Die Barker Boys. Band 3: Der Fluch des Donnergottes - Elise Broach - E-Book

Die Barker Boys. Band 3: Der Fluch des Donnergottes E-Book

Elise Broach

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Beschreibung

Nachdem die Barker Boys und Delilah nur knapp dem Tod entkommen sind, tauchen immer mehr Rätsel auf. Der Erdrutsch im Canyon kann kein Zufall gewesen sein. Da sind sich alle einig. Aber wer steckt dahinter? Ein geheimer Brief an Henry liefert den entscheidenden Hinweis. Denn er enthält nicht nur den letzten Willen von Onkel Hank, die Kinder erfahren auch von einem uralten Fluch: Jeder, der das Gold des Berges stiehlt, ist zum Tode verdammt. Ein letztes Mal machen sich die vier Freunde auf den Weg zum geheimen Canyon. Doch ein Gewitter zieht auf und es beginnt ein Wettlauf mit der Zeit.

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Veröffentlichungsjahr: 2015

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Für meine Freundin Carol Sheriff und ihre KinderAnna und Benjamin Daileader Sheriff,die sich alle drei bestens aufs Lesen verstehen

KAPITEL 1

Ein Geheimtreffen

»Was war das?«

Die Stimme der Bibliothekarin drang schneidend durch die kühle Abendluft und Simon gab Henry mit einem kurzen Seitenblick zu verstehen, jetzt bloß leise zu sein.

Sie kauerten zusammen mit Delilah und Jack im Gebüsch unter einem offenen Fenster und pressten sich an die raue Betonwand der Bücherei. Zweige und Blätter schrammten an ihren Gesichtern und ständig drückte irgendwo ein Knie oder ein Ellbogen. Wie immer, wenn Henry unbedingt total leise sein wollte, störte ihn alles Mögliche. Plötzlich musste er aufs Klo, seine Beine juckten und er hatte das Gefühl, jeden Moment niesen zu müssen. Je mehr er daran dachte, wie schrecklich es wäre, jetzt zu niesen, desto mehr kitzelte es in seiner Nase.

Es war Simons Idee gewesen, die August-Sitzung der Historischen Gesellschaft von Superstition zu belauschen, um aus erster Hand zu erfahren, was die Schatzjäger vorhatten. Drinnen war die Sitzung eben zu Ende gegangen und die Bibliothekarin Julia Thomas, Präsidentin der Historischen Gesellschaft, hatte die Vorstandsmitglieder gebeten, noch zu bleiben. Soweit Henry sagen konnte, waren seit dem Stühlescharren und dem Gemurmel sich entfernender Stimmen nur noch drei Leute im Raum: die gruselige Bibliothekarin, Officer Myers – der große, grimmige Polizist, der die Jungen als Erster ermahnt hatte, sich vom Berg fernzuhalten – und ein Mann, bei dem es sich um Richard Delgado handeln musste, den Friedhofswächter, der außerdem Schriftführer der Historischen Gesellschaft war und dessen psychisch kranke Tochter Sara den lebenden Beweis für die unheimliche Macht des Berges darstellte. Ein Jahr zuvor war sie in verwirrtem Zustand aus seinen wilden Schluchten zurückgekehrt, wirres Zeug stammelnd und voller Angst. Henry kam es so vor, als wäre ihre geistige Gesundheit irgendwo in den Höhlen und Canyons des Berges zurückgeblieben … bei den Knochen derjenigen, die dort auf der Suche nach der geheimen Goldmine des Holländers gestorben und deren Leichen nie gefunden worden waren.

Die Goldmine! Selbst hier im Schutz des Gebüschs und eingezwängt zwischen seinen schwitzenden Freunden sah Henry das Gold noch vor sich. Er erinnerte sich noch gut an das atemberaubende Glitzern in der dunklen Mine, an das Funkeln der schimmernden Goldadern im Schein der Taschenlampen. Dieses Geheimnis hatten die vier den ganzen Sommer lang niemandem verraten: dass sie die geheime Holländermine gefunden hatten! Den Schatz, nach dem seit über einem Jahrhundert unzählige Abenteurer gesucht hatten.

