Die Bergklinik Staffel 1 – Arztroman - Hans-Peter Lehnert - E-Book
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Die Bergklinik Staffel 1 – Arztroman E-Book

Hans-Peter Lehnert

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Beschreibung

Die Arztromane der Reihe Die Bergklinik schlagen eine Brücke vom gängigen Arzt- zum Heimatroman und bescheren dem Leser spannende, romantische, oft anrührende Lese-Erlebnisse. Die bestens ausgestattete Bergklinik im Werdenfelser Land ist so etwas wie ein Geheimtipp: sogar aus Garmisch und den Kliniken anderer großer Städte kommen Anfragen, ob dieser oder jener Patient überstellt werden dürfe. E-Book 1: Alle Brücken hinter sich abgebrochen E-Book 2: Wenn eine kleine Seele weint E-Book 3: Du bist die beste Medizin für mich E-Book 4: Die Fremde im Pelz E-Book 5: Schuld und Liebe E-Book 6: Die unbekannte Tochter E-Book 7: Der Gegenkandidat E-Book 8: Es wird ein Unglück geben E-Book 9: Was mir fehlt, bis du E-Book 10: Der Feind auf dem OP-Tisch

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Seitenzahl: 1102

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Inhalt

Alle Brücken hinter sich abgebrochen

Wenn eine kleine Seele weint

Du bist die beste Medizin für mich

Die Fremde im Pelz

Schuld und Liebe

Die unbekannte Tochter

Der Gegenkandidat

Es wird ein Unglück geben

Was mir fehlt, bis du

Der Feind auf dem OP-Tisch

Die Bergklinik – Staffel 1–

E-Book 1-10

Hans-Peter Lehnert

Alle Brücken hinter sich abgebrochen

»Bitt’schön nehmen S’ Platz, gnä’ Frau!« Dr. Vinzenz Trautner wartete, bis seine Besucherin Platz genommen hatte, dann setzte er sich hinter seinen Schreibtisch. »Wer, sagten S’, hat uns empfohlen?«

Die Besucherin hieß Bettina Wagner und sie war auffallend nervös. Mit fahrigen Händen zündete sie sich zuerst eine Zigarette an, was Dr. Trautner mit einem Stirnrunzeln registrierte, dann nahm sie aus ihrer Handtasche ein Bündel Papiere und legte sie auf den Schreibtisch.

»Bitte fragen Sie mich nicht«, sagte sie, »da steht alles drinnen, was Sie wissen müssen, meine ganze Leidensgeschichte.«

»Auf wessen Empfehlung sind Sie zu uns gekommen?« Dr. Trautner zog eine schmalrandige Brille aus einem Etui, putzte ein wenig umständlich die Gläser und nahm dann die Papiere an sich.

»Ich hab’ irgendwo von der Klinik gelesen«, antwortete die elegant gekleidete und nervös den Rauch ihrer Zigarette in die Luft pustende Witwe Konsul Wagners.

»So so, irgendwo gelesen haben S’ von uns«, murmelte Dr. Trautner, dann blätterte er in der Krankengeschichte.

Dr. Trautner war nicht besonders groß, sehr schmal, wirkte fast ein wenig gebrechlich, was jedoch täuschte, denn er war ein außerordentlich vitaler Mann. Er hatte vor drei Wochen sehr zurückgezogen seinen siebzigsten Geburtstag gefeiert und er betrieb seit vielen Jahren die Bergklinik.

Die Klinik war Vinzenz Trautners Idee gewesen, ausschließlich sein Werk. Er hatte jeden Pfennig seines nicht unbeträchtlichen privaten Vermögens genommen und eine Gesellschaft gegründet, deren alleiniger Zweck das Betreiben der Klinik war. Die Klinik lag malerisch eingebettet zwischen Bergen unmittelbar an einem glasklaren Bergsee, der, wann immer es möglich war, in die verschiedenen Therapien einbezogen wurde und dessen Quellen jene heilende Wirkung hatten, die nicht zuletzt für den weit über den süddeutschen Raum hinausgehenden Ruf der Klinik sorgten.

»Sie sind aus München?« Dr. Trautner blätterte in den Krankenpapieren und sah dann Bettina Wagner fragend an. »Gibt es da keine Ärzte, die Ihnen haben weiterhelfen können?«

»Natürlich gibt es die dort«, antwortete Bettina Wagner ungehalten. Sie war noch genauso nervös wie vorher; als sie sich eine neue Zigarette anzünden wollte, schüttelte Dr. Trautner den Kopf.

»Das lassen S’ besser«, sagte er. »Bei uns in der Klinik werden keine Rauchopfer gebracht.«

»Sie wollen mir das Rauchen verbieten? Das ist noch niemand gelungen. Außerdem ist es meine Entscheidung und ich bin alt genug, um zu wissen, was ich tu.« Bettina Wagner war eine sehr elegante Erscheinung, sie hatte dunkelbraune Haare und ein sehr schön geschnittenes, sorgfältig geschminktes Gesicht. Sie hielt noch immer die Zigarette in ihren Händen, wollte sie nach wie vor anzünden und sah Dr. Trautner fragend an, als wartete sie lediglich auf seine Zustimmung.

Der stand auf, nahm das Bündel Papier und gab es Bettina Wagner. »Bitte sehr, gnädige Frau.«

»Aber Sie haben meine Krankengeschichte doch noch gar nicht gelesen.« Bettina Wagner wirkte verunsichert.

»Das wird nicht nötig sein.«

»Warum nicht?«

»Weil Sie uns wieder verlassen werden.«

»Bitte…?«

»Wenn Sie Patientin der Bergklinik sein wollen, gnädige Frau, dann werden Sie sich an ein paar Regeln halten müssen.« Dr. Trautner ging zur Tür und öffnete sie.

»Wie soll ich das verstehen?« Bettina Wagner war blaß geworden. »Von was für Regeln reden Sie?« Sie streckte die Hand mit der Zigarette aus und hielt sie Dr. Trautner entgegen. »Nur weil ich nicht aufs Rauchen verzichten möchte, lehnen Sie meinen Aufenthalt in Ihrer Klinik ab? Das darf doch nicht wahr sein.«

»Es ist ganz allein Ihre Entscheidung, gnädige Frau!« Dr. Trautner zuckte bedauernd mit den Schultern. »Sie müssen ja nicht zu uns kommen. Aber wenn Sie es wollen… wie gesagt, es gibt Regeln, die jeder hier zu beachten hat.«

»Das ist mir noch nicht passiert.« Empört nahm Bettina Wagner ihre Krankenpapiere, steckte sie in ihre Tasche, zögerte einen Augenblick, als wolle sie noch etwas sagen, dann drehte sie sich auf dem Absatz herum und verließ Dr. Trautner.

Der schloß einen Augenblick die Augen, schüttelte ganz kurz den Kopf, dann verließ auch er sein Zimmer, ging eine Treppe hinunter und betrat das Labor.

»Haben S’ die Werte von Herrn Lagemann schon?« fragte Trautner eine junge Laborassistentin.

Die ging zu einem Bildschirm, tippte ein paar Zahlen ein, und gleich darauf wurden die Laborbefunde ausgedruckt. Sie händigte sie Dr. Trautner aus, der sich bedankte und das Labor wieder verließ.

Er ging zurück in sein Zimmer, dort setzte er ein wenig umständlich wieder seine schmalrandige Brille auf, dann las er den Bericht sorgfältig durch. Zum Schluß nickte er, lächelte zufrieden, griff zum Telefon und wählte eine Nummer.

»Wissen S’, wo Herr Lagemann ist?« fragte er dann.

Als er die Auskunft bekommen hatte, steckte er die Laborbefunde in die Außentasche seines Ärztekittels, dann verließ er die Klinik und ging durch einen wunderschönen kleinen Park Richtung See, dessen Oberfläche verspielt das Sonnenlicht reflektierte.

»Sie kommen sicher, um mir mitzuteilen, daß endgültig keine Hoffnung mehr besteht.« Hans Lagemann war mittelalt, hatte jedoch bereits schütteres, dünnes Haar, war sehr blaß und wirkte äußerst bedrückt.

»Nach meinen Erkenntnissen sind Sie geheilt.« Dr. Trautner lächelte, zog den Laborbefund aus der Tasche seines Kittels und gab ihn dem Patienten. »Bitte, Sie kennen inzwischen selbst soviel davon, Ihnen muß ich die Werte nicht kommentieren.«

Lagemann nahm das Blatt Papier, seine Hände zitterten dabei ein wenig, dann kehrte er Dr. Trautner den Rücken zu und ging ein paar Schritte Richtung See.

Nach wenigen Minuten kam er zurück und sah Dr. Trautner mit einem Blick an, der seine Unsicherheit deutlich widerspiegelte.

»Das… das ist kaum zu glauben«, murmelte er.

»Ich hab’ es Ihnen aber schon angekündigt«, sagte Dr. Trautner.

»Das haben Sie allerdings.« Lagemanns Stimme klang plötzlich anders als vorher. »Und Sie meinen wirklich…?«

»Die Röntgendiagnostik, das heißt die Computertomographie hat im Grunde genommen doch gar keine andere Möglichkeit offen gelassen.« Dr. Trautner klopfte Hans Lagemann auf die Schulter. »Wenn Sie wollen, können Sie nach Hause. Sie sind geheilt. Aber Sie können gerne auch noch ein paar Tage bleiben. Sie wissen, daß wir keinen Patienten wegschicken, es sei denn, es ist dringend geboten, weil er unbedingt die Umgebung wechseln sollte. Also, es liegt bei Ihnen, ob Sie bei uns noch ein bisserl ausspannen.«

»Ich kann es noch gar nicht fassen.« Hans Lagemann schien unschlüssig zu sein. Doch dann huschte das erste Lächeln um seine Mundwinkel. Vielleicht war es sein erstes Lächeln seit Monaten, seit die Diagnose Bronchialkarzinom gestellt worden war.

