie so zugeschwollen war und ich nichts riechen konnte.

„Wir müssen ihn tragen“, fuhr Derik die anderen an. „Oder einen Krankenwagen rufen. Hat jemand ein Handy?“

Natürlich nicht. Dass ich eins in der Hosentasche hatte, konnte keiner wissen. Also packten mich die Jungs an Armen und Beinen und trugen mich mehr oder weniger behutsam den Asphaltweg hinauf, den ich gekommen war.

Manchester gegen Barcelona

Der Moment zwischen Leben und Tod ist gar nicht so interessant wie man immer denkt. Ich war froh, als er vorbei war und mich ein beherzter Klaps auf die rechte Wange zurück ins Leben holte.

Zwei Neonröhren blendeten von der Decke, und obwohl meine Nase mit Tesafilm oder so was Ähnlichem verklebt war, roch ich Desinfektionsmittel. Ein Gesicht, das ich schon mal gesehen hatte, schob sich über mich. Es hatte einen Oberlippenbart, eine auffallend hohe Stirn und einen besorgten Ausdruck, der mir meine Sorgen nicht gerade nahm. „Herr Wiener? Können Sie mich hören? Aufwachen! Erkennst du mich denn nicht, Junge?“

Teenager zu duzen und gleichzeitig zu siezen, galt in Erwachsenenkreisen offenbar als witzig. Nur war mir überhaupt nicht nach Lachen zumute. Mein ganzer Körper schmerzte, als wäre er gerade durch den Fleischwolf gedreht und anschließend in Salzsäure gebadet worden. Also versuchte ich erst gar nicht, mich zu bewegen. „Das ist nur die Narkose“, sagte der Oberlippenbart. „Dauert noch ’n Weilchen. Wir mussten deine Nase wieder geradebiegen.“ Dann endlich fiel es mir wieder ein. Das Gesicht gehörte Prof. Dr. Brug, Chirurg im Nordwestkrankenhaus, der mich vor Jahren schon einmal zusammengeflickt hatte, als das mit meinem Bein passiert war. Ein vierfacher Bruch, zweimal glatt, zweimal gesplittert, Folge eines Zusammenstoßes zwischen mir und einem Opel, der nicht schnell genug bremsen konnte, als ich mit meinem neuen Fahrrad aus unserer Garagenausfahrt geschossen kam. Ich war damals sechs und träumte noch von einer Karriere als Stuntman.

Der Crash, der auch für den Opel nicht ohne Folgen blieb, hatte mich ganz schön zerbröselt, weshalb mein linkes Bein heute noch zwei Zentimeter kürzer war als das rechte. Und auch wenn Prof. Dr. Brug und seine Doktorkollegen es anders sahen und an eine „gewisse“ Chance glaubten, dass sich die Länge meiner Beine während einer meiner Wachstumsschübe von selbst wieder regulieren würde, hatte ich diese Hoffnung längst aufgegeben. Solange ich meine Soft-Lift-Spezial-Schuheinlagen trug, fiel es ja auch gar nicht weiter auf. Und das war schließlich das Einzige, was zählte. Denn würde auch nur einer meiner geschätzten Mitschüler, besonders die Kandidaten aus der letzten Reihe, jemals Wind von meinem kleinen Geheimnis bekommen, wäre das mein sicheres Ende. Kein Dreizehnjähriger auf dieser Welt kann es sich leisten, als „Humpelstilzchen“ oder „Hinkebein“ bezeichnet zu werden.

Ich musste wohl noch einmal weggenickt sein, denn als ich wieder aufwachte, lag ich in einem Raum mit Blümchentapete. Meine Gehirnzellen, die sich durch Deriks Mörserschuss für eine Weile abgemeldet hatten, signalisierten nun wieder Vollzähligkeit und ließen mich erahnen, wo ich eigentlich war. Auf der Kinderstation. Kinderstation? Hatte man in meinem Alter nicht das Recht, unter seinesgleichen einquartiert zu werden? Und wo waren eigentlich die Jungs? Oder Prof. Dr. Brug? Ich hob meinen Kopf und schaute mich im Raum um. Ein Einzelzimmer. Ich war allein.

