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In den 30er Jahren des 21. Jahrhunderts sind die wirtschaftlich guten Jahre in Deutschland und Europa vorbei. Kriminalität und Brutalität erreichen nie gekannte Ausmaße. Das demokratische Deutschland steht kurz vor dem Zusammenbruch und das Land vor einem Bürgerkrieg. In den Wirren dieser Zeit versucht die kleine Gemeinde Bayerntal, sich zu behaupten und seine Menschlichkeit zu bewahren. Sie bauen eine Mauer um ihr Dorf. Doch nicht nur der Mauerbau stellt die Bewohner vor Herausforderungen. Neben einer komplett autarken Versorgung, die sichergestellt werden muss, wird die Führungsebene mit einem unerwarteten Ansturm an Zuzüglern sowie Angriffen von außen konfrontiert. Und dann ist da noch ein Virus, der die Menschen zu den schlimmsten Feinden ihrer eigenen Rasse macht .
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Seitenzahl: 339
Veröffentlichungsjahr: 2020
Dieses Buch widme ich meiner lieben Frau, die während
der Erstellung wenig von mir hatte.
Hiermit danke ich ganz besonders meiner Mentorin
Petra Liermann, von der ich sehr viel gelernt habe.
Prolog
Das normale Leben
Die Idee
Der Start
Der Bau
Der Umzug
Die Brauerei
Ein Leben hinter Mauern
Die Entführung
Wir wollen wachsen
Angriff
Der Sturm
Der Ausflug
Die Flucht
Vorschau auf Band 2 – Überleben : Die Infizierten
»Still jetzt und Masken auf!«, zischte der Anführer der Bande mit einem deutlich osteuropäischen Akzent. »Wir gehen rein und suchen zuerst die Leute. Lasst niemanden am Leben, dann gibt es auch keine Zeugen. Danach durchsucht alles gründlich. Nur Geld, Schmuck oder Münzen. Der Rest lohnt nicht.«
Ein Farbiger, der sich gerade seine Maske übergestreift hatte und von dem nur noch die weißen Zähne im Licht des Mondes zu sehen waren, sagte beiläufig mit afrikanischem Akzent: »Die Frauen lasst mir, die kriegen Alis Spezialbehandlung.« Dabei grinste er und gab noch mehr Weiß seiner Zähne preis.
»Es ist nur eine drin und die dürfte alt sein. Aber mach nicht wieder so eine Sauerei wie das letzte Mal. So, los jetzt«, fügte der Anführer noch an. Die fünf Vermummten stiegen danach über den Gartenzaun und hielten auf das etwas abseitsstehende Haus zu.
An einem Freitag gegen 19:30 Uhr betrat Martin Berger die Schankstube der Wirtschaft in Bayerntal zu seinem wöchentlichen Schafkopfspiel. Martin Berger – hier in der Gemeinde noch ein »Neuer« oder »Zugereister« – war vor etwa sechs Jahren hierhergezogen, hatte ein Grundstück erworben und dieses bebaut.
Er war in diesen wenigen Jahren aber schon angekommen, da er sich in einigen Vereinen bereits engagiert und hier sein großes strategisches und organisatorisches Geschick gezeigt hatte. Er war Anfang dreißig, sah blendend aus, was ihm bei der Weiblichkeit Bonuspunkte brachte, und war gesellig und freundlich zu jedermann.
Zielsicher steuerte er auf den hintersten linken Tisch zu. Unterwegs begrüßte er noch den einen oder anderen Gast und setzte sich dann auf seinen angestammten Platz an dem anvisierten Tisch, an dem bereits Sebastian Greiner saß, der nicht nur Gemeinderat und Besitzer des ortsansässigen Sägewerkes war, sondern ein ebenso leidenschaftlicher Schafkopfspieler.
»Servus Sebastian. Es ist schon wieder Freitag und heute bekomme ich bestimmt gute Karten«, grüßte Martin ihn und setzte sich.
»Na, werden wir dann ja sehen und ich selbst habe auch so ein gutes Gefühl wie du«, schmunzelte Sebastian. »Wie war deine Woche, Martin?«
»Recht locker, denn auch ich muss mittlerweile an zwei Tagen kurzarbeiten.«
»Ja, unsere Wirtschaft sieht wirklich desaströs aus, aber du bist doch bei einem staatlichen Unternehmen, dort hätte ich das nicht erwartet«, sinnierte Sebastian weiter. »Aber dazu passt der Artikel, den ich heute im Internet gefunden habe. Dort hat jemand die aktuelle Situation mit dem Anfang der Zwanziger zur Zeit dieser ›Corona-Krise‹ verglichen. Damals schon meinten viele Menschen, dass sich etwas ändern müsse, aber letztendlich hat sich kaum etwas getan. Und jetzt … Ja, jetzt haben wir den Salat, nur dass wir den essen können und die jetzige Situation so keinem schmeckt. Oder was meinst du, Martin?«
»Da gebe ich dir recht. Alles war und ist lediglich ausgerichtet auf Gewinnmaximierung und das einzelne Individuum hat kaum mehr etwas gezählt. Wozu dies geführt hat, sehen wir heute. Die älteren Arbeitnehmer sind zunehmend frustriert und die Mehrheit der Jungen sehen ihre Berufe nur noch als ›Job‹. Beides war der Samen des Niederganges unserer Gesellschaft. Aber meiner Meinung nach kam noch etwas anderes hinzu.«
»Und was wäre das?«
»Ganz einfach, die gerade stattfindende Inflation haben wir doch hauptsächlich nur, weil die EZB jahrelang vor dieser Corona-Pandemie schon faule Kredite mit frisch gedrucktem Geld aufgekauft hatte, um so einige Länder der Gemeinschaft am Leben zu halten. Danach folgten die riesigen Investitionspakete zur Stützung der Wirtschaft nach Corona. Diesem Geld fehlte ebenfalls jeglicher Warenhintergrund, sodass irgendwann diese Blase geplatzt ist. Das Ergebnis sehen wir heute.«
»Stimmt«, sagte Stephan Boxleitner, der mittlerweile auch am Tisch Platz genommen hatte. »Erst einmal: Grüß euch. Und ja, Martin, du hast recht, das Ergebnis liegt aktuell bei knapp zwölf Prozent Inflationsrate mit der Tendenz einer weiteren Steigerung. Und wenn das wirklich noch weiter so geht, dann werden bald alle Arbeitnehmer arbeitslos sein. Und dann?«
»Dann werden wir Situationen erleben wie in Südafrika.«
»Wie das?«, fragte nun auch der Vierte im Bunde, der sich gesetzt hatte, Josef Gruber, ein ortsansässiger Elektriker.
