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Für alle, die die Berge lieben. Die mitreißende Serie um Lena und die Bergwacht in den Bayerischen Alpen. Lena hat es geschafft, sie ist die neue Leiterin der Bergwacht im kleinen Dörfchen Bichlbrunn. Aber die Stimmung im Team ist schlecht. Liegt es an ihr? Oder verbergen die alten Bergwachtskollegen Jack und Franz etwas vor Lena? Dabei kann sie Unruhe im Team gar nicht gebrauchen, denn in wenigen Tagen findet ein Extrem-Berglauf um den Teufelskopf statt. Auch privat läuft es nicht besonders rund für Lena. Ständig kreisen ihre Gedanken um Ben. Eben erst wollte sie sich mit dem Ranger aussöhnen – ausgerechnet da taucht ihr Ex Alain auf und tut gerade so, als wären sie nicht seit Jahren getrennte Leute. Lena kocht vor Wut! Unaufhaltsam laufen die Vorbereitungen für den Berglauf. Ein plötzlicher Kälteeinbruch ist nicht ausgeschlossen, doch der Veranstalter will von den ewigen Bedenken der Bergwacht nichts wissen. Eine Katastrophe scheint unausweichlich …
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Seitenzahl: 495
Veröffentlichungsjahr: 2023
Sophie Zach
Gipfelstürme
Roman
Berge sind stille Meister.
Lena hat es geschafft, sie ist die neue Leiterin der Bergwacht im kleinen Dörfchen Bichlbrunn. Aber die Stimmung im Team ist schlecht. Liegt es an ihr? Oder verbergen die alten Bergwachtskollegen Jack und Franz etwas vor Lena? Dabei kann sie Unruhe im Team gar nicht gebrauchen, denn in wenigen Tagen findet ein Extrem-Berglauf um den Teufelskopf statt.
Auch privat läuft es nicht besonders rund für Lena. Ständig kreisen ihre Gedanken um Ben. Eben erst wollte sie sich mit dem Ranger aussöhnen – ausgerechnet da taucht ihr Ex Alain auf und tut gerade so, als wären sie nicht seit Jahren getrennte Leute. Lena kocht vor Wut!
Unaufhaltsam laufen die Vorbereitungen für den Berglauf. Ein plötzlicher Kälteeinbruch ist nicht ausgeschlossen, doch der Veranstalter will von den ewigen Bedenken der Bergwacht nichts wissen. Eine Katastrophe scheint unausweichlich …
Für alle, die die Berge lieben. Die mitreißende Serie um Lena und die Bergwacht in den Bayerischen Alpen.
Sophie Zach ist das Pseudonym einer erfolgreichen Autorin, die bereits Krimis, Liebesromane und historische Romane geschrieben hat. Sie wuchs in einem Dorf in den Alpen auf, lernte mit drei Jahren Skifahren und jobbte auf der Zugspitze, bevor sie auszog, sich die Welt anzusehen. Heute lebt sie wieder in ihrem Geburtsort, von wo aus sie ausgedehnte Wanderungen mit ihrem Hund in die Berge unternimmt. Was liegt da näher, als ihre Freunde bei der Bergwacht auszufragen und eine dramatische Serie zu schreiben, mitten in den Bayerischen Alpen, die sie liebt?
«Gipfelstürme» ist der zweite Band ihrer erfolgreichen «Bergwacht»-Serie. Der erste Teil wurde von Leserinnen und Lesern begeistert aufgenommen.
«Es ist ein kurzweiliges Vergnügen, das Sophie Zach ihren Lesern bietet. Und sie macht mit dem ersten Buch Lust darauf, möglichst schnell weiterzulesen.» (Garmisch-Partenkirchner Tagblatt über «Die Bergwacht. Alpenglühen»)
Dieses Projekt wurde von der VG WORT im Rahmen des von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) initiierten Programms NEUSTART KULTUR gefördert.
Die beim Rowohlt Verlag erscheinende Romanserie «Die Bergwacht» steht in keinem rechtlichen oder tatsächlichen Zusammenhang mit dem Deutschen Roten Kreuz e.V. oder dessen Marke «Bergwacht» und wurde insbesondere nicht von diesem in Auftrag gegeben.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, September 2023
Copyright © 2023 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg Copyright © 2023 by Sophie Zach
Redaktion Nadia Al Kureischi
Karte Wettersteingebirge und Bichlbrunn bürosüd, München
Covergestaltung bürosüd, München
ISBN 978-3-644-01426-8
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Montag, 22. August
Einsatzort: Teufelskopf/Rupertisteig
Bemerkungen: «Du Depp hältst jetzt den Mund!»
Der Alarm des Piepsers riss Lena aus dem Tiefschlaf. Augenblicklich war sie hellwach. Vor dem Fenster war es stockdunkel. Sie schaltete das Gerät aus und tastete nach ihrem Handy, um bei der Leitstelle anzurufen.
«Was gibt’s?», fragte sie, während sie schon aus dem Bett sprang, sich ihre Bergsteigerklamotten zusammenklaubte und ins Bad lief.
«Ein Paar hat sich am Rupertisteig verstiegen und kommt nicht mehr vor und zurück. Die Angaben der beiden Bergsteiger waren nicht sehr genau, sie müssten irgendwo knapp unterhalb des Gipfels sein. Offenbar hat sich ein Seil verkantet. Angerufen hat uns die Frau …» Lenas Kollege verstummte einen Moment, offenbar studierte er seine Notizen. «Sabine heißt sie. Schmidt. Die beiden sind aus der Gegend, sie klang vom Dialekt her jedenfalls so.»
«Verstehe.» Lena stellte das Handy auf die Ablage unter dem Spiegel, während sie in ihre Hose schlüpfte. «Warum melden die sich erst jetzt?», wollte sie wissen, während sie sich ihre Haare zu einem Zopf flocht und sich etwas Wasser ins Gesicht spritzte. Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass es kurz vor Mitternacht war. Lena war erst vor einer knappen Stunde ins Bett gegangen. Ein ungewöhnlicher Zeitpunkt für einen abgesetzten Notruf. «Sind sie etwa abends aufgestiegen?»
«Nein, am Vormittag schon, aber sie haben viel länger gebraucht als geplant. Als sie merkten, dass sie es nicht mehr schaffen würden, war es bereits Abend, hat die Frau gesagt. Sie haben sich einen Standplatz eingerichtet und haben wohl gehofft, es morgen früh alleine wieder runterzuschaffen. Doch jetzt haben sie es offenbar mit der Angst zu tun bekommen. Ich weiß nicht, wie sie beieinander sind und wie ihre Ausrüstung aussieht.»