Neben dem Wasserglas auf meinem Nachttisch lag ein Klemmbrett mit einem Formular, auf dem ein Post-it mit der Aufschrift „Bitte ausfüllen“ haftete. Ich hatte keine Lust. Stattdessen griff meine Hand zu der Fernbedienung für den Fernseher, da mir plötzlich einfiel, dass heute Abend das Champions League Finale Manchester gegen Barça übertragen wurde.

Bevor mein Finger aber auch nur in die Nähe der Standby-Taste kommen konnte, platzte jemand zur Tür herein. Es war meine Mutter, dicht gefolgt von meiner Schwester, die heute ihren pinken Tag hatte und aussah wie Schweinchen Dick. Man muss dazu sagen: Meine Schwester Deborah hatte sie nicht mehr alle. Montags trug sie weiß. Dienstags grün, Mittwochs gestreift und Donnerstag bis Samstag, naja, Schweinchen Dick eben. Und sie hasste es, wenn ich sie so nannte. In ihrem Arm ruhte wie immer sanft und in Frieden ihre Puppe Colette.

Manchester gegen Barcelona konnte ich abschreiben, so viel war klar. Denn natürlich musste ich erst mal Rede und Antwort stehen und erzählen, was überhaupt passiert war. „Gott, Junge!“, sagte meine Mutter und befühlte meine Stirn. „Was haben sie mit dir gemacht?“

„Wer?“

„Na, diese Typen?“

Meine kleine Schwester setzte sich stumm auf die Bettkante, nahm mir die Fernbedienung weg und zappte auf den Kinderkanal. Hanna Montana Folge sechsundzwanzig.

„Schalt’ wenigstes kurz um auf …“, wollte ich gerade protestierend einwerfen, doch da hatte meine Mutter den Streit schon im Keim erstickt, indem sie Debbie einen Klaps in den Nacken gab und die Fernbedienung konfiszierte. Den Fernseher schaltete sie natürlich ab.

„Prof. Dr. Brug hat gesagt, sie hätten dich einfach vor die Notaufnahme gelegt und wären abgehauen. Drei oder vier Jungs. Dein Alter. Eine Schwester hatte noch versucht, sie aufzuhalten.“

Für einen Moment war ich sprachlos. Derik, Hollywood und die Jungs hatten mich vor der Notaufnahme einfach abgelegt? Das klang nach Zweitem Weltkrieg und Lazarett. Was, wenn ich verblutet wäre? Meine Mutter sah mich an und erwartete eine Antwort. Ich wusste aber keine (oder wollte keine wissen) und stellte mich dumm. „Wer? Wer hat mich abgelegt? Welche Jungs?“

„Du willst mir doch wohl nicht erzählen, dass du nicht mehr weißt, wer dir die Nase gebrochen hat?“

Stimmt. Da war doch was. Meine Nase. „Gebrochen?“ Ich runzelte die Stirn, um möglichst überrascht zu wirken. „Ich kann mich an nichts erinnern. Ehrlich.“ Dann versuchte ich, die Unterhaltung in eine andere Richtung zu lenken, um Zeit zu gewinnen. „Hat der Arzt eigentlich gesagt, wie lange ich hierbleiben muss?“

„Nur diese Nacht.“

Ich war beruhigt. „Wo ist eigentlich Papa?“, schoss es plötzlich aus mir heraus. Mama schaute auf ihre Uhr. „Das weißt du doch. Ich hab ihn noch nicht angerufen. In Hongkong ist es gerade erst sechs.“