Seit der Felssturz den Mineneingang unter sich begraben hatte, war natürlich völlig unklar, ob je wieder eine Menschenseele das Gold zu Gesicht bekäme. Die Barker Boys waren ganz knapp entkommen, und auch nur, weil Delilah sie gewarnt hatte. Aber kurz bevor die Kaskade von Felsbrocken die Steilwand hinuntergedonnert war, hatte Jack eine Handvoll glitzernder goldener Flocken eingesammelt … und die stellten den einzigen Beweis für die Entdeckung dar, die sie gemacht hatten. Den vergangenen Monat lang hatte er sie sicher in einer kleinen Bonbondose unter seiner Kommode aufbewahrt und manchmal, wenn die Jungs in seinem Zimmer ein Brettspiel spielten, holte er die Dose hervor und hielt sie seinen Brüdern angeberisch vors Gesicht, um sie daran zu erinnern, dass er der Einzige war, der richtiges, echtes Gold aus der geheimen Holländermine besaß. Dann zeigte Simon immer den Nugget aus den alten spanischen Satteltaschen, die Henry und Delilah im Canyon gefunden hatten, und es entspann sich eine hitzige Debatte darüber, was wertvoller war, der einzelne Nugget oder die Sammlung goldener Flocken.

Es war gut, dass sie diese Goldstücke hatten, fand Henry. Die ganzen heißen Sommerferien lang – während Delilahs gebrochenes Bein heilte und die Jungen ihre Tage mit Spielen oder Radfahren verbrachten oder Josie im Auge behielten, die selbst für eine Katze sehr eigensinnig war – hätten sie sonst vielleicht glatt vergessen, dass es das Gold wirklich gab. Die Goldmine war ein Geheimnis; niemand durfte davon erfahren. Im Gegensatz zu ihrem Alltag in dem Städtchen Superstition war sie für die Barber-Boys eine völlig andere Welt, sie stand sogar im krassen Gegensatz zu ihrem Leben in dem Haus, das die Barkers vor ein paar Monaten von Mr Barkers draufgängerischem Onkel Henry »Hank« Cormody geerbt hatten, einem Cowboy und Pokerspieler, der mit über achtzig Jahren nach einem langen, ereignisreichen Leben gestorben war. Onkel Hank hatte einmal als Kundschafter für die Kavallerie gearbeitet und nach ihm war Henry benannt worden – was ihm manchmal wie ein gehässiger Witz vorkam, der dazu gedacht war, ihm schmerzlich vor Augen zu führen, dass er selber ganz und gar nicht mutig, beeindruckend oder draufgängerisch war.

Mr Barker jedoch hatte seinen Onkel vergöttert und erzählte gern Geschichten über ihn, und ihre ganze Kindheit hindurch hatte ihr Großonkel einen besonderen Platz im Herzen der Jungen eingenommen, obwohl sie ihm nur ein paarmal begegnet waren und ihn kaum kannten. Er schickte ihnen verrückte Geburtstagskarten und unpassende Geschenke (zum Beispiel hatte Henry einmal eine silberglänzende Spielzeugpistole mit Knallplättchen bekommen, die Mrs Barker sofort einkassiert hatte), und selten einmal platzte er an Thanksgiving oder für ein Urlaubswochenende bei ihnen herein, randvoll mit Witzen und Geschichten über sein Leben im Westen. Manchmal hatte Henry das Gefühl, dass er Onkel Hank weniger kannte, als dass er Dinge über ihn wusste. Trotzdem hatte er einen sehr lebhaften Eindruck von wallenden weißen Haaren behalten, von einer dröhnenden Stimme und Händen, die mit interessanten Schwielen und Narben gemustert waren.

Die Barkers waren im Juni nach Superstition in Onkel Hanks braunes, schindelgedecktes Haus gezogen, gleich nach Jacks Kindergartenzeit, Henrys vierter Klasse und Simons fünfter. Kurz darauf hatten sie Delilah kennengelernt, die genauso alt wie Henry war. Henry konnte kaum glauben, was sie seitdem alles erlebt hatten, einfach nur in den Sommerferien, im Schatten des großen, unheimlichen Berges, dessen eigentliches Rätsel sie erst noch herausfinden mussten.