Lena warf einen Blick aus ihrem Badfenster. Die Nacht war klar und wolkenlos. Tagsüber war es zwar noch sommerlich warm, aber die Nächte wurden sogar im Tal schon empfindlich kühl. «Die Temperaturen gehen sicher gegen null da oben. Da ist durchaus Gefahr im Verzug.»
«Ja, seh ich auch so. Der Hubschrauber ist angefordert. Er dürfte in etwa zehn, fünfzehn Minuten bei euch eintreffen.»
Lena bedankte sich knapp und beendete die Verbindung. Sie zog sich fertig an und schnappte sich ihren Rucksack. Als sie sich auf ihr Fahrrad schwang, waren seit dem Alarm knapp zehn Minuten vergangen.
Es war eine von jenen Nächten, wie Lena sie normalerweise liebte. Der Mond stand voll am Himmel und schien größer als sonst. Er tauchte das kleine Dorf Bichlbrunn in ein geheimnisvolles Licht. Silbern glänzten die ausladenden Dächer der alten Bauernhäuser, deren Bewohner im tiefen Schlummer lagen; silbern glänzten auch die Blätter der Bäume, die Sträucher und Rosen in den Gärten, an denen Lena auf ihrem Weg zum Gewerbehof vorbeiradelte. Eine Katze sprang von einem Zaunpfosten und lief lautlos über die Straße, und irgendwo bellte verschlafen ein Hund. Alles wirkte ungemein friedlich. Doch Lena wusste, dass der Schein trog. Irgendwo da oben am Teufelskopf, dessen Silhouette sich deutlich vom mondhellen Himmel abhob, spielte sich womöglich gerade ein Drama ab. Mit ungewissem Ausgang. Eines der Dinge, die ihre Arbeit bei der Bergwacht oft so nervenaufreibend machten, waren die wenigen Informationen, die sie über die bevorstehenden Einsätze erhielt. Man konnte nie sagen, was einen erwartete. Die Menschen, die den Notruf absetzten, waren oft nicht in der Lage, genau zu beschreiben, wo sie sich befanden. Oder sie konnten sich vor Aufregung und Angst nicht richtig artikulieren. Hinzu kam, dass die Handyverbindungen in den Bergen meist instabil waren, was sich viele Wanderer und Bergsteiger nicht bewusst machten. Das Paar am Rupertisteig war offenbar unverletzt, aber womöglich schlecht ausgerüstet, unterkühlt, erschöpft. Eine schlechte Kombination, die schnell zu unüberlegten Handlungen, ja zu Panikreaktionen führen konnte. Lena trat stärker in die Pedale. Wie immer zu Beginn eines Einsatzes war sie unruhig, hatte das Gefühl, dass ihr die Zeit davonlief.
Die tiefen Glockenschläge der Bichlbrunner Pfarrkirche waren gerade verklungen, als Lena an der Halle eintraf, wo die Bergwacht ihre Fahrzeuge stehen hatte und wo auch die Ausrüstung lagerte. Der Landeplatz für den Rettungshubschrauber war nur wenige Meter entfernt. Sie hob kurz den Kopf und lauschte, konnte aber das signifikante Knattern des Helikopters noch nicht hören.
Lena sprang vom Rad und lehnte es gegen die Mauer. Sie war die Erste vor Ort, denn sie wohnte am nächsten. Alle anderen Mitglieder der Bergwacht Bichlbrunn, die heute Abend Bereitschaft hatten, waren ebenfalls per Piepser informiert worden und würden gleich kommen. Lena trat unruhig von einem Bein auf das andere und musterte den stillen, sternenübersäten Nachthimmel. Noch immer kein Hubschraubergeräusch. Jetzt bog Ferdi Schorer um die Ecke, ebenfalls auf dem Fahrrad, Jack Reiter und Andi Kornbichler folgten in ihren Autos. Kurz darauf trafen auch Jonas Kaminski und Florian Burgstaller ein, die eigentlich keine Bereitschaft hatten. Flo war das Küken ihres Teams, einundzwanzig Jahre alt und erst seit ein paar Wochen vollwertiges Bergwachtsmitglied. Er stellte sich gut an, hatte alle notwendigen Kurse absolviert und war begierig darauf, sich zu beweisen. Vermutlich hatte er den Piepser einfach angeschaltet gelassen, ebenso wie Jonas, der junge Polizist, der immer alles stehen und liegen ließ, ganz gleich, ob er Bereitschaft hatte oder nicht. Flo studierte Jura in München, wohnte aber im Haus seiner Eltern in Bichlbrunn und fuhr nur zu den Vorlesungen die rund hundert Kilometer bis zur Uni, sodass er bei den meisten Einsätzen dabei sein konnte. Lena freute sich, dass ihre Leute so einsatzwillig waren. Sie war der gleiche Typ. Schon bevor sie vor zwei Monaten die Leitung der Bergwacht übernommen hatte, war sie so gut wie immer zur Stelle gewesen, wenn ein Notruf sie alarmiert hatte, ganz gleich, ob sie für die Bereitschaft eingeteilt war oder nicht. Man hatte die Bergwacht im Blut. Oder eben nicht.
Als alle versammelt waren, klärte Lena ihr Team über die Sachlage auf. «Wir wissen nicht, wie kritisch die Lage ist, also werden wir einen Nachteinsatz riskieren», schloss sie. «Der Heli wird jeden Moment da sein.»
«Wenn sie sehr erschöpft oder ungenügend ausgerüstet sind, kann so eine Nacht lebensgefährlich sein», bestätigte Ferdi.
Lena drehte sich um und sah zum Teufelskopf hinüber. Ein mächtiger Berg, der seinem Namen alle Ehre machte. Düster ragte er in den Nachthimmel empor, ein markanter Gipfel, der mit etwas Fantasie tatsächlich eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Profil eines Mannes mit scharfer Nase und vorstehendem Kinn hatte. Er war fast so hoch wie die Zugspitze, die sich dahinter erhob. Dazwischen lagen ein unwirtliches, einsames Tal und die Teufelsklamm. Die «Rupertisteig» genannte Süd-Ost-Route auf den Teufelskopf war nach Lenas Vater Rupp Veith benannt, dem die Erstbegehung über diese Route auf den Gipfel gelungen war. Es war eine schwere Tour, die nicht sehr häufig begangen wurde.
«Eine Rettung von da oben mitten in der Nacht wird schwierig werden», meldete sich Jack erstmals zu Wort.