»Na, dort haben die Menschen nur zwei Möglichkeiten: zu stehlen oder zu verhungern. Sozialhilfen oder etwas Ähnliches gibt es dort nicht.«
»Aber dann wird die Kriminalität nicht schlimmer als sie dies ohnehin schon ist«, fügte Stephan an.
»So, aber nun Schluss mit all den schlechten Nachrichten. Jetzt werde ich euch etwas abnehmen, dann habe ich die Inflationsverluste aus diesem Monat vielleicht wieder ausgeglichen«, meinte Sebastian und mischte die Karten.
Während abgehoben und ausgeteilt wurde, brachte die Kellnerin die Getränke wie immer und Martin prostete den anderen zu: »Auf die Gesundheit.« Danach begann das Spiel. Martin nahm die bereitliegenden Karten, mischte diese und ließ Stephan abheben, der hinter ihm saß. Nach dem Ausgeben war Josef dran, der sogleich ansagte: »I mog spuin!« Die anderen sagten alle, dass es ihnen recht sei und Josef spielte ein Schellensolo, welches er auch gewann. So wurden einige Spiele gemacht, bis plötzlich ein neuer Gast in den Schankraum stürzte und rief: »Beim Hiller wird gerade eingebrochen. Kommt alle mit, dem müssen wir helfen!« In Windeseile sprangen alle auf und stürmten aus dem Schankraum. Lediglich die Kellnerin blieb zurück.
Die aufgebrachte Menge lief unterdessen etwa einhundert Meter die Hauptstraße entlang und bog danach rechts ab in eine kleine Gasse. Martin, der bei den Vordersten war, sah sofort, dass am Haus vom Hiller, einem älteren pensionierten Uhrmacher, bei dem die Leute aber immer noch Reparaturen ausführen lassen konnten, etwas nicht stimmte.
Die Eingangstür stand weit offen und drinnen sah man die Lichtkegel von Taschenlampen. Da aber die etwa dreißig Männer sehr viel Lärm machten, konnte Martin hören, wie drinnen ein Warnruf ertönte. Direkt danach sah man drei Gestalten aus der Terassentür rennen, sich über den Zaun schwingen und davonrennen. Einige der Männer rannten hinterher, bis plötzlich ein Schuss fiel und einer der Verfolger laut aufschrie. Wenig später brachten die anderen Verfolger, die nach dem Schuss die Verfolgung aufgegeben hatten, den am Bein Verletzten zum Haus.
In der Zwischenzeit war auch klar, dass die ganze Aktion zwar erfolglos bezüglich des Fassens der Einbrecher gewesen war, aber wahrscheinlich das Leben der Eheleute Hiller gerettet hatte.
Bereits zwanzig Minuten später war ein Krankenwagen da und der Notarzt versorgte die beiden Verletzten. Michael Hiller war schlimm zugerichtet worden und blutete aus mehreren Platzwunden. Danach kam dann endlich die Polizei und vernahm einige Zeugen, darunter auch Martin, der den Beamten das schilderte, was er selbst gesehen und gehört hatte. Der Polizist, der alles notiert hatte, bat alle Zeugen, am nächsten Tag auf die Wache zu kommen, um das Protokoll zu unterschreiben.
Dessen letzte Sätze saßen bei Martin wie ein Faustschlag: »Die alten Leute hatten wirklich Glück, dass Sie alle so schnell gekommen sind, um zu helfen, aber so, wie sich die Sache darstellt, werden die Kerle höchstwahrscheinlich schon morgen wieder einen Raub begehen. Vielleicht bringt uns die Kugel etwas, die aus dem Bein des einen Verfolgers geholt wird, aber wenn nicht, dann werden wir den Fall wohl zu den vielen anderen ungelösten Fällen ablegen müssen.«
Hinterher begab man sich wieder in die Schankstube, die sich langsam wieder füllte. Ans Kartenspielen war nun nicht mehr zu denken, denn über solche Zwischenfälle hatte jeder viel gehört und gelesen, aber niemand war bislang so nah an so einem Geschehen dran gewesen. So wurden die Karten weggelegt und man unterhielt sich über den Vorfall noch lange. Die Gewalt war nun auch in Bayerntal hautnah angekommen.
Eine eingeschränkte Freiheit ist besser, als ständig in Angst zu leben.
An einem sonnigen, wenn auch noch kühlen Frühlingstag 2031 in dem kleinen Ort Bayerntal in der Nähe von Landshut in Bayern.
Es war sieben Uhr dreißig und Martin trat noch etwas verschlafen aus seinem Haus, um die Zeitung zu holen. Jemand war vergangene Nacht in seinen Garten eingedrungen und nur mit viel Lärm und Gebell von seinen beiden Hunden, Hovawarts, war er vertrieben worden.
»Guten Morgen, Martin.«
Etwas erschrocken drehte sich der Angesprochene um und sah seinen Nachbarn Ludwig Marktl. Ludwig, Ende sechzig, sauber rasiert, mit grauem schütterem, etwas längerem Haar, lehnte an seinem Gartentor.
»Guten Morgen auch dir, Ludwig«, entgegnete Martin einsilbig.
»Bei dir war heute Nacht einiges los, denn deine Hunde haben uns geweckt. Was ist denn passiert?«
Martin drehte sich ganz zu Ludwig um, zog seinen Bademantel gerade und berichtete: »So gegen halb zwei schlugen Ben und Maja heftig an. Es war so laut, dass ich sofort wach war und ans Fenster eilte. Dort konnte ich gerade noch sehen, wie sich eine Gestalt über das Gartentor schwang und davonrannte. Ich bin dann runter und mit den Hunden einmal ums Haus, aber Gott sei Dank war nichts passiert. Keinerlei Schäden oder sonst was. Meine beiden Hovawarte haben ihn wohl rechtzeitig gehört und dann gestört. Man hört auch am Bellen, dass es sich nicht gerade um kleine Hunde handelt. Schade, dass sie den Kerl nicht fassen konnten, denn der hätte danach nicht mehr gelacht. Hinterher habe ich die Polizei verständigt, aber die fragten nur, ob es Personenschäden gegeben habe. Nachdem ich verneinte, meinten die nur: ›Dann haben Sie mehr Glück gehabt als ein Ehepaar aus Niederndorf, das anscheinend am frühen Abend bei einem Einbruch brutal ermordet wurde. Obwohl Nachbarn recht bald Alarm schlugen, war das ältere Ehepaar bereits tot und das Haus komplett durchwühlt.‹ Ich wollte gerade in die Zeitung schauen, ob schon etwas darüber drinsteht.«
Ludwig zog die Augenbrauen zusammen und wurde ganz still. »Schon wieder ein älteres Ehepaar. Ich habe gehört, dass wohl auch hier im Dorf die Frau Meyer ebenso grausam ermordet wurde.
