Die Bäume des Hochmuts - Gilbert Keith Chesterton - E-Book

Die Bäume des Hochmuts E-Book

Gilbert Keith Chesterton

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Beschreibung

Squire Vane lebt mit seiner Tochter auf einem Anwesen an der Steilküste von Cornwall. In einem Wäldchen zum Meer hin erheben sich drei Baumkronen des Pfauenbaums, der Sage nach sehr giftige, wenn nicht gar Menschen fressende Pflanzen. Der Squire, ein strikter Feind allen Aberglaubens und auch allen Glaubens, beschließt nach einer lebhaft en Diskussion mit mehr oder weniger willkommenen Frühstücksgästen – einem Arzt, einem Poeten, einem Anwalt sowie seiner Tochter –, die kommende Nacht unter den übel beleumdeten Bäumen zu verbringen, um dem unsinnigen Gerüchtespuk ein Ende zu setzen. Am nächsten Morgen ist er verschwunden, das heißt, nein, nicht ganz: sein Hut hängt noch oben in den Zweigen … Wie nun der Fall von den Beteiligten hin und her gewendet wird, wer von ihnen der Täter (oder die Täterin) gewesen sein könnte – spannender und hintergründiger lässt sich ein Who-done-it kaum denken. Der Plot Twist am Ende, ebenso übermütig wie gewagt, wird nur die enttäuschen, die partout auf mörderische Bäume oder Menschen nicht verzichten können.

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G. K. Chesterton

Die Bäume des Hochmuts

Erzählung

Steidl Nocturnes

Herausgegeben von Andreas Nohl

Aus dem Englischen übersetzt von Andreas Nohl

Deutsche Erstausgabe

Inhalt

I Die Geschichte der Pfauenbäume

II Squire Vanes Wette

III Das Geheimnis des Brunnens

IV Die Jagd nach der Wahrheit

Nachwort

Anmerkungen

Impressum

I

Die Geschichte der Pfauenbäume

Squire Vane war ein in die Jahre gekommener Pennäler von englischer Erziehung und irischer Abstammung. Seine englische Schulbildung an einer der vornehmen Privatschulen hatte dafür gesorgt, dass sein Geist gänzlich und für immer auf der Stufe des Knabenalters verharrte. Unbewusst rebellierte seine irische Abstammung gegen den angemessenen Ernst eines alten Knaben und gab ihm zuweilen das aufgewecktere Aussehen eines ungezogenen Jungen zurück. Sein körperliches Unvermögen, stillzuhalten, spielte ihm fast gegen seinen Willen Streiche und hatte ihn bereits als komplette Fehlbesetzung sowohl im diplomatischen als auch im Staatsdienst ausgewiesen. Es lässt sich ja nicht leugnen, dass der Kompromiss der Schlüssel zur englischen Politik ist, insbesondere wenn es um die Unparteilichkeit gegenüber den Religionen Indiens geht. Doch Vanes Versuch, dem Moslem auf halbem Wege entgegenzukommen, indem er am Eingang der Moschee einen Stiefel fortschleuderte, wurde nicht so sehr als echte Unparteilichkeit wahrgenommen, sondern eher als etwas, das man nur als aggressive Gleichgültigkeit bezeichnen konnte. Wiederum trifft es zu, dass ein englischer Aristokrat sich kaum je vollkommen in die Gefühle einer der beiden Parteien versetzen kann, wenn ein russischer Jude und eine orthodoxe Prozession, die Reliquien vor sich herträgt, miteinander in Streit geraten. Aber Vanes Vorschlag, die Prozession solle den Juden gleich mittragen, da er doch eine ehrwürdige und historische Reliquie sei, wurde von beiden Seiten missverstanden. Kurzum, er war ein Mann, der sich allerhand darauf zugutehielt, ein reiner Vernunftmensch zu sein – mit dem Ergebnis, dass er ständig unvernünftige Dinge tat.