Lena nickte. «Wir müssen sehen, was möglich ist.» Sie wandte sich an Ferdi, der nicht nur seit den Neuwahlen vor sechs Wochen, die sie zur Leiterin der Bergwachtssektion Bichlbrunn gemacht hatten, ihr Stellvertreter war, sondern auch der Notfallsanitäter des Teams. «Mach dich zusammen mit Jonas und Andi bereit, falls eine Bergung zu Fuß notwendig wird. Jack und ich fliegen mit dem Notarzt hoch.» Sie warf Florian Burgstaller einen Blick zu. «Und wir nehmen Flo mit.»
Der junge Bergwachtler riss die Augen auf, sagte jedoch nichts. Er hatte noch nicht so viele Einsätze im Helikopter absolviert, nachts war er noch nie geflogen, doch Lena wusste, dass er darauf brannte, mitgenommen zu werden. Wenn er nun schon mal da war, ohne dass er Bereitschaft hatte, sollte das auch belohnt werden.
Sie nickte den Männern zu. «Der Hubschrauber wird gleich da sein.»
Wie aufs Stichwort zerriss in diesem Moment das Knattern des Helikopters die nächtliche Stille. Lena, Jack und Flo packten ihre Ausrüstung und liefen zum Landeplatz hinüber. Auf dem brachliegenden Grundstück hinter der Gewerbehalle drückte der Wind, den der Rotor verursachte, das Gras und die Büsche nieder, und die Bergwachtler warteten in sicherer Entfernung, bis der leuchtend gelbe Helikopter auf der betonierten Landefläche aufgesetzt hatte und der Rotor zum Stillstand kam. Der Downwash hatte Orkanstärke, dieser Abwind war gefährlich und konnte schon mal lose Gegenstände und Staub aufwirbeln und durch die Luft katapultieren. In der Nähe des Hubschraubers war es dann kaum möglich, aufrecht zu stehen.
Als Lena einstieg, sah sie, dass die übliche Crew an Bord war: Christian Berger, der erfahrene Pilot, HEMS-TC Daniel, als medizinisch-technisches Besatzungsmitglied immer dabei, und Charlie Seiler, der Notarzt. Sie begrüßten einander knapp, und der Heli stieg sofort wieder auf.
Christian und Daniel trugen Nachtsichtgeräte, die das Restlicht verstärkten und ohne die eine Nachtrettung im unbekannten Terrain unmöglich war. Dennoch blieb das Fliegen in der Dunkelheit gefährlich. Ihr Sichtfeld war durch die am Helm befestigte Brille, die einem Fernglas glich, eingeschränkt, und es erforderte hohe Konzentration, damit exakt zu fliegen – und vor allem: zu landen. Rettungsmanöver an einer Bergwand waren damit nachts nicht in gleichem Maße möglich wie bei Tageslicht. Dennoch mussten sie es versuchen.
Sie flogen auf den Teufelskopf zu und folgten langsam der Ruperti-Route, die starken Scheinwerfer auf den Berg gerichtet. Lenas Blick wanderte mit dem Lichtkegel mit, der über die zerklüftete Felswand kroch und dabei langsam höher stieg. Trotz des grellen Lichts war es schwer, Details auszumachen, da die zackigen Felsformationen gespenstische Schatten warfen und die Szenerie unwirklich eindimensional wirken ließen.
Soweit sie sehen konnte, gab es von den Bergsteigern bislang keine Spur. «Wo zum Teufel sind die nur?», murmelte Lena und wählte zum zehnten Mal Sabine Schmidts Handynummer, nachdem sie die gesamte Route mehrmals vergeblich abgeflogen waren und dabei immer wieder erfolglos versucht hatten, mit ihr Kontakt aufzunehmen.
Der Empfang war hier sehr schlecht. Inzwischen war es bereits Viertel nach eins. Während Lena es erneut klingeln ließ, warf sie einen Blick nach vorne ins Cockpit, wo die Außentemperatur angezeigt wurde: null Grad. Hoffentlich war seit dem Absetzen des Notrufs nichts passiert. Wenn die beiden abgestürzt oder aus irgendeinem Grund bewusstlos waren, würde es ewig dauern, sie in der zerfurchten Wand ausfindig zu machen. Doch in diesem Moment knackte es in der Leitung, und ein leises «Hallo?» war zu hören. Lena atmete erleichtert auf.
«Sabine, wir sind da. Können Sie den Hubschrauber sehen?», fragte Lena.
«Nein, nur hören.» Die Frau klang erschöpft und gleichzeitig hoffnungsvoll.
Lena warf Jack einen besorgten Blick zu. «Sie sehen uns nicht», sagte sie in ihr Headset. «Sie sind also gar nicht auf dem Rupertisteig.»
Jack informierte Christian Berger, während Lena mit Sabine in Kontakt zu bleiben versuchte. Der Helikopter stieg steil auf und entfernte sich etwas von der Felswand, um sich dann langsam wieder anzunähern.
«In welcher Richtung sollen wir suchen?», fragte Christian durch das Funkgerät, während die starken Scheinwerfer über den grauen Fels glitten und ihn in taghelles Licht tauchten, was die Szenerie so unwirklich wie eine Theaterkulisse wirken ließ.
«Ich weiß es nicht», gab Lena zurück und warf einen Blick hinaus. Der Rupertisteig führte an einer exponierten Kante des Felsens hinauf. Angenommen, man verstieg sich, wo würde man am ehesten Probleme bekommen? Sie war die Tour schon ein paar Mal gegangen und versuchte, sich die Route zu vergegenwärtigen. «Flieg etwas weiter westlich», sagte sie nach kurzer Überlegung.
«Aber da sind doch nur Felsabbrüche», wandte Daniel zweifelnd ein.
«Ebendarum. Sie sagten doch, sie kommen nicht mehr weiter. Die Ostseite ist einfacher, da würden sie keinen Standplatz bauen, sondern eher absteigen. Vielleicht sind sie unter der Zweierkante.» Sie warf Jack einen kurzen Blick zu. Der nickte zustimmend.
Christian drehte steil ab und umrundete dann den zerfurchten Gipfel langsam in westlicher Richtung, bevor er wieder zu sinken begann. Hier war die Wand zerklüfteter und noch unübersichtlicher. Doch von den beiden Bergsteigern war auch hier keine Spur.
Lena wandte sich wieder ihrem Telefon zu und verwickelte die Frau in ein Gespräch, um sie abzulenken und zu beruhigen. Nach ein paar Minuten hörte Lena sie aufgeregt ins Telefon rufen. «Jetzt! Ich kann die Scheinwerfer sehen! Ich seh Sie!»
Christian Berger steuerte den Heli näher an die Wand heran. Angestrengt schauten Lena und ihr Team aus den Fenstern.