»Fassen Sie es ruhig, lassen S’ sich aber Zeit dabei«, sagte Dr. Trautner. »Und heut’ abend, da lad’ ich Sie ein. Auf eine Flasche Wein. Wenn Sie wollen, dürfen S’ aber auch ein Bier trinken. Sie haben mir mal gesagt, daß Sie immer gerne ein Bier getrunken haben.«

Lagemann nickte. »Das hab’ ich allerdings gern getan. Seit sieben Monaten, seit der schrecklichen Gewißheit, hab’ ich drauf verzichtet, und jetzt sieht es so aus, als dürfte ich wieder ein wenig Hoffnung schöpfen.« Plötzlich rannen ihm ein paar Tränen übers Gesicht. »Entschuldigen Sie bitte, sonst bin ich nicht so sentimental.«

»Lassen S’ Ihren Gefühlen ruhig freien Lauf, Tränen reinigen die Seele, sagt man.« Dann klopfte Trautner seinem Patienten noch mal auf die Schulter. »Also, bis heut’ abend. Ich freu’ mich.«

*

Oberschwester Theresa hatte ihren strengen Blick aufgesetzt, und das bedeutete nichts Gutes. Sie kam aus einem der Schwesternzimmer, wo es kurz zuvor für wenige Augenblicke laut geworden war. Die Oberschwester war eine Anhängerin des klaren und, wenn es notwendig war, auch des lauten Wortes. Sie galt als streng; die Schwestern, aber auch die Patienten, fürchteten ihre kompromißlose Art, und wenn sie irgendwo im Haus auftauchte, dann verstummten sehr rasch alle Gespräche.

Als sie den Klinikgang Richtung Aufnahme ging, kam ihr ein junger Mann entgegen.

»Wo wollen Sie denn hin?« fragte sie. »Jetzt ist keine Besuchszeit. Wer hat Sie eigentlich hereingelassen?«

»Ich bin…« sagte der junge Mann.

Doch die Oberschwester schnitt ihm bereits das Wort ab. »Wer Sie sind, ist nicht wichtig. Wichtig ist, das der Tagesablauf der Klinik nicht in Unordnung gerät. Halten Sie sich also an die allgemeinen Bedingungen. Zu wem wollen Sie eigentlich?«

»Zu Herrn Trautner!«

»Wenn schon, dann zu Herrn Doktor Trautner«, sagte die Oberschwester, wobei sie das Wort Doktor über Gebühr betonte, »wir wollen doch nicht vergessen, wer wir sind.«

»Dann möchte ich also zu Herrn Doktor Trautner.«

»Ich weiß nicht, ob er in seinem Zimmer ist«, sagte die Oberschwester. »Wer sind Sie und was möchten Sie von Herrn Doktor Trautner? Falls Sie Pharmareferent sind, dann dürfen Sie gleich wieder gehen. Wir empfangen keine Vertreter, nur auf Bestellung. Sind Sie bestellt?«

»Bestellt nicht gerade«, antwortete der junge Mann, der einen sehr gepflegten Eindruck machte, einen sportlich geschnittenen Tweedanzug trug und die Oberschwester amüsiert anlächelte.

Wenn Oberschwester Theresa meinte, jemand begegne ihr nicht mit dem nötigen Respekt, dann konnte sie unangenehm werden.

»Was gibt es da zu lachen?« fragte sie. Ihre Stimme hatte an Volumen und Schärfe zugenommen. »Bitte verlassen Sie auf der Stelle die Klinik.« Dann schien sie den jungen Mann beim Arm nehmen zu wollen, um ihn zur Pforte zu dirigieren.

»Sehr verehrte gnädige Oberschwester«, sagte der junge Mann da, »bitte erlauben Sie mir, daß ich mich Ihnen vorstelle.«

»Wie kommen Sie dazu, mich mit verehrte gnädiger Oberschwester anzureden?« Theresa hatte die Augenbrauen ein wenig zusammengezogen, zum ersten Mal sah sie den jungen Mann intensiver an.

»Weil nur eine Oberschwester mit dieser Bestimmtheit vorgehen kann«, antwortete der.

»Und wer sind Sie?« fragte Theresa. »Sie wollten sich doch vorstellen?«

»Mein Name ist Stolzenbach, Clemens Stolzenbach!«

»Ja und? Sollte mich das beeindrucken…?«

»Ich glaube nicht, daß irgend etwas Sie beeindruckt, Oberschwester.«

»Da könnten Sie recht haben.« Ein ganz schmales Lächeln lag für Bruchteile von Sekunden um die Augen der Oberschwester. Ihre Stimme klang dann wesentlich freundlicher als vorher. »Also, was wollen Sie da bei uns in der Klinik, beziehungsweise von Doktor Trautner?«

»Er wartet auf mich.«

»Ich denk’, Sie sind nicht bestellt.«

»Das bin ich auch nicht, ich lasse mich nämlich nicht bestellen.«

Zum ersten Mal schien es, als falle der Oberschwester die passende Antwort nicht ein.

»Wie war noch mal ihr Name?« fragte sie schließlich.

»Clemens Stolzenbach, Professor Clemens Stolzenbach, ich bin der neue Chirurg der Bergklinik.«

Nicht viele konnten behaupten, Oberschwester Theresa einmal völlig perplex gesehen zu haben. Der junge Professor konnte es, denn die Oberschwester sah ihn in dem Moment an, als sei ihr gerade mitgeteilt worden, daß man ihre Position einer Lernschwester übertragen habe.

»Sie sind wer?« fragte sie mit ungläubig klingender Stimme. »Hab’ ich Ihren Namen richtig verstanden? Stolzenbach?«

»Professor Stolzenbach«, lautete die Antwort, »wir wollen doch nicht vergessen, wer wir sind!« Dann konnte er ein Lachen nur mühsam unterdrücken. »Wenn Sie also so freundlich sein wollen und mir zeigen würden, wo ich den Kollegen Trautner finde.«

»Selbstverständlich, Herr Professor, kommen Sie bitte.« Oberschwester Theresa zeigte den Klinikgang hinunter und blieb vor der Tür Dr. Trautners stehen. »Entschuldigen Sie bitte, daß ich Sie eben so…!«

»Danke sehr, Oberschwester«, antwortete Stolzenbach, dann klopfte er an die Tür von Dr. Trautners Zimmer.

*

Bettina Wagner hatte im Hotel Prinzregent eine Suite bekommen und ärgerte sich immer noch über die kompromißlose Art Dr. Trautners, der sie mehr oder weniger hinausgeworfen hatte. Derart brüsk war sie noch nie von jemand behandelt worden.

Bettina Wagner war sechsunddreißig Jahre alt und sie hatte vor sieben Jahren den über doppelt so alten Konsul Ludwig Wagner geheiratet. Ihre Bekannten hatten von einer Versorgungsehe gesprochen, doch Bettina Wagner hatte ihren Mann geliebt, auch wenn andere das nicht so gesehen hatten.

Konsul Wagner war vor anderthalb Jahren verstorben und hatte seiner Frau ein beträchtliches Vermögen hinterlassen. Seit dem Tod ihres Mannes kränkelte die Konsulin, wie man sie in München ein wenig spöttisch nannte, doch alle Ärzte, die sie konsultiert hatte, hatten ihr nicht helfen können.

In verschiedenen Münchener Kliniken hatte sie sich untersuchen lassen, aber Anhaltspunkte für eine ernsthafte organische Erkrankung wurden nicht gefunden.

Danach war sie in psychologischer Behandlung gewesen, doch auch der Psychologe hatte ihr nicht weiterhelfen können. Schließlich hatte man ihr die Bergklinik empfohlen. Sie hatte dann auch noch sehr Positives über die Klinik gelesen und sich vor einigen Wochen entschlossen, dort um einen Termin zu bitten.

Der Termin war ihr gewährt worden, doch das Gespräch mit diesem eingebildeten, alten Arzt war dann ganz und gar nicht nach ihrem Geschmack verlaufen. Was maßte der sich an? Wollte ihr tatsächlich das Rauchen verbieten! Das kam nicht in Frage. Sie allein entschied, was sie tat und was nicht. Es mußte noch eine Möglichkeit geben, mit einem anderen Arzt der Klinik zu sprechen, als mit diesem Doktor Trautner.

Dieser verschroben wirkende alte Mann konnte doch nicht die entscheidende Instanz sein, ob man sich in der Klinik mit ihrem Fall befaßte oder nicht.

Bettina Wagner nahm die Whiskyflasche und goß ein Glas halbvoll, schloß die Augen und trank es in einem Zug aus. Danach zündete sie sich eine Zigarette an, kramte in ihrer Handtasche und nahm dann schließlich das Schreiben der Bergklinik heraus.

Sie zog das Telefon heran, wählte die Nummer der Klinik, und als sich dort die Zentrale meldete, verlangte sie einen Arzt zu sprechen.

»Welchen Arzt möchten Sie sprechen?« wurde sie gefragt.

»Jeden, nur diesen alten Doktor Trautner nicht«, antwortete sie mit schwerer Stimme, denn es war bereits das vierte Glas Whisky gewesen, das sie an jenem Nachmittag getrunken hatte. »Welche Ärzte gibt es denn bei Ihnen?«

»Den Chef, Herrn Doktor Trautner…!«

»Den nicht!«

»Herrn Doktor Heiken«, begann die Dame an der Zentrale aufzuzählen, »Herrn Doktor Rosenberg, Herrn Professor Stolzenbach und…!«

»Moment, wie war der letzte Name…?« Bettina Wagner glaubte, sich verhört zu haben.

»Professor Stolzenbach!«

»Clemens Stolzenbach? Aus München?«

»Der Professor heißt mit Vornamen Clemens, das steht hier im Telefonverzeichnis, aber ob er aus München kommt, das weiß ich nicht.«

»Wie lange ist Professor Stolzenbach bei Ihnen in der Klinik?«

»Etwa zwei Wochen.«

»Dann möchte ich einen Termin bei ihm«, sagte Bettina Wagner. »Wann kann ich kommen?«

»Einen Moment bitte, da muß ich Sie weiterverbinden.«

Wenige Minuten später lehnte sich Bettina Wagner entspannt zu­rück.