Und genau aus diesem Grunde kauerten sie jetzt alle reglos unter dem Blätterdach der Büsche vor dem Büchereifenster und lauschten, so leise sie konnten. Henry kam sich vor wie die Hauptfigur eines seiner Lieblingsbücher, Harriet: Spionage aller Art. Am liebsten hätte er ein Notizbuch dabeigehabt und das Gespräch dort drinnen mitgeschrieben.

»Was denn? Ich hab nichts gehört«, sagte ein Mann und Henry erkannte die Stimme von Officer Myers.

»Da draußen war irgendwas«, antwortete Julia Thomas. Absätze klackerten und näherten sich dem Fenster, gefolgt von den schwereren Schritten eines Mannes. Henry hielt unter dem verzweigten Blätterdach den Atem an und sah, wie Jack die Augen aufriss.

»Sehen Sie da draußen etwas?«, fragte die Bibliothekarin.

»Nein. Sie werden allmählich paranoid, Julia.« Die Stimmen waren jetzt unmittelbar über ihren Köpfen. Einen Moment später entfernten sich die Schritte wieder vom Fenster.

»Ich bin nicht paranoid, sondern vorsichtig. Was sich über Sie und Richard leider nicht sagen lässt. Dieser Felssturz war ein Fehler! Damit haben Sie vielleicht unsere einzige Chance verspielt, an das Gold heranzukommen.«

Henry schnappte nach Luft. »Die haben den Steinschlag ausgelöst«, flüsterte er.

»Hab ich mir schon gedacht«, antwortete Simon leise. »Die haben uns die ganze Zeit beobachtet. Das bedeutet, sie wissen, wo die Goldmine ist.«

Delilah erstarrte. »Wir hätten dabei sterben können.«

»Ja, STERBEN«, wiederholte Jack. Er ballte die Fäuste.

Oben hinter dem Fenster stritten sich die drei Erwachsenen jetzt.

»Ich sagte Ihnen doch, ich bin mit dem Fuß abgerutscht«, sagte Richard Delgado gereizt. »Ich konnte doch nicht ahnen, dass gleich der halbe Berg herunterkommt!«

»Sie hätten eben aufpassen müssen, wo Sie hintreten«, fauchte Mrs Thomas. »Jetzt liegt die Goldmine unter einem riesigen Felshaufen begraben.«

»Nicht so voreilig«, unterbrach Officer Myers sie. »Wer sagt, dass das die Goldmine war? Wir haben keine Ahnung, was die Kinder da drin gefunden haben. Kann ebenso gut irgendeine Höhle gewesen sein.«

Mrs Thomas antwortete knapp: »Nein. Das ist die Holländermine. Da bin ich mir sicher. Und jetzt, wo wir wissen, dass diese Kinder hinter dem Gold her sind, müssen wir schnell handeln.«

Henry krümmte sich unter den Büschen und rieb sich mit dem Handrücken die Nase.

»Was ist los?«, flüsterte Delilah und sah ihn an.

»Ich glaub, ich muss gleich niesen.«

Simon schüttelte den Kopf. »Verkneif’s dir lieber. Pst, das ist wichtig.«

Drinnen ging die Diskussion weiter. »Und was genau wollen Sie machen?«, fragte Mr Delgado. »Wie Sie schon sagten, wenn das die Goldmine ist, liegt sie unter einem Felsenhaufen begraben.«

»Wir können entweder versuchen die Felsen aus dem Weg zu räumen oder einen anderen Zugang zu finden«, antwortete die Bibliothekarin.