Mit seinem Nachtsichtgerät entdeckte Daniel die Verunglückten als Erster. «Da drüben!», rief er und deutete zu einer Stelle unterhalb des Gipfels, etwa zweihundert Meter von der offiziellen Route entfernt. Christian drehte den Helikopter, und das Licht der Scheinwerfer erfasste zwei bunte Punkte.
«Verfluchte Scheiße!», entfuhr es Jack. Und auch Lena musste schlucken.
«Unter einer Felskante», hatte die Frau ihnen ihre Position beschrieben, deshalb hatte Lena vermutet, dass sie sich an der Zweierkante befanden, die sich etwas westlich des eigentlichen Steigs befand. Die Zweierkante, selbst bei versierten Kletterern berüchtigt, war ein Überhang, dessen Überwindung ziemlich knifflig war und an dem Lena selbst sich früher mehrmals vergeblich versucht hatte, bevor sie ihn schließlich überwunden hatte. Unter dem Einstieg befand sich ein windgeschütztes Plateau, das sich gut als Standplatz eignete. Lena hatte vermutet, die beiden seien von dort nicht weitergekommen und hätten deshalb beschlossen, auf dem Plateau zu übernachten und es am nächsten Morgen erneut zu versuchen, die Zweierkante zu überwinden. Doch das war ein Irrtum gewesen. Sie befanden sich viel weiter westlich, direkt unterhalb des wuchtigen, gezackten Vorsprungs, der, vom Tal aus betrachtet, das Kinn des Teufelskopfes bildete. Offenbar waren sie von der Zweierkante aus einfach irgendwie aufs Geratewohl westwärts weitergeklettert. Das hatte sich als fatal erwiesen. Von hier führte kein Weg nach oben, wenn man nicht gerade eine Spinne war und kopfüber klettern konnte. Und auch nach unten ging es von dieser Stelle aus nicht mehr, denn der Vorsprung, auf dem sie saßen, fiel etwa hundert Meter senkrecht ab. Die zwei Bergsteiger hätten erst zurück zu dem Plateau unterhalb der Zweierkante steigen müssen, was sie offenbar nicht mehr geschafft hatten. Der Kollege vom Notruf hatte etwas von einem verkanteten Seil berichtet. Offenbar hatten sie aus diesem Grund nicht mehr umdrehen können und gehofft, das Seil bei Tageslicht besser lösen zu können.
«Wir sehen Sie!», rief Lena ins Telefon. «Ich melde mich gleich bei Ihnen zurück! Bleiben Sie ruhig.» Sie unterbrach die Verbindung und musterte den schmalen Vorsprung, auf dem die beiden, in Wärmedecken gehüllt, kauerten und aufgeregt winkten.
Wie zur Hölle sind die da hingekommen?, dachte Lena fassungslos. In Jacks und Flos verblüfften Mienen las sie die gleiche Frage. Es war immer wieder erstaunlich, wie lange manche Bergsteiger plan- und orientierungslos im unwegsamen Gelände umherirrten, bis sie sich schließlich eingestanden, dass sie vom Weg abgekommen waren. Meist erst dann, wenn sie – wie hier – nicht mehr weiterkamen. Handys spielten dabei oft eine unselige Rolle. Die Routen wurden oft viel zu ungenau angezeigt, ihr Verlauf spiegelte meist nicht die tatsächlichen Verhältnisse wider. Dennoch verließen sich immer mehr Bergsteiger allein auf Google. Viele konnten Wanderkarten, in denen auch die Höhenprofile eingezeichnet waren, gar nicht mehr lesen. Lenas und Jacks Blicke trafen sich. Sie wusste, was er dachte, ohne dass sie darüber auch nur ein Wort verlieren mussten. Schnell traf sie eine Entscheidung und wandte sich per Headset an Christian Berger.
«Kannst du näher ranfliegen? Wir müssen das Seil sehen.» Sie nahm ihr Fernglas zur Hand.
Christian hob einen Daumen. Langsam näherte sich der Helikopter der Wand und stieg, dirigiert von Lena, etwas höher.
«Sie sind gut gesichert», stellte sie schließlich fest und ließ das Fernglas sinken. «Auch die Ausrüstung ist ausreichend, wie es scheint.» Sie sah auf die Uhr. Es war kurz vor zwei, etwa um halb sieben würde die Sonne aufgehen.
Jack, der ebenfalls durch sein Fernglas gesehen hatte, nickte zustimmend. «Das sind offenbar keine Greenhorns.»
«Wie sind die Wetteraussichten?», fragte Lena Daniel, der ihr nach einem Blick auf die exakten meteorologischen Daten bestätigte, was sie angesichts des wolkenlosen Nachthimmels und des hellen Monds schon vermutet hatte: Es würde eine klare, ruhige Nacht bleiben, weder Regen noch Gewitter in Sicht.
Flo, der bisher noch kein Wort gesagt hatte, sah von einem zum anderen. «Was wollt ihr tun?», fragte er. Als niemand antwortete, dämmerte es ihm. «Wollt ihr sie etwa nicht retten?», fragte er fassungslos.
«Nicht jetzt», korrigierte ihn Lena. «Es ist zu gefährlich in der Dunkelheit. Der Hubschrauber kann hier nirgends landen, und wir können sie an der Stelle, an der sie sich jetzt befinden, nicht aufnehmen. Wir müssen ein Seilgeländer bauen und …»
«Aber wir können sie doch nicht zurücklassen!», rief Flo aufgebracht. Sein Gesicht lief vor Empörung rot an. «Was, wenn sie abrutschen, erfrieren, wenn einer von ihnen einen Herzanfall bekommt …»
«Flo, es ist zu gefährlich. Sie sind unverletzt, fit, nicht alt, und es sind nur noch ein paar Stunden, bis es hell wird.»
«Ich versteh das nicht! Christian kann uns auf den Gipfel bringen, und wir seilen uns zu ihnen ab!», rief Flo, der Lena offenbar gar nicht zugehört hatte.
«Es ist eine überhängende Wand. Wir können uns nicht einfach von oben abseilen …»
«Ich mach das!» Flo kramte hektisch in seinem Rucksack und zog seine Stirnlampe heraus. «Ich geh das Risiko ein, ich …»
«Du Depp hältst jetzt den Mund!», schrie ihn Jack plötzlich an, so laut und aufgebracht, dass Flo erschrocken den Mund zuklappte und Lena ihrem Kollegen einen irritierten Blick zuwarf. «Die Lena hat recht, es ist ein unnötig hohes Risiko, die beiden jetzt zu holen, und basta!», fuhr Jack den jungen Bergwachtler an. «Pack die depperte Lampe wieder ein und gib Ruh. Keiner wird sich heut wegen dir den Hals brechen.»
