Die Bergwacht: Alpenglühen - Sophie Zach - E-Book
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Die Bergwacht: Alpenglühen E-Book

Sophie Zach

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Beschreibung

Einsatz in den Alpen – der packende Serienstart! Voller Drama und Abenteuer, voller Natur und großer Gefühle. Damit hat die junge Bergführerin Lena null gerechnet: An seinem sechzigsten Geburtstag verkündet der Leiter der Bergwacht seinen Rückzug. Und schlägt sie als seine Nachfolgerin vor! Alle sind schockiert, auch Lena. Wie kann er andere alteingesessene Bergwachtler einfach übergehen? Das ist nicht alles: Völlig unerwartet taucht Ben wieder auf, den Lena aus Schulzeiten kennt. Ausgerechnet er soll der neue Ranger des Dörfchens Bichlbrunn werden! Dabei hat er früher nur Unruhe gestiftet und Lena genervt. Auf keinen Fall wird sie diesem Kerl öfter über den Weg laufen als nötig. Und auf keinen Fall will sie die Bergwachtsleitung übernehmen. Schließlich ist das Team alles, lautete schon das Motto von Lenas Vater, der viel zu früh starb. Doch die Berge sind so unberechenbar wie das Leben. Als sich ein tragisches Unglück anbahnt, muss Lena sich entscheiden. Kann sie die Verantwortung übernehmen? Für sich und für andere? In die Berge gehen ist Heimkehren ... Mitreißendes Lesevergnügen rund um die Bergwacht in einem kleinen Dorf in den Bayerischen Alpen.

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Seitenzahl: 453

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Sophie Zach

Die Bergwacht: Alpenglühen

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

In die Berge gehen ist Heimkehren.

 

Damit hat die junge Bergführerin Lena null gerechnet: An seinem sechzigsten Geburtstag verkündet der Leiter der Bergwacht seinen Rückzug. Und schlägt sie als seine Nachfolgerin vor! Alle sind schockiert, auch Lena. Wie kann er andere alteingesessene Bergwachtler einfach übergehen?

Das ist nicht alles: Völlig unerwartet taucht Ben wieder auf, den Lena aus Schulzeiten kennt. Ausgerechnet er soll der neue Ranger des Dörfchens Bichlbrunn werden! Dabei hat er früher nur Unruhe gestiftet und Lena genervt. Auf keinen Fall wird sie diesem Kerl öfter über den Weg laufen als nötig.

Und auf keinen Fall will sie die Bergwachtsleitung übernehmen. Schließlich ist das Team alles, lautete schon das Motto von Lenas Vater, der viel zu früh starb. Doch die Berge sind so unberechenbar wie das Leben. Als sich ein tragisches Unglück anbahnt, muss Lena sich entscheiden. Kann sie die Verantwortung übernehmen? Für sich und für andere?

 

Einsatz in den Alpen – der packende Serienstart!

Vita

Sophie Zach ist das Pseudonym einer erfolgreichen Autorin, die bereits Krimis, Liebesromane und historische Romane geschrieben hat. Sie wuchs in einem bayerischen Dorf auf, lernte mit drei Jahren Skifahren und jobbte auf der Zugspitze, bevor sie auszog, sich die Welt anzusehen. Heute lebt sie wieder in ihrem Geburtsort Garmisch-Partenkirchen, von wo aus sie ausgedehnte Wanderungen mit ihrem Hund in die Berge unternimmt. Was liegt da näher, als ihre Freunde bei der Bergwacht auszufragen und eine dramatische Serie zu schreiben, mitten in den Bayerischen Alpen, die sie liebt?

Impressum

Dieses Projekt wurde von der VG WORT im Rahmen des von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) initiierten Programms NEUSTART KULTUR gefördert.

 

Die beim Rowohlt Verlag erscheinende Romanserie «Die Bergwacht» steht in keinem rechtlichen oder tatsächlichen Zusammenhang mit dem Deutschen Roten Kreuz e.V. oder dessen Marke «Bergwacht» und wurde insbesondere nicht von diesem in Auftrag gegeben.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Mai 2023

Copyright © 2023 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg Copyright © 2023 by Sophie Zach

Redaktion Nadia Al Kureischi

Karte Wettersteingebirge und Bichlbrunn bürosüd, München

Covergestaltung und -abbildung bürosüd, München

ISBN 978-3-644-01424-4

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

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www.rowohlt.de

Für die Zach-Frauen.

Einsatzprotokoll

Dienstag, 21. Juni, Sonnwend

Einsatzort: Frauenboden, Obermoosalm

Wetter: sonnig

Besondere Bemerkungen: Ein großer Fehler

1

Schweigend gingen Lena und Jonas nebeneinander am Waldrand entlang. Es war noch hell, am längsten Tag des Jahres, doch das Licht hatte bereits einen samtigen Schimmer angenommen, der darauf hinwies, dass sich auch der ausgedehnteste Sommertag langsam dem Ende zuneigte. Die Wiese lag bereits im Schatten, und die Kiefern hoben sich schwarz gegen den noch hell leuchtenden Himmel ab. Einige waren so bizarr geformt, dass man sie mit etwas Fantasie für lebendige Wesen halten konnte.

Die beiden Wanderer lagen gut in der Zeit. Lena kannte den Weg. Sie würden es mit Leichtigkeit noch bei Tageslicht nach oben schaffen.

Eine Gruppe Rehe hatte sich aus der Deckung gewagt und stand jetzt aufmerksam witternd auf der Wiese. Lena stieß Jonas leicht an und machte ihn mit einer Kopfbewegung darauf aufmerksam. Der Wind stand günstig, die Rehe bemerkten sie nicht. Entspannt begannen die Tiere zu äsen. Über ihnen in den Baumwipfeln klopfte ein Specht.

Langsam gingen Lena und Jonas weiter, bemüht, kein Geräusch zu machen, und bogen in das Dunkel des Waldes ein, wo der dichte Nadelteppich ihre Schritte dämpfte. Es roch intensiv nach Harz, Holz, Moos und Kiefernnadeln, und Lena hielt inne, schloss für einen Moment die Augen, sog den Duft tief in ihre Lungen, bis sie das Gefühl hatte, ganz von ihm erfüllt zu sein. Der Wald am Frauenboden, die mächtigen Kiefern mit ihrer rötlich grauen Rinde, die Findlinge, auf denen das Moos schimmerte, die weiche, federnde Erde unter ihren Sohlen, das alles gehörte zu ihr, war Teil ihrer DNA, floss durch ihre Adern. Das Wissen darum war in ihrer Seele verankert wie jene frühesten Empfindungen der Kindheit, an die man sich nicht bewusst erinnern kann, die jedoch hin und wieder aufblitzen wie ein Wegweiser, eine Ahnung, die einem sagt, welchen Weg man einschlagen soll. Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie, dass Jonas ebenfalls stehen geblieben war. Er blickte nach oben.

«Ich wusste nicht, dass hier in der Gegend so hohe Kiefern wachsen», sagte er leise, fast flüsternd. Auch er spürte offenbar die besondere Stimmung dieses Waldes, der so anders war als am Rabenstein und überhaupt in der gesamten Gegend.

Lena liebte den Wald, jeden Wald, ebenso wie die Berge, den schroffen Fels, die glatten Wände, die Schluchten, die schiere Höhe, doch das hier, dieser selten begangene Weg hinauf auf die Obermoosalm, war etwas ganz Besonderes für sie. «Das ist ein Kraftort», sagte sie vorsichtig, in Erwartung, wie so oft belächelt zu werden.

Doch Jonas nickte nur, als wäre es selbstverständlich. Der junge Mann war anders als viele seiner Altersgenossen, die sie als Bergführerin durch ihre Heimat führte und dabei versuchte, ihnen ihre Leidenschaft für die Berge und deren besondere Energie nahezubringen. Sie sahen oft nur den sportlichen Anreiz, sahen in den Bergen eine Herausforderung, die es zu bezwingen galt, betrachteten die Natur als Gegner, eine anspruchsvolle Bergtour als Kampf mit den Naturgewalten und mit sich selbst und waren nicht in der Lage, sich einzulassen, still zu werden, die Kontrolle aufzugeben.

Wie die meisten ihrer Kunden war Jonas extrem sportlich, jung, Städter. Er kam aus Berlin, war Polizist und erst seit ein paar Jahren in Bichlbrunn, und doch gehörte er inzwischen als festes Mitglied zur Bergwacht.

In den letzten drei Jahren hatte er zahlreiche Kurse absolviert, war in jeder freien Minute Klettern und Bergsteigen gewesen und hatte seine Anwärterzeit so herausragend gemeistert, dass er eine Reihe einheimischer Mitanwärter abgehängt hatte. Vor ein paar Tagen schließlich war er als vollwertiges Mitglied in Lenas Truppe aufgenommen worden. Auch er hatte die Berge im Blut, war sich Lena sicher, da konnte er herkommen, wo er wollte.