»Sie bräuchten Dynamit, um diese Felsen da wegzubekommen«, sagte Officer Myers. »Und es dürfte ziemlich schwierig werden, da oben im Canyon eine Sprengung durchzuführen, ohne dass es jemand merkt.«

Mr Delgado brummte zustimmend. »Wie sieht’s mit Ihrer anderen Idee aus? Mit dem Gold aus der Mine, das vielleicht immer noch irgendwo in der Stadt ist – die Nuggets, die Jacob Waltz in einer Kerzenkiste unter seinem Bett aufbewahrt hat. Sie meinten, er hat die Kiste vielleicht seiner Nachbarin gegeben, als er gestorben ist – wieso versuchen wir nicht, die aufzuspüren?« Er machte eine Pause. »Das dürfte deutlich einfacher sein, als noch mal den Berg raufzuklettern. Und sicherer. Da oben ist es …« Er führte den Satz nicht zu Ende.

Henry sah zu Delilah. Eine Kiste voll Gold? Sie hatten die Geschichte von Jacob Waltz und der Goldmine von dem Geologen Emmett Trask erfahren, mit dem sie befreundet waren. Ende der 1880er-Jahre war der alte Goldsucher von seiner Nachbarin, der ursprünglichen Julia Thomas, auf dem Sterbebett gepflegt worden und hatte ihr wahrscheinlich den Weg zur Mine verraten und vielleicht sogar eine Karte gegeben … Aber von einer Kiste mit Gold unter dem Bett hörte Henry zum ersten Mal. Die Wegbeschreibung hatten die Kinder auf einem Papierfetzen in Onkel Hanks Schreibtisch gefunden, im Geheimfach seiner orangefarbenen Münzdose … und es war nicht Onkel Hanks Handschrift gewesen.

Mrs Thomas klang ungeduldig. »Der Totenschatz? Wie ich Ihnen schon sagte, wir haben keine Ahnung, wo wir überhaupt mit der Suche anfangen sollen. Manche sind überzeugt, dass er ihn Julia nicht einmal geschenkt hat. Sondern dass jemand das Gold gestohlen hat, während sie einen Arzt holen ging, und als sie zurückkam, war er tot.«

»Die Leute suchen schon ewig nach dem Totenschatz«, fügte Officer Myers hinzu. »Aber was ist mit der Geisterstadt? Wir wissen, dass sie dort auf dem Hin- und Rückweg übernachtet hat.«

Die Geisterstadt! Henry erinnerte sich noch gut an die trostlose Stille von Gold Creek mit seinen verfallenen Gebäuden … und an den kaputten Fußboden im Black Cat Saloon, wo Simon in den Keller gestürzt war und irgendein Tier oder vielleicht auch ein Mensch ihn belauert hatte.

»Ja, die Geisterstadt«, wiederholte Mr Delgado. »Genau da sollten wir mit unserer Suche anfangen. Im alten Hotel, wo sie mit diesen Brüdern aus Deutschland abgestiegen ist. Vielleicht haben sie ja irgendwas zurückgelassen?«

Simon stieß Henry an. »Siehst du?«, flüsterte er. »Wir müssen noch mal zurück, und zwar vor denen.«

Henry wollte ihm schon zustimmen, aber plötzlich platzte das Niesen, das er so lange unterdrückt hatte, aus ihm heraus. Er kniff den Mund zu, aber ein Laut – teils Niesen, teils Spucken, teils Atmen – drang durch.

Die anderen drei starrten ihn entsetzt an.

Drinnen im Zimmer scharrte ein Stuhl und Absätze klackerten aufs Fenster zu.

»Da!«, rief Julia Thomas. »Haben Sie es jetzt gehört? Da draußen ist jemand.«

KAPITEL 2

Alarm

Eine Welle der Panik erschütterte das Gebüsch. Henry hatte keine Ahnung, was sie machen sollten. Wenn Mrs Thomas nur genau genug hinsah, würde sie die Kinder zwischen den Blättern erkennen. Zum Weglaufen blieb keine Zeit. Den entsetzten Gesichtern der anderen entnahm er, dass sie zu demselben Schluss gekommen waren. Die klackenden Absätze der Bibliothekarin waren jetzt fast beim Fenster angekommen. Henry kauerte so dicht am Boden, wie er konnte, und wartete voller Angst auf den Moment, der unausweichlich bevorstand.