Flo sah Jack bitter gekränkt an. Stumm steckte er die Stirnlampe in den Rucksack zurück und schloss die Riemen.
Lena hob die Augenbrauen. Obwohl sie Jacks Temperament kannte, wunderte sie sich. Sie wusste, dass Jack Flo mochte und schätzte, sie hatte noch nie gehört, dass er den jungen Mann, den er selbst ausgebildet hatte, angeschnauzt hätte. Im Übrigen hätte es diese Einmischung gar nicht gebraucht, sie hätte Flo auch gut alleine zur Räson gebracht. Junge Bergwachtler waren eben manchmal übermotiviert und deswegen ein wenig leichtsinnig. Es ehrte Flo zwar, dass er die Rettung dieser Leute über seine eigene Sicherheit stellte, doch damit war niemandem geholfen, weder den beiden Bergsteigern noch ihm selbst und seinen Kameraden, die er damit in Gefahr brachte. Aber jetzt war nicht die Zeit, über Jacks unangebrachten Wutausbruch oder Flos Teamverhalten zu diskutieren.
Lena rief die Verunglückten noch einmal an und erklärte ihren Plan. Sie nahmen die Nachricht, dass sie noch ein paar Stunden im Seil ausharren mussten, gefasst auf. Allein die Tatsache, dass sie gefunden worden waren, schien die beiden aufzubauen. Lena erkundigte sich, ob sie genügend Getränke dabeihatten, stellte ihnen noch einige Fragen zu ihrem Allgemeinzustand und ihrer Ausrüstung, insbesondere zu den Wärmedecken, und bot ihnen an, in ständigem Kontakt zu bleiben.
«Sie können mich jederzeit anrufen», sagte sie und versprach, dass die Bergung spätestens um sieben beginnen würde.
Dann legte sie auf und rief Ferdi an, um ihm und den anderen, die im Tal warteten, die Lage zu schildern. «Ihr könnt nach Hause gehen und euch noch ein bisschen aufs Ohr legen», schloss sie. «Wir treffen uns um sechs wieder am Landeplatz.»
Christian Berger drehte ab. Das verunglückte Pärchen wurde von der Dunkelheit verschluckt. Rasch entfernten sie sich, und Lena starrte nachdenklich zurück. Der Teufelskopf hob sich jetzt nur noch als formlose, schwarze Masse vom Nachthimmel ab.
Wie mochten sich die beiden Verunglückten jetzt wohl fühlen, während sich das Geräusch des Helikopters langsam wieder entfernte? Wie würden sie die kommenden Stunden überstehen, eng aneinandergekauert auf ihrem unbequemen Nachtlager, um sich herum nachtschwarze Kälte und nur durch ein paar Seile und Klemmkeile vom Sturz in den Abgrund entfernt? Würden sie einnicken oder sich gegenseitig wach halten, aus Angst, doch noch abzustürzen, wenn der Schlaf sie übermannte? Würden sie schweigen oder sich alte Geschichten erzählen, um sich abzulenken, oder aber gar gegenseitige Vorwürfe machen, streiten, weinen, still verzweifeln?
Lena hatte selbst schon ein paar Notbiwaks erlebt, eingeschneit in einem Schneesturm oder ähnlich exponiert wie die beiden jetzt, und wusste, alles war möglich. Solche Nächte gingen nicht spurlos an einem vorüber, gleichgültig, wie erfahren man sein mochte. Sie war versucht, Sabine noch einmal anzurufen, hatte den Finger bereits auf der Tastatur, dann überlegte sie es sich doch anders und steckte das Handy weg. Es war alles gesagt, ein weiterer Anruf würde die beiden verunsichern. Ihre Entscheidung war richtig gewesen. Lena wandte sich wieder nach vorne und sah Flo an, der mit gesenktem Kopf dasaß und schweigend auf seine Hände starrte. Sie ahnte, wie er sich fühlte: ohnmächtig, nutzlos, wütend. Alles schwer zu ertragen. Doch er würde lernen, es auszuhalten.
«Ihr habt sie einfach da oben gelassen?» Alex schauderte und rieb sich die nackten Arme. «Ich weiß schon, warum ich mir die Berge lieber nur von unten anschaue.»
«Wir haben sie nicht einfach oben gelassen», verteidigte sich Lena. «Wir haben entschieden, die Bergung erst bei Tageslicht einzuleiten, weil keine akute Gefahr bestand und das Risiko für das Team …»
«Ja, ja, ich hab’s schon kapiert. Geschieht ihnen eh recht, wenn sie euch erst mitten in der Nacht alarmieren.» Alex winkte ab. «Und waren die armen Teufel recht durchgefroren heut Morgen?»
«Sie waren total erledigt. Selbst wenn sie ihr Seil allein wieder losgebracht hätten, sie wären nie und nimmer heil auf den Gipfel, geschweige denn ins Tal gekommen. Wir sind zu viert über den Steig und die Zweierkante zu ihnen aufgestiegen, haben sie abgeseilt und von weiter unten mit dem Hubschrauber am Tau aufgenommen. Um elf waren wir erst wieder in Bichlbrunn. Mit dem Heliflug in der Nacht hat das Ganze über sieben Stunden gedauert.» Sie gähnte ausgiebig.
«Na, wenigstens waren die beiden zu zweit. Da konnten sie sich gegenseitig wärmen und lieben sich jetzt mehr als je zuvor. Oder aber sie lassen sich nach dieser Nacht scheiden.» Alex biss herzhaft in ihr Cornetto.
Die zwei Freundinnen saßen bei Paolo in der Eisdiele. Wegen dieser Verabredung war Lena nach ihrem Einsatz gar nicht erst nach Hause gefahren, sondern mit verklebten Haaren, verschwitzt und staubig, wie sie war, und in Bergsteigerklamotten zu Paolo gegangen. Bei Alex konnte sie das machen, ohne sich unhöflich oder unwohl zu fühlen. Ihre beste Freundin hatte sie schon in allen möglichen Zuständen erlebt und umgekehrt, schließlich hatten sie ihre Jugend miteinander verbracht, was bekanntermaßen nie das Zuckerschlecken ist, das einem die ältere Generation stets einzureden versucht. Sie hatten sich gemeinsam für Partys in eiskalten Gartenhäuschen und muffigen Kellern aufgebrezelt, ihre Lieblingslieder gesungen, bis sie heiser waren, und bis zum Morgengrauen getanzt. Sie hatten sich mit so schrecklichen Dingen wie Asbach-Cola, klebrig-süßen Feiglingen und Apfelkorn betrunken, die ersten heimlichen Zigaretten und Joints geraucht, sich gegenseitig gestützt, wenn eine sich übergeben musste, und die darauffolgenden Kater ebenso gemeinsam überstanden wie Heulkrämpfe und Wutanfälle aus Liebeskummer. Sie hatten sämtliche Dramen und Peinlichkeiten der Teenagerzeit zusammen durchgestanden, ihnen war aneinander nichts mehr fremd.