Sie hatte einen Termin schon für den übernächsten Tag bekommen und sich unter dem Namen einer Freundin angemeldet. Die Sekre­tärin hatte ihr bestätigt, daß Professor Stolzenbach aus München sei und zuletzt im Klinikum gearbeitet habe.

»Das nenn’ ich Zufall«, murmelte Bettina Wagner, nahm abermals die Whiskyflasche, um sich erneut ein Glas einzugießen, stellte die Flasche jedoch wieder weg.

»Wenn ich mit dir rede, lieber Clemens«, murmelte sie vor sich hin, »muß ich einen klaren Kopf haben. In die Berge hast du dich also zurückgezogen. Da schau her!«

Dann begann sie, sich herzurichten, besuchte am Abend das Restaurant des Hotels, schlief den ganzen nächsten Tag, weil sie ausgeruht und gut aussehend in der Klinik erscheinen wollte, und als sie sich dann am nächsten Morgen sehr kritisch im Spiegel betrachtete, huschte ein zufriedenes Lächeln über ihr Gesicht. Wenn sie ausgeschlafen war, nahm sie es in punkto Aussehen noch mit jeder Frau ihres Alters auf, auch noch mit vielen, die wesentlich jünger waren als sie.

Später ließ sie sich ein Taxi kommen und zur Bergklinik fahren.

Der Taxifahrer war einer der Gesprächigen und plapperte drauflos. Unter anderem erzählte er, daß Dr. Trautner eine Kapazität sei, was sie kommentarlos hinnahm – was wußte schon ein Taxifahrer! Sie konzentrierte sich ganz auf die Begegnung mit Clemens Stolzenbach. Für ihn würde es sicher eine überraschende Begegnung werden, das stand fest. Wie er heute wohl aussah?

Etwas über sieben Jahre hatten sie sich nicht gesehen. Bei ihrer Hochzeitsfeier zum letzten Mal. Mit einem großen Strauß roter Rosen war er aufgetaucht und hatte ihn ihr vor allen Gästen überreicht. Ludwig hatte er keines Blickes gewürdigt. Dann war Clemens Stolzenbach aus ihrem Leben verschwunden.

Damals hatte seine Karriere gerade begonnen. Sie hatte sie verfolgt, soweit es ihr möglich war. Immer wieder berichteten die Zeitungen von seinen Erfolgen als Chirurg. Mehr als einmal war er als ganz begnadeter Chirurg bezeichnet worden.

Fünf Jahre waren sie miteinander befreundet gewesen, hatten eine sehr enge und intime Beziehung miteinander gehabt. Bis sie Ludwig Wagner begegnet war. Der hätte ihr Vater sein können, zumindest, was das Alter betraf.

Keiner hatte verstanden, daß sie sich von Clemens Stolzenbach getrennt und in Konsul Ludwig Wagner verliebt hatte. Auch nicht, daß sein Geld keinerlei Rolle bei ihrer Entscheidung gespielt haben sollte, als sie sein überraschendes Heiratsangebot ohne zu zögern annahm.

»Was willst du mit ihm?« hatte Clemens gefragt. Immer wieder hatte er wissen wollen, was Ludwig ihr geben konnte und er nicht.

Sie hatte versucht, es ihm zu erklären, doch die passenden Worte waren ihr nicht eingefallen. Dabei wäre es so einfach gewesen, das wußte sie heute. Liebe lautete das Zauberwort, es war Liebe gewesen, was sie mit Ludwig Wagner verbunden hatte, nicht mehr und nicht weniger.

Je näher das Taxi der Klinik kam, desto nervöser wurde sie. Sie wollte sich eine Zigarette anzünden, dachte an Dr. Trautner und steckte sie wieder weg.

Dann waren sie da. Sie nahm einen kleinen Kosmetikspiegel aus ihrer Handtasche, betrachtete sich kurz, steckte den Spiegel wieder ein, bezahlte den Chauffeur, stieg aus und betrat sehr selbstbewußt wirkend die Eingangshalle der Klinik.

»Ich habe einen Termin bei Professor Stolzenbach«, sagte sie zu der Dame am Empfang. Zum Glück erinnerte sie sich rechtzeitig genug daran, daß sie sich unter dem Namen Zanger angemeldet hatte, und Augenblicke später wurde sie in des Professors Ordination gebeten.

»Wenn Sie sich noch einen Augenblick gedulden wollen, gnädige Frau«, sagte die Sekretärin, »der Herr Professor ist sofort für Sie da.«

Es dauerte noch eine Viertelstunde, dann wurde die Tür geöffnet und Clemens betrat das Zimmer. Bettina Wagner meinte, ihr Herz bis zum Hals herauf schlagen zu hören, so aufgeregt war sie in dem Moment. Clemens sah sehr gut aus, besser als sie es in Erinnerung hatte. Er wirkte sportlich und äußerst kompetent.

Als er sie ansah, stutzte er einen winzigen Augenblick, dann kam er auf sie zu, küßte ihre Hand und tat so, als erkenne er sie nicht. Bettina Wagner war mehr als enttäuscht. Sie hatte seine Überraschung erleben wollen, und nun schien er sie nicht mal zu erkennen.

Doch dann wurde sie eines Besseren belehrt. Clemens bat sie, Platz zu nehmen, dann lächelte er sie an und fragte: »Seit wann heißt du Zanger? Hast du am Ende schon wieder geheiratet?«

Jetzt wußte sie nicht, ob sie sich freuen oder ärgern sollte. Immerhin, erkannt hatte er sie, aber seine abwartende, um nicht zu sagen kühle Reaktion konnte nichts anderes bedeuten, als daß er ihr nicht verziehen hatte.

»Ich… ich habe mich unter anderem Namen angemeldet«, sagte sie, »weil ich nicht sicher war, ob du mich empfangen hättest, wenn ich als Bettina Wagner gekommen wä­re.«

Clemens Stolzenbach verzog keine Miene. Nach wenigen Momenten wollte er wissen, wie er ihr helfen könne. Dann fügte er hinzu: »Bist du meinetwegen hierher gekommen?«

Bettina schüttelte den Kopf. »Ich habe nicht gewußt, daß du hier bist.«

»Und dein falscher Name?«

»Erst bei der Anmeldung habe ich erfahren, daß es hier in der Klinik einen Professor Stolzenbach gibt. Ich war vor zwei Wochen schon mal hier.«

»Aha. Bei wem?«

»Doktor Trautner.«

»Und warum bist du nun bei mir?«

»Weil dieser Trautner mich nach Hause geschickt hat. Und zwar, weil ich nicht auf eine Zigarette habe verzichten wollen. Ich habe es als Unverschämtheit empfunden und bin gegangen.«

Clemens Stolzenbach schmunzelte.

»Was gibt es da zu lachen?« Bettina Wagner sah ihn fragend an.

»Kollege Trautner hat eine sehr eigene Art«, sagte Professor Stolzenbach. »Man kann damit schon mal seine Probleme haben.«

Bettina Wagner ging nicht weiter auf das Thema ein, sondern wollte wissen, warum er das Münchener Klinikum verlassen habe.

»Du hattest dort doch die allerbesten Aussichten«, sagte sie. »Die Münchener Zeitungen haben immer in den schillerndsten Farben von deiner Karriere berichtet.«

»Schillernde Farben rufen Neider auf den Plan…!«

»Und da hast du dich hierher zurückgezogen?« Bettina Wagner sah Clemens Stolzenbach ungläubig an. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß du so einfach aufgibst. Früher hättest du es nicht getan.«

»Früher ist lange vorüber.«

Bettina Wagner lachte. »Du bist gerade mal vierzig.« Dann dachte sie nach. »Nicht mal vierzig bist du.«

»Es gab auch private Probleme«, sagte Stolzenbach daraufhin.

»Deines Chefs Töchterlein?« Bettina lächelte. »Auch das stand in der Zeitung.«

»Anscheinend hast du ja wohl die Regenbogenpresse gründlich studiert«, antwortete Clemens Stolzenbach.

»Ich habe seit meiner Heirat mit Ludwig nie mehr etwas von dir gehört.« Bettina Wagner war aufgestanden und ging zum Fenster. Dort blieb sie stehen und sah hinaus in die prachtvolle Bergkulisse. »Ich habe das sehr bedauert.«

»Ich habe bedauert, daß du mich verlassen hast«, entgegnete Stolzenbach. »Ich habe es nicht verstanden und ich bin anfangs auch nicht so ohne weiteres darüber hinweggekommen. Es hat lange gedauert, bevor ich eine neue Beziehung eingegangen bin.«

Bettina Wagner atmete tief durch. Sie ging zurück, nahm wieder Platz und sah ihren einstigen Geliebten an. »Ich… die Zeit mit dir war wunderschön. Aber als ich Ludwig kennenlernte, war sie vorüber. Ich habe Ludwig geliebt… wirklich geliebt…!«

»Du mußt dich nicht rechtfertigen«, fiel Stolzenbach ihr ins Wort. Dann räusperte er sich und zeigte auf das Bündel Papiere vor ihr auf dem Tisch. »Sind das deine Krankenpapiere? Weswegen bist du eigentlich hier?«

»Weil ich mich nicht wohl fühle«, antwortete Bettina Wagner. »Ich bin bei vielen Ärzten gewesen, auch bei einem Psychologen, weil einer deiner Kollegen die Vermutung äußerte, ich habe Ludwigs Tod nicht verkraftet, aber nach wie vor habe ich diese diffusen Schmerzen.«

»Wo…?«

»Hier!« Bettina Wagner legte die flache Hand auf die Magengegend. »Es kommt in Schüben. Manchmal bin ich tage-, ja wochenlang vollkommen schmerzfrei, dann ist es wochenlang wieder nicht zum Aushalten. Im Moment spüre ich nichts.«

»Wenn es dir recht ist«, sagte Clemens Stolzenbach, »werde ich mir deine Krankenpapiere ansehen, und dann werden wir uns weiter unterhalten. Wie kann ich dich erreichen?«

»Im Hotel Prinzregent in Mittenwald«, antwortete Bettina. »Wenn dieser Doktor Trautner nicht wäre, würde ich ja in die Klinik kommen. Aber ich habe das Gefühl, er mag mich nicht.«