Doch gerade als sich Finger mit rot lackierten Nägeln um das Fensterbrett krümmten, raschelte es in den Zweigen. Ein Schatten huschte über die Büsche hinweg. Er landete mit einem federleichten Plumps im offenen Fenster und die Bibliothekarin riss ihre Hände zurück.

Josie!

Wo kam die denn her? Sie stand auf dem Fensterbrett, machte einen Buckel und fauchte Julia Thomas an.

»Was in aller Welt!« Die Bibliothekarin wich zurück.

»Ist doch nur eine Katze«, sagte Officer Myers. »Kein Grund zur Panik.« Er ging durchs Zimmer, knallte das Fenster zu und Josie sprang hinunter ins Gebüsch und huschte davon.

Henry ließ erleichtert die Schultern sinken.

»Mensch, Hen!«, zischte Simon ihn an. »Das hätte aber so richtig schiefgehen können.«

»Na, er hat doch gesagt, dass er gleich niesen muss«, flüsterte Delilah.

»Die Gruseltante hätte uns beinahe gesehen!«, warf Jack ein.

Henry verzog das Gesicht. »Tut mir leid«, nuschelte er. »Ich hab ja versucht es zu unterdrücken.«

Delilah sah ihn an und wechselte das Thema. »Was war denn mit Josie los?«

»Sie muss uns gefolgt sein«, sagte Simon.

»Weiß ich, aber ich meine, wieso war sie so aufgebracht? So faucht sie doch sonst nie.«

Jack nickte. »Sie kann diese Gruseltante genauso wenig leiden wie wir!«

»Aber sie ist ihr doch bis jetzt noch nie begegnet«, sagte Henry nachdenklich. Er hätte gern geglaubt, dass Josie eine gute Menschenkenntnis hatte, aber die Barker Boys wussten aus langjähriger Erfahrung, dass das nicht stimmte. Josie mochte Menschen, die ruhig, bedächtig und gepflegt waren und ihr vor allem keinerlei Aufmerksamkeit schenkten. Am meisten fühlte sie sich zu Leuten hingezogen, die nicht einmal tierlieb waren. Als sie noch in Chicago gewohnt hatten, hatte Josie gern auf dem Schoß von Mrs Crichter gesessen, ihrer leicht reizbaren Nachbarin, die oft bei ihnen geklopft und sich beschwert hatte, dass die Jungs im Hinterhof zu laut wären oder dass schon wieder ein Ball in ihrem Garten gelandet wäre. Wenn Josie ihr auf den Schoß sprang, hatte Mrs Crichter immer angewidert das Gesicht verzogen, über die vielen Haare gejammert und verlangt, dass jemand die Katze herunternahm. Josie dagegen hatte ihre Nachbarin förmlich geliebt. Henry überlegte, dass es ganz schön schwer sein musste, jemanden zu mögen, der einen nicht leiden konnte. Ihm fiel der Junge in der Schule wieder ein, mit dem er sich letztes Jahr vergeblich anzufreunden versucht hatte, weil er viel cooler und beliebter gewesen war, und wie sehr ihn das am Ende bedrückt hatte. Josie dagegen machte das überhaupt nichts aus.

»Sie hat sich genauso verhalten wie bei einem Hund, der mit ihr spielen will«, sagte Simon. Das stimmte. In Chicago hatte es ein paar Häuser weiter einen doofen Boxer gegeben, der Josie manchmal nervte, und dann hatte sie mit derselben dramatischen Pose darauf reagiert, eine Mischung aus Angst und Angriffslust.

Simon legte den Kopf schief und wandte sich zu dem hell erleuchteten Fenster um. Die Stimmen waren durch die Scheibe hindurch nicht mehr zu verstehen.

»Wir können ebenso gut nach Hause gehen«, sagte er. »Wir haben Mom und Dad gesagt, dass wir um neun zurück sind, und hören können wir jetzt sowieso nichts mehr.«

»Was meinten die mit der Geisterstadt?«, fragte Delilah.