Hinfallen, aufstehen, Krönchen richten, war einer der damals populären Sprüche gewesen. Doch sie hatten damit nie etwas anfangen können. «Ich scheiß auf das Krönchen», hatte Alex immer gesagt und sich kampflustig die blonden Haarsträhnen aus dem Gesicht gepustet. «Ich hau den Kerl um, der mich geschubst hat.» Über solche Sprüche hatten sie sich gekringelt, und Lena musste heute noch lächeln, wenn sie daran dachte.
Gerade fuhr Jack Reiter mit seinem Auto über den Dorfplatz zu seinem ehemaligen Elternhaus, in dem er zusammen mit seinem Sohn Felix seit einiger Zeit wieder wohnte. Seine Frau Babsi war nicht mehr zu ihm zurückgekehrt, man munkelte, dass die Scheidung bereits eingereicht sei. Es erstaunte Lena nicht, dass Jack erst jetzt nach Hause kam. Jack blieb nach den Einsätzen oft noch länger in der Halle. Er reparierte und reinigte die Ausrüstung, ordnete alles sauber in die Regale und schraubte hin und wieder an dem Quad und den beiden Ski-doos herum, die dort standen. Es schien, als könnte er sich einfach nicht von der Bergwacht trennen.
Alex war ihrem Blick gefolgt. «Wie läuft’s denn jetzt mit Jack? Macht er dir noch Schwierigkeiten?»
Glücklicherweise hatten Jack und Lena ihr tiefes Zerwürfnis überwunden, das durch die Konkurrenz um die Bergwachtsleitung entstanden war. Sie kamen inzwischen sogar besser miteinander aus als früher. Bei den Wahlen hatte Jack nicht nur für Lena als neue Bergwachtsleiterin gestimmt und damit Franz Schallers Vorschlag, nicht Jack selbst zu seinem Nachfolger zu machen, offenbar ohne Groll akzeptiert, sondern er unterstützte sie seitdem geradezu offensiv.
Lena zuckte mit den Schultern. «Eigentlich gibt es keine Probleme. Die Zusammenarbeit mit ihm funktioniert sogar besser als früher, aber …» Sie verstummte mitten im Satz und dachte an seinen Wutausbruch in der Nacht, auf den sie sich keinen Reim machen konnte. Flo hatte heute Morgen noch immer sehr bedrückt gewirkt.
«Aber?», fragte Alex nach.
«Na ja …» Lena überlegte. «Ich werde nicht recht schlau aus ihm. Einerseits scheint er sein Leben gerade wieder so nach und nach auf die Reihe zu kriegen, aber manchmal ist er so unbeherrscht, und oft wirkt er total angespannt. Besonders bei Einsätzen. Dabei ist er doch einer der Erfahrensten von uns.» Sie erzählte Alex, wie er Flo in der Nacht angeschnauzt hatte.
«Klingt für mich typisch für ihn», entgegnete Alex. «Er war doch schon immer so aufbrausend.»
«Ich weiß, aber dieses Mal gab es keinen Anlass dafür. Flo hat sich lediglich schwer damit getan, zu akzeptieren, dass wir die Verunglückten nicht sofort retten. Mehr war da nicht.»
«Vielleicht tut ihm seine Skepsis dir gegenüber leid, und er will dich als Leiterin jetzt umso deutlicher unterstützen?», mutmaßte Alex.
«Kann sein. Aber das ist alles irgendwie übertrieben, verstehst du? Er ist immer drüber, kommt mir ständig vor wie ein Schnellkochtopf kurz vorm Explodieren. Ich glaub, da steckt noch irgendetwas anderes dahinter.»
Alex schüttelte den Kopf. «Männer sind in der Regel sehr viel einfacher gestrickt, als wir uns vorstellen können.» Sie zwinkerte ihr zu. «Immer wenn ich mich mit Luis gestritten und ihm lange Reden darüber gehalten habe, was ich empfinde und worüber ich mich ärgere, ist er aus allen Wolken gefallen. Er hat gar nicht kapiert, wovon ich spreche.»
«Apropos, wie läuft’s denn gerade zwischen euch?», fragte Lena.
Sie hatte keine Lust, sich weiter über Jack Reiter zu unterhalten. Alex hatte recht, sie neigte dazu, sich zu viele Gedanken um anderer Leute Probleme zu machen. Da war es doch spannender, sich von Alex auf den aktuellen Stand ihrer langjährigen On-off-Beziehung zum Musiker und Dorfstriezi Luis Stadler bringen zu lassen.
«Ach je!» Alex lachte auf, doch es klang nicht besonders freudig. «Es läuft wie immer. Allerdings bemüht Luis sich zurzeit. Er kümmert sich sehr liebevoll um Emma, gibt ihr Gitarrenunterricht und lädt mich zum Essen oder ins Kino nach Garmisch ein. Aber ich bin auf der Hut. Ich weiß ja, dass er das nicht lange durchhält.»
«Aber vielleicht hat er sich tatsächlich geändert?»
Alex sah sie milde lächelnd an. «Träum weiter, Lena», sagte sie und drehte ihr Gesicht zur Sonne. «Der Tag ist eh viel zu schön, um sich über Männer den Kopf zu zerbrechen. Was meinst, sollen wir uns noch einen Cappuccino gönnen?»
Als Lena zustimmte, hob Alex die Hand und winkte Paolo, der ihnen zunickte. «Subito!», rief er und verschwand in der Eisdiele.
Lena blinzelte in die Sonne und atmete tief durch. Die schroffen Berggipfel des Wettersteinmassivs, die Bichlbrunn majestätisch einrahmten, wirkten im Licht der Vormittagssonne und unter dem makellos blauen Augusthimmel wie ein Postkartenmotiv. Friedlich, harmlos, fast ein wenig kitschig, sodass es schwerfiel, sich die Dramen vorzustellen, die sich immer wieder dort oben abspielten. Es war ein langer, schöner Sommer gewesen, und bald würde es Herbst werden. Die Blätter der Kastanienbäume auf dem leicht erhöhten Kirchplatz hinter der Eisdiele wurden bereits langsam braun. Eine zarte Brise strich Lena über das verschwitzte Gesicht, kühlte Wangen und Stirn. Langsam fiel die Anspannung und Anstrengung des Einsatzes von ihr ab, und eine wohlige Gelassenheit überkam sie. Sie liebte die kleine Eisdiele von Paolo und Imelda, und sie liebte es, mit Alex dort zu sitzen und zu plaudern. Diese kleinen, unspektakulären Dinge waren es, die sie nach einer anspruchsvollen Rettungsaktion wieder erdeten.