»Wenn er dich erst mal näher kennt, wird er dich mögen«, sagte Stolzenbach. »Du siehst übrigens sehr gut aus, mein Kompliment. Du bist keinen Tag älter geworden.«

»Danke!« Bettina Wagner lächelte und stand auf. »Clemens…?«

»Ja?«

»Hast… hast du mir inzwischen verziehen? Ich meine, daß ich dich damals verlassen habe?«

Plötzlich sah Professor Stolzenbach ernster als vorher drein. »Ich hatte es zu akzeptieren, ob ich wollte oder nicht.«

»Das war nicht meine Frage«, sagte Bettina Wagner leise. Ihre bernsteinfarbenen Augen waren auf den jungen Chirurgieprofessor gerichtet. »Ob du mir heute verziehen hast, wollte ich wissen.«

Es dauerte eine Weile, bis Clemens Stolzenbach antwortete. »Es ist nie leicht, eine Frau, die man liebt, an einen anderen zu verlieren.«

»Was uns verband«, antwortete Bettina Wagner, »das war keine wirkliche Liebe, Clemens. Wir waren süchtig nacheinander, ja, aber wirklich geliebt haben wir uns nicht.«

»Ich kann natürlich nur für mich sprechen«, meinte Stolzenbach daraufhin. »Ich habe dich geliebt. Und du hast mich fallen gelassen. Beides sind Fakten.« Dann räusperte er sich. »Ich werde dich in deinem Hotel anrufen, wenn ich deine Unterlagen durchgearbeitet habe.«

*

»Doktor Trautner ist nicht da, Herr Professor.« Schwester Lissi zuckte bedauernd mit den Schultern. »Jeden Dienstag ist er vormittags droben am Berg bei dem Kräutersammler. Manchmal bleibt er auch den ganzen Tag bei ihm.«

»Wo ist er?« Professor Stolzenbach sah die junge, bildhübsche Schwester fragend an.

»Am Predigtstuhl«, antwortete diese, »da gibt’s einen alten Kräutersucher, den Gratlinger-Lois. Der Doktor und der Lois sind Freunde seid ihrer Kindheit, und die Freundschaft besteht noch heute.« Dann lächelte Lissi. »Der Doktor sagt oft, der Lois hätte mehr für die Gesundheit der Menschen in dieser Gegend getan als die meisten Ärzte.«

»Aha.« Professor Stolzenbach schien sich zu amüsieren. »Und wie sieht die Hilfe dieses Lois aus?«

»Ich habe es doch schon gesagt«, antwortete Schwester Lissi, »der Lois ist Kräutersammler. Daraus mischt er Tees, füllt Inhaliersäckchen ab und fertigt aus Wurzeln und Kräutern Salben, die er nach eigenen Rezepturen miteinander mischt.«

»Und Doktor Trautner?« wollte Stolzenbach wissen. »Was hat der damit zu tun?«

»Na, er holt immer was vom Lois«, antwortete die bildhübsche Schwester.

»Selbstgebraute Tees und Salben?« Clemens Stolzenbach sah die junge Schwester ungläubig an.

Die nickte. »Häufig sogar.«

»Und die wendet er dann hier in der Klinik an?«

»Sicher. Es hilft den Leuten ja.«

»Wendet Doktor Trautner sonst noch irgendwelche sogenannten Naturheilmittel an?« fragte Professor Stolzenbach.

»Ja, das Quellwasser.« Lissi Mitterer zuckte mit den Schultern. »Aber was es damit auf sich hat, das weiß ich nicht. Da müssen Sie den Doktor schon selbst fragen.«

Während Professor Stolzenbach sich bedankte und dann stirnrunzelnd davonging, stieg Dr. Trautner einen schmalen Pfad hinauf. Nach einer halben Stunde blieb er stehen und drehte sich um, um ein wenig zu verschnaufen. Dabei hatte er einen einmalig schönen Blick in die Werdenfelser Bergwelt. Im Westen ragten Waxenstein und Alpspitze in den wolkenlosen blauen Himmel, im Süden wuchs die Wettersteinwand aus dem felsigen Gestein, noch weiter südlich die schneebedeckten Spitzen der Tiroler Berge und im Osten zeichneten die Karwendelspitzen ihre steinernen Formationen gegen das Firmament.

Dr. Trautner setzte sich auf eine Felsplatte und genoß die Ruhe und die Einsamkeit. Er schätzte diese Minuten sehr und um nichts auf der Welt hätte er darauf verzichtet, einmal in der Woche auf den Predigtstuhl zu steigen, um seinen Jugendfreund Lois zu besuchen.

Alois Gratlinger war auf einem Bauernhof aufgewachsen, hatte mit Dr. Trautner die Schule besucht und Abitur gemacht, dann hatten sie sich vorübergehend aus den Augen verloren.

Als sie sich nach einigen Jahren wiedergesehen hatten, war Vinzenz Trautner Assistenzarzt in Garmisch, und der Gratlinger-Lois bewirtschaftete den Sterzenhof, den er von seinem Vater übernommen hatte.

Er war noch nicht mal fünfzig, als er den Hof seinem Sohn übergab und sich auf die Predigtstuhl-Alm zurückzog, wo er zu Beginn noch Almwirtschaft betrieb, doch im Laufe der Jahre widmete er sich immer mehr der Kräutersammelei.

Der Gratlinger-Lois mischte verschiedene Tees, deren Rezepturen er immer mehr verfeinert hatte; er stellte zuerst nur eine Salbe her, inzwischen waren es drei verschiedene, deren Mixtur er niemand verriet, die jedoch von vielen Ärzten der Gegend empfohlen wurden, und er gab Blumensamen und Kräuter in ein Sackerl, das man über heiße Dämpfe legte, um sie dann einzuatmen, denn sie halfen bei Schnupfen und Infektionen der oberen Luftwege.

Bei allem unterstützte ihn Dr. Trautner, der den Gratlinger seit Jahren auf seiner einmalig schön gelegenen Hütte auf der Predigtstuhl-Alm besuchte.

»Wo bleibst du denn heut’?« fragte der Lois, während er auf die hoch am Himmel stehende Sonne zeigte. »Ich hab’ mir schon Gedanken gemacht und gemeint, du wärst über den Ochsensteig gekommen. Das Brückerl über den Karbach drüben an der Klamm ist nämlich defekt. Einer der Bolzen hat sich gelockert, und wenn es ganz dumm geht, dann haut’s dich hinunter in die Schlucht.«

»Zuerst einmal Grüß Gott.« Dr. Trautner atmete ein paarmal tief durch, weil er ein wenig aus der Puste gekommen war, denn der letzte Teil des direkten Weges herauf auf die Alm war sehr steil und kräftezehrend.

»Grüß dich, Vinz!« Alois Gratlinger lächelte den Arzt der Bergklinik freundschaftlich an. »Bist froh, daß du dem Trubel wieder mal entkommen bist?«

»Hab’ ich dir schon gesagt, daß der neue Chirurg da ist?« Fragend sah Dr. Trautner seinen langjährigen Freund an.

Der nickte. »Ja, das hast mir gesagt. Und? Wie macht er sich? Rechtfertigt er den Ruf, der ihm vorauseilt?«

»Sein Können ist unbestritten.«

»Aber…? Das hat sich so angehört, als würdest dein Lob einschränken wollen.«

»Na ja, er ist ein junger Bursch, net einmal vierzig, und meint, er wüßt’ alles.«

»Dann bist also schon mit ihm zusammengeraten?« Alois Gratlinger verzog jetzt sein Gesicht. »Das wär’ wirklich kein gescheiter Anfang.«

»Zusammengeraten sind wir noch net«, antwortete Vinzenz Trautner, »aber er hat halt seine eigenen Vorstellungen.«

»Die hast du auch…!«

»Ja sicher.« Trautner war anzumerken, daß ihm das Gespräch nicht angenehm war. »Aber ich hab’ ja auch lange genug Erfahrungen gesammelt…!«

Der Gratlinger-Lois grinste. »Daß Erfahrungen nichts anderes als eine Sammlung selbstgemachter Dummheiten sind, das weißt du doch.«

»Blödsinn«, graumelte Dr. Trautner vor sich hin. »Wo hast du den Unsinn denn aufgeschnappt?«

Da lachte der Lois. »Das sagst du doch immer. Erst vor ein paar Monaten hast es wieder einmal zitiert. Als der alte Doktor Markner aus Krün sich auf seine Erfahrungen berufen hat.«

Zuerst sah es aus, als wollte Vinzenz Trautner barsch reagieren, doch dann lachte auch er. »Oh je, manchmal weiß ich schon nimmer, was ich gesagt hab’. Und ob man alles richtig macht, das weiß man auch net.«

»Meinst du die Entscheidung, den Münchener Professor an die Klinik geholt zu haben?« Gespannt musterte der alte Lois seinen Freund. »Aber du bist doch voll des Lobes gewesen. In allen Zeitungen haben s’ über ihn geschrieben, hast gesagt. Und zwar immer voller Bewunderung.«

»Ja ja«, antwortete Trautner. »Fachlich, ich mein’ chirurgisch, ist sicher nix gegen ihn zu sagen.«

»Aber? Da kommt doch schon wieder ein aber?«

»Er ist mir viel zu fachlich, verstehst? Viele junge Ärzte heut’ sind fachlich ausgezeichnet. Aber es fehlt ihnen die Nähe zu den Patienten. Der Organismus des Menschen besteht zwar aus vielen Einzelorganen, für die es einzelne Fachrichtungen gibt, aber trotzdem ist der Mensch, sein Organismus, ein Ganzes. Und das muß man gebührend berücksichtigen.«

Der alte Kräutersammler nickte. »Das weiß ich, du hast es mir ja wirklich oft genug auseinandergelegt.«

Dann schwiegen beide eine Weile.