»Naja von der Frau Meyer habe ich noch nichts gehört, aber gestern Abend war ja mein wöchentlicher Schafkopfabend und währenddessen wurde bei den Hillers unweit der Gaststätte eingebrochen. Fast das ganze Lokal ist zu den Hillers hin und wir konnten tatsächlich die Kerle verjagen, haben sie aber nicht fassen können. Dabei wurde noch einer von den Wirtshausgästen angeschossen. So wie es die Polizei sagte, haben wir alle wohl dem Ehepaar Hiller das Leben gerettet. Beide liegen jetzt im Krankenhaus, werden aber wieder.«
»Und du warst auch dabei?«
»Ja und als jemand Bescheid gesagt hatte, dass etwas bei den Hillers los sein, sind alle raus und zu denen hingelaufen. Ja ich war auch dabei.«
Ludwig war ganz in sich gekehrt als er die letzte Frage gestellt hatte. Die Angst war ihm ins Gesicht geschrieben. Ganz leise und ohne Martin ansehen zu können fügte er danach noch hinzu:
»Zudem dann auch noch vor zwei Wochen hier im Ortsteil die jüngere Frau mit den zwei Kindern. Ich habe ihre Namen vergessen, aber ich denke, du weißt, wen ich meine. Anna und ich sind ja nun auch nicht mehr die Jüngsten und vor allem Anna hat speziell nachts furchtbare Angst, dass uns auch so was passieren könnte. Sie schläft schlecht und zuckt bei jedem noch so kleinen Geräusch zusammen. Sei nur froh, dass du deine beiden Hunde hast. Wenn Anna nicht diese Tierhaarallergie hätte, würden wir uns sofort einen Hund anschaffen. Es ist schon fast zur Normalität geworden, über ermordete Menschen hier in unserer Gegend hören zu müssen. Es muss doch etwas geben, was wir tun können, um diese Situation zu verbessern? Auf unsere Polizei kannst du nichts mehr geben, die sind hoffnungslos überfordert und haben fast genauso viel Angst wie wir.«
»Nicht nur ihr habt Angst, es sind eigentlich alle, mit denen ich in der letzten Zeit über diese Zustände gesprochen habe. Selbst Großfamilien sind verunsichert. Alarmanlagen machen zwar viel Lärm, helfen aber nichts, denn die Banden wissen genau, dass es teilweise mehr als eine Stunde dauert, bis die Polizei kommt. Wenn sie überhaupt kommt.
Damit haben die Zeit genug, um einzubrechen und alles zu stehlen, was Geld bringt. Sollte dann jemand im Haus sein, wird gefoltert, vergewaltigt und gemordet. Viele haben sich schon illegal Waffen besorgt. So kann es nicht weitergehen.«
Martin sah seinen Nachbarn nun hellwach an, bemerkte dessen Verzweiflung und fuhr fort: »Ich habe dazu eine Idee entwickelt, die ich noch heute mit Stephan Boxleitner besprechen werde.«
»Was für eine Idee denn?«, erwiderte Ludwig erwartungsvoll.
»Da dieser Zustand nun schon lange währt und viele seither in Angst leben, habe ich mir Gedanken gemacht, was man tun könne. Ich selbst habe ebenfalls Angst, nur ist diese noch nicht so schlimm, da mich meine beiden »Kleinen« ja sehr gut beschützen können. Aber wohl ist mir bei dieser Situation auch nicht. Beim Durchdenken der ganzen Sache hatte ich eine Idee, die ich jetzt wo diese Gewalt nun auch im Ort umhergeht, mit dem Bürgermeister besprechen möchte. Also warte es ab, bis ich mit ihm gesprochen habe. Vielleicht ist meine Idee ja nicht umsetzbar und bevor das Ganze keine Chance auf Verwirklichung hat, möchte ich keine Pferde scheu machen.«
Ludwig entgegnete etwas enttäuscht, aber nun auch mit einem Funken Hoffnung: »Gib aber bitte sofort Bescheid, denn es muss was passieren, bevor mir Anna noch durchdreht. Und ich selbst auch.«
»Versprochen, Ludwig, ich berichte euch sofort, nachdem ich eine erste Reaktion vom Boxleitner habe.« Martin unterstrich seinen Satz mit einem Lächeln, um den sichtlich verwirrten, aber nun auch gespannten Ludwig zu beruhigen. Es ärgerte Martin fast, etwas gesagt zu haben, bevor nicht einiges noch abgeklärt worden war.
»Man soll halt doch nicht gackern, bevor die Eier gelegt sind, dachte er bei sich.« dachte er bei sich.
»Also abgemacht, Ludwig, ich spreche so schnell wie möglich mit unserem Bürgermeister.«
Direkt froh, im Moment nicht mehr sagen zu müssen, nahm Martin die Zeitung aus der Rolle, drehte sich um und ging zurück ins Haus.
Die ganze Zeit wurde er von zwei Augenpaaren beobachtet und als er die Außentüre öffnete, wurde das Wedeln seiner »Kleinen« zur Begrüßung deutlich heftiger.
Aufgewühlt zog sich Martin an und kündigte seinen Besuch beim Bürgermeister telefonisch an und verließ bereits wenig später sein Haus.
Den ganzen Weg über, vorbei an Häuser, die fast alle fest verrammelt waren, obwohl es bereits kurz vor zehn Uhr vormittags war, dachte Martin über seine Idee und wie er sie am besten erklären konnte nach, damit diese verstanden werden würde. Er registrierte kaum den Gesang der Vögel und das Grün, welches sich nun vollends gegenüber dem kalten Winter durchgesetzt hatte.
Eigentlich eine wunderschöne Gegend, aber wir leben in einer furchtbaren Zeit. Manchmal dachte Martin an seine Kindheit, in der es solche Probleme nicht gegeben hatte. Was ist bloß aus Europa und Deutschland geworden? Er dachte auch an das zurück, was ihm sein Großvater aus dessen Jugend direkt nach dem Zweiten Weltkrieg erzählt hatte und fand erstaunlich viele Parallelen.