Lena hatte daher versprochen, an diesem Abend mit ihm über den Schneggensteig zur Obermoosalm hinaufzugehen. Dort sollte nicht nur wie jedes Jahr ein Sonnwendfeuer angezündet werden, sondern es wartete zusätzlich noch ein kleines Fest. Denn Franz Schaller, der Leiter der Bergwacht, feierte heute Abend seinen Sechzger. Sein Geburtstag war zwar schon ein paar Tage her, aber zu solchen Anlässen war es üblich, mit den Bergwachtskameraden anzustoßen, und weil es dazu noch ein runder Geburtstag war, war Lena auf die Idee gekommen, ihn auf der Obermoosalm bei ihrer Tante Res zu feiern. Die anderen würden nach Feierabend über den Forstweg kommen, wo man mit dem Jeep bis fast vor die Hütte fahren konnte und nur noch einen Marsch von etwa einer halben Stunde bewältigen musste, doch Jonas hatte heute frei, und deshalb war Zeit genug für den längeren, aber sehr viel schöneren Aufstieg über den Schneggensteig gewesen. Lena hatte noch eine Überraschung für Jonas geplant, doch noch war es nicht so weit.

«Gehst du oft hier hoch?», wollte Jonas wissen. Sie liefen flott, der Weg führte nur mäßig bergauf.

«Nicht mehr so oft wie früher. Meistens fahr ich mit dem Radl den Forstweg rauf, wenn ich meine Tante besuchen will. Das ist halt schneller.»

«Du bist da oben aufgewachsen, hat Ferdi mir erzählt.»

Lena nickte. Ferdi Schorer war Jonas’ bester Kumpel bei der Bergwacht. Er stammte aus Bichlbrunn und hatte es sich zur Aufgabe gemacht, dem gleichaltrigen «Preissn» aus Berlin alles näherzubringen, was sich seiner Meinung nach von Bichlbrunn und Umgebung zu wissen und zu beherrschen lohnte. Fingerhakeln und Maßkrugstemmen inklusive. Sicher hatte er Jonas auch erzählt, weshalb Lena auf dieser entlegenen Alm bei ihrer Tante aufgewachsen war. Bestimmt wusste er inzwischen auch wie jeder im Dorf über den tragischen Tod der Mutter Bescheid. Sie war wegen Komplikationen bei Lenas Geburt gestorben. Und natürlich hatte er vom tragischen Tod ihres Vaters gehört, des legendären Bergsteigers und Gründers der Bichlbrunner Bergwacht, Rupp Veith. Damals war Lena vierzehn gewesen. Sie selbst sprach selten darüber. Aber wenn man bei der Bergwacht anfing, kam man an Rupp Veith kaum vorbei.

«Wie war das?»

«Was?»

«Dort oben zu leben. Auf einer Alm. Klingt ein bisschen wie … Heidi.» Er lachte scheu und schaute sie neugierig an.

Lena schmunzelte. «Das war auch ein bissl so. Meine Tante hat Ziegen, außerdem ein paar Kühe, Hühner und zwei Schweine. Damals kam noch das Jungvieh der anderen Bauern hinzu, das sie den Sommer über hütete. Ich bin im Heu rumgesprungen, hab ihr beim Käsemachen geholfen und …», sie schaute ihn verschmitzt an, «war immer nur barfuß.»

«Echt?» Jonas’ Blick wurde sehnsüchtig. «Ich bin in einer Plattenbausiedlung aufgewachsen.»

«Na, ich musste auch viel mitarbeiten, selbst wenn ich keine Lust dazu hatte. Außerdem war da ja noch die Schule. Meine Tante lebt das ganze Jahr da oben, auch im Winter, und versorgt sich mehr oder weniger selbst. Aber während der Schulzeit hab ich bei meinem Vater im Tal gewohnt und nach seinem Tod bei meiner Freundin Alex und ihren Eltern. Ich war also nur an den Wochenenden und in den Ferien auf der Alm. Wir waren oft eingeschneit. Da haben dann die Weihnachtsferien manchmal länger gedauert. So lang halt, bis die Straße freigeräumt war.»

«Stell ich mir trotzdem schön vor.»

Lena sah ihn von der Seite an. «War es auch, ehrlich gesagt. Für mich ist die Alm der schönste Ort der Welt. Aber halt auch ein bissl einsam. Man kann nicht einfach in die Kneipe gehen, wenn einem danach ist. Und irgendwann muss man auch mal was anderes sehen.»

«Darum bist du weggegangen.»

Lena nickte. Sie hatte Jonas von ihren vielen Reisen und ihrer Zeit in Frankreich erzählt, wo sie die Bergführerausbildung gemacht hatte, bevor sie schließlich wieder heimgekehrt war.

Inzwischen waren sie am Schneggensteig angekommen. Ein Klettersteig, der an der Rückseite des Hochplateaus hinaufführte, auf dem sich die Obermoosalm befand. Er war nicht schwer zu gehen, vor allem für einen talentierten Bergsteiger wie Jonas nicht mehr als ein etwas steilerer Spazierweg. Deshalb hatte sich Lena für ihn etwas Besonderes ausgedacht.

Als Jonas sich anschickte hinaufzugehen, schüttelte sie den Kopf. «Das ist zu leicht. Wir gehen da rauf.» Sie zeigte auf einen Felsabbruch, etwa hundert Meter neben dem offiziellen Weg.

Sie grinste, als Jonas ehrfürchtig die steile Wand hinaufsah. «Dein Ernst?»

«Freilich. Ist nicht so schwer, wie’s ausschaut. In einer halben Stunde sind wir oben. Da bin ich früher mit meinem Vater schon rumgekraxelt.»

«Ja, dann …» Auf Jonas’ Gesicht breitete sich ein erwartungsvolles Lächeln aus. «Ich bin dabei.»

 

Lena behielt recht. Sie benötigten kaum mehr als eine halbe Stunde, um den Felsabbruch hinaufzukommen. Jonas war ein wirklich guter Kletterer geworden.

Oben angelangt, gingen sie über die abschüssige Wiese auf die Hütte zu, die sich in einer Senke befand. Die Sonne stand inzwischen tief und ließ das Bergmassiv des Wettersteins, das das Hochplateau des Frauenbodens umgab, rot aufleuchten. Es war kühler geworden, und aus dem Kamin der niedrigen, schindelgedeckten Hütte stieg ein dünner Rauchfaden in die klare Luft. Auf einer flachen Stelle, etwas von der Alm entfernt, stand ein hoher Holzhaufen bereit. Oben steckte ein Fichtenschössling, der sich stolz wie eine Fahne in die Höhe reckte. Lena hatte den Haufen in den letzten Wochen zusammen mit ihren Kameraden nach und nach aufgeschichtet, Franz Schaller zu Ehren war er dieses Jahr besonders hoch geworden.

Kurz bevor sie an der Hütte ankamen, blieb Jonas stehen. Seine kurzen hellblonden Haare wurden von der Abendsonne beschienen, und seine blauen Augen leuchteten. «Du hattest recht, es war gar nicht so schwer, wie’s auf den ersten Blick ausgesehen hat. Das war super, danke!»

«Gern. Hat mir auch Freude gemacht, da mal wieder raufzukraxln.» Dann bemühte sie sich um einen ernsten Blick. «Außerdem wollte ich, dass du dich seelisch vorbereitest. Jetzt, nachdem du mir nichts, dir nichts diese Wand hochgeklettert bist, bist du bereit.»

«Bereit? Wofür denn?» Jonas sah etwas beunruhigt aus.

«Für meine Tante Res.»

«Ist sie so schrecklich? Oder mag sie etwa keine Berliner? Keine Polizisten?»

Lena schüttelte grinsend den Kopf. «Nein. Sie ist eine Seele von einem Menschen. Aber das weiß sie manchmal ganz gut zu verbergen.»