»Was macht eigentlich die Moni?« wollte Dr. Trautner dann wissen. »Das Physikum hat sie ja inzwischen bestanden und die erste ärztliche Prüfung auch. Wie weit ist sie denn jetzt?«

Da huschte ein Lächeln über das Gesicht des alten Lois. »Sie hat ihre Famulator schon hinter sich und möcht’ jetzt bei dir in der Bergklinik ein freiwilliges Praktikum absolvieren. Am letzten Sonnabend ist sie heroben bei mir gewesen. Ich soll dich grüßen und fragen, ob es dir recht ist.«

»Herrschaftszeiten.« Dr. Trautner schüttelte den Kopf. »Ich kann es kaum glauben. Ich mein’, es wär’ grad ein paar Jahre her, als das Madel geboren wurde, und jetzt will sie in der Klinik ihr Praktikum absolvieren. Noch anderthalb Jahr’, dann ist sie Ärztin. Wo ist nur die Zeit geblieben?« Dann verzog er ein wenig das Gesicht und sah den Lois an. »Und? Ist sie auch so ein modernes Madel, das alles nach dem Wissen der Bücher behandelt?«

Der alte Kräutersammler grinste. »Wenn du mich net verrätst, dann geb ich jetzt ein Geheimnis preis.«

Dr. Trautner winkte ab. »Du kannst doch eh nix für dich behalten.«

»Du bist ihr Vorbild«, sagte da der Lois. Er sprach leise, so als ob niemand mithören solle. »Schon seit Jahren. Ich hab’ dir aber nix sagen dürfen. Die Moni meint, du wärst der beste Arzt, den sie kennen würd’.«

Verlegen wich Dr. Trautner dem Blick seines Freundes aus, murmelte etwas Unverständliches vor sich hin, dann huschte ein Lächeln über sein Gesicht. »Sag dem Madel, sie könnt’ ihr Praktikum bei mir absolvieren und daß ich gespannt auf sie bin. Immerhin hab’ ich sie ja schon eine ganze Weile nimmer gesehen. Wann will sie denn zum Praktikum kommen?«

»Jetzt im Sommer.«

Dr. Trautner wirkte plötzlich nachdenklich. »Wenn man keine Kinder hat, dann geht die Zeit unbemerkt vorüber. Erst wenn man sich an Kindern orientiert, wird einem bewußt, daß nichts bleibt, wie es ist.«

Da nickte der alte Kräuter-Lois. »Da hast allerdings recht. Am wenigsten wir selbst…«

*

»Ich habe Frau Wagner nicht aufgenommen, weil sie sich nicht an den eher weit gesteckten Rahmen der Bergklinik halten wollte. Wie können Sie sie da aufnehmen?« Dr. Trautner war ärgerlich, das war unschwer zu erkennen. Er hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt und ging in seinem Zimmer auf und ab, dann blieb er vor dem Professor stehen und sah ihn über den Rand seiner Brille hinweg an.

»Weil sie mich drum gebeten hat«, antwortete Stolzenbach.

»Das ist ein ganz und gar überzeugendes Argument«, höhnte Vinzenz Trautner. »Lieber Kollege, auch wenn Sie sich habilitiert haben und alle Welt voll des Lobes über sie ist, so bin doch ich der ärztliche Leiter der Bergklinik.«

»Das stelle ich nicht in Abrede«, antwortete Stolzenbach.

»Was soll dann Ihre Eigenmächtigkeit?« Dr. Trautner war nicht gewillt, die Sache auf sich beruhen zu lassen.

»Erstens wußte ich nicht, daß Sie Frau Wagner abgewiesen haben.« Stolzenbach wollte sich offensichtlich nicht in die Defensive drängen lassen. »Aber wenn ich es gewußt hätte, wäre es auch kein Grund gewesen, Frau Wagner nicht aufzunehmen. Wenn ich bei jedem Patienten Rücksprache nehmen muß, ob er Ihnen genehm ist oder nicht, dann bin ich hier fehl am Platz.«

Dr. Trautner hatte die Hände wieder hinter dem Rücken verschränkt und begann erneut, in seinem Zimmer auf und ab zu gehen. »Wenn ein Patient nicht willens ist, einfachste, gültige Regeln zu beachten, dann können wir nichts für ihn tun. So leid es mir für ihn, in diesem Fall für Frau Wagner, tut.«

»Frau Wagner wird sich zukünftig an die Regeln halten!« Professor Clemens Stolzenbach war groß gewachsen, er hatte eine sportlicheFigur, war eine blendende Erscheinung, und dementsprechend war sein Auftreten.

Vinzenz Trautner nickte. »Wollen wir es hoffen.«

Obwohl er Stolzenbach auf Frau Wagner angesprochen hatte, war Dr. Trautner nicht ganz bei der Sache gewesen. Vor einer Stunde war nämlich ein Patient gekommen, der vor einem halben Jahr als geheilt entlassen worden war.

Der Patient war damals mit einem Magenkarzinom gekommen, das von Professor Stolzenbachs Vorgänger operativ entfernt worden war. Die weitere Behandlung hatte Dr. Trautner übernehmen wollen, doch der Patient, ein fünfundfünfzigjähriger alleinlebender Mann, hatte sich entschieden, ausschließlich nach schulmedizinischen Verfahren weiter therapiert zu werden.

»Haben Sie sich schon den Patienten auf Zimmer neun angesehen?« fragte Trautner. »Vor einem halben Jahr schien er geheilt. Heute kommt er mit starken Oberbauchschmerzen, die bis in den Rücken ausstrahlen.«

»Was sagt die Röntgendiagnostik?« Professor Stolzenbach sah Dr. Trautner fragend an.

»Keinerlei Hinweise auf ein Rezidiv«, antwortete der. »Auch die Gastroskopie hat keine Hinweise gegeben.«

»Was ist mit den Lymphbahnen?«

»Ohne Befund.«

»Mesenterium und Leber?«

»Werden untersucht.«

»Was für ein Karzinom war es?«

»Ein Ringwallkarzinom an der kleinen Kurvatur.«

»Ich möchte den Patienten sehen.« Clemens Stolzenbach sah auf seine Uhr. »Wann ist das möglich?«

»Sobald er aus der Radiologie kommt«, antwortete Dr. Trautner. Er wußte, daß Professor Stolzenbach gerade auf dem Gebiet der Viszeralchirurgie die größten Erfolge hatte verbuchen können.

Eine Stunde später war Stolzenbach bei dem Patienten. Er hatte dessen Krankengeschichte sehr sorgfältig studiert, ebenso die neuesten Röntgenbilder und die Labordaten überprüft.

Er stellte sich vor.

Der Patient, Herr Ernst Jagner, machte einen sehr niedergeschlagenen Eindruck.

»Es sieht übel aus, Herr Professor«, sagte er, »ich fühle mich elender als damals. Und da hatte ich Krebs. Ich fühle es, er ist wiedergekommen. Nur gibt’s diesmal nichts mehr zum Wegschneiden. Mein Magen ist schon so klein…!«

»Nun werfen Sie die Flinte nicht schon ins Korn«, sagte Stolzenbach. »Die Gastroskopie und die Röntgendiagnostik haben keinerlei Hinweise auf ein Rezidiv gegeben.«

»Was soll es denn sonst sein?« fragte Jagner. »Ich fühle mich sehr elend und schwach. Hier«, er legte seine Hand auf seine rechte Bauchseite, »hier habe ich den zentralen Schmerz.«

»Ist bei Ihnen schon eine Ultraschall-Untersuchung der Gallenblase gemacht worden?« Professor Stolzenbach blätterte in den Unterlagen. »Hier finde ich nämlich keine Angaben darüber.«

Ernst Jagner zuckte mit den Schultern. »Man hat so viele Untersuchungen mit mir gemacht, was das alles war, weiß ich nicht.«

»Ich werde mich darum kümmern.«

Clemens Stolzenbach lächelte den Patienten aufmunternd an.

»Entschuldigen Sie, Herr Professor«, fragte der daraufhin, »sind wir uns nicht schon mal irgendwo begegnet? Sie kommen mir so bekannt vor. Schon eben, als Sie durch die Tür kamen, hab’ ich gemeint, ich würd’ Sie kennen.«

»Ich weiß nicht, ob und wo wir uns schon mal begegnet sind«, antwortete Clemens Stolzenbach, obwohl er ahnte, daß Jagner sein Bild in der Zeitung gesehen hatte. »Wenn es möglich ist, dann ruhen Sie sich ein wenig aus. Am besten wäre, Sie würden schlafen. Ich komme am späten Nachmittag wieder vorbei, um den weiteren Ablauf ihrer Untersuchungen mit Ihnen zu besprechen.«

Ernst Jagner atmete auf und nickte. Er lächelte sogar ein wenig. »Danke, Herr Professor. Ich hab’ das Gefühl, es geht mir schon viel besser.«

Drei Tage später stand fest, daß Jagner keine Gallensteine hatte, aber auch auf ein Rezidiv des Magenkarzinoms gab es keinerlei Hinweise. Die fraktionierte Magensaftuntersuchung war völlig in Ordnung gewesen, ebenso mehrere Röntgenaufnahmen mit Kontrastmittel.

»Es ist mir ein Rätsel«, sagte Dr. Trautner. »Ob es Phantomschmerzen sind? Glaubt er, einen Schmerz zu spüren, weil er sich gedanklich noch immer mit seinem Magenkarzinom befaßt?«

»Möglich ist alles«, murmelte Stolzenbach, »doch solange nicht ausgeschlossen ist, daß eine organische Erkrankung vorliegt, müssen wir weitersuchen. Ich habe Sie schon mal gefragt, sind Mesenterium und Leber schon untersucht worden? Wenn nicht, würde ich eine Computer-Tomografie vorschlagen.«

»Es ist Ihr Patient, Professor«, sagte Dr. Trautner.

Als beide dann das Arztzimmer verließen, kam ihnen Bettina Wagner auf dem Klinikgang entgegen. Zuerst wollte sie Dr. Trautner aus dem Weg gehen, doch da waren er und Clemens schon heran.

»Ich hoffe, Sie fühlen sich wohl bei uns, gnädige Frau«, sagte Trautner, dann warf er Stolzenbach einen raschen Blick zu. »Aber wenn man einen wohlmeinenden Fürsprecher hat wie Sie, dann ist es immer einfach, sich zurechtzufinden.« Dann ging er weiter, ohne eine Antwort abzuwarten.