Am Haus des Bürgermeisters angekommen, atmete Martin noch einmal tief durch und drückte den Klingelknopf. In dem im Landhausstil erbauten stattlichen Anwesen von Stephan Boxleitner ertönte eine nette, aber auch eindringliche Melodie. Wenige Augenblicke später hörte Martin in der Sprechanlage die Stimme von Frau Boxleitner und nachdem er sich mit Namen gemeldet hatte, öffnete sich die Tür.
Elvira Boxleitner lächelte ihn an: »Hallo Herr Berger, mein Mann erwartet Sie in seinem Büro.«
»Hallo Frau Boxleitner. Danke.«
Nachdem die Tür wieder geschlossen war, ging Frau Boxleitner vor und Martin folgte ihr bis zum Arbeitszimmer. Sie öffnete die Tür und trat ein wenig zur Seite mit den Worten: »Herr Berger für dich.« Mit diesem Satz drehte sie sich um und ging.
Martin trat in ein behaglich eingerichtetes Zimmer, eine Kombination aus modernem Büro mit Computer, Drucker und Telefon, aber andererseits einer kleinen Couch mit zwei kleineren Jagdtrophäen darüber. Stephan Boxleitner winkte Martin herein, ohne von seinem Schriftstück aufzusehen, auf dem er gerade noch einige Notizen machte. Martin folgte der Aufforderung und schloss die Türe hinter sich.
»Nimm Platz, noch einen Moment bitte. Ich beende nur noch kurz das Thema hier.«
Martin setzte sich gegenüber dem Schreibtisch auf einen der dort platzierten zwei Stühle.
»Hallo Stephan, danke dass du dir Zeit für mein Anliegen nimmst.«
Augenblicke später klappte der Bürgermeister, den Aktendeckel zu und sah Martin freundlich an.
»Hallo Martin, wo drückt der Schuh? Es klang ja ziemlich wichtig.«
»Das ist es auch, zumindest mir und sicher auch den meisten Menschen unserer Gemeinde. Ich glaube, eine Lösung für unser Sicherheitsproblem gefunden zu haben.«
Stephan Boxleitner zog seine Augen zusammen und fragte vorsichtig: »Welche Sicherheitsprobleme genau meinst du denn?«
Martin atmete tief ein und begann: »Die allgemeine Lage, dass niemand mehr sicher in seinem Heim sein kann. Zudem die Anzahl und vor allem die Brutalität der Verbrechen, die ständig zunehmen. Dann noch die Tatsache, dass unsere Behörden dagegen machtlos zu sein scheinen oder auch nichts dagegen tun wollen.«
»Richtig, der Polizist gestern, mit dem ich gesprochen habe, hat mir gegenüber zugegeben, dass sie gar nicht zu jedem Hilferuf fahren können, weil es so viele sind, und sie pro Schicht nur noch drei Beamte sind. Einer muss auf der Wache bleiben und damit haben sie nur noch eine Streife.«
Stephan hob die Hand und sagte nur kurz: »Warte bitte einen Augenblick, ich bin gleich zurück.« Mit diesen Worten ging er aus seinem Büro und sprach kurz mit seiner Frau. Wieder zurück, setzte er sich und meinte: »Ich habe uns ein wenig Zeit verschafft, denn ich glaube, das könnte länger dauern und gleich kommt noch Kaffee.«
»Danke«, entgegnete Martin, ordnete kurz erneut seine Gedanken, sodass die Sekunden, in der niemand sprach, eine schier knisternde Spannung enthielten. »Also, meine Idee ist folgende: Warum riegeln wir unser Dorf nicht gegen solche Übergriffe ab?«
»Wie willst du das denn anstellen?«, fragte Stephan nach.
»Ganz einfach, mit einer Mauer rund um das Dorf entlang den Außengrenzen aller Gemeindeteile.«
»Ist dir bewusst, wie lang eine solche Mauer sein müsste?«
»Klar, circa fünfundzwanzig Kilometer. Und sie sollte mindestens zehn Meter hoch sein und ziemlich dick, um ein wirkliches Hindernis darzustellen.«
Stephan blickte Martin intensiv an, denn er spürte, da war noch viel mehr. Seine Neugier war aber jetzt geweckt.
»Gut eine Mauer. Ist dir bewusst, was die kostet? Und wer sollte so eine Mauer bauen und wie lange würde so ein Projekt dauern, bis es die gewünschte Wirkung hätte? Und selbst wenn sie errichtet wäre: Was dann?«
»Klar, das ist eine Mammutaufgabe für den ganzen Ort. Allerdings haben die Menschen Angst, große Angst sogar. Diese Angst kann zu großen Taten beflügeln. Nimm einfach an, wir begännen ein solches Vorhaben. Darüber würde sicher in der Zeitung berichtet werden. Denn nicht nur wir haben Angst.
Schau dir nur die Reichen an, die geben Unsummen für Sicherheitsanlagen und private Schutzleute aus. Ich gehe davon aus, dass viele Interesse an einem Grundstück innerhalb einer solchen Mauer hätten und sicher bereit wären, teuer dafür zu bezahlen. Ich gehe weiter davon aus, dass damit sehr viel Geld in die Kasse der Gemeinde fließen könnte. Damit könnte sich der Bau finanzieren lassen.
Und zu deiner Frage, wer kann so was errichten, kann ich nur sagen: Im Ort haben wir viele Arbeitslose durch die Folgen des wirtschaftlichen Niederganges in unserem Land. Die könnten helfen ebenso wie die Baufirmen im Ort und natürlich Freiwillige, wie ich selbst zum Beispiel, denn ich wäre bereit, meine Freizeit komplett zu opfern.
Und wer weiß schon, wie lange ich selbst noch einen Job habe. Niemand kann heutzutage vor Arbeitslosigkeit sicher sein. Das bringt mich nun zu deiner Frage, was danach käme, wenn das Bauwerk einmal stehen würde. Ein guter Freund von mir ist Major und Kompaniechef in Straubing. Er hat mir erzählt, dass die Bedingungen der Soldaten immer schlechter werden, denn auch dort fehlt Geld an allen Ecken und Enden. Sollte es mir oder uns gelingen, erst meinen Freund und dann die restlichen höheren Offiziere des Standortes davon zu überzeugen, dass wir eine solche Mauer bauen wollen und können und wir allen Soldaten und ihren Familien im Gegenzug zu einem Dienst an der Mauer ein Zuhause hier anbieten würden, dann bin ich sicher, dass sich sehr viele der circa dreitausend Soldaten an dem Standort mit ihren Familien entschließen würden, uns und damit sich selbst zu helfen. Damit wäre dann der Schutz der Mauer gewährleistet und keiner müsste innerhalb in Angst leben.«
Stephan hatte die ganze Zeit ruhig und mit starrer Miene zugehört. Auch jetzt war in seinem Gesicht nichts abzulesen. So vergingen einige Sekunden, die Martin wie eine Ewigkeit vorkamen.