Hongkong. Mein Vater war die meiste Zeit unterwegs. Diese Woche Hongkong, nächste Woche Rom oder Stockholm. Dann New York oder San Francisco. Das letzte Mal hatte ich ihn vor zwei oder drei Tagen gesehen, als er auf dem Weg zum Flughafen kurz an unserer Schule vorbeifuhr. Es war gerade große Pause. Sein Taxi parkte auf der Straßenseite gegenüber. Eigentlich hätte ich lieber mit meinem Freund Tobi ein paar Dosen über den Schulhof gekickt, aber mein Vater hatte mich längst gesehen. Was folgte, war das übliche Blabla: „Bin mal wieder unterwegs.“ „Wie läuft’s in der Schule?“ „Wenn ich zurück bin, machen wir was zusammen.“ Ich hatte wie immer schnell abgenickt, gute Reise gewünscht und war zurück zu Tobi gerannt.

Mein Vater war eigentlich Atomphysiker, Wissenschaftler. Was eine ziemlich brotlose Angelegenheit ist. Atomphysik hat eben wenig mit Kohle zu tun, ist also nichts zum „Kohle machen“. Aber seit mein Vater diese Erfindung gemacht hatte, war alles anders geworden. Fast hätten sie ihn sogar für den Nobelpreis nominiert. Jeder sprach nur noch von „Durchbruch“ und „Sensation“, dabei ging’s eigentlich nur um eine Formel – einen sogenannten Algorithmus, der den Zerfall eines radioaktiven Stoffs steuern konnte.

Von jetzt auf gleich war mein Vater kein Atomphysiker mehr, sondern Geschäftsmann, denn seine Formel war irre viel wert. Das Witzige an der Geschichte: Sie war ihm eines Morgens auf der Toilette eingefallen. Genauer gesagt während er, naja – genau dabei eben. Er hatte nicht mal mehr Zeit, sich den Hintern abzuwischen und schoss mit noch heruntergelassener Hose durch die halbe Wohnung auf der Suche nach einem Zettel. Ich dachte zuerst, da wäre ein Monster auf dem Klo, aber es war nur die übel riechende Wolke, die er hinterließ. Er hätte wenigstens spülen können.

Übrigens, der Zettel, auf dem er an diesem Morgen seinen Geistesblitz notiert hatte, liegt bis heute fest verschlossen in einem Safe bei der Bank. Irgendwann hatte er ihn mir mal gezeigt. Schon irre, dass man mit so einem Stückchen Papier so viel Geld verdienen konnte.

Wenn man’s genau nahm, war dieser Zettel der Grund dafür, dass wir heute in einem riesigen Haus mit Garten und Videoüberwachung wohnten, neuerdings eine haitianische Haushälterin namens Julé hatten und Mama zu ihrem letzten Geburtstag einen Porsche Cayenne mit roter Schleife bekam. In cremeweiß. So wie das Kostüm, das sie heute trug.

Es wunderte mich, dass Debbie so lange durchhielt, bis sie endlich anfing zu nörgeln. Sie wollte nach Hause, Colette war müde. Doch meine Mutter hatte aus irgendeinem Grund das dringende Bedürfnis, noch eine Weile an meiner Seite zu sitzen und mich zu trösten. Jegliches Signal meinerseits, dass ich schon klarkommen würde und dass es völlig in Ordnung sei, wenn sie mich nun wieder allein ließen, wurde ignoriert. „Und du kannst dich wirklich an nichts mehr erinnern?“, fragte sie mich wieder und wieder. Und ich antwortete sinngemäß: „Nein. Im Moment nicht. Die Narkose wirkt noch nach. Wär’ wohl besser, wenn ich jetzt schlafe.“

In Wahrheit blinkten die ganze Zeit zwei Namen vor meinem geistigen Auge: Manchester – Barcelona – Manchester – Barcelona. Die erste Halbzeit war nämlich schon vorbei. Und ich hatte mit Tobi, meinem besten Freund, um zwanzig Mäuse gewettet, dass Barça diese verdammten Engländer diesmal vom Rasen putzt.