»Weiß er, daß wir uns kennen?« Bettina Wagner sah Clemens Stolzenbach fragend an.

Der schüttelte den Kopf. »Wieso fragst du? Willst du daraus ein Geheimnis machen? Welchen Sinn hätte das?«

»Nein, nein«, antwortete Bettina Wagner, »ich fühle mich von Trautner nur auf eine sonderbare Art beobachtet. Als wenn er wüßte, was ich denke.«

Clemens Stolzenbach lachte. »Also hellseherische Fähigkeiten hat er sicher nicht. Bei aller Wertschätzung für die besonderen Methoden des Kollegen Trautner, ich denke, Gedanken lesen kann er nicht.«

»Wann kann ich dich sprechen?« wollte Bettina Wagner daraufhin wissen.

»Was möchtest du?« Stolzenbach sah sie fragend an. »Vielleicht kann ich dir gleich jetzt helfen.«

Bettina Wagner schüttelte den Kopf. »Nein, nein«, sagte sie, »was ich von dir will, nimmt sicher mehr Zeit in Anspruch, als du im Augenblick zur Verfügung hast.«

Stolzenbach sah auf die Uhr. »Es dürfte ein langer Tag werden. Vielleicht um zwanzig Uhr?«

»Wo?«

»In meinem Zimmer?« Clemens Stolzenbach hatte in der Stadt ein Haus gemietet, das jedoch noch nach seinen Vorstellungen renoviert wurde, und deswegen hatte er es noch nicht beziehen können. So lange begnügte er sich mit einem Zimmer in der Bergklinik.

»Also gut, bis zwanzig Uhr.« Bettina Wagner lächelte und ging.

*

Die Bergklinik lag auf einem kleinen Hügel, und als sie erbaut werden sollte, hatte es zuerst erhebliche Widerstände gegeben. Es war nämlich nicht Vinzenz Trautners Art, bei den zuständigen Behörden Klinken zu putzen, dafür hatte er äußerst prominente Fürsprecher.

Eines Tages war die Bau- und Betriebsgenehmigung dann erteilt worden. Die Satzungen der von ihm gegründeten Gesellschaft, deren Mehrheitsanteile er hielt, besagten, daß die Klinik nach naturheilkundigen Gesichtspunkten betrieben werden würde, und daran hatte sich bis heute nichts geändert.

Der Vorgänger Professor Stolzenbachs, Dr. Pfeil, war, solange er die Station geleitet hatte, von dieser Idee nicht überzeugt gewesen. Während der drei Jahre seines Wirkens in der Klinik hatte es deswegen sehr häufig Auseinandersetzungen mit Dr. Trautner gegeben, die schließlich darin einen Schlußpunkt fanden, daß man sich voneinander getrennt hatte.

Bei der Auswahl eines geeigneten Leiters für die Chirurgie war Trautner dann auf Clemens Stolzenbach aufmerksam geworden. Nicht nur seiner Erfolge wegen, sondern weil ein Bekannter Trautners, Professor Schmidt, ihm von dem jungen Münchener Talent erzählt hatte.

»Du mußt ihn arbeiten sehen«, hatte Schmidt geschwärmt, »er hat gesegnete Hände.«

»Ein gesegneter Verstand, wann er auf das Skalpell verzichten sollte, wäre mir lieber«, hatte Vinzenz Trautner geantwortet.

Doch dann hatte er Clemens Stolzenbach einen Brief gesandt, in dem er ihn um einen Besuch bat und gleichzeitig darauf aufmerksam machte, daß die Bergklinik einen Leiter für die Chirurgie suche.

Es mag sein, daß der Brief Dr. Trautners gerade zur rechten Zeit in München eintraf, denn Clemens Stolzenbach trug sich bereits seit einigen Wochen mit dem Gedanken, das Klinikum zu verlassen, und das hatte mehrere Gründe.

Einmal war da die Liaison mit Marion, der Tochter seines Chefs, Professor Weinert. Marion war ein hübsches Mädchen, jedoch viel zu egoistisch und zu phlegmatisch, um für eine ernsthafte Beziehung in Frage zu kommen. Er hatte sich schon einmal von ihr trennen wollen, doch Marion hatte es gespürt und ihren Tränen freien Lauf gelassen. Tränen bei Frauen hatten Stolzenbach noch immer gerührt, und so hatte er sein Vorhaben drangegeben.

Drei Wochen vor seinem Wechsel zur Bergklinik hatte er Marion dann mit einem jungen Kollegen erwischt. In eindeutiger Situation. Sonst wäre er geschockt gewesen, diesmal war er erleichtert. Marion hatte kommentarlos hingenommen, daß Clemens ihr den Ring zurückgegeben hatte.

Der zweite Grund, warum Stolzenbach das Klinikum verlassen hatte, war sein Verhältnis zu Professor Weinert. Weinert gehörte einer Generation von Chirurgen an, die sich im Glanz einstiger Erfolge sonnte und äußerst argwöhnisch betrachtete, wie ein junger Mann wie Clemens Stolzenbach heute die Meriten einsammelte. Es war zu kleinen versteckten Eifersüchteleien gekommen und schließlich auch zu einigen äußerst peinlichen Szenen.

Da Clemens Stolzenbach vermeiden wollte, daß es zum offenen Bruch zwischen ihnen kam, hatte er sich entschieden, das Klinikum zu verlassen, obwohl er bereits als Nachfolger von Professor Weinert gehandelt worden war.

Daß Dr. Trautner und seine Art nicht unbedingt in den üblichen Rahmen paßten, war ihm schon bewußt gewesen, doch die Bergklinik genoß einen ausgzeichneten Ruf; vor allem Patienten, die einmal dagewesen waren, schwärmten von der einmaligen Atmosphäre des Hauses.

Als Clemens Stolzenbach gegen zwanzig Uhr sein Appartement betrat, wartete Bettina Wagner bereits auf ihn. Sie hatte sich sehr sorgfältig auf die Begegnung vorbereitet, sah ausgesprochen gut aus, lächelte sehr lieb und begrüßte ihn mit zwei Küssen, die ein ganz klein wenig mehr waren als Begrüßungsküsse.

Stolzenbach trug noch seinen Arztkittel, entschuldigte sich, weil es ein wenig länger gedauert hatte, verschwand im Bad, und als er zwanzig Minuten später zurückkam, war er geduscht und bat nochmals um Entschuldigung.

»Es tut mir leid, aber ich habe es leider nicht früher geschafft«, sagte er und wollte dann wissen, was er seiner Besucherin anbieten könne.

»Hast du einen Whisky?« fragte Bettina Wagner.

Clemens Stolzenbach schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, aber ich kann mal nachsehen. Einige Getränke standen nämlich im Kühlschrank oder lagen im Eisfach.«

Bettina lachte. »Wenn du den Whisky nicht selbst besorgt hast«, sagte sie, »wirst du wohl keinen finden. Doktor Trautner wird ganz sicher keinen vorrätig haben. Whisky gehört nach seinen Vorstellungen sicher zu den bösen Dingen.«

Einen Augenblick lang hatte ­Clemens Stolzenbach das Gefühl, als hätte seine Besucherin bereits ­etwas getrunken, doch den Gedanken verwarf er gleich wieder, denn Bettina hatte sich früher nie etwas aus alkoholischen Getränken gemacht.

»Erzähl mir doch mal, wie es dir ergangen ist«, sagte sie, während Stolzenbach in den Schränken nach Getränken sah. »Hast du eigentlich keine Frau, auf die du Rücksicht nehmen mußt?«

Als der Professor zurückkehrte, hielt er eine Flasche Champagner in Händen. »Das ist das einzige, was ich dir bieten kann. Whisky hab’ ich keinen.«

»Champagner tut’s zur Not auch«, sagte Bettina. Dann sah sie Stolzenbach neugierig an. »Also, hast du eine Frau oder hast du keine?«

»Ich bin nicht verheiratet, falls du das wissen willst.«

»Aber du lebst in einer Beziehung?«

»Auch damit kann ich nicht dienen.«

»Nicht verheiratet, keine Beziehung? Kennst du nur deine Arbeit?«

Clemens Stolzenbach öffnete die Champagnerflasche und goß das perlende Getränk in zwei Wassergläser. Er hob entschuldigend die Arme. »Es tut mir leid, aber ich habe keine Champagnergläser da, bin noch nicht eingerichtet.«

Bettina Wagner hielt ihr Glas bereits in Händen. »Zum Wohl. Darauf, daß wir uns wieder begegnet sind.«

»Ich habe übrigens deine Krankengeschichte sorgfältig studiert«, sagte Stolzenbach, nachdem er an dem Champagner lediglich genippt hatte.

»Und?« Bettina Wagner lachte. »Bin ich noch zu retten?«

»Wenn ich den Berichten glauben darf, fehlt dir nichts«, antwortete Stolzenbach.

»Ich möchte jetzt nicht über meine Beschwerden reden«, sagte Bet­tina, während sie sich das Glas erneut füllte, »ich möchte über dich reden.«

»Über mich?« Clemens Stolzenbach tat sehr erstaunt. »Über mich gibt es nicht viel zu reden.«

»Du kannst mir nicht erzählen, daß ein Mann deines Formats und deines Aussehens keine Frau und keine Beziehung hat.« Bettina Wagner lächelte. »Du verschweigst mir doch nichts?«

»Was sollte ich dir verschweigen? Vor allem, warum sollte ich dir etwas verschweigen?«

»Nun ja, immerhin waren wir beide mal zusammen«, antwortete Bettina Wagner. Sie hatte ihr Glas schon wieder leer getrunken und suchte in ihrer Handtasche nach Zigaretten. Dann hatte sie die Packung gefunden und wollte sich eine anzünden.