Er hatte soeben in der Gesellschaft seiner Tochter ein herzhaftes Frühstück zu sich genommen – an einem Tisch unter einem Baum in seinem Garten an der Küste von Cornwall. Denn da er über einen fabelhaften Blutdruck verfügte, bestand er darauf, dass so viele Mahlzeiten wie möglich im Freien eingenommen wurden, auch wenn der Frühling die Bäume noch kaum berührt und das Meer um diesen südlichsten Zipfel Englands kaum gewärmt hatte. Seine Tochter Barbara, eine attraktive junge Frau mit dichtem rotem Haar und einem Gesicht, dessen Ernst dem der Gartenstatuen glich, blieb beinahe so regungslos sitzen wie eine dieser Statuen, als ihr Vater sich erhob. Eine schlanke, hochgewachsene Gestalt in hellem Anzug, mit weißem Haar und Schnurrbart, die aus seinem durchaus gutmütigen Gesicht nach hinten geweht wurden, denn er trug seinen breitrandigen Panamahut in der Hand, schritt er durch den terrassierten Garten über ein paar von alten Zierurnen flankierte Steinstufen zu einem von kleinen Bäumen gesäumten Waldpfad hinunter und über einen Serpentinenweg die schroffe Felsklippe zum Strand hinab, wo er einen Gast empfangen wollte, der per Schiff ankam. Eine Yacht war bereits in die blaue Bucht eingelaufen, und er sah, wie ein Ruderboot auf die kleine gemauerte Anlegestelle zusteuerte.

Doch traf es sich, dass auf dieser kurzen Strecke zwischen dem grünen Rasen und dem gelben Sand seine Dickköpfigkeit in einen nicht ungewohnten Zustand versetzt wurde, den man gemeinhin Hitzköpfigkeit nennt. Die cornischen Landleute nämlich, aus denen sich seine Pächter und sein häusliches Personal zusammensetzten, waren weit davon entfernt, Vernunftmenschen zu sein. Ach, da fand sich jede Menge Unvernunft! Mit all ihren Gespenstern, Hexen und Bräuchen, die so alt waren wie Merlin, schienen sie ihn wie mit einem Feenring aus lauter Unsinn zu umlagern. Doch der magische Kreis hatte ein Zentrum, es gab einen Punkt, zu dem die gewundene Rede der Bauern stets zurückkehrte. Es war ein Punkt, der den Squire immer zur Weißglut trieb, und selbst bei diesem kurzen Spaziergang schien er überall darauf zu stoßen. Er blieb kurz stehen, bevor er die Stufen am Ende des Rasens betrat, um mit dem Gärtner über das Einpflanzen fremdländischer Sträucher zu reden, und der Gärtner schien in jeder Falte seines wettergegerbten Gesichts finster befriedigt, endlich darauf hinweisen zu können, welch geringe Meinung er von den fremdländischen Sträuchern hatte.

»Wir würden gern das Gestrüpp loswerden, das Sie schon hier haben, Sir«, bemerkte er und grub verbissen das Erdreich um. »Nichts wächst richtig, solange die da sind.«

»Gestrüpp!«, sagte der Squire lachend. »Sie werden die Pfauenbäume doch wohl nicht Gestrüpp nennen, oder? Wunderschöne große Bäume – Sie sollten stolz darauf sein.«

»Unkraut vergeht nicht«, bemerkte der Gärtner. »Unkraut kann so groß werden wie ein Haus, wenn einer es pflanzt.« Und fügte hinzu: »›Er, der Unkraut sät‹ in der Bibel, Squire.«

»Ach, rutschen Sie mir den Buckel runter mit Ihrer …«, begann der Squire und ersetzte dann das passende und stabreimende Wort »Bibel« durch das allgemeinere »Ihrem Aberglauben«. Er selbst war zwar strenger Rationalist, ging aber zur Kirche, um seinen Pächtern ein Beispiel zu geben. Die Frage wofür, hätte ihn in Erklärungsnöte gebracht.

Etwas weiter den Weg zwischen den Bäumen hinunter traf er den Holzfäller, einen gewissen Martin, der noch weniger mit seiner Meinung hinter dem Berg hielt, weil er mehr Grund zum Klagen hatte. Seine Tochter war an schwerem Fieber erkrankt, wie es neuerdings an der Küste grassierte, und der Squire neigte als gutherziger Gentleman unter solchen Umständen gewöhnlich zur Nachsicht, wenn Martin bloß schlecht gelaunt gewesen wäre oder die Beherrschung verloren hätte. Aber der Squire verlor fast seine eigene, als der Landmann beharrlich seine Tragödie mit der landläufigen fixen Idee über die fremdländischen Bäume in Verbindung brachte.

»Wenn es ihr gut genug ginge, würde ich sie woandershin bringen«, sagte der Holzfäller, »denn die Bäume können wir ja wohl nicht wegbringen. Ich würde am liebsten einfach meine Axt reinhauen, bis ich merke, dass sie runterkrachen.«

»Man könnte meinen, es wären Drachen«, sagte Vane.