»Die wollen da nach dem Gold suchen, das Jacob Waltz vor seinem Tod Julia Thomas geschenkt hat«, erklärte Simon. »Oder nach etwas, das sie zu dem Gold hinführt. Was bedeutet, dass wir vor ihnen da sein müssen.«

»Aber was ist mit …« Henry wurde ganz anders, wenn er an die zerbrochenen Bodenbretter im Black Cat Saloon dachte, durch die Simon in den dunklen Keller gestürzt war.

»Wir werden schon aufpassen, Hen«, sagte Simon. »Wir wissen ja jetzt, worauf wir achten müssen.«

Insgeheim dachte Henry, dass sie doch eigentlich nie wussten, worauf sie achten mussten; war das nicht sogar das eigentliche Problem? Eine Bibliothekarin, die aussah wie eine Frau, die vor hundert Jahren gelebt hatte; Schüsse in einem verborgenen Canyon; ein Grabstein mit dem Namen ihrer eigenen Familie darauf; eine Geisterstadt mit einem Keller, in dem etwas oder jemand gewartet hatte und im Dunkeln raschelnd auf Simon zugekrochen war.

»Gehen wir«, befahl Simon, »und zwar leise! Sie sollen ja nicht wieder rumschnüffeln.«

Vorsichtig bog er ein Gewirr von Zweigen beiseite, befreite sich aus dem Gebüsch und wischte sich Blätter und Krümel von den Beinen. Nach ihm rollte sich Jack ins Freie, nicht annähernd so leise, dann folgten Henry und Delilah.

Sie rannten um die Ecke zur abgedunkelten Seite des Büchereigebäudes, wo sie bei einer Grünfläche ihre Räder versteckt hatten. Als Delilah ihn abhängte, war Henry wieder einmal heilfroh, dass sie endlich ihren Gips los war. Sie konnte wieder mit ihnen mithalten.

Delilah dachte anscheinend das Gleiche. »Diesmal kann ich auch mit in die Geisterstadt«, sagte sie lächelnd zu ihm und schwang sich auf ihr metallicrosa Fahrrad. »Ich kann’s kaum erwarten, nach allem, was ihr mir davon erzählt habt.«

Henry hatte es da deutlich weniger eilig, erst recht nach Simons Begegnung mit diesem Ding im Keller.

KAPITEL 3

Pläne werden ausgeheckt

Sie verabschiedeten sich an der Straßenecke von Delilah und traten kräftig in die Pedale. Ihr Haus – Onkel Hanks Haus – wartete am Ende der Straße und die Verandalampe warf einen blassen, beruhigenden Lichtkreis über den struppigen Vorgarten. Die trockene Landschaft verblüffte Henry immer wieder aufs Neue – ihre Strenge, die langen Arme der Saguaro-Kakteen, das plötzliche Aufblühen unzähliger leuchtender Wüstenblumen nach einem der seltenen Regenfälle. Und das alles an einem Ort, der so kahl und rau wirkte. Manchmal spielten die Jungen Mondlandung hinterm Haus, auf der anderen Seite des schmalen Baumstreifens, der ihr Haus von den hügeligen Vorbergen des Superstition Mountain trennte. Dann stiegen sie mit ein paar alten Marmeladengläsern aus ihrem Bollerwagen-Raumschiff, um die Umgebung zu erkunden und Proben zu sammeln (wobei Jack meistens Eidechsen fing und so tat, als wären es mordlustige Aliens). Henry musste zugeben, dass es sich hier in Arizona beim Spielen wirklich immer so anfühlte, als wären sie auf dem Mond gelandet, ganz anders als früher auf den grünen Rasenflächen ihres Viertels in Chicago. Aber so fremdartig Superstition auch war, im Laufe des heißen Sommers waren sie hier immer heimischer geworden. Henry dachte jetzt nur noch selten an Illinois zurück. Verblüfft wurde ihm klar, dass Onkel Hanks Haus jetzt sein Zuhause war.

Als sie bei der offenen Garage ankamen, schoss Josie an ihnen vorbei nach hinten in den dunklen Garten und ihre gelben Augen flackerten.

»Da ist Josie!«, rief Jack.

»Sie sieht wieder ganz normal aus«, stellte Simon fest.