Paolo hatte wie immer scherzhaft salutiert, als Lena angekommen war und sich draußen an einen der hübschen, pastellfarbenen Tische gesetzt hatte. Er kannte sie seit ihrer Kindheit. Signorina soccorso alpino nannte er sie immer, Fräulein Bergwacht, und stand jedes Mal stramm, wenn sie in ihrer blau-roten Ausrüstung vorbeikam. Jetzt eilte er mit einem seltsam anmutenden Eisbecher in der Hand an ihren Tisch. Die Porzellanschale erinnerte an eine altmodische Suppenschüssel im Miniaturformat.
«Signorine», sagte Paolo und strahlte sie beide an, «wollts meine neue creazione probieren?»
«Hast du wieder etwas ausgetüftelt?», wunderte sich Alex. «Du bist ein unverbesserlicher Optimist.»
Paolo war ein kreativer Kopf, der immer wieder mal mit leckeren, neuen Geschmackskompositionen aufwartete, zum Beispiel Schokolade-Roter Pfeffer, Zitrone-Ingwer oder Mascarpone-Kaffee. Leider war er dabei bislang am konservativen Geschmack der Bichlbrunner gescheitert, die stur an Schokolade, Zitrone, Vanille, Erdbeere und Haselnuss festhielten, daher bot er mittlerweile nur noch diese biederen Eissorten an. Doch manchmal, wenn er in ganz abenteuerlicher Stimmung war, gab es zusätzlich Stracciatella und gesalzenes Karamell, wobei Lena argwöhnte, dass sie die einzige Abnehmerin letzterer Köstlichkeit war. Seit ihrer Zeit in Frankreich liebte sie gesalzenes Karamell in allen Varianten und gönnte sich jedes Mal, wenn Paolo ihr schon von Weitem in seinem typischen bayerisch-italienischen Slang zurief: «Signorina soccorso alpino: Heit gibt’s caramello salato!», üppige Portionen, solange das Eis verfügbar war.
«Ich war letzte Woche in München und hab eine super Idee ghabt», begann er jetzt eifrig zu erzählen. «Das Dorf wird meine neue creazione lieben. Und die Touristen noch viel mehr.» Er legte Daumen und Zeigefinger an die Wange, drehte die Finger und machte dazu ein schmatzendes Geräusch. Dann beugte er sich zu ihnen hinunter und setzte den Porzellaneisbecher mit formvollendeter Eleganz ab. «Ecco!»
Eine große, weiße, leicht grün gesprenkelte Eiskugel thronte darin, flankiert von kleinen blau-weißen Fähnchen und einer …
«Ist das eine Wurst?» Lena betrachtete stirnrunzelnd das kleine Gebilde aus weißem Fondant.
«Sì, sì!», erwiderte Paolo stolz. «Des is a bayerische Weißwurst!»
Alex griff mit spitzen Fingern nach der kleinen Zuckerwurst und hielt sie in die Höhe. Dann betrachtete sie die weiße Eiskugel in der Miniterrine. «Das ist nicht dein Ernst.» Es klang regelrecht erschüttert.
«Ma certo, Alex! Des is Weißwursteis! Die Leute werden’s lieben. Ist echte Wurst drin. Ich sag euch, ich werd damit berühmt werden, die Leute werden bis aus München zu Paolos Gelateria kommen, nur um diese creazione zu kaufen!» Er machte eine auffordernde Handbewegung. «Los, probierts mal. Geht aufs Haus!»
Lena beugte sich misstrauisch über die Kugel und schnupperte. Es roch nach nichts. «Die grünen Punkte da drin, ist das etwa Petersilie?»
«No!» Paolo schnalzte mit der Zunge. «Das sind gehackte Pistazien. Und geriebene Limettenschale.»
Da Paolo erwartungsvoll neben ihnen stehen blieb, nahm Lena notgedrungen einen Löffel und probierte. Das Eis war wunderbar cremig, wie alle Sorten von Paolo, sie schmeckte Sahne, Zucker und die Limette heraus und – tatsächlich – recht deutlich Weißwurst.
«Und was sagst du?», wollte Paolo wissen.
Lena hob die Schultern. «Es ist nicht schlecht», sagte sie vorsichtig.
«Nicht schlecht?!» Paolo sah sie entrüstet an. «Das ist fantastico. So etwas gab es noch nie.»
Lena musste lachen. «Ja, das stimmt. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob die Bichlbrunner schon bereit dafür sind.»
«Da unterschätzt du sie, cara! Sie werden’s lieben, ganz sicher.» Er wandte sich zum Gehen. Neue Gäste waren gekommen und warteten an der Theke. «Ihr werdet schon sehen.»
Nachdem Paolo in der Eisdiele verschwunden war, sahen Alex und Lena sich an und mussten grinsen. Alex tauchte todesmutig ihren Löffel in die schon zu schmelzen beginnende Eiscreme, schob sich eine kleine Portion in den Mund und verzog das Gesicht. «Okaaaay», sagte sie gedehnt und legte den Löffel weg. «Du kannst Gift drauf nehmen, dass die Bichlbrunner für diese creazione noch lange nicht bereit sind.»
Es war Imelda, Paolos Frau, die ihnen noch zwei weitere Cappuccinos brachte. Alles an der kleinen Frau war rund, angefangen von ihrem kugeligen Dutt aus dichtem, blond gefärbtem Haar über ihre Kulleraugen bis zu ihrer ausladenden weiblichen Figur. Als sie das Weißwursteis bemerkte, das in seiner Terrine inzwischen geschmolzen war, hob sie in einer hilflosen Geste die Schultern. «Oh Dio, hat er euch etwa auch damit malträtiert?»
Die beiden nickten.
«Ihr habt ihm diesen Blödsinn hoffentlich ausgeredet?»
«Wir haben’s versucht, aber ist nicht so einfach, Paolo etwas auszureden», erwiderte Lena.
«Wem sagst du das.» Imelda seufzte. «Im Moment experimentiert er mit Brezeneis. Mein verrückter Mann will ein komplettes Weißwurstfrühstück aus Eis machen.» Sie murmelte ein paar italienische Wörter, die nicht sehr schmeichelhaft klangen. «Mamma mia, dieser Mensch macht mich noch wahnsinnig.» Sie schüttelte den Kopf, packte die Terrine mit der Eispfütze und watschelte zurück in die Eisdiele.