»So sehen sie doch auch aus«, erwiderte Martin. »Schauen Sie doch mal hin!«

Der Holzfäller war natürlich ein rauherer und sogar wilderer Geselle als der Gärtner. Auch sein Gesicht war wettergegerbt und glich altem Pergament, und es wurde umrahmt von einer sonderbaren Komposition aus rabenschwarzem Kinn- und Backenbart, wie es vor fünfzig Jahren tatsächlich Mode gewesen war, aber ohne weiteres aus einer Zeit von vor fünftausend Jahren oder mehr stammen konnte. Man hatte das Gefühl, die Phönizier mochten sich auf ihren Handelsreisen an ihrer fremden Küste im Morgenland ihr blauschwarzes Haar in solch bizarre Formen gekämmt, gezwirbelt oder geflochten haben. Denn der hiesige Volksstamm war ebenso ein kleiner Teil von Cornwall wie Cornwall ein kleiner Teil von England war, ein tragischer und besonderer Menschenschlag, von geringer Zahl und eng miteinander verwandt wie ein keltischer Clan. Der Clan war älter als die Familie Vane, obgleich diese für eine Landbesitzerfamilie vergleichsweise alt war. Denn in vielen Gegenden Englands sind gerade die Aristokraten die zuletzt Angekommenen. Es war die Art von Menschenschlag, die mutmaßlich im Verschwinden begriffen und vielleicht schon verschwunden ist.

Die Objekte des Anstoßes standen knapp hundert Meter vom Sprecher entfernt, der mit seiner Axt in ihre Richtung wies, und dem Vergleich konnte man sich nur schwer entziehen. Die Küste, die sich nach Westen erstreckte, war in sich selbst beinahe so phantastisch wie eine Wolke im Abendlicht. Sie wirkte vor dem Smaragdgrün oder Indigoblau der See wie zu Hörnern und Halbmonden herausgemeißelt, die der Abguss oder die Gussform solch gezackter Ungeheuer hätten sein können; und darunter war sie von Höhlen und Spalten durchbrochen und zerklüftet, als hätten riesige Würmer darin gebohrt. Und über dieser Drachenarchitektur hing, dünner als Dunst, der Schleier eines grauen Waldes – eines Waldes, den die Hexenkunst der See wie üblich verkrümmt und verkrüppelt hatte. Rechterhand zogen sich die Bäume in einer Reihe an der Küste entlang, jeder einzelne in dünnen, krakeligen Linien gezeichnet wie eine Karikatur. Am anderen Ende der Reihe verdichteten sie sich zu einem wirren Haufen von buckligen Zwergbäumen, einem Wäldchen, das sich bis zu einem vorkragenden Teil der Steilküste erstreckte. Dort bot sich der Anblick, von dem so viele Blicke und Gedanken unwillkürlich angezogen wurden.

Aus der Mitte dieses niedrigen und mehr oder weniger ebenen Wäldchens erhoben sich drei Stämme, die aufschossen und in den Himmel ragten wie ein Leuchtturm aus den Wellen oder ein Kirchturm aus den Hausdächern. Sie bildeten eine Gruppe von drei eng beieinander stehenden Säulen, bei der es sich durchaus nur um eine dreistämmige Gabelung eines einzelnen Baumes handeln mochte, dessen unterer Teil in dem umgebenden dichten Gehölz verschwunden oder versunken war. Ihre ganze Erscheinung ließ an etwas Fremderes und Südlicheres denken, südlicher als alles auf diesem letzten Inselzipfel Britanniens, der sich am weitesten gen Spanien und Afrika und zum südlichen Sternenhimmel vorwagt. Ihr federiges Laubwerk war früher als der blasse gelbgrüne Schleier ringsum hervorgesprossen, und es war von einem anderen und unnatürlicheren Grün, ins Blaue spielend, wie die Farben des Eisvogels. Aber mit einiger Phantasie hätte man es für die schuppigen Hälse eines dreiköpfigen Drachen halten können, die über einer zusammengedrängten und fliehenden Viehherde aufragten.

»Es tut mir außerordentlich leid, dass es Ihrer Tochter so schlecht geht«, sagt Vane kurz. »Aber im Ernst …«, und er ging den steilen Weg mit weitausholenden Schritten hinunter.