»Hmm, das klingt alles sehr logisch und wenn du recht hast, wäre das sicher eine Lösung vieler Probleme, wenn auch eine sehr Drastische. Dann wäre unser Ort schlagartig eine kleine Stadt von heute zweitausend Einwohnern hin zu mehreren tausend Menschen.
Dein Gedanke hat sehr viel, was sich durchzudenken lohnt. Allerdings sollten wir das nicht alleine tun. Ich rufe den Gemeinderat zu einer Sondersitzung zusammen. Dann haben wir auch die Stimmen aller Gemeindeteile dabei.«
»Stephan, eines noch: Wenn wir so was angehen, dann sollten möglichst alle Einwohner mitziehen und dafür sein, denn das Leben in unserer Gemeinde hat sich bereits verändert und mit so einem Vorhaben wird es sich weiter verändern. Ich denke dann wieder zum Besseren, aber es wird sicher anders. Die ruhigen Zeiten einer kleinen Ortschaft sind so oder so vorbei.« Danach sprachen beide noch darüber, wie man so etwas Revolutionäres den Gemeinderäten näherbringen könnte. Anschließend vertagte man sich bis zur besagten Sondersitzung des Gemeinderates.
Nachdem der Bürgermeister seinen Gemeinderat informiert hatte, traf man sich bereits am frühen Abend desselben Tages im Sitzungszimmer des Gemeindezentrums. Martin war ebenso als Gast geladen.
»Ich bitte um Ruhe und möchte mich als Erstes bei euch allen bedanken, dass ihr so kurzfristig kommen konntet. Aber das heutige Thema ist uns wohl allen ein Anliegen und die Idee von Martin Berger, die er mir heute Vormittag dargelegt hat, birgt ebenso Sprengstoff wie sehr viel Lösungspotenzial.
Die aktuellen Ereignisse in unserem Dorf und in der Gegend mit mittlerweile acht Toten aus unserer Gemeinde haben Spuren in der Bevölkerung hinterlassen. Bislang dachten wir alle, dass wir machtlos sind ob der Umstände und der Gewalt, aber die Idee von Martin gibt zur Hoffnung Anlass. Martin, bitte erläutere deine Gedanken.« Damit schloss Stephan Boxleitner seine Einleitung und setzte sich.
Martin startete den Beamer, koppelte seinem mitgebrachten Laptop und warf eine Karte des Ortes mit allen Gemeindeteilen an die Wand.
»Danke, dass ich meine Gedanken zu diesem Thema erläutern darf, aber die aktuellen Ereignisse verlangen, dass etwas passiert. Unsere Polizei und die Behörden sind anscheinend machtlos. Daher müssen wir selbst für unsere Sicherheit sorgen. Meine Idee basiert darauf, eine Schutzmauer rund um unseren Ort entlang der Außengrenzen zu bauen.« Martin wartete bewusst auf die Reaktionen der zehn noch nicht eingeweihten Ratsmitglieder.
Viele holten hörbar Luft und waren erst einmal baff, bis Sebastian Greiner seine Stimme erhob: »Wie, eine Mauer? Und wer soll die bauen und wer bezahlen?«
»Ganz einfach, lasst mich bitte meine Ausführungen komplett zu Ende führen, dann dürften auch die meisten der Fragen geklärt sein.«
Martin klickte eine Folie weiter und auf dem Plan des Dorfes erschien eine dicke rote Linie um das Dorf herum, unterbrochen von insgesamt sechs Toren, die an den jeweiligen Ausfallstraßen des Ortes lagen. »Ich stelle mir die Mauer als Multifunktionsbau vor. Zum einen soll sie acht bis zehn Meter hoch sein, ausgestattet mit viel Elektronik zum Erkennen sich nähernder Personen oder Fahrzeuge. Zusätzlich sollte sichergestellt sein, dass, wie früher bei Burgen, diese begangen und durch Personen geschützt werden kann. Zum anderen sollte sie mindestens zwei Meter dick sein, sodass sie wirklich nicht so leicht zu durchdringen ist. An der Innenseite sollte sie Garagen für Fahrzeuge, Lagerstätten, Räume für die Verteidiger und auch Wohnungen enthalten. Ihr werdet fragen: Wohnungen für wen? Klar, für die Verteidiger. Ich kenne persönlich sehr gut einen Major der Bundeswehr, der in Straubing stationiert ist. Von ihm weiß ich, dass es der Truppe ebenfalls nicht gut geht. Mangel an allen Enden, Beförderungsstau, Personalabbau, sogar schon Schließungen von Standorten. Wer weiß, wie lange die Gehälter noch gezahlt werden. Zudem gab es ebenfalls schon jede Menge Einbrüche und Übergriffe auf Bundeswehrstützpunkte, bei denen auch schon etliche Soldaten zu Tode kamen. Es wurden auch schon Waffen erbeutet, was wiederum die Gewaltspirale befeuern wird. Ihr seht, auch die Soldaten kennen mittlerweile Angst vor den Banden und Kriminellen sowie Existenzangst. Aber zurück zu unserem Thema. Ich denke, ich kann meinen Freund und Schulkameraden überzeugen, dass wir solch eine Mauer bauen können und werden, sofern wir das beschließen sollten. Unter der Voraussetzung, dass wir allen willigen Soldaten und deren Familien Zuflucht und Obdach innerhalb unserer Mauer zusichern, werden sicher viele das Angebot annehmen und im Gegenzug die Sicherungsmannschaft der Mauer darstellen. Ich denke, damit sollte auch die Bewaffnung der Mauer und der Schutztruppe gesichert sein. Vielleicht würden sie auch an der Erstellung der Mauer mitwirken, denn ich weiß, dass sie auch Baumaschinen haben. Sollten wir so ein Bauwerk in zwei Jahren fertigstellen können, wird sich das bald herumsprechen und die Zeitungen werden davon berichten. Wahrscheinlich schon viel früher und schon während der Bauphase. Denken Sie nur an die sehr zahlreichen Wohlhabenden in unserem Land. Die geben Unsummen für Sicherheitsdienste, Alarmanlagen et cetera aus und trotzdem liest man immer wieder, wie sie überfallen, ausgeraubt und getötet werden. Solche Menschen haben genauso Angst wie wir und solche Menschen haben die Mittel für ein Grundstück innerhalb unserer Mauern, um zum Beispiel eine Million Euro für fünfhundert Quadratmeter Grund zu bezahlen und sich somit ein sicheres Zuhause zu bauen ohne in großer Angst zu leben. Damit sollte die Finanzierung der Mauer gesichert sein. Ebenso wie der Ausbau unserer Schule von einer Grundschule zu einer Gesamtschule und die Errichtung eines kleinen Ärztezentrums. Alles Einrichtungen, die damit finanziert werden könnten, damit man möglichst nicht mehr den Ort und die sichere Mauer verlassen muss.« Martin ließ seine letzten Worte im Raum nachhallen.