Sie traten ein, und Lena bemerkte, wie Jonas sich etwas angespannt hinter ihr hielt. Er war der einzige der Bergwachtler, der ihre Tante noch nicht kannte, und er schien Lenas eher scherzhaft gemeinte Warnung ernst genommen zu haben. Vermutlich war er auch so nervös, weil ihm seine Freunde einiges über Theresa Veith erzählt hatten. Tante Res verfügte nämlich über eine Begabung, die den Leuten – vor allen jenen, die nicht aus der Gegend kamen – meist ziemlich wunderlich und geheimnisvoll vorkam und über die gerne getratscht wurde: Sie war eine Abbeterin. Mit Gebeten, die sie leise vor sich her murmelte, konnte sie Warzen und andere Hautveränderungen verschwinden lassen, Blut stillen und auch Tiere heilen. Diese Gabe – und die entsprechenden Gebete – hatte sie von ihrer Großmutter. Viele lachten darüber, andere fürchteten sich oder nannten es Scharlatanerie. Die meisten Leute im Dorf jedoch akzeptierten es einfach. Die Abbeterin hatte es hier schon immer gegeben, und sie half ihnen bei so manchem Problem besser als jeder Doktor, auch wenn es keine Erklärung dafür gab. Theresa Veith selbst machte ebenfalls kein großes Aufheben davon, sie suchte keine Aufmerksamkeit und verlangte niemals Geld, nicht einmal ein Dankeschön. «Wenn der Mond am kränksten ist», immer kurz vor Neumond, bestellte sie die Hilfesuchenden zu sich. Sie warteten dann in der Stube am Feuer, bis sie an der Reihe waren, und Res «besprach» leise murmelnd ihre kleinen und größeren Zipperlein in der Speisekammer, denn mehr Platz gab es nicht. Stube, Speisekammer und zwei schlichte Schlafkammern unter dem Dach. Dazu der Stall, der Käsekeller, eine Räucherkammer, ein Plumpsklo. So hatte es in Lenas Kindheit ausgesehen. Später waren noch elektrischer Strom und ein richtiges Badezimmer hinzugekommen, wo es allerdings im Winter so kalt war, dass man den Aufenthalt gerne aufs Allernötigste beschränkte.

«Grüß dich, Tante!» Lena trat zu Res, die am Holzherd in der Stube stand und gerade ein Brot aus dem Ofen holte. Ein verführerischer Duft breitete sich aus, als sie den fertig gebackenen Laib mit der dicken, knusprigen Kruste vom Holzschieber auf ein Brett gleiten ließ, wo schon zwei weitere Brotlaibe auskühlten.

Ein grauer Kater sprang von der Eckbank und begrüßte Lena. Sie kraulte seinen Kopf, und er schmiegte sich an ihre Beine.

«Grüß dich auch, Fritz.»

Res hatte zwei Katzen, den stämmigen grauen Kater Fritz, den nichts aus der Ruhe brachte, und Mimi, eine kleine, schwarze und scheue Findelkatze, die sie mit dem Milchfläschchen aufgezogen hatte. Lena suchte nach ihr, aber vermutlich hatte sie sich irgendwo verkrochen, als Lena mit einem Fremden eingetreten war. Auch Agi war nirgendwo zu sehen. Die Border-Collie-Hündin war sicher bei den Ziegen. Ihren Namen hatte sie von Agatha Christie, weil sie so findig beim Aufspüren verloren gegangener Tiere war.

«Meinst, das reicht?», fragte die Tante, ohne sich umzusehen. Sie war zwei Jahre jünger als Franz Schaller, groß, schlank und dunkelhaarig, und die kräftigen, braun gebrannten Arme zeugten von jahrelanger harter körperlicher Arbeit. Ihre Bewegungen waren flink und der Blick ihrer leuchtend blauen Augen ungewöhnlich wach und intensiv.

«Die Res schaut einem bis ins Herz», sagten die Leute im Dorf. Sie waren der Überzeugung, dass man die Sennerin besser nicht anlog, weil sie einen ohnehin durchschaute. Lena musste ihnen recht geben. Als Kind jedenfalls war sie mit ihren Schwindeleien bei Res kein einziges Mal erfolgreich gewesen, weshalb sie schließlich gar nicht mehr versucht hatte, sich wegen irgendwelcher kleinerer Vergehen wie dem verbotenen Naschen vom Rahm, einer aus Unachtsamkeit zerbrochenen Tasse oder heimlichen Mondscheinspaziergängen herauszureden.

Lena hatte die gleichen dichten, dunklen Haare wie Res, die sie meist zu einem Zopf geflochten trug, allerdings war sie sehr viel kleiner und zierlicher als ihre Tante und hatte auch nicht deren Augenfarbe. Lenas Augen waren die ihres Vaters, dunkelbraun, passend zu ihrer immer leicht dunklen Haut. «Dich haben doch die Römer im Galopp verloren», hatte einmal in der Grundschule der Vater eines Mitschülers zu Lena gesagt, und sie hatte nicht verstanden, was er damit meinte. Ihr Vater hatte es ihr erklärt: «Vor zweitausend Jahren waren die Römer hier in der Gegend, und später, im Mittelalter, trieben die Fugger Handel mit den Italienern und kamen hier immer wieder mit ihren Fuhrwerken durch. Irgendwann wird sich wahrscheinlich mal ein fescher, schwarzhaariger Italiener oder gar schon ein Römer in ein hübsches Mädel von hier verliebt haben, und unsere dunklen Haare und Augen sind das Ergebnis, das man heut noch sehen kann. Also vielleicht hast du italienische Vorfahren.» Das hatte Lena damals beruhigt. Italienische Vorfahren waren schließlich eine ganz feine Sache. Man brauchte nur an Paolo von der Eisdiele zu denken.

«Ganz sicher reicht das», sagte Lena und ließ ihren Blick sehnsuchtsvoll über die großen, dunkelbraunen Brotlaibe gleiten. Sie liebte das Brot von ihrer Tante. Res backte es aus einem Sauerteigansatz, den sie vor vielen Jahren von einem Bäcker im Dorf bekommen hatte. Er wurde gehütet wie ein Schatz, ebenso wie die Essigmutter, eine gallertartige Masse in einem Einweckglas, mit der Res immer wieder aufs Neue Essig ansetzte. Eine Scheibe warmes Brot mit rescher Kruste, dick mit selbst gemachter Almbutter beschmiert, mehr brauchte Lena nicht, um glücklich zu sein.

Jetzt erst wandte sich Res zu ihnen um und musterte Jonas. «Sind deine Bergwachtskameraden etwa schon da?» Sie schaute Lena an und wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab. «Die Brotzeit ist fei noch nicht hergrichtet …»

«Nein, die kommen erst in einer Stunde, wie ausgemacht», beruhigte sie Lena. «Jonas und ich sind über den Schneggensteig heraufgekommen. Ich wollt ihn dir vorstellen. Er ist seit ein paar Tagen unser neuestes festes Mitglied bei der Bergwacht.»

Wie auf Befehl trat Jonas zackig hinter Lena hervor. «Jonas Kaminski. Freut mich, Sie kennenzulernen, Frau Veith.»

Lena musste ein Schmunzeln unterdrücken. Es klang, als ob er sich bei einem gestrengen Familienoberhaupt als zukünftiger Schwiegersohn vorstellte.

Res Veith richtete ihre hellen Augen auf Lenas jungen Kollegen und musterte ihn einen Augenblick lang schweigend. Dann lächelte sie. «Grias di, Jonas. Die Frau Veith kannst gleich mal vergessen, ich bin die Res.» Sie schüttelte seine ausgestreckte Hand kurz und kräftig. «Kannst gleich das Bier und den Wein aus’m Keller holen. Die Lena zeigt dir den Weg.»

2

Die folgende Stunde war ausgefüllt mit den letzten Vorbereitungen für das Essen. Lena schnitt das frische Brot in Scheiben, füllte Kräuterquark, Obazdn, Grau- und Kartoffelkäse in Tonschalen, während Jonas Getränke aus dem Erdkeller heraufschleppte, wo immer die gleiche niedrige Temperatur herrschte. Bier und Wein für diejenigen, die heute keine Bereitschaft hatten, Alkoholfreies für die anderen. Die Nacht der Sonnwendfeuer war für die Bergwachten in der Gegend immer betriebsam. Allzu gut erinnerte sich Lena noch an ihren Einsatz am Gamskopf letztes Jahr, als sie gegen Mitternacht hatten ausrücken müssen, um einen jungen Mann zu retten, der betrunken über zehn Meter abgestürzt war, sich aber glücklicherweise nur ein Bein gebrochen hatte. Oder vor zwei Jahren, als sich eine größere Gruppe beim Abstieg vom Brunnenkogel verirrt hatte. Damals hatten sie sogar die Hilfe der Garmischer Bergwacht angefordert, weil nicht klar war, wo sich die jungen Leute eigentlich befanden. Nachdem sie sie schließlich entdeckt hatten, völlig erschöpft in einem vollkommen unwegsamen Gebiet weit entfernt vom eigentlichen Weg, dauerte es bis zum Morgengrauen, sie alle wohlbehalten ins Tal zu bringen.