Das Boot hatte bereits an der kleinen Steinmole festgemacht, und der Bootsmann, ein jüngeres Abbild des Holzfällers – und tatsächlich ein Neffe dieses nützlichen Nörglers –, begrüßte seinen Grundherrn mit der mürrischen Förmlichkeit seiner Familie. Der Squire grüßte beiläufig zurück und hatte all diese Dinge bald vergessen, als er dem Besucher, der soeben an Land gekommen war, die Hand schüttelte. Der Besucher war ein hochgewachsener, schlaksiger Mann, sehr schlank für sein Alter. Seine langen, feinen Gliedmaßen schienen nur aus Knochen und Sehnen zu bestehen und bildeten einen seltsamen Kontrast zu seinem Haar, das unter dem Rand seines weißen Sommerhuts in hellblonden Strähnen um seine hohlen Schläfen hervorschaute. Er war sorgfältig und mit exquisitem Geschmack gekleidet, obgleich er direkt von einer recht langen Seereise kam; und er trug etwas in der Hand, das er auf seinen ausgedehnten Europareisen und noch ausgedehnteren Aufenthalten dort beinahe vergessen hatte, eine Reisetasche zu nennen.

Mr. Cyprian Paynter war Amerikaner, lebte aber in Italien. Es gab noch eine Menge über ihn zu sagen, denn er war ein außerordentlich scharfsinniger und kultivierter Gentleman; aber diese beiden Tatsachen umfassten wahrscheinlich auch die meisten anderen. Er hatte seinen Geist wie ein Museum mit den Wundern der Alten Welt gefüllt, beleuchtet allerdings wie durch ein Fenster mit den Wundern der Neuen Welt, und war so eine Art Erbe der einzigartigen kritischen Position von Ruskin oder Pater geworden und darüberhinaus berühmt als Entdecker unbekannter Dichter. Er war ein besonnener Kritiker und erklärte nicht all seine zweitrangigen Dichter zu erstrangigen Propheten. Wenn er aus seinen Gänsen Schwäne machte, so waren sie doch nicht gleich Schwäne vom Avon. Er hatte sich sogar der Todsünde des Klassizismus schuldig gemacht, als er sich gegen seine jungen Freunde, die Punktuistischen Dichter, stellte, deren Verse ausschließlich aus Kommata und Doppelpunkten bestanden. Er hatte mehr Sympathie für die moderne Flamme, die von den Scheiten der keltischen Mythologie genährt wurde, und es war eigentlich das Auftreten eines neuen Dichters aus Cornwall, eine Art Parallelerscheinung zu den zeitgenössischen irischen Dichtern, die ihn diesmal in diese Gegend führte. Er war allerdings viel zu höflich, um seinen Gastgeber wissen zu lassen, dass er noch etwas anderes suche als dessen Gastlichkeit. Schon vor langer Zeit, noch in den Tagen seines undiplomatischen Dienstes in Zypern, hatte Vane ihn eingeladen. Und Vane konnte nicht ahnen, dass ihre Bekanntschaft erst erneuert worden war, nachdem der Kritiker »Merlin und andere Gedichte« von einem neuen Autor namens Treherne gelesen hatte. Noch durchschaute der Squire auch nur annäherungsweise den diplomatischen Schachzug, mit dem er dazu gebracht worden war, den ortsansässigen Barden an genau dem Tag, da der amerikanische Kritiker ankam, zum Mittagessen einzuladen.

Mr. Paynter blieb mit seiner Reisetasche in der Hand stehen und betrachtete in einer Trance echter Bewunderung die zerklüfteten Steilklippen, bedeckt vom grauen grotesken Wald, gekrönt von den drei phantastischen Bäumen.

»Das fühlt sich an wie ein Schiffbruch im Märchenland«, sagte er.

»Ich hoffe, Sie haben keinen allzu schlimmen Schiffbruch erlitten«, erwiderte sein Gastgeber lächelnd. »Ich gehe davon aus, unser Jake hier hat sich recht gut um Sie gekümmert.«

Mr. Paynter schaute den Bootsmann an und musste ebenfalls lächeln. »Ich fürchte«, sagte er, »unser Freund ist nicht so begeistert von der Landschaft hier wie ich.«

»Ach, wohl wieder die Bäume!«, sagte der Squire müde.

Der Bootsmann war eigentlich Fischer von Beruf, aber da sein Haus, gebaut aus geteertem Holz, nur wenige Schritte von der Mole entfernt stand, wurde er bei solchen Gelegenheiten gerne als Fährmann eingesetzt. Er war ein stämmiger junger Mann mit schwarzen Augenbrauen und in der Regel schweigsam, aber jetzt reizte ihn irgendetwas zum Sprechen.