Es war völlig still, alle Anwesenden starrten mit weit aufgerissenen Augen auf Martin. Man hörte regelrecht, wie jeder das Gesagte verarbeitete. Einigen stand sogar der Mund offen, aber sie waren noch nicht fähig, irgendeine Reaktion zu zeigen.
Der Bürgermeister war es, der die Stille brach. »Meine Damen und Herren, je länger ich über den Vorschlag nachdenke, umso mehr bekommt er Charme. Ich habe ja bereits einige Stunden Vorsprung die Informationen durchzudenken. Einige Details wiederum waren jetzt ebenfalls neu für mich.«
Martin hob die Hand und ergänzte. »Lasst mich bitte noch eines hinzufügen: Wir alle sind Bürger dieser Gemeinde und für so ein Vorhaben sollten parteiliche Interessen keinerlei Rolle spielen. Deshalb bitte ich euch als Bürger und Vertreter von Menschen, die euch gewählt haben, für das Wohl gerade dieser Menschen zu entscheiden und das Parteibuch beiseitezulassen.«
»Okay.« Stephan Boxleitner ergriff wieder das Wort. »Ich schlage vor, wir machen eine kleine Pause von fünfzehn Minuten, kommen danach zurück und besprechen jeden einzelnen Punkt im Detail.«
Gesagt getan. Man begab sich einzeln oder in kleineren Grüppchen nach draußen. Manche rauchten, aber alle diskutierten das Gehörte.
Josef Gruber, ein ortsansässiger Elektriker kam auf Martin und Stephan Boxleitner zu, gab Martin einen Klaps auf die Schulter und sagte nur: »Sehr einfache Idee mit allerdings großer Wirkung. Ich werde deine Idee unterstützen, denn ich kann bislang alles, was du sagtest, nachvollziehen.«
»Danke. Und sollten wir tatsächlich meine Idee umsetzen, kommt auch sehr viel Arbeit auf dich und deine Firma zu.«
»Wie das?«
»Sepp das erkläre ich gleich, wenn wir alle Punkte im Detail durchgehen.«
»Okay, dann gedulde ich mich noch.«
Als alle wieder zurück im Sitzungssaal waren, eröffnete der Bürgermeister die Fragerunde. Als Erster gab Sebastian Greiner sein Statement ab.
»Die Idee hat wirklich etwas, muss ich schon sagen, auch wenn sie doch auf einigen Wenn und Aber basiert. Aber angenommen wir bauten diese Mauer und viele Betuchte kämen hierher und hülfen mit, dieses Bauwerk zu finanzieren. Selbst die Bundeswehr und deren Angehörige des Standortes Straubing kämen mit Kind und Kegel, was dann?«
Auf so eine Frage hatte Martin gewartet und deshalb war seine Antwort wohlüberlegt. »Wenn die Mauer steht und alle Menschen, die zu uns kommen wollen, eine Wohnung an der Mauer oder ein Haus haben, dann sollten wir die Infrastruktur innerhalb der Mauer ausbauen. Wir sollten uns weitestgehend unabhängig machen von allen Zulieferern. Sprich, wir sollten unsere alten Brunnen reaktivieren und die Kläranlage ausbauen, damit das Wasserproblem gelöst ist. Zudem sollten wir innerhalb des Ortes nur mit Elektromobilen fahren und jedes Dach nutzen, um Fotovoltaik Module zu installieren und diese zentral in vielen Speichermodulen zu speichern. Ich glaube fest daran, dass wir damit alle Energieprobleme gelöst bekommen. Zudem sollten wir aber auch große Tanks installieren, um genügend Diesel zu horten für die schweren und die landwirtschaftlichen Fahrzeuge. Und ich bin sicher, dass sich ein Volldiscounter finden lässt, um eine Filiale im Ort aufzubauen, damit niemand mehr den Ort zum Einkaufen verlassen muss. Wie ich bereits sagte, sollten wir die Schule zu einer Gesamtschule ausbauen und ein kleines Krankenhaus errichten. Hierzu fällt mir nur ein, dass das kleine Kreiskrankenhaus in fünfzehn Kilometer Entfernung geschlossen werden soll. Vielleicht können wir von dort Geräte und vielleicht auch Personal bekommen. Entlang der Mauer sollten wir eine Stromtrasse und eine Internetleitung legen, damit von dort aus, jedes Haus angefahren werden kann. Da wir im Ort eine Metzgerei mit Schlachtung haben, ebenso eine Geflügelzucht, bräuchten wir nur die große Schweinezucht in der Nähe zu verlagern. Zudem sollten wir die Bauern motivieren ihre Rinderzucht wieder auszubauen. Ergänzt durch ein großes zentrales Lagerhaus sollten wir damit alle Menschen im Ort versorgen können. Einige Felder innerhalb der Mauer und die Felder direkt an der Mauer sollten so genutzt werden, dass alles der Ernährung oder als Futter für die Tiere dienlich ist. Wenn wir dann noch den Ortskern schön gestalten, vielleicht sogar eine kleine Brauerei ergänzen könnten, dann sollte das Leben im Ort sehr erträglich sein. Aber zurück zur Mauer selbst. Ich stelle mir vor, dass wir Sensoren anbringen, die anzeigen, ob sich jemand nähert beziehungsweise, ob sich jemand durchgraben will. Diese Daten sollten in ein kleines Rechenzentrum münden, von dem aus alles überwacht und gesteuert werden kann. Weitere Verteidigungsanlagen würde ich den Fachleuten der Bundeswehr überlassen, wenn es so weit ist.«
Sebastian Greiner hatte genau zugehört und meinte nur noch. »Du zeichnest eine wirkliche Oase im Chaos unserer Zeit, allerdings hängt das alles davon ab, ob wir es auch finanzieren können. Dieses Wenn ist das einzige Wagnis, welches wir eingehen müssten. Allerdings sehe ich derzeit die Angst in jedermanns Gesicht im Ort und glaube daran, mit so einem Projekt Hoffnung zu verbreiten. Trotz meiner Bedenken vor allem zur Finanzierung, stimme ich dem Vorhaben zu.«
Nachdem noch einige kleinere Fragen und Themen geklärt oder als lösbar erledigt worden waren, hatte Stephan Boxleitner noch einen Punkt. »Wer kann mir eigentlich sagen, wie das alles mit Baufreigaben und so weiter funktionieren kann?«
Wieder wurde es erst einmal still, bis Wolfgang Heiml, Leiter des Bauamtes der Marktgemeinde in der Nähe, das Wort ergriff und ausführte: »Ich sehe hier eine Möglichkeit, ohne große Probleme alle notwendigen Genehmigungen zu erhalten, vorausgesetzt, alle Eigentümer der vom Bau betroffenen Grundstücke stimmen zu. Wir müssten nur einen Verein gründen mit der Aufgabe des Schutzes aller Bürger. Wenn dann jedermann Mitglied dieses Vereines werden würde, wäre es über das Vereinsrecht möglich, eine Baugenehmigung zu bekommen und zu bauen.«
Nachdem der Bürgermeister das gehört hatte, hellten sich seine Züge merklich auf und er beauftragte Wolfgang Heiml, diese Thematik final zu klären. Danach startete er die Abstimmung über diese Idee.