Mit Ausnahme von Franz Schaller und Lena waren daher alle Kollegen in Bereitschaft, wie auch die Bergwachten in Garmisch und Grainau und die Bergrettung im nahen Tirol. Franz Schaller sollte sich heute ganz seiner Feier hingeben können, und er hatte auch Lena überredet, freizumachen, da sie Res zur Hand ging. «Dann kannst dich auch ein bissl entspannen. Die Burschen schaffen das schon mal allein», hatte er gemeint. Für Lena wäre es allerdings auch kein Problem gewesen, die Bereitschaft zu übernehmen. Ein Einsatz bedeutete für sie zwar immer eine gewisse Anspannung, aber keinen Stress. Eine Herausforderung, die sie mit all ihren Sinnen belebte.

Nachdem Jonas die Getränke zum Kühlen draußen in den großen Brunnentrog gestellt hatte, schnitten er und Lena Berge von Speck und Käse in fingerdicke Streifen und platzierten die Rollen selbst gemachter, gelber Butter auf flache Teller, während Res Schlutzkrapfen, Kaspressknödel und Spinatknödel in einer riesigen schwarzen Emaille-Reine verteilte und großzügig Bergkäse darüberhobelte. Sobald die Gäste angekommen waren, würde sie die Form kurz in den Ofen schieben und die Knödel anschließend noch mit brauner Butter beträufeln. Dazu gab es Wildkräutersalat. Lena lief beim Anblick der halbmondförmigen Teigtaschen und der wohlgeformten Knödel das Wasser im Mund zusammen. Schlutzkrapfen waren neben frischem Butterbrot eine ihrer Lieblingsspeisen.

Vermutlich würde es sich Res auch nicht nehmen lassen, später am Abend noch eine weitere Lieblingsspeise zu servieren: Res Veiths berühmten Kaiserschmarrn mit gerösteten, karamellisierten Bucheckern aus dem Wald und Holler- oder Preiselbeerkompott.

Endlich war alles vorbereitet. Zusammen brachten sie die Brotzeit, auf Brettern angerichtet, nach draußen auf den großen Holztisch vor der Hütte. Von hier aus hatte man einen weiten Blick über das gesamte Bichlbrunner Tal. Inzwischen war es fast dunkel geworden, vereinzelt konnte man bereits ein paar kleine Bergfeuer aufblitzen sehen. Doch das waren nur die Muggnfeuer, kleine Lagerfeuer, an denen die meist jungen Leute, die heute auf die Bergspitzen gestiegen waren, um Sonnwend zu feiern, ihre mitgebrachten Würstl grillten. Die großen Feuer würden erst entfacht werden, wenn es ganz dunkel war.

Gerade als sie fertig waren, kamen die übrigen Bergwachtler des Bichlbrunner Stützpunktes zusammen mit dem Geburtstagskind an: der untersetzte, rothaarige Jack Reiter – nach Franz Schaller Lenas dienstältester Kollege –, sein Kumpel Andi Kornbichler, Ferdi Schorer und zuletzt Florian Burgstaller, genannt Flo, der junge Anwärter. Sie begrüßten sich gut gelaunt, und Jonas erzählte begeistert von ihrer kleinen Tour über den Schneggensteig. Bevor sie mit dem Essen beginnen konnten, gesellten sich noch drei Überraschungsgäste zu ihnen, Luis Stadler und seine Kumpel, Musiker aus Bichlbrunn, die ihre Instrumente mitgebracht hatten und gleich mit Gitarre, Zither und Diatonischer aufspielten. Lena konnte sehen, wie gerührt Franz war, auch wenn er sich bemühte, es nicht zu zeigen, und sie freute sich für ihn.

«Die Musiker sind doch nicht zufällig heut heraufgekommen, oder?», flüsterte sie Res zu, während sie sich Salat und heiße, nach Butter und würzigem Käse duftende Schlutzkrapfen auf ihren Teller häufte.

«Könnt schon sein, dass ich beim letzten Mal, als die drei bei mir heroben waren, eine Bemerkung zu Franz’ rundem Geburtstag und einer Sonnwendfeier hab fallen lassen.» Res lächelte zufrieden. «Was wär denn eine Geburtstagsfeier ohne gscheide Musik?»

 

Als es dunkel genug war, war es endlich so weit. Sie gingen zu dem vorbereiteten Holzstapel und setzten sich auf die umliegenden Steine oder direkt auf die Wiese. Jack und Andi entfachten das Feuer, und nahezu zeitgleich leuchteten überall um sie herum auf den Bergspitzen und -kämmen weitere Feuer auf. Knisternd und fauchend loderten die Flammen hoch, Funken sprühten in den dunklen Nachthimmel, und Lena spürte die Hitze auf ihrem Gesicht. Die Gespräche verstummten für eine Weile, alle blickten schweigend ins Feuer. Für einen Moment meinte Lena, einen Blick in längst vergangene Zeiten zu erhaschen, als die Sonne noch als Gottheit verehrt worden war und man sich mit den Sonnwendfeuern Glück, Gesundheit, eine gute Ernte und Schutz vor Dämonen erbat. Sie konnte diesen Glauben gut nachvollziehen. Gerade hier in den Bergen war die Kraft der Natur, aber auch ihre Verletzlichkeit bei jedem Schritt zu spüren. Hier oben, umgeben von den zerklüfteten Gipfeln des Wettersteinmassivs, die jetzt von zahllosen, wie leuchtende Perlen aneinandergereihten kleinen Feuern erleuchtet wurden, verstand man: Mensch und Natur waren nicht zwei gegensätzliche Prinzipien, die einen Weg zueinander finden mussten. Es war alles eins. Der Mensch war Teil der Natur, so wie ein Wassertropfen Teil des Meeres. Das Problem war nur, dass so wenige Menschen das wirklich begriffen.

Lena bückte sich, hob einen Ast auf und warf ihn ins lodernde Feuer. Sie sah zu, wie die Flammen ihn erfassten, wie er von innen heraus zu glühen begann, als wäre er lebendig, und schließlich einfach zerfiel. Nichts von ihm würde übrig bleiben als ein paar Flocken weißer Asche. Sie erinnerte sich, wie sie als Kind oft auf dem Boden vor dem Herd gehockt und die Klappe geöffnet hatte, um in die Flammen schauen zu können. Sie hatte darin Formen und Gesichter erkannt, ähnlich wie die der Wolken, wenn man im Gras liegt und in den Himmel schaut. Der Geist driftet ab, man verliert die Kontrolle über die Bilder, die er erzeugt, und neue Wege und Einsichten tun sich auf. In die Flammen zu schauen hatte für Lena etwas Meditatives, und da war doch viel mehr: Es war Magie.

Ein nachdrückliches Räuspern riss Lena aus ihren philosophischen Gedanken. Franz Schaller war aufgestanden und sah in die Runde. Seine Miene, vom flackernden Feuer erhellt, hatte etwas Wehmütiges und Feierliches zugleich, und Lenas Magen zog sich in banger Erwartung zusammen. Eine Veränderung stand an. Sie spürte es deutlich und war sich nicht sicher, ob sie es hören wollte. Dennoch widerstand sie dem Impuls, aufzustehen und wegzugehen. Sie wollte nicht unhöflich sein, und es nützte ja nichts: Weglaufen half nie. Wenn sich etwas ändern sollte, würde es keinen Unterschied machen, ob sie weglief oder blieb.

«Ich wollt mich bei euch bedanken», begann Schaller, und seine Stimme klang rau vor Rührung. «Bei dir, Res, für deine Gastfreundschaft», er warf Lenas Tante einen warmen Blick zu, den diese mit einem Lächeln erwiderte, «bei Lena für die Organisation», er schaute nun zu Lena, «und bei euch allen zusammen für viele Jahre Kameradschaft.» Er sah wieder in die Runde. «Irgendwann kommt die Zeit, wo man sein Zepter abgeben muss, und ich finde, ein Sechzger ist ein guter Moment, einen Schnitt zu machen.»

Das Flattern in Lenas Magen verhärtete sich zu einem Knoten. Ihre Ahnung hatte sie nicht getrogen.

«Ich hab mich deshalb entschieden, die Leitung der Bergwacht Bichlbrunn in andere Hände zu legen.»

Leises Raunen setzte ein, gemurmelte Proteste waren zu hören, und in den Gesichtern ihrer Kameraden spiegelte sich Lenas eigener Unglauben wider. Sie schüttelte den Kopf. Es konnte nicht sein, dass Franz Schaller ging. Seit dem Tod ihres Vaters war er neben Res immer ihr engster Vertrauter gewesen. Er hatte sie vor sechs Jahren überredet, ja geradezu bekniet, in die Bergwacht einzutreten, als sie sich das trotz ihrer Bergführerausbildung nicht zugetraut hatte. Die Erinnerung an ihren Vater und die vielen Erzählungen über seine Heldentaten waren zu übermächtig gewesen. Franz Schaller hatte ihre Aufnahme gegen Widerstände in den eigenen Reihen durchgesetzt – zumindest in Bichlbrunn waren Frauen damals in der Bergwacht noch immer undenkbar gewesen. Und er hatte sie über die ganzen Jahre unterstützt und gefördert.