Alex sah Lena an. «Brezeneis?», wiederholte sie fassungslos. «Da tun sich ja wahre Abgründe auf.»
Lena kam nicht mehr dazu, etwas zu erwidern, denn jetzt fuhr ein Auto über den Dorfplatz, das ihre ganze Aufmerksamkeit gefangen nahm: Es war ein champagnerfarbenes Mini-Cabriolet mit Münchner Kennzeichen – und es kam direkt auf sie zu.
«Oh nein», murmelte sie. Sie erinnerte sich an das Auto, vor allem aber an die Person, der es gehörte: Victoria Pistorius. Der Mini parkte direkt vor der Eisdiele, und die dunkelhaarige Frau, die Lena zwar erst einmal gesehen, die sich dabei aber unauslöschlich in ihr Gedächtnis eingebrannt hatte, stieg aus. Sie trug ein weißes, flatterndes Kleid, das ihre Sommerbräune betonte, dazu zierliche Sandaletten. An ihren schlanken Armen klimperten mehrere dünne Armreife, und sie hatte eine riesige Sonnenbrille auf.
«Du meine Güte, die Tussi schaut aus wie aus der Raffaello-Werbung», bemerkte Alex, halb beeindruckt, halb verächtlich, als die Frau näher kam. Die ging schnurstracks in die Eisdiele.
«Das ist Victoria Pistorius», sagte Lena bitter und wurde sich plötzlich überdeutlich ihrer verschwitzten Klamotten und der zerzausten Haare bewusst. Sie richtete sich etwas auf und strich sich die Strähnen zurück, die ihr noch immer an den Schläfen klebten.
«Du kennst die?» Alex schaute sie verwundert an.
«Kennen ist zu viel gesagt. Ich hab sie einmal getroffen, als ich zu Ben gefahren bin, um … ach egal. Das ist Bens Freundin.»
Alex riss die Augen auf. «Du meinst Ben Fellner? Den Baby-Sheriff?»
«Nenn ihn nicht so!», fuhr Lena ihre Freundin an. «Das ist doch ein bescheuerter Spitzname.»
«Ja, so wie Plumpsklo.»
Lena zuckte zusammen. So hatte Ben sie früher genannt, weil es anfangs auf der Alm ihrer Tante, wo sie aufgewachsen war, keine richtige Toilette gegeben hatte. Es hatte sie tief verletzt, deshalb hatte sie Ben als Retourkutsche als Baby-Sheriff verspottet, in Anspielung auf den Spitznamen seines Vaters, der damals als Dorfpolizist die Bichlbrunner schikaniert hatte. Obwohl sie noch so jung gewesen war, hatte sie zielsicher gewusst, wie sehr es Ben treffen würde, mit seinem verhassten Vater in einen Topf geworfen zu werden. Und genau das hatte sie beabsichtigt: ihn genauso zu verletzen wie er sie. Inzwischen jedoch sah sie einige Dinge anders. «Das ist Jahrhunderte her. Wir waren Kinder und ziemlich dumm», erklärte sie.
Lena spürte, wie der Blick ihrer Freundin einen Moment lang forschend auf ihr ruhte, und wich ihm aus. Stattdessen schaute sie zum Eingang der Eisdiele, wo Victoria Pistorius gerade wieder nach draußen trat. Sie trug eine große Schachtel, auf der in bunten Lettern Gelato di Paolo stand. Die Sonnenbrille hatte sie sich in die Haare gesteckt, was das Mondäne an ihrer Erscheinung noch unterstrich. Mit langen wippenden Schritten wie ein Model auf dem Laufsteg ging sie direkt an ihrem Tisch vorbei, und Lena erhaschte einen Blick auf die orange-weiß gemusterte Ledertasche, mit Sicherheit irgendein aktuell angesagtes «Must-have», und eine klobige goldene Armbanduhr. Ihre Arme waren zart gebräunt, ihre Haut makellos, schimmernd wie Samt. Natürlich hatte sie keine Sommersprossen, weder im Gesicht noch sonst irgendwo. Alles an dieser großen, schlanken Frau wirkte stylish, schön, leicht, da hatte Alex mit ihrer Anspielung auf die Raffaello-Werbung nicht ganz unrecht. Vielleicht war sie tatsächlich ein Model.
In diesem Moment blieb Victoria Pistorius stehen, stutzte und drehte sich um. Lena versuchte, so unbeteiligt wie möglich aufzublicken, als sie an ihren Tisch trat und Lena prüfend musterte. «Wir kennen uns doch?», fragte sie.
Lena zögerte, am liebsten hätte sie verneint, doch dann kam ihr das albern vor, zumal Alex neben ihr saß. Der hatte sie ja gerade erst von ihrer Begegnung erzählt. Also nickte sie und zwang sich zu einem matten Lächeln. «Ja, flüchtig. Wir haben uns oben an der Vogelwarte am Pförtnerhaus getroffen …»
«Ach ja!» Victoria Pistorius’ hübsches Gesicht hellte sich auf. «Sie sind Bens Bekannte von früher, nicht wahr? Katja …?»
«Lena», korrigierte Lena sie.
«Stimmt.» Victoria wedelte mit einer Hand, während sie auf der anderen weiter die große Pappschachtel balancierte. «Entschuldigen Sie, ich bin ganz schlecht mit Namen.» Ihr Blick wanderte zu Lenas Rucksack, der neben ihrem Stuhl stand, zu den staubigen Bergschuhen und über ihre Kleidung.
Lena widerstand dem Impuls, sich erneut ordnend über ihre Haare zu streichen, und hob demonstrativ das Kinn. Sie mochte vielleicht nicht aussehen wie einer Fernsehwerbung entsprungen, verstecken würde sie sich vor dieser Person dennoch nicht.
«Sie sind wohl viel in der Natur unterwegs?», fragte Victoria.
«Kann man so sagen», bestätigte Lena zurückhaltend. «Ich bin bei der Bergwacht.»
«Oh, spannend!» Victoria sah sich um. «Ich würde ja gerne noch ein bisschen plaudern, es ist schön, alte Freunde von Ben zu treffen, aus der Zeit, als ich ihn noch nicht kannte. Da gibt es sicher einige nette Geschichten.» Sie lächelte, und Lena musste widerwillig zugeben, dass sie ein bezauberndes Lächeln hatte – auch wenn es ihr etwas oberflächlich und nicht ganz echt schien. Überhaupt war die Frau bezaubernd. So bezaubernd, dass Lena fast das Weißwursteis wieder hochkam.
«Ich glaube nicht, dass ich