»Josie!«, rief Henry. Er streckte die Hand aus und schnippte mit den Fingern. Josie blieb zögernd am Grundstücksrand stehen. Dann huschte sie in die Nacht davon.

Als sie von der Garage aus in die Küche kamen, räumte Mr Barker gerade das Geschirr in die Spülmaschine.

»Hey, Jungs«, sagte er munter. »Wie ist die Nachtluft?«

Die Jungen sahen einander an. Mr Barker stellte oft so komische Fragen, für die es keine richtigen Antworten gab. Simon zuckte mit den Schultern. »Ist nett draußen.«

»Nicht annähernd so heiß wie tagsüber, stimmt’s? Da ist es viel besser für euch zum Draußensein.«

Damit hatte er gewiss Recht. Die Backofenhitze des Sommers von Arizona lief darauf hinaus, dass man nie barfuß rausgehen konnte; die Straße verbrannte einem die Fußsohlen. Tagsüber hatten die Jungen ständig Durst und weil Mrs Barker lästigerweise auf Sonnencreme bestand, rochen sie die ganze Zeit nach Tropenfrüchten. Abends Rad zu fahren oder im Garten zu spielen war dagegen die reine Erleichterung. Dann fiel das Thermometer um mindestens zwanzig Grad. Wenn die kühle Nachtluft lockte, schien alles möglich.

Henry hörte Stimmen auf der Terrasse und das verräterisch schallende Lachen einer Frau. »Tante Kathy ist hier?«

»Ja, sie besucht Emmett übers Wochenende und auf dem Rückweg vom Flughafen haben sie vorbeigeschaut.« Mr Barker spülte einen Kochtopf vor und stellte ihn in die Maschine, dann wischte er sich die Hände an seinen Shorts ab. »Es ist gleich Schlafenszeit, aber geht ruhig kurz raus und sagt Hallo.«

»Sie ist jetzt STÄNDIG hier!«, verkündete Jack, polterte zur Schiebetür und riss sie auf.

Tante Kathy kam fast wöchentlich nach Arizona, seit sie Emmett Trask kennengelernt hatte. Er war ihr neuer Freund, hatte sie den Jungen erzählt, und ein richtiger Schatz.

Sehr verantwortungsbewusst und rücksichtsvoll, aber auch faszinierend unabhängig, was ihr gefiel … und ihre Sorge, dass er durch seine Arbeit als Geologe zu einem verschrobenen Einzelgänger geworden war, hatte sich glücklicherweise als unbegründet erwiesen. Ihre regelmäßigen Besuche waren ein nettes Extra für die Jungen, weil es mit Tante Kathy erstens immer lustig war und Emmett sich zweitens richtig gut mit dem Superstition Mountain auskannte (und da er jetzt öfters bei ihnen zu Besuch war, konnten sie ihn problemlos Sachen fragen), und drittens lenkten die Erwachsenengespräche und Gastgeberpflichten ihre Eltern prima ab, was bedeutete, dass die Jungen mehr Freiheiten genossen als sonst immer, vor allem abends.

Henry und Simon folgten Jack auf die Terrasse, wo ihre Mutter zusammen mit Emmett und Tante Kathy am Gartentisch saß.

»Jungs!«, rief Tante Kathy. »Ich hatte gehofft, dass ihr noch heimkommt, bevor wir losmüssen.« Sie riss Jack an sich, verwuschelte Henrys Locken und drückte dann Simons Arm.

Emmett stand auf und grinste die drei an. »Ich hatte auch gehofft, dass wir uns noch sehen. Ich war letzte Woche zu einer Sitzung in Phoenix und hatte Gelegenheit, einmal über den Friedhof zu gehen, auf dem Jacob Waltz’ Nachbarin begraben liegt, Julia Thomas.«

»ECHT WAHR?«, schrie Jack.

»Nicht so laut, Jack«, sagte Mrs Barker. »Sonst hört dich die gesamte Nachbarschaft.«

»Ist sie wirklich dort begraben worden?«, fragte Henry und Simon fragte: »Hast du ihr Grab gefunden?« Sie duzten Emmett inzwischen.