Clemens Stolzenbach runzelte die Stirn. »Du hast Doktor Trautner versprochen, zumindest während deines Aufenthalts auf das Rauchen zu verzichten.«

»Der kann mich mal!« Bettina zündete sich die Zigarette an und blies den Qualm geräuschvoll in die Luft. »Seit wann bist du so gehorsam? Das kenne ich gar nicht an dir. Früher warst du etwas rebellischer.«

»Mit dem Alter wird man vernünftiger…!«

»Das ist sehr bedauerlich.« Bettina Wagner sah Stolzenbach lange und betont zärtlich an. »Weißt du eigentlich, daß du wieder alte Gefühle in mir hast wach werden lassen? Ich habe gemeint, die Sache zwischen uns sei längst vorüber, aber anscheinend habe ich mich geirrt.«

Clemens Stolzenbach hob die Augenbrauen empor. »Das erstaunt mich.«

»Wieso?«

»Na ja, weil du es warst, die mich vor reichlich sieben Jahren vollkommen überraschend verlassen hat.« Stolzenbach nippte wieder nur an seinem Champagner.

»Das weiß ich.« Bettina Wagner wirkte müde. »Und wenn ich in der gleichen Situation wäre, würde ich es wieder tun… tun müssen.«

»Und jetzt willst du neue, beziehungsweise alte Gefühle zu mir entdeckt haben?« Um Clemens Stolzenbachs Mundwinkel zeichnete sich ein spöttisches Lächeln ab.

»Du glaubst mir nicht?« fragte Bettina.

»Es ist keine Frage des Glaubens.«

»Was denn?« Bettina Wagner fixierte den Professor. Inzwischen hatte sie die ganze Flasche Champagner ausgetrunken. »Hast du etwa keine Gefühle für mich?«

Clemens Stolzenbach zuckte mit den Schultern. »Es tut mir leid, Bettina, aber was uns einmal verbunden hat, existiert nicht mehr. Außerdem bist du als Patientin gekommen.«

»In diesem Augenblick bin ich privat bei dir.«

»Deshalb bitte ich dich jetzt zu gehen.« Clemens Stolzenbach stand auf und sah auf die Uhr. »Es ist spät, und ich habe morgen einen anstrengenden Tag vor mir.«

»Du… du wirfst mich hinaus?« Bettina stand etwas unsicher auf den Beinen. »Ist das hier so üblich? Zuerst dieser alte Doktor Trautner und jetzt du?«

»Ich werfe dich nicht hinaus«, antwortete Stolzenbach, »ich bitte dich lediglich, auf meine besondere Situation Rücksicht zu nehmen und zu gehen. Ich werde dich in dein Zimmer bringen.«

Bettina Wagner hatte inzwischen auch Clemens Stolzenbachs Champagnerglas geleert. »Dann bring’ mich bitte in mein Zimmer.«

Sie hakte sich bei Clemens Stolzenbach unter und lehnte sich, da sie sich nur mühsam auf den Beinen halten konnte, bei ihm an. Er öffnete die Tür seines Zimmers, das im Personaltrakt untergebracht war, und begleitete Bettina Wagner auf ihre Etage.

Daß sich eine Tür geöffnet hatte und Oberschwester Theresa ihnen hinterhersah, bemerkten in diesem Moment beide nicht.

*

Monika Gratlinger war ein bildhübsches Mädchen mit dunklen Haaren und wunderschönen haselnußfarbenen Augen. Sie wirkte sehr zierlich, war aber nicht klein, eher schmal, und sie hatte einen solchen Charme, daß sie bei ihren Kommilitonen in München sehr beliebt war und manch einer ein Auge auf sie geworfen hatte.

Monika war vor wenigen Stunden zu den Semesterferien nach Hause gekommen und sofort zu ihrem Großvater auf die Predigtstuhl-Alm aufgebrochen.

»Herrschaftszeiten, Madel«, rief der alte Lois, »laß dich anschauen. Gut siehst aus. Die Burschen in München werden dumm aus der Wäsche schauen, wenn das hübscheste Madel weit und breit im Sommer net da ist und net mit in die Biergärten gehen kann.«

»Hör auf, Großvater!« Monika Gratlinger lachte und fiel dem Lois um den Hals, dann gab sie ihm einen langen herzhaften Kuß und sah ihn erwartungsvoll an. »Und? Hast du ihn gefragt?«

»Wen denn?« Der Lois wußte selbstverständlich, wen die Moni meinte und was sie wissen wollte, aber er wollte sie noch ein wenig auf die Folter spannen.

»Na, den Onkel Vinzenz.« Ein wenig enttäuscht klangen Monikas Worte schon. »Wegen meines Ferienpraktikums bei ihm in der Bergklinik.«

»Oh je…!«

»Großvater!«

Jetzt hielt es der Lois nicht länger aus und er lachte. »Sicher kannst zu ihm kommen. Er freut sich schon.«

»Dann hast du ihn also doch gefragt?« Monis Augen strahlten. »Und? Was hat er gesagt?«

»Daß er sich auf dich freut!« Alois Gratlinger zeigte mit einer Kopfbewegung die Alm hinunter, wo man durch das Astwerk einiger Bäume die Umrisse der Klinik sehen konnte. Die Oberfläche des Karbachsees glitzerte im Sonnenlicht. »Ob du auch unten in der Klinik wohnst, während du da Praktikum machst?«

Monika zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Vielleicht, wenn sie Platz haben.«

»Wie lang bist denn jetzt da bei uns?«

»Drei Monate.«

»Mar’ und Josef.« Der Lois lachte. »Soviel Zeit müßt’ ich in meiner Jugend gehabt haben.«

»Ich hab’ ja keine Zeit«, sagte seine Enkelin. »Ich mach’ ja Praktikum.« Dann lachte sie. »Und weißt du, was das Schönste ist? Ich freu’ mich drauf.«

»Oh je, Madel«, seufzte da ihr Großvater, »wenn ich dich anschau’, dann lacht mir’s Herz. Bei dir würd’ ich auch gern krank sein.«

»Also jetzt hörst aber auf.« Monika drohte spielerisch mit dem Zeigefinger. »Übrigens, hat man einen neuen Chirurgen für die Klinik gefunden? Der Doktor Pfeil ist doch nimmer da.«

Der alte Kräutersammler nickte. »Sicher hat der Vinz einen Chirurgen gefunden, einen ganz berühmten obendrein.«

»So? Wen denn?«

»Er ist aus München, vielleicht kennst du ihn sogar.«

»Aus München? Wie heißt er denn?« Neugierig sah Moni ihren Großvater an.

Der zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Aber du wirst ihn ja bald kennen lernen.«

Zwei Tage später trat Monika Gratlinger ihren Dienst an. Sie wußte nicht recht, wie sie Dr. Trautner anreden sollte, und als sie Titel und Nachnamen nannte, sah der sie erstaunt an.

»Was soll das denn heißen?« fragte er. »Bisher hast mich immer Onkel Vinzenz genannt und das tust nimmer, weil d’ jetzt bei uns in der Klinik famulierst? Nix da, ich bin der Onkel Vinz… wenn d’ willst, dann kannst das Onkel auch weglassen, dann komm’ ich mir net gar so alt vor.«

Monika lächelte und bedankte sich.

»Du mußt dich net bedanken«, sagte Trautner, »ich bin froh, daß du da bist. Vor allem freu’ ich mich, daß dir die ärztliche Praxis solche Freude macht.«

»Na ja, der Großvater.« Monika lächelte. »Er hat immer am Medizinischen viel Freud’ gehabt, und das hat er mir vermittelt. Vor allem aber du bist mir immer ein Vorbild gewesen.«

Dr. Trautner sah verlegen zur Seite, dann wechselte er ganz rasch das Thema. »Übrigens, wir haben einen neuen Chirurgen.«

»Der Großvater hat’s gesagt«, antwortete Monika. »Aus München soll er sein und ganz berühmt.«

»Ob er ganz berühmt ist, weiß ich nicht«, sagte Vinzenz Trautner daraufhin, »aber gestern hab ich ihn einmal im OP zugeschaut. Also alles, was recht ist, er hat was los. So was von geschickten Händen hab’ ich noch nicht gesehen. Übrigens, da hinten kommt er.«

»Herr Kollege…!« Vinzenz Trautner ging auf Clemens Stolzenbach zu.

Der sah ihn fragend an. »Ja bitte?« Dann erst bemerkte er Monika, die in einiger Entfernung respektvoll stehen geblieben war.

»Das ist Monika Gratlinger«, sagte Trautner, »die Studentin, von der ich Ihnen erzählt habe.«

»Sie haben nicht gesagt, wie hübsch die Kollegin ist.« Clemens Stolzenbach ging auf Monika zu, stellte sich vor und gab ihr die Hand. »Sie möchten bei uns Ihre Famulatur ableisten?«

»Die Famulatur habe ich bereits«, antwortete Monika, »jetzt möchte ich während der Sommermonate ein wenig praktische Erfahrung sammeln.«

»Sind Sie an der Chirurgie interessiert?« Stolzenbach hatte bisher noch nicht den Blick von Monika genommen.

Zuerst nickte sie, doch dann zuckte sie mit den Schultern. »Ich kann es nicht sagen. Bisher ist alles mehr oder weniger eine theoretischeAngelegenheit gewesen.«

»Dann kommen Sie mit mir in den OP!« Clemens Stolzenbachs Stimme klang kategorisch und ließ keinen Widerspruch zu. »Sie könnten mir ein wenig assistieren.«

»Aber das kann ich doch gar nicht«, wandte Monika ein, »und außerdem…!«

»Kneifen gilt nicht«, sagte Stolzenbach. »Also, morgen früh um acht Uhr. Ich fange nicht ohne Sie an.« Dann gab er ihr noch mal die Hand und verschwand schließlich in Richtung Intensivstation.

»Nun?« Dr. Trautner sah die Enkelin seines alten Jugendfreundes Alois amüsiert an. »Was sagst du zu dem Tempo des jungen Mannes? Bist du erschrocken? Das schadet nichts, dann bist du um so aufmerksamer. Stolzenbach ist ein As… auf seinem Gebiet. Doch ob er auch zu differenzieren weiß, wenn es darum geht, den Menschen und nicht die Medizin im Vordergrund zu sehen, das muß sich erst noch herausstellen.«

*

Monika Gratlinger war jetzt drei Wochen in der Klinik und hatte fast nur im OP Dienst getan, und von Tag zu Tag gefiel es ihr besser. Bisher war die Chirurgie für sie eine mehr oder weniger wissenschaftliche Angelegenheit gewesen, doch nun hatte sie Gelegenheit, an der Seite eines der besten Chirurgen praktische Erfahrungen zu sammeln.