Er selbst begann mit einem Ja wie auch alle anderen Mitglieder seiner Fraktion. Sebastian Greiner wiederholte daraufhin sein Ja und auch alle anderen schlossen sich ihm an. Somit war die Idee einstimmig angenommen. Man übertrug die Durchführung dieses Projektes Martin und Herbert Furtwängler als ortsansässiger Architekt sagte ebenfalls seine Mitarbeit sofort zu.
Zudem beschloss man, sehr kurzfristig eine Bürgerversammlung mit möglichst allen Bürgern in der gemeindeeigenen Turnhalle einzuberufen, um ein solches Vorhaben bekannt zu machen, den Verein zu gründen und vielleicht sogar bereits einige Spenden als Startkapital aufzutreiben.
Eine weitere Woche später drängelten sich die Bürger – Alte, Junge und Kinder – vor der Turnhalle und warteten darauf, eingelassen zu werden. Alle waren der Aufforderung nachgekommen, sich einzufinden. Gerüchte hatten sich bereits verbreitet, um was es am heutigen Tag gehen sollte. Martin hatte natürlich seinen Nachbarn Anna und Ludwig wie versprochen Bescheid gesagt. Alle anderen Gemeinderäte hatten schon über das Vorhaben öffentlich diskutiert, sodass es kein allzu großes Geheimnis mehr war. Allerdings hatte es ein paar Tage gedauert, um einige Klärungen herbeizuführen und die Präsentation, die Martin den Bürgern zeigen wollte, zu aktualisieren. Zudem hatte er bereits Kontakt zu seinem Freund bei der Bundeswehr aufgenommen und ihn ebenfalls zu der heutigen Versammlung als Gast geladen.
Endlich kam Sepp Haßler mit dem Schlüssel und öffnete die Turnhalle, nachdem er sich einige Frotzeleien wie »auch schon wach« oder ähnliches hatte anhören müssen. Drinnen war die komplette Halle bestuhlt und die Menschen suchten sich Plätze, solange welche verfügbar waren. Es drängten immer mehr nach, sodass kurzfristig zwei Videoleinwände neben der Halle auf der Wiese aufgebaut wurden, damit wirklich jeder die Versammlung verfolgen konnte. Alle waren gekommen, denn die Angst saß bei allen tief und so ein Vorhaben weckte zumindest bei denen, die bereits Näheres wussten, Hoffnung und Neugier. Es lagen Listen aus, in die sich jeder eintragen sollte, um hinterher eine Übersicht zu haben, wer alles anwesend gewesen war. Die Versammlung war für achtzehn Uhr angesetzt, allerdings konnte der Bürgermeister wegen der Umbauten und einigen Nachzügler erst gegen halb neun um Ruhe bitten und die Bürgerversammlung eröffnen.
»Meine lieben Mitbürger, euch ist allen sehr wohl bekannt, dass in der letzten Zeit die Sicherheit in unserem Land dramatisch abgenommen hat und die Gewalt auch bereits in unserer Gemeinde zu bisher acht Toten und zwei Schwerverletzten geführt hat. Diese Tatsache belastet uns alle sehr und kaum jemand kann sagen, dass er frei von Angst leben kann angesichts solcher Tatsachen.
Umso schöner war es, als vor gut einer Woche Martin Berger mit einer Idee zu mir kam. Er hat mich wie auch bereits den Gemeinderat überzeugt, dass seine Idee zwar revolutionär, aber dennoch die Lösung vieler unserer Probleme sein könnte. Allerdings wollte der Gemeinderat wie auch Martin selbst, dass ein solches Vorhaben nicht ohne euer aller Zustimmung begonnen werden sollte.
Das Ziel heute ist es also, euch in alle Details einzuweihen und hoffentlich von jedem Stimmberechtigten ein klares Ja zu unserem Vorhaben zu erhalten. Martin, ich bitte dich nun, mit deinem Vortrag zu beginnen.«
Martin erhob sich, startete seinen Laptop und wie schon in der Gemeinderatssitzung erschien kurz darauf auf der Leinwand groß die Landkarte der Gemeinde mit den eingezeichneten Außengrenzen.
Martins Stimme zitterte ein wenig bei seinen ersten Sätzen, allerdings wurde er von Silbe zu Silbe sicherer und erklärte sehr präzise seinen Plan. Er stellte Tatsachen genauso wahrheitsgemäß dar wie seine beiden großen Annahmen, was das Wachstum und Einnahmequellen anging, und betonte immer wieder, dass ein solches Vorhaben nur Erfolg haben könne, wenn jeder dahinterstehen würde.
Während seines Vortrages war es mucksmäuschenstill in der Halle und auch draußen wurde die Stille lediglich zweimal kurz unterbrochen von einem quengelnden Kleinkind.
Als Martin mit einem groben Projektplan und der Reihenfolge der notwendigen Tätigkeiten geendet hatte, stellte er laut und von jedermann hörbar eine Frage an seinen Freund Major Thomas Reitmeier. Er wusste bereits, dass er gute Nachrichten im Gepäck haben würde.