„Also gut, Mark“, seufzte meine Mutter und erhob sich von der Bettkante, „dann lassen wir dich jetzt mal in Ruhe.“

Na, endlich! Mein Puls tuckerte im Samba-Takt. Barça! Barça! Barça! Und ich säuselte geschwächt: „Mach dir keine Sorgen. Mir geht’s gut.“ Manchmal war ich wirklich ein guter Schauspieler.

Als meine Mutter ihr Jäckchen übergestreift hatte und zur Tür ging – Debbie stand längst auf dem Flur und kraulte Colette die Locken –, legte sie die Fernbedienung absichtlich seit weg, dass ich von meinem Bett aus nicht rankam. „Also, dann bis morgen“, sagte sie noch. „Ich komm gegen zehn und hol dich ab.“ Mit diesen Worten fiel die Tür meines Krankenzimmers zu. Mein Fußballerherz sprang durch meine Brust und ich, flink wie der Wimpernschlag eines Kaninchens, aus dem Bett.

Erst jetzt bemerkte ich, dass ich ein eigenartiges, weißes Kleidchen trug, das hinten einen Schlitz hatte. Wer zum Teufel hatte mich nackt ausgezogen? Und wieso? Egal. Zack, Kiste an. Der Schiri hatte gerade wieder angepfiffen.

Schicksalswege

Punkt fünf Uhr dreißig, vier Stunden, nachdem ich und meine kaputte Nase eingeschlafen waren, wurde ich von der diensthabenden Nachtschwester wieder geweckt. Sie roch nach Veilchen und Zigaretten und hatte einen dermaßen großen Vorbau, dass ich direkt Platzangst bekam, als sie sich über mich beugte. Auf der rechten Brust war ein Namensschild mit der Aufschrift „Schw. Gertrud“ festgenadelt. Ich überlegte, ob „Schw.“ womöglich für Schwergewicht stand? Oder Schwabbelbrust?

„Guten Morgen, Herr Wiener! Na, haben wir gut geschlafen?“

„Wir?“, dachte ich. Woher hätte ich wissen sollen, ob „wir“ … na, egal. Was mich betraf, so konnte ich das jedenfalls nicht behaupten. Und das lag vor allem an der katastrophalen Fehlentscheidung des Schiedsrichters gestern Abend. Es war die 87. Spielminute, die Manchester einen Elfer beschert hatte und mir den Frust meines Lebens. Wayne Rooney hatte Messi erfolglos von rechts attackiert, dem kurz darauf eine Traumflanke auf Pedro gelungen war. Der folgende Pass auf Iniesta – heiliger Pokal! – wie von einem anderen Stern. Exakt in den Lauf gespielt, sodass er ihn problemlos an den frei stehenden Henry hätte weitergeben können. Aber dann war Rooney plötzlich wieder da. Ohne Rücksicht auf Verluste hatte er Iniesta kurzerhand umgeholzt und die Lederpille eiskalt über vierzig Meter bis kurz vor Barcelonas Strafraum katapultiert. „Foul“, schrie ich aus voller Kehle, doch der Schiedsrichter, ausgerechnet ein Deutscher, ignorierte meinen Protest und ließ weiterspielen. „Foul, du Pfeife! Warum pfeifst du nicht?“ Barcelona wie hypnotisiert. Ich sowieso. Und gerade als ich beschlossen hatte, meine Staatsbürgerschaft abzulegen, wurde ich Zeuge des nächsten Skandals. Hargreaves, eindeutig im Abseits, spielte auf Evans, Evans mit dem Kopf auf Owen, der sich den Ball vom rechten auf den linken Fuß vorlegte und – hinfiel! Ich schwöre bei allem, was mir heilig ist: Piqué hatte ihn nicht mal berührt. Doch da war die Fahne des Linienrichters bereits oben und eine schwarze Fledermaus mit Trillerpfeife zeigte auf den Elfmeterpunkt und zog die gelbe Karte.