Lena spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. Sie konnte sich die Bergwacht ohne Franz Schaller nicht vorstellen. Sie konnte sich selbstdarin ohne Franz Schaller an ihrer Seite nicht vorstellen. Hastig senkte sie den Kopf und rutschte ein wenig aus dem Schein des Feuers, damit ihre Kameraden die Tränen nicht sahen. Es war hart genug gewesen, sich in dieser eingeschworenen Männerclique zu behaupten, vor allem zu Beginn, als noch mehr Mitglieder vom alten Schlag dabei gewesen waren, die einer Frau rein gar nichts zutrauten, außer Kaffee zu kochen. Inzwischen hatte sich das weitgehend geändert. Ferdi, Flo und Jonas, die Jungen, waren ihr von Anfang an vorurteilslos gegenübergetreten, und Andi und Jack, die am längsten dabei waren und damals noch gegen ihre Aufnahme gewesen waren, hatten sich von ihrer Leistung überzeugen lassen. So hoffte sie jedenfalls. Denn diese Leistung stand der der Männer in nichts nach. Im Gegenteil. Sie war neben Franz Schaller die einzige ausgebildete Bergführerin, was mehr Wissen und Können voraussetzte als die zu absolvierenden Prüfungen bei der Bergwacht.

Heulen jedoch, das kam trotzdem nicht infrage! Schnell wischte sie sich mit dem Ärmel ihrer Fleecejacke über die Augen, während sie weiter Franz’ Worten lauschte. Einen Nachfolger konnte er nicht bestimmen, den wählten sich die Bergwachtler selbst aus ihren Reihen, er konnte jedoch eine Empfehlung abgeben.

«Wenn ich zum Ende des Sommers endgültig draußen bin, werde ich mich nicht mehr in eure Entscheidungen einmischen», sagte er jetzt. «Unsere kleine Truppe ist im Laufe der Jahre zu einem eingeschweißten Team zusammengewachsen, und das wirkt sich positiv auf unsere Arbeit aus. Soweit es uns möglich war, haben wir alle unsere Einsätze zu einem guten Ende gebracht, und keiner von uns wurde bei einem Einsatz ernsthaft verletzt. Nicht weil wir so grandiose Bergsteiger wären – was wir natürlich auch sind», er zwinkerte, und alle außer Lena, der noch immer ein Kloß im Hals steckte, lachten. «Sondern weil wir so gut zusammengearbeitet haben. Und damit das so bleibt, gestattet mir, euch heute zu sagen, wen ich mir für meine Nachfolge wünsche. Danach geb ich auch gleich wieder Ruh, keine Sorge.» Wieder kurzes Gelächter.

Er räusperte sich und sah in die Runde, bis sein Blick bei Jack Reiter hängen blieb. Dieser richtete sich ein wenig auf, bemüht, möglichst unbeteiligt dreinzuschauen. Es war eine ausgemachte Sache, dass Jack Franz’ Nachfolge antreten würde. Er war ein sehr erfahrener Bergsteiger und bei der Truppe, seit er sechzehn Jahre alt war. Jack hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass die Bergwacht sein Leben war. In der letzten Zeit hatte er bereits einige von Franz’ Aufgaben übernommen, etwa die Einteilung der Bereitschaften und die Jugendarbeit.

«Jack, du kannst es saugut mit unserer Jugend, sie schauen auf dich und bewundern dich, und ich würd mir sehr wünschen, dass das so bleibt.»

«Kein Thema», sagte Jack mit einem gewissen Stolz in der Stimme. «Natürlich werd ich deine Arbeit so fortführen, wie …»

Franz unterbrach ihn mit einer sanften Handbewegung, und dabei lag etwas in seinem Blick, das Lena nicht zu deuten wusste. Abbitte? Eine Entschuldigung? Wofür?

Ohne weiter auf Jacks Worte einzugehen, redete Franz weiter, jetzt mit festerer, entschiedenerer Stimme: «Wir alle spüren, die Zeiten haben sich geändert, und es ist daher keine Frage, dass auch die Bergwacht mit der Zeit gehen muss. Im Jahr zweiundneunzig hat sich die erste junge Frau die Mitgliedschaft bei der Bergwacht noch gerichtlich erstreiten müssen. Wir in Bichlbrunn waren der Zeit immer schon ein bisserl hinterher, bei uns hat’s sogar noch fast fünfundzwanzig Jahre länger gedauert, bis es so weit war, aber ihr werdet mir zustimmen, dass die Lena unsere Truppe in jeder Hinsicht bereichert hat.»

Ferdi und Jonas nickten, Flo Burgstaller pfiff durch die Zähne, und sogar Andi brachte etwas zustande, das man mit etwas gutem Willen als widerwilliges Nicken interpretieren konnte. Einzig Jack Reiter zeigte keine Regung. Er wirkte wie erstarrt.

«Sie wird nicht die einzige Frau bleiben, die sich bei uns bewirbt», fuhr Franz fort. «Erst gestern hat mich die Steiger Vroni deswegen angesprochen und mir gesagt, dass sie durch Lenas Beispiel ermutigt wurde, zu uns zu kommen. Sie ist grad sechzehn geworden, ich glaub, sie ist mit deinem Bub, dem Felix, in der Klasse.» Franz nickte dem noch immer wie versteinert dasitzenden Jack zu. «Die Vroni wird also vermutlich die Nächste sein, die unseren ehemals reinen Männerverein ein bisserl vielseitiger und spannender macht.» Er räusperte sich. «Ihr könnt euch wahrscheinlich schon denken, worauf ich mit meinem ganzen Gerede hinauswill, und deshalb sag ich’s, wie’s ist: Ich möchte, dass die Lena Veith meine Nachfolgerin wird. Ich bin überzeugt davon, dass das die beste Lösung für die Zukunft der Bichlbrunner Bergwacht ist. Und mit dir, Jack, als Ausbilder für den Nachwuchs, gibt das ein super Gespann.» Er nickte in die Runde und setzte sich.

Einen Moment lang war nur das Lodern der Flammen und das Knacken der Holzscheite zu vernehmen. Dann hörte Lena den Knall von explodierendem Glas, und alle drehten sich zu Jack, der seine Bierflasche ins Feuer geworfen hatte. Er war aufgesprungen und stand jetzt breitbeinig da. Mit wildem Blick musterte er Franz sekundenlang, dann drehte er sich um und verschwand in der Dunkelheit.

Einsatzprotokoll

Mittwoch, 22. Juni

Einsatzort: Waldweiher, Bongo-Bar

Wetter: sonnig

Besondere Bemerkungen: Ein Hund namens Hilde

1

Als Lena um halb fünf Uhr morgens zusammen mit Res aufstand, war es noch dunkel. Sie hatte nicht einmal vier Stunden geschlafen und fühlte sich verkatert, obwohl sie nichts getrunken hatte. Nach Franz Schallers Ankündigung und Jacks zornigem Abgang war die Geburtstagsfeier recht abrupt zu Ende gewesen. Andi war mit Jack ins Tal gefahren, und die anderen waren ihnen kurz darauf gefolgt. Die Stimmung war gedämpft gewesen, niemand wollte etwas zu Franz’ Entscheidung, seinen Posten aufzugeben, oder über seine Empfehlung sagen, am allerwenigsten Lena selbst. Bis sie und Res aufgeräumt und abgewaschen hatten, war es weit nach Mitternacht gewesen.

Von den Überresten des mächtigen Feuers stieg nur noch ein zarter Rauchfaden auf, als Lena aus dem Fenster ihrer kleinen Dachkammer schaute, in der sie als Kind schon geschlafen hatte. Sie stieg über die steile Holztreppe hinunter, um die Morgenarbeiten auf der Alm zu verrichten. Sooft sie konnte, kam sie auf die Alm, blieb meist über Nacht und half Res beim Versorgen der Tiere, beim Käsen oder was sonst noch anfiel. Ihre Tante war zwar fit und noch voller Energie, aber die vielen Aufgaben waren dennoch anstrengend und die Nächte kurz.