»Thomas, wie stehen die Soldaten der Gäuboden Kaserne in Straubing zu unserem Vorhaben?«
Der Major stand auf, betrat die Bühne und trat ans Mikrofon, räusperte sich und begann: »Nachdem Martin mir seine Idee erklärt hatte, habe ich diese im Offizierskreis wie auch mit den Soldaten meiner Kompanie diskutiert. Meine Soldaten waren größtenteils hellauf begeistert, denn auch sie machen sich während des Dienstes große Sorgen um ihre Lieben zuhause. Daher kann ich sagen, dass eine überwältigende Mehrheit eurem Aufruf, sofern er kommen sollte, nachkommen würde. Von Seiten der Standortleitung kann ich zudem berichten, dass es eine Verpflichtung gibt, das Vermögen der Bundeswehr und das Leben der Soldaten zu schützen. Sollte dies in eurem Dorf wesentlich einfacher machbar sein, so zieht die Standortleitung einen Umzug hierher mit allen Gerätschaften in Betracht. Zudem schließt sie nicht aus, ihre beiden Pionierkompanien als Übung eine Mauer bauen zu lassen.«
Seine letzten Worte ließ der Major einige Sekunden im Raum stehen, bevor er grinsend mit den Worten schloss: »Alles in allem werden wir jeden eurer Schritte im Auge behalten und euch nach besten Kräften unterstützen. Damit sollte dann auch einiges an Unsicherheiten, von denen Martin sprach, beseitigt sein.« Daraufhin setzte er sich wieder.
Martin ergriff wieder das Wort, fasste den Vortrag noch einmal kurz zusammen und endete damit: »Zusammenfassend steht nun fest, dass ein solches Vorhaben uns jeglicher Sorgen berauben würde, was das Leben und unser aller Nachtruhe angeht. Natürlich wird und muss sich vieles ändern in unserem Dorf, aber das ist bereits passiert, denn ich denke, dass das Leben wie vor zehn Jahren oder länger vorbei ist und genauso auch nicht mehr zurückkommen wird.
Der einzige Unsicherheitsfaktor, der derzeit noch bleibt, ist die Finanzierung. Ich glaube allerdings nach wie vor fest daran, dass sich wohlhabende Menschen zahlreich melden werden, wenn sie erst einmal von unserem Vorhaben erfahren haben.«
Als Martin diesen Satz beendet hatte, gab es am rechten Rand der Turnhalle eine Wortmeldung. Andreas Sommer, Besitzer der größten Firma im Dorf und Produzent von Teilen für die Autoindustrie, stand auf und sagte laut, damit es jeder verstehen konnte: »Hierzu habe ich eine Info. Nachdem ich von eurem Vorhaben erfahren habe, war ich sofort begeistert, weil, wie ihr wisst, bei mir schon mehrfach eingebrochen wurde. Und nur der Tatsache geschuldet, dass jeweils niemand zuhause war, ist es zu verdanken, dass bislang noch niemand zu Schaden gekommen ist. Jedoch musste ich bereits zweimal die Verwüstung meines Privathauses und einmal Einbruchsschäden im Werk zwei hinnehmen. Dadurch erklärt sich meine Begeisterung und auch deshalb habe ich mit einem Freund, der in München-Grünwald ein Anwesen besitzt, gesprochen. Mein Freund war und ist hochinteressiert, in einen gesicherten Bereich, wie es wohl unser Dorf werden würde, umzusiedeln und ist ebenso bereit, jegliche geforderten Beträge zu bezahlen. Ich zweifle auch nicht daran, dass er dies auch leisten kann.«
»Das ist ja super!« Mit diesem Satz ergriff nun Stephan Boxleitner wieder das Wort. »Damit scheint auch in diesem Punkt die Rechnung aufzugehen.
So, aber da das Projekt euer aller Zustimmung benötigt beziehungsweise diese wünschenswert wäre, möchte ich, bevor wir zur Fragerunde kommen, Wolfgang Heiml bitten, uns zu informieren, wie es um etwaige Hürden in Bezug auf Baugenehmigungen bestellt ist.«
Der Angesprochene stand auf und berichtete mit lauter Stimme: »Sollten alle Eigentümer ihren Grund an den Stellen abtreten, wo die Mauer gebaut werden soll, und alle Bürger dieser Gemeinde in einen noch zu gründenden Verein eintreten, dessen Zweck der Schutz aller seiner Mitglieder sein müsste, dann würde eine einfache Freigabe der Gemeinde zur Errichtung der Mauer ausreichen. So, wie ich die Pläne von Martin Berger kenne, wäre das ein Streifen in einer Breite von dreiundzwanzig Meter. Dieser setzt sich zusammen aus gut zwei Metern für die Mauer mit Dachüberstand, zwei Metern für den Kabelschacht, acht Metern für die Garagen, Wohnungen und Mehrzweckbereiche, drei Metern für die Außentreppen inklusive einem Dachüberstand sowie sieben Metern für die Straße entlang der Mauer. Zusammen also die besagten dreiundzwanzig Meter.« Daraufhin setzte er sich wieder.
Der Bürgermeister erhob nun wieder seine Stimme und sagte sichtlich erfreut ob dieser Nachricht: »Wunderbar, dann gibt es einen Weg, wie wir ohne große bürokratische Hürden auch in diesem Punkt vorwärtskommen könnten.
Martin, bitte zeig noch einmal die Karte mit der eingezeichneten Mauer und den einzelnen Grundstücksgrenzen.«
Nachdem Martin die gewünschte Folie aufgerufen hatte, ging der Bürgermeister zur Wand, an der nun die Karte zu sehen war, nahm einen Zeigestock und deutete auf das erste Grundstück. »Wessen Grund ist das?«
Philip Kreuzer, ortsansässiger Landwirt, hob seine Hand und rief: »Mir gehört diese Fläche wie auch die beiden Flächen unterhalb und die eine oberhalb, auf die du gerade zeigst.« Martin vermerkte direkt auf der Folie bei den jeweiligen Grundstücken das Kürzel »PK« .
»Philip, wärest du bereit, einen Streifen von dreiundzwanzig Metern mitten durch dein Land zugunsten eines Vereins zum Schutz unserer Gemeinde abzutreten?«, wollte nun Stephan Boxleitner wissen.
Philip Kreuzer erhob sich diesmal, schaute demonstrativ in die Runde aller Anwesenden, die nun gebannt zu ihm sahen, und sagte: »Mein Hof wurde ebenfalls schon einmal Ziel eines Überfalls, bei dem mein Hund getötet wurde. Wenn ich mit diesem Beitrag wieder nachts ruhig schlafen kann, gebe ich den Grund gerne ab.«
Vereinzelt kam bereits Jubel auf, aber Stephan Boxleitner bat um Ruhe und fuhr fort: »Philip, ich danke dir im Namen aller für deine Bereitschaft.«