»Dreimal ja.« Er hob die Hände, um das Bombardement von Fragen abzuwehren. »Ich habe mit dem Friedhofswächter gesprochen und er hat mir den Lageplan gezeigt. Dann bin ich zu der entsprechenden Grabstelle gegangen. Es ist da, mit Grabstein. Die Daten stimmen … und wie ich euch gesagt habe, hat sie bis zu ihrem Tod in Phoenix gelebt und ist auch dort gestorben. Erinnert ihr euch noch an die merkwürdige Sekte, der sie dort angehört hat? Die mit den Feuergruben im Garten und anderen seltsamen Riten?«

Henry konnte sich vage erinnern, dass Emmett ihnen etwas Derartiges erzählt hatte. Es hatte sich gruselig angehört, fast wie ein Hexenkult, und irgendwie wirkte die damalige Julia Thomas dadurch noch geheimnisvoller.

»Tja, ihr Haus steht jedenfalls nicht mehr«, fuhr Emmett fort, »aber ich bin auf dem Weg zur Autobahn durch dieses Viertel gefahren. Sie liegt ganz in der Nähe begraben.«

»Was stand auf ihrem Grabstein?«, fragte Henry. Er hatte die schiefen Grabsteine im verwahrlosten, älteren Teil des Friedhofs von Superstition vor Augen – vor allem derjenige, auf dessen rauer Oberfläche in verwitterten Buchstaben Julia Elena Thomas zu lesen war. Mit einem Schaudern dachte er an den Stein, der den Namen seiner eigenen Familie trug: Barker. Er wusste, dass Delilah ebenfalls ihren eigenen Namen auf einem Grabstein gesehen haben musste, als ihr Vater beerdigt worden war, und bei dem Gedanken fühlte er sich innerlich ganz leer. Barker auf einem Grabstein zu lesen, war schrecklich gewesen, weil es keine Erklärung dafür gab; aber für Delilah musste es schrecklich gewesen sein, Dunworthy auf einem Grabstein zu lesen, gerade weil es eine Erklärung dafür gab.

»Nur ihr Name, Julia Thomas Schaffer«, antwortete Emmett und als Henry verdutzt guckte, fügte er hinzu: »Schon vergessen, dass sie später Albert Schaffer geheiratet hat? Nachdem sie sich von ihrem ersten Ehemann, Emil Thomas, hatte scheiden lassen. Außerdem standen auf dem Stein noch ihre Lebensdaten. Sie ist 1917 gestorben, und zwar genau an ihrem Geburtstag.«

Henry verzog das Gesicht. Es musste schlimm sein, an seinem Geburtstag zu sterben. Dann jedoch fragte er sich, ob einem das vielleicht wie eine Leistung vorkam, weil man es noch geschafft hatte, ein ganzes Jahr älter zu werden.

»Also ich weiß zwar nicht, was ihr Jungs auf dem Friedhof gesehen habt«, sagte Emmett gerade, »aber ihr Grab kann es nicht gewesen sein.«

»Auf dem Friedhof?« Mrs Barker sah Henry streng an. »Was hattet ihr denn auf dem Friedhof zu suchen?«

Henry biss sich auf die Lippen und sah Simon an. Es war gar nicht so einfach, im Kopf zu behalten, was ihre Eltern über ihre Ferienabenteuer wussten und was nicht. Es war anstrengend, Sachen vor ihnen geheim zu halten, und ihn plagten Schuldgefühle. Aber die Ereignisse des Sommers waren wie eine Reihe Dominosteine; die Jungen konnten nichts verraten, ohne eine Kettenreaktion weiterer Enthüllungen auszulösen, und es gab immer noch ganz viel über den Berg und Onkel Hanks Suche nach dem Gold, aus dem sie nicht schlau wurden.

Simon antwortete ihrer Mutter ganz locker. »Ja, wir fahren da manchmal mit dem Rad hin, weil dort nicht so viel Verkehr ist. Außerdem gibt es da einen richtig coolen historischen Teil mit Gräbern aus dem 19. Jahrhundert.«