Im Vergleich zu früher hatte Res die Arbeit bereits reduziert und hielt weniger Ziegen als früher. Eine offizielle Bewirtung mit Öffnungszeiten und Speisekarte hatte es auf der Obermoosalm noch nie gegeben, Wanderer, die die entlegene Alm dennoch besuchten, bekamen allerdings eine Brotzeit und etwas zu trinken. In der Regel waren es nur Freunde und gute Bekannte, die neben denjenigen, die Res’ Hilfe als Abbeterin in Anspruch nahmen, den Weg hierherauf machten, um mit ihr bei einem netten Hoagarten zusammenzusitzen. Um das Jungvieh der Bichlbrunner Bauern, das für die Sommermonate auf die Almweiden getrieben wurde, kümmerte sich seit letztem Jahr der Hirte der Weidegenossenschaft auf der Wettersteinalm, die etwa eine Dreiviertelstunde Wanderung entfernt lag. So hatte Res nur noch ihre eigenen Tiere zu versorgen, das reichte jedoch vollkommen, zumal sie Wert darauf legte, sich so autark wie möglich zu versorgen und nur alle heiligen Zeiten mit ihrem altersschwachen Subaru ins Tal fuhr. Getränke und andere Dinge, die sie brauchte, wurden ihr meist von der Bergwacht heraufgebracht – das hieß von Lena, die dafür den geländegängigen Pick-up der Bergwacht zur Verfügung gestellt bekam. Dafür wurden sie und ihre Kameraden mit vorzüglichem Käse, selbst geräuchertem Speck, Marmeladen, eingelegten Pilzen, Tees, Likören und Schnäpsen versorgt, allem voran dem allseits begehrten Zirbenschnaps, der wie auch alles andere aus Res’ Produktion im Hofladen unten im Dorf verkauft wurde.

Res brauchte nicht viel, und das wenige, was sie davon nicht selbst herstellte, musste sie oft nicht einmal kaufen, denn viele Dörfler waren ihr dankbar für Warzen, die über Nacht verschwanden, vertrocknete Leberflecken, gestilltes Nasenbluten, zurückgebildete Blutschwämme, gelinderte Gelenkschmerzen und fortgebetete Frauenleiden. Als Dankeschön brachten sie ihr daher oft etwas vorbei, ein paar Flaschen Klaren etwa für die Zubereitung der mit Kräutern und Waldfrüchten angesetzten Schnäpse, einen ganzen Schinken, Pralinen und Schokolade, eine Decke oder auch ein Paar selbst gestrickte Hüttenschuhe für den Winter. Hin und wieder kam auch einer der Bauern aus dem Dorf herauf und half ihr beim Holzhacken.

 

Nachdem Res und Lena mit dem Melken der Ziegen und der zwei Milchkühe fertig waren, die Milch in der Zentrifuge geschleudert, den Rahm vom Vortag gebuttert und schließlich die Hühner und die zwei Schweine gefüttert hatten, kochte Res Kaffee. Die Berge leuchteten bereits rosa im Licht der aufgehenden Sonne, und die beiden Frauen setzten sich mit ihren Kaffeetassen nach draußen. Agi streunte über die Wiese und erforschte mit der Spürnase am Boden, was sich über Nacht dort an neuen Gerüchen und Botschaften angesammelt hatte. Die Katzen leisteten lieber Lena und Res auf der Bank vor der Hütte Gesellschaft. Fritz hockte zwischen den Geranien auf dem Sims des kleinen Fensters und beobachtete mit einem gewissen Unverständnis den umtriebigen Hund auf der Wiese, und Mimi lag zusammengerollt auf Lenas Schoß. Heute Nacht hatte sie sich in ihr Bett geschlichen und sich in ihre Armbeuge gekuschelt. Ein warmes Päckchen weiches Fell, das sich mit jedem Atemzug hob und senkte. Lena hatte auf die leisen Atemgeräusche geachtet, das kleine Herz in ihrer Armbeuge pochen gehört und nicht gewagt, sich zu bewegen, um das Kätzchen nicht aufzuschrecken. Am Morgen war ihr Arm eingeschlafen gewesen, und es hatte eine ganze Weile gedauert, bis sie ihn nach heftigem Wedeln und Zappeln mit einem schlimmen Kribbeln wieder spüren konnte.

Von einem Augenblick auf den anderen stieg die Sonne über das Wettersteinmassiv. Ihr goldenes Licht ergoss sich verschwenderisch über die noch kühlen, schattigen Wiesen. Obwohl Lena dieses Spektakel schon so oft gesehen hatte, raubte ihr der Sonnenaufgang auf der Alm jedes Mal aufs Neue den Atem. In diesen Momenten, geblendet vom Licht des neuen Tages, die Wärme der Strahlen auf dem Gesicht, konnte sie Res’ Eigensinn, mit dem sie darauf bestand, dieses harte und oft einsame Leben hier oben zu führen, mit jeder Faser ihres Herzens verstehen. Lena würde sie dabei unterstützen, so gut es ihr möglich war, damit Res diesen Ort auch im fortgeschritteneren Alter nicht verlassen musste, jedenfalls nicht, solange sie es nicht wollte.

«Magst drüber reden?», fragte ihre Tante unvermittelt, mit halb geschlossenen Augen in die Sonne blinzelnd.

Lena wusste natürlich, was sie meinte. Den Ausgang des gestrigen Abends, Franz’ Rede, die sie so unerwartet wie unwillkommen in den Mittelpunkt einer Diskussion gerückt hatte, die sie nicht führen wollte.

Sie schüttelte den Kopf, sagte dann aber doch: «Was hat er sich nur dabei gedacht?»

«Sicher was Gscheids. Der Franz ist kein Dummkopf, der macht so was nicht unüberlegt.»

«Ich weiß nicht. Ich find nicht, dass das gescheit war. Er hat den Jack vor den Kopf gestoßen und mich auch.»

Res trank ihren Kaffee aus, bevor sie antwortete. «Das wird sich schon alles regeln, wirst sehen. Du kannst dem Franz vertrauen.» Sie stand auf. «Magst noch ein Frühstück? Ich richt dir was her.»

«Das brauchst nicht.»

Ihre Tante würde gleich mit Agi, den Ziegen und Kühen auf eine der Weiden gehen, die etwas weiter entfernt lagen, damit sie abwechslungsreiches Futter bekamen. Nach ein paar Stunden würde sie wieder zurückkommen und die Tiere in ein weitläufig abgezäuntes Gatter bringen, bis am Abend erneut das Melken anstand. Res nahm ihr Frühstück und den Proviant für die Mittagszeit immer mit, und auch wenn Lena liebend gern noch geblieben wäre, hatte sie heute keine Ruhe, gemütlich zu frühstücken. Ihr Teilzeitjob in der Geschäftsstelle der Bichlbrunner Bergwacht begann zwar erst um neun, und auch das wurde nicht so punktgenau genommen. Aber heute Vormittag hatte das gesamte Bergwachtteam einen Termin beim Bürgermeister, und Lena wollte nicht in letzter Minute eintreffen. Der gestrige Abend lag ihr im Magen, und sie hoffte, noch mit Franz sprechen zu können, bevor die anderen eintrudelten.

«Ich hab einen alten Stinker da.»

Lena hob erfreut den Kopf. «Echt? Den hab ich gestern gar nicht gesehen.»

Res lächelte. «Da gab’s ihn auch nicht. Ich hab ihn für dich aufgehoben. Und eine Flasche frische Hollerlimo hab ich auch noch.»

Der «alte Stinker» war der am längsten gereifte Ziegenkäse aus Res’ Herstellung, und Lena liebte ihn trotz des wenig respektvollen Namens, den sie ihm als Kind gegeben hatte. Im Hofladen hieß er natürlich anders: Würzige Ziege. Außerdem gab es noch die Kräuterziege, die Frische Ziege, die Heublumenziege, die Honigziege und die Butterziege. Ein Käse köstlicher als der andere, aber der alte Stinker toppte sie alle, fand Lena.

Zu gerne wäre Lena für immer auf der Bank vor Res’ Hütte sitzen geblieben. Ihr graute davor, Jack Reiter gegenüberzutreten, selbst wenn sie keine Schuld daran trug, dass er von Franz übergangen worden war. Die Stimmung im Team würde alles andere als entspannt sein, und sie wusste nicht, was sie daran ändern konnte. Jedes Wort, jeder Beschwichtigungsversuch würde vermutlich nur noch Öl ins Feuer gießen. Wenn Jack wütend war, war nicht mit ihm zu reden. Zorn auf Franz Schaller erfasste Lena. Wie hatte er sie nur in eine solche Lage bringen können?

Widerwillig stand sie auf und folgte Res in die Stube, um sich eine Brotzeit einzupacken.

Wenigstens war die Aussicht auf eine dicke Scheibe vom alten Stinker mit frischem Sauerteigbrot und eine prickelnde Hollerlimonade durchaus verlockend. Wenn schon ein unangenehmer Vormittag drohte, musste sie ihn nicht auch noch mit leerem Magen beginnen.