Professor Stolzenbach schien, seit Monika in der Klinik Dienst tat, ein anderer Mensch zu sein. Er war nicht mehr verschlossen wie zu Beginn, war freundlich, um nicht zu sagen lustig, und mit viel Geduld erklärte er ihr Dinge, die ein Student während des Studiums nie oder nur sehr selten zu sehen bekommt.

Kleine Sachen ließ er Monika unter seiner Anleitung selbst tun, wie zum Beispiel Nähte legen oder Klemmen setzen, wobei er ihr vorher alles deutlich demonstrierte.

»Er ist phantastisch«, schwärmte Monika Gratlinger Dr. Trautner vor, »er kann alles, einfach alles. Es ist eine Riesenfreude, mit ihm zu arbeiten.«

»Sie haben ein Händchen für die Chirurgie, Fräulein«, sagte Clemens Stolzenbach eines Mittags, »wissen Sie das? Haben Sie schon mal darüber nachgedacht, die Chirurgie als Fach zu wählen?«

Monika schüttelte den Kopf. »Daran habe ich bisher keinen Gedanken verschwendet.«

»Gedanken an die Chirurgie sind nie verschwendet.« Stolzenbach lachte. »Haben Sie heute nachmittag frei? Wir könnten nach Garmisch fahren, und Sie zeigen mir, was es zu bieten hat?«

»Sie… Sie wollen mit mir ausgehen?« Monika sah Professor Stolzenbach mit großen Augen an.

Der nickte. »So nennt man es wohl.«

»Aber… ich mein«, begann Monika da zu stottern, »geht das denn?«

»Wer wollte uns daran hindern?« Clemens Stolzenbach sah das hübsche Mädchen lächelnd an. »Bitte, Sie würden mir eine große Freude machen.«

Monika hatte rote Wangen bekommen, schließlich nickte sie. »Wollen S’ richtig mit mir ausgehen? Ich mein’…?«

Stolzenbach nickte. »Ich würde zuerst gerne ein wenig mit Ihnen bummeln. Ob in Garmisch oder Mittenwald, das ist mir gleich. Dann würden wir irgendwohin zum Essen gehen und später…!«

»Ja? Und später?« Monika meinte, ihr Herz schlüge so laut, daß Stolzenbach es hören müßte.

»Wenn wir uns beim Essen nicht verplaudern«, antwortete der, »dann könnten wir noch hier irgendwo einkehren. In irgendein ganz und gar ländliches Lokal.«

Zuerst hatte sich in Monika alles gegen den Vorschlag gesträubt. Nie wäre sie auf die Idee gekommen, mit einem ihrer Professoren auszugehen. Auch wenn Stolzenbach nicht zu ihren Uniprofessoren gehörte, so hatte sie doch nie den Mann in ihm gesehen, mit dem sie ausgehen konnte.

Doch inzwischen hatte sie sich nicht nur mit dem Gedanken angefreundet, sondern sie ertappte sich dabei, wie sie Clemens Stolzenbach zu mustern begann.

Sie registrierte, daß er ein sehr attraktiver Mann war, daß er Humor hatte und ganz offensichtlich auch ein Leben außerhalb der Klinik führte.

Monika tat so, als überlegte sie noch. Clemens Stolzenbach lächelte sie währenddessen mit einem Hundeblick an, so daß sie lachen mußte und zusagte.

»Also gut«, sagte sie, »ich nehme Ihre Einladung an.« Dann zögerte sie ein wenig. »Und ich freu’ mich.«

»Das ist sehr schön!« Stolzenbach klatschte in die Hände und sah wieder auf die Uhr. »Wie wäre es, wenn wir gegen sechzehn Uhr unser Unternehmen starten würden? Dann hätten wir ausreichend Zeit für einen Bummel und auch sonst würden wir nicht in Zeitnot geraten.«

Monika nickte. »Die Zeit ist mir recht, aber ich hab’ hier in der Klinik nichts zum Anziehen, jedenfalls nichts Gescheites, um auszugehen.«

Da lächelte Stolzenbach sie sehr nett an und tippte ihr in einem Anflug von Übermut mit dem Zeigefinger auf die Nasenspitze.

»Sie sind so hübsch und Sie haben so viel Ausstrahlung, junges Fräulein«, sagte er, »daß es vollkommen wurscht ist, was Sie anziehen.«

Monika bekam binnen Sekunden einen knallroten Kopf. »So was sollen Sie nicht sagen, Professor!«

»Wieso eigentlich nicht?« fragte Stolzenbach. »Und nennen Sie mich nicht mehr Professor.«

»Aber…!«

»Wegen mir könnten alle Titel abgeschafft werden, dann würden die Leute weniger verkrampft miteinander umgehen.«

»Wären Sie dann heute noch in München?« Monika hielt sich erschrocken die Hand vor den Mund, als ihr bewußt wurde, daß sie sich arg weit vorgewagt hatte. Dann murmelte sie eine Entschuldigung.

Clemens Stolzenbach winkte ab. »Sie müssen sich nicht entschuldigen. Es kann schon sein, daß ich noch in München wäre, denn es waren doch mehr oder weniger persönliche Dinge, die es mir immer schwerer machten, in München zu bleiben.« Dann sah er wieder auf die Uhr. »Leider muß ich Sie jetzt verlassen, also bis nachher. Ich erwarte Sie an der Pforte.«

Monika war aufgeregt und ging in ihr Zimmer. Wenn sie sich beeilte, konnte sie noch rasch nach Hause fahren, um sich ein nettes Kleid zu holen. Sie hatte ein sehr schönes Sommerkleid, das ihre Figur gut betonte, und als sie daran dachte, huschte ein Lächeln um ihre Augen.

Währenddessen war Clemens Stolzenbach in das der Klinik angeschlossene Sanatorium gegangen und fragte nach Bettina Wagner.

»Frau Wagner ist in ihrem Zimmer, Professor«, sagte eine nette Schwester. »Soll ich sie holen lassen?«

»Nein, nein.« Stolzenbach winkte ab. »Ich geh’ selbst zu Frau Wagner. Wenn Sie mir nur den Weg beschreiben würden.«

Als er dann an die Zimmertür klopfte – Bettina Wagner hatte ein großes Appartement bezogen – dauerte es eine Weile, bis die Tür von innen geöffnet wurde und Bettina ihn aus müden Augen ansah.

»Da schau her, der Herr Professor«, sagte sie mit spöttischem Unterton in der Stimme. »Er begibt sich wieder einmal in die Niederungen des Lebens.«

»Ist dir nicht gut?« Clemens Stolzenbach sah Bettina Wagner kritisch an.

»Mir geht es blendend«, antwortete diese. »Bitte komm’ herein. Hast du die Ergebnisse der Untersuchungen?«

Stolzenbach nickte. »Das ist einer der Gründe, warum ich gekommen bin. Dir fehlt nichts, du hast kein organisches Leiden. Alle Untersuchungen haben das gleiche Ergebnis gebracht.«

»Warum fühle ich mich dann so elend?« Bettina Wagner wollte sich eine Zigarette anzünden, warf die noch verschlossene Packung jedoch wieder auf den Tisch.

»Es könnte ein psychisches Problem sein«, antwortete Stolzenbach. »Du solltest einen Psychologen konsultieren. Doktor Rosenberg soll psychoanalytisch sehr begabt sein. Ich kann dir leider nicht weiterhelfen.«

Da lächelte Bettina Wagner. »Du alleine kannst mir weiterhelfen«, sagte sie leise.

»Wie bitte?« Clemens Stolzenbach hatte nicht verstanden, was Bettina Wagner gesagt hatte.

»Es ist schon gut.« Plötzlich wirkte sie wie ein kleines Mädchen, sehr verletzlich, und sie hatte Tränen in den Augen. »Warum kann es nicht wieder sein wie früher?« fragte sie dann.

»Weil die Zeit nicht stehen geblieben ist«, antwortete Stolzenbach.

»Hast du denn jetzt ein wenig Zeit für mich?« Bettina hatte sich in einen Sessel gesetzt und die Beine angezogen.

Stolzenbach schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid, ich habe eine Verabredung.«

»Aha, der Herr Professor hat eine Verabredung? Fährst du nach München? Vermißt du dein Cheftöchterlein?«

»Was soll das?« reagierte Stolzenbach ärgerlich.

Bettina Wagner stand auf und blieb vor ihrem Besucher stehen.

»Warum gehst du mir aus dem Weg, Clemens? Bist du mir noch immer böse, weil ich dich damals verlassen habe? Ich… ich konnte nicht anders. Es… ich meine Ludwig, er war mein Leben. Das heißt aber doch nicht, daß unsere Beziehung nicht wieder aufleben kann. Ich fühle mich mehr zu dir hingezogen als jemals vorher. Ludwig war ein starker Charakter mit sehr präzisen Vorstellungen vom Leben, und ich habe sehr viel von ihm gelernt. Aber es war keine leidenschaftliche Beziehung, wenn du verstehst, was ich sagen will. Bitte, Clemens. Ich brauche dich.«

Stolzenbach stand da wie versteinert. Mit einem solchen Geständnis hatte er nicht gerechnet. Er räusperte sich, bekam aber keinen Ton heraus.

Bettina Wagner lehnte sich an ihn. Sie zitterte. »Es könnte so schön werden wie früher. Du könntest dir eine Privatklinik aufbauen. Ich verfüge über genug Vermögen, um uns jeden Wunsch zu erfüllen. Es gäbe keinen Doktor Trautner, der einem das Rauchen verbieten will und der dir sicher auch hineinredet. Warum kommst du nicht mit mir? Unsere erneute Begegnung könnte ein Wink des Schicksals sein.«