»Naja, Sir«, sagte er, »jeder weiß, dass das unnatürlich ist. Jeder weiß, dass die See die Bäume verkrüppelt und sie unterkriegt, wenn’s nur Bäume sind. Diese Dinger wachsen aber wie gottlose riesige Algen, die nicht aufs Land gehören. Das ist, als ob das … das verfluchte Seeungeheuer an Land gegangen ist, Squire, und alles auffrisst.«

»Es gibt hier eine dämliche Legende«, sagte Squire Vane barsch. »Aber kommen Sie doch hinauf in den Garten. Ich möchte Sie gerne meiner Tochter vorstellen.«

Als sie jedoch den kleinen Tisch unter dem Baum erreichten, hatte sich die scheinbar unbewegliche junge Dame schließlich doch fortbewegt, und es dauerte eine Weile, bis sie ihr auf die Spur kamen. Sie war, wenn auch träge, aufgestanden und langsam den oberen Pfad des terrassierten Gartens entlanggeschlendert und hatte den unteren Pfad in den Blick genommen, wo er sich dem Hauptteil des kleinen Wäldchens über dem Meer näherte.

Ihre Trägheit war kein Zeichen von Schwäche, sondern im Gegenteil Ausdruck der Fülle des Lebens, wie bei einem halbwachen Kind. Sie schien sich zu räkeln und alles zu genießen, ohne irgendetwas wahrzunehmen. Sie ging am Wald vorbei, in dessen grauem Dickicht ein weißer Pfad durch ein schwarzes Loch verschwand. Dieser Teil der Gartenterrasse wurde durch eine niedrige Mauer oder eine Art Brüstung begrenzt, die hier und da von Blumen umrankt war, und sie lehnte sich darüber und erhaschte noch einen Blick auf das leuchtende Meer hinter dem Gehölz und auf einen weiteren unbefestigten Pfad, der steil zum Strand mit der Anlegestelle und der Kate des Bootsmanns hinabführte.

Während sie versonnen vor sich hinschaute, sah sie, wie eine fremde Gestalt, offenbar von der Kate des Fischers kommend, energisch den Pfad erklomm; so energisch, dass sie schon bald zwischen den Bäumen hervortrat und auf dem Pfad gleich unter ihr stand. Die Gestalt war nicht nur fremd für sie, sondern in sich fremdartig. Es war ein noch junger Mann, jünger jedenfalls als seine Kleidung nahelegte, die nicht nur abgetragen, sondern auch veraltet war; Kleidung von durchaus konventionellem Schnitt, aber auf unkonventionelle Weise getragen. Er trug etwas wie einen leichten Regenmantel, wahrscheinlich weil er von der See her kam. Aber dieser war nur mit einem Knopf am Hals geschlossen, und der Rest, Ärmel und alles, saß nicht wie ein Mantel, sondern hing eher wie ein Cape an ihm herunter. Er stützte seine knochige Hand auf einen schwarzen Stock; unter dem Schatten seines ausladenden Huts lugten ein oder zwei schwarze Locken hervor. Sein Gesicht, das braungebrannt, aber an sich recht ansprechend war, zeigte ein sardonisches Lächeln, das aber mutmaßlich nur Verlegenheit ausdrückte.

Ob diese merkwürdige Erscheinung ein Vagabund oder ein unbefugter Eindringling war oder ein Freund der Fischer oder Holzfäller, konnte Barbara Vane nicht erraten. Er nahm seinen Hut ab, immer noch mit dem unverändert unheimlichen Lächeln, und sagte höflich: »Verzeihen Sie. Der Squire hat mich hergebeten.« In diesem Augenblick sah er Martin, den Holzfäller, der sich den Pfad entlangarbeitete und die dünnen Bäume lichtete. Der Fremde grüßte ihn vertraulich, indem er einen Finger hob.

Die junge Frau wusste nicht, was sie sagen sollte. »Sind Sie – sind Sie zum Holzschlagen da?«, fragte sie schließlich.

»Ich wünschte, ich ginge einem so ehrlichen Handwerk nach«, erwiderte der Fremde. »Martin ist, glaube ich, ein entfernter Cousin von mir. Wir cornischen Leute aus der Gegend hier sind fast alle verwandt, wissen Sie. Aber ich schlage kein Holz. Ich schlage gar nichts – außer vielleicht Kapriolen. Ich bin sozusagen ein Saltimbanque.«

»Ein was?«

»Sollen wir sagen, ein Barde oder Troubadour?«, antwortete der Neuankömmling und sah mit festerem Blick zu ihr hinauf. Während eines etwas unbehaglichen Schweigens ruhten ihre Augen aufeinander. Was sie sah, wurde schon vermerkt, auch wenn sie es nicht recht verstand. Was er sah, war eine fraglos schöne junge Frau mit dem Gesicht einer Statue und Haaren, die in der Sonne wie ein kupferner Helm leuchteten.