 

Als Lena den größten Teil des Weges zurückgelegt hatte, war es kurz vor acht, und die Sonne begann bereits angenehm zu wärmen – ein idealer Zeitpunkt für eine Pause am Waldweiher. Das kleine Gewässer lag im Tal etwas versteckt abseits des Weges und war – von den Berggipfeln abgesehen – einer von Lenas Lieblingsorten rund um Bichlbrunn. Von einer kleinen Anhöhe ragte ein umgestürzter Baumstamm über das Wasser. Lena krabbelte ein Stückchen auf den Stamm, auf den die ersten Sonnenstrahlen fielen, und genoss die Wärme. Das Gras weiter unten am Ufer dampfte im Morgenlicht.

Von ihrem Sitzplatz hatte Lena einen schönen Blick hinunter auf das smaragdgrüne Wasser, auf den Frauenboden über ihr sowie die entfernte, mächtige Kulisse des Wettersteins samt Alpspitze und Teufelskopf.

Lena rutschte rittlings ganz nach vorne über das Wasser und hielt einen Moment inne. Der blaue Himmel und die Fichten in der Nähe des Ufers spiegelten sich im Weiher, sodass es schien, als läge ihr eine zweite Welt zu Füßen. Es war vollkommen still, nur das leise Brummen der im flirrenden Morgenlicht umherschwebenden Insekten war zu hören und gelegentlich das Hämmern eines Spechts. Lena sog die frische Morgenluft ein, den aromatischen Duft nach Wald, Harz, Holz und Tannennadeln, vermischt mit dem leicht sumpfigen Geruch des Wassers. Eine Amsel flog lautlos heran, ließ sich auf einem Ast des umgestürzten Baumes nieder, nur zwei Armlängen von Lena entfernt. Sie betrachteten sich abwartend, die Amsel mit schief gelegtem Kopf, ihr gelb umrandetes Auge wachsam auf Lena gerichtet, und plötzlich breitete sie ihre Flügel aus und flog ebenso lautlos davon, wie sie gekommen war.

Mit einem Lächeln sah Lena ihr nach, dann packte sie ihre Brotzeit aus. Ihr Magen knurrte bereits vernehmlich, und als ihr der würzige Duft des Käses in die Nase stieg, lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Ihr war durchaus klar, dass nicht jeder ihrer Mitmenschen den Geruch des alten Stinkers als Duft bezeichnet hätte, eher das Gegenteil war vermutlich der Fall, aber für Lena war es tatsächlich ein Duft. Sie liebte Käse in allen Varianten, und die Jahre, die sie in den Savoyer Alpen gelebt hatte, waren aus käsekulinarischer Sicht ein absolutes Highlight für sie gewesen. Und doch: Reblochon, Beaufort, Emmental de Savoie und nicht einmal der Chevrotin konnten dem alten Stinker den Rang ablaufen.

Genussvoll bereitete sich Lena aus dem Käse und dem Brot ein Sandwich und wollte gerade hineinbeißen, als sie hinter sich ein Geräusch hörte. Wie hastige Schritte auf dem nadelbedeckten Waldboden, begleitet von einem leisen Keuchen.

Bevor sie sich umdrehen konnte, sprang sie von hinten etwas an, etwas Haariges und ziemlich Kräftiges. Sie verlor das Gleichgewicht, rutschte vom Baumstamm und fiel mit einem lauten Platschen mitten hinein in den Weiher.

Was war das denn gewesen?

Benommen richtete sie sich auf und wischte sich das Wasser aus den Augen. Bis zur Hüfte stand sie im Weiher, komplett durchnässt und voller Schlamm. Glitschige Blätter und Algen klebten an ihr, und ein modriger Geruch stieg ihr in die Nase. Der Weiher mochte idyllisch aussehen, ein Badesee war er definitiv nicht.

Da! Sie hob ihren Kopf und lauschte. Da war dieses Geräusch wieder. Ein Rascheln kam noch dazu, etwas wühlte sich von der Anhöhe durch das Unterholz zum Ufer hinunter, und das ziemlich energisch. Zweige krachten, ein Schnaufen, Schnüffeln, Hecheln. Lena überlegte noch, ob es sich um ein Wildschwein handelte, das sie angefallen hatte, als ein großer grauer Hund durch die Büsche brach. Zielstrebig stürzte er sich auf Lenas Käsebrot, das zwischen den Uferkieseln lag. Es war ihr bei dem Sturz aus der Hand gefallen und offensichtlich im Gegensatz zu ihr selbst nicht im Wasser gelandet. Mit einem Happs war Lenas kostbarer alter Stinker im Schlund des Tiers verschwunden.

«He!», rief sie empört. «Was fällt dir ein?»

Der Hund drehte sich zu ihr um und wedelte freundlich mit dem Schwanz. Er war wirklich sehr, sehr groß, sah jedoch nicht besonders bedrohlich aus mit seinem zottigen Fell und den sanft dreinblickenden Augen. Ihr schwante, dass er es gewesen sein musste, der sie so unsanft in den Weiher befördert hatte.

Als von irgendwoher ein lang gezogener Pfiff ertönte, wackelte der Hund kurz mit den Ohren – bewegte sich jedoch nicht von der Stelle. Stattdessen wandte er sich mit interessiertem Blick wieder Lena zu und wuffte einmal laut und vernehmlich.

Oben am Weg waren schnelle Schritte und eine wütende Männerstimme zu hören. «Wo steckst du, verflucht noch mal?»

Wieder knackten Äste, dann stürzte ein Mann unvermittelt aus dem Gebüsch, genau an der Stelle, wo der Hund sich bereits einen Weg gebahnt hatte. Der Typ war groß, breitschultrig und bärtig, allerdings war der Bart nicht so zottig wie das Fell seines Hundes, sondern kurz geschnitten wie seine Haare. Die muskulösen Arme waren voller Tattoos. Er wirkte wenig vertrauenerweckend, andererseits sah er nicht unattraktiv aus.

«Mensch, Hilde!», rief er, als er seinen Hund erblickte. «Du sollst doch nicht immer abhauen!»

Hilde? Im Ernst? Lena hob die Brauen. Welcher Idiot gab seinem armen Hund einen so dämlichen Namen? Hilde wirkte immerhin etwas schuldbewusst. Ihre spitzen Ohren senkten sich links und rechts des Kopfes herab, und sie wedelte versöhnlich. Der Typ ging auf den Hund zu und kraulte ihn am Nacken.

«Ich hab mir echt Sorgen gemacht», sagte er vorwurfsvoll zu dem Tier, als wäre Lena gar nicht anwesend. Jetzt, wo Herrchen und Hund nebeneinanderstanden, erkannte sie erst, wie groß dieses Viech tatsächlich war. Hilde reichte dem Mann locker bis zur Hüfte.

Lena räusperte sich. «Ich möchte Ihr rührendes Wiedersehen ja ungern stören», sagte sie etwas pikiert, «aber Ihr Hund hat mich gerade von da oben ins Wasser geschubst und dann mein Käsebrot gefressen.» Sie deutete zu dem Baumstamm hinauf.

Der Mann wandte sich nun endlich ihr zu. «Oh.» Er kratzte sich am Kopf. «Das tut mir leid. Haben Sie sich verletzt?»

Lena stapfte aus dem Wasser, wobei ihre Bergschuhe bei jedem Schritt tief im weichen Schlamm versanken. Aus den Haaren rann ihr modriges Wasser in die Augen, und die Kleidung klebte ihr am Körper. «Nein», erwiderte sie unwirsch. «Aber wenn Sie Ihren Riesenköter nicht im Griff haben, sollten Sie ihn an die Leine nehmen.»

Der Mann gab keine Antwort. Stattdessen starrte er sie an wie eine Erscheinung. Sie wusste nicht, ob er erschrocken war oder sich das Lachen verkniff. Schließlich deutete er auf ihren Kopf. «Sie haben da was», sagte er. Jetzt war Lena klar, dass er das Ganze höchst amüsant fand: Er grinste.

Mit ihrer Hand fuhr sie sich ins Haar und zog einen langen dünnen Ast voller glitschiger Blätter aus ihrem Zopf. «Das finden sie wohl lustig?», schnappte sie und warf den Ast ins Wasser. «Ich hätte mir den Hals brechen können.»

«Nein. Entschuldigung.» Er bemühte sich halbherzig um ein ernstes Gesicht, was ihm jedoch nicht gelang. «Sie sehen nur ziemlich … äh … nass aus.» Wieder verzog sich sein Mund zu einem Grinsen. Ziemlich unverschämt, wie Lena fand. Als sie ihn genauer musterte, seine blauen Augen, das schmale, kantige Gesicht mit dem kräftigen Kinn, die gerade Nase, kam er ihr irgendwie bekannt vor, aber sie wusste nicht, woher.

«Ach, tatsächlich? Woran das wohl liegt?», fauchte sie wütend. Wenn dieser Kerl dieses verfluchte Grinsen nicht sofort abstellte, konnte sie für nichts garantieren.

Doch er schien von ihrem Zorn völlig unbeeindruckt, was sie noch mehr in Rage brachte. Gelassen und kein bisschen schuldbewusst strich er der Hündin über den Kopf. «Sie ist das alles hier halt noch nicht gewohnt.» Er machte eine ausholende Handbewegung.

«Was alles?»

«Natur. Sie war bisher nur in der Stadt. Und dann noch der Käse.» Wieder dieses Grinsen. «Der Käse war schuld. Ich hatte mich schon gewundert, weshalb sie so abgeht …» Amüsiert schüttelte er den Kopf.

«Der Käse?»

«Sie sagten doch, Sie hatten ein Käsebrot dabei. Hilde steht auf Käse. Da wird sie ganz wild.»

«Das hab ich gemerkt», erwiderte Lena trocken und fragte sich, ob er damit andeuten wollte, dass sie die Schuld an dem Zusammenstoß mit Hilde trug? Weil sie die Frechheit besessen hatte, im Wald ein Käsebrot zu essen?

Ohne einen weiteren Kommentar abzuwarten, stapfte sie an dem unverschämten Typen vorbei und kletterte die Böschung hinauf. Dabei war ihr unangenehm bewusst, dass er ihr nachsah.

Noch unangenehmer war ihr, dass sie vermutlich keine besonders gute Figur dabei abgab, wie sie sich völlig durchweicht und mit grünen Algen in den Haaren den rutschigen, mit Schösslingen und Steinen bedeckten Abhang hinaufhangelte. Bei jedem Schritt machten ihre Schuhe ein schmatzendes Geräusch, und sie hinterließ tropfend eine nasse Spur auf den hellen Steinen. Vermutlich würde der Idiot sich gleich totlachen.

Oben angekommen, widerstand sie der Versuchung, sich noch einmal nach ihm umzudrehen, sondern lief zu ihrem Picknickplatz, wo noch ihr Rucksack lag. Sie riss sich das klatschnasse T-Shirt vom Leib und schlüpfte in ihr Wechselshirt, das sie gottlob bei Bergtouren immer dabeihatte. Dann schulterte sie den Rucksack und machte sich schnellen Schrittes auf den Weg zurück nach Bichlbrunn, in der Hoffnung, diesem Spaßvogel und seinem Riesenbaby nicht mehr zu begegnen.

2

Lena saß am PC, doch statt zu arbeiten, sah sie aus dem Fenster. Friedlich lag der kopfsteingepflasterte Dorfplatz mit der Pfarrkirche in der späten Vormittagssonne. Ein paar Urlauber schlenderten herum, schleckten Eis und fotografierten die mit Lüftlmalerei verzierten Häuser. Es war warm, und am Himmel drehten die Schwalben ihre Kreise. Die Geschäftsstelle der Bergwacht Bichlbrunn befand sich im Erdgeschoss des Rathauses, eines großen, denkmalgeschützten Gebäudes, das mehr Räume hatte, als die kleine Gemeinde Bichlbrunn für ihre Verwaltung brauchte. Daher waren hier neben der Bergwacht auch die Dorfbücherei und ein kleines Büro für die Bichlbrunner Außenstelle der Garmischer Polizei untergebracht. Letzteres war vor allem praktisch für Jonas, der dort in der Regel alleine Dienst schob. Seine Kollegen aus Garmisch versuchten, sich, wo immer es ging, vor diesem Dienst in der «Pampa», nur zehn Kilometer Luftlinie von Tirol entfernt, zu drücken.

Die Bichlbrunner Bergwacht war mit sieben festen Mitgliedern eine kleine, aber sehr wichtige Einheit. Die Gegend war eines der einsatzintensivsten Gebiete in den oberbayerischen Alpen, und es galt, zusammen mit der Leitstelle in Garmisch die Einsatzkräfte der umliegenden Gemeinden und Tirols zu koordinieren. Darum leistete sich der überwiegend ehrenamtlich organisierte Verein auch eine bezahlte Verwaltungskraft: Lena.

Es war nur ein Minijob, aber der reichte ihr, um zusammen mit den Einnahmen als Bergführerin gut über die Runden zu kommen. Hin und wieder half sie in der Dorfkneipe direkt unter ihrer Wohnung aus, zum einen, um sich ein Finanzpolster für die Monate außerhalb der Saison zu schaffen, zum anderen, weil sie einfach Spaß daran hatte.

Die Bongo-Bar war so etwas wie ihr zweites Wohnzimmer. Wenn es dort hoch herging, konnte sie im Stockwerk darüber kein Auge schließen, da war es praktischer, gleich unten zu bleiben. Zudem war Mike, der Wirt, der jüngere Bruder ihrer Freundin Alex.

Noch war Lena alleine im Büro. Gleich würde hoffentlich Franz hereinschauen, das tat er fast jeden Vormittag, seit er nicht mehr arbeitete – seine Bäckerei und die beiden Filialen in Garmisch hatte er im letzten Jahr verkauft und genoss seither den Ruhestand. Franz war auch der Grund, weshalb Lena jetzt nicht arbeitete, sondern weiter aus dem Fenster starrte. Nach dem gestrigen Abend wusste sie nicht, wie sie ihm gegenübertreten sollte. Wie konnte sie ihm bloß klarmachen, dass es eine Schnapsidee von ihm gewesen war, auf der Feier mit dieser Nachricht und seiner idiotischen Empfehlung herauszuplatzen?

Eigentlich sollte sie einen Bericht über die Geburtstagsfeier schreiben. Die Bergwacht Bichlbrunn wollte mit der Zeit gehen und war auf Ferdis Anregung hin seit Kurzem bei Facebook und Instagram. Zu Lenas Aufgaben gehörte es, die Accounts regelmäßig mit Beiträgen zu füttern, auf die Kommentare zu antworten und die Follower über Neuigkeiten zu informieren. Von Ferdi hatte sie eine Menge stimmungsvoller Fotos erhalten – glücklicherweise hatte er die noch vor Franz’ Rede geschossen. Trotzdem fiel ihr das Schreiben schwer. Sie hatte schon einige Male mit ihrem Post angefangen, aber dann doch wieder alles verworfen. Jedes Mal, wenn sie zu tippen begann, stand ihr Jack Reiter vor Augen, seine wütende Miene, wie er vom Feuer aufsprang und davonlief, und sie beschlich die Ahnung, dass es mit diesem wütenden Abgang lange nicht getan sein würde.

Sie seufzte und trank einen Schluck Kaffee. Er war nur noch lauwarm, doch sie hatte keine Lust, aufzustehen und sich einen frischen zu holen. Sie hatte zu gar nichts Lust, fühlte sich wie gelähmt von der Vorstellung, dass ihre Kameraden sich jetzt Franz Schaller moralisch verpflichtet fühlen würden, sie zur Leiterin zu wählen. Als sie am Morgen von der Alm abgestiegen war, hatte sich das Problem noch weit entfernt angefühlt, und durch die Begegnung mit Hilde und ihrem Herrchen hatte sie es sogar kurzzeitig ganz wegschieben können. Doch seit dem Moment, in dem sie frisch geduscht und umgezogen ins Büro gekommen war, stand ihr der gestrige Abend wieder vor Augen.

Als die Tür aufging und Franz Schaller hereinkam, spürte Lena wieder den Knoten in ihrem Magen, der sich gestern gebildet hatte und seitdem nicht mehr ganz verschwunden war. Sie fühlte sich von Franz in die Ecke gedrängt, ein Gefühl, das sie mehr hasste als alles andere. Der ehemals beste Kumpel ihres Vaters war seit fast zwanzig Jahren schon ihr väterlicher Freund. Sie wollte ihn nicht vor den Kopf stoßen und musste es trotzdem tun.

«Guten Morgen, Lena!», rief Franz gut gelaunt. Er trug ein grün kariertes Trachtenhemd mit aufgekrempelten Ärmeln und einen Strickjanker und wirkte im Gegensatz zu Lena aufgeräumt und ausgeschlafen.

«Morgen.» Lena bemühte sich gar nicht erst zu lächeln.

Franz schien ihre gereizte Stimmung nicht zu bemerken. Er ging zur Kaffeemaschine, stellte eine Tasse darunter und drückte auf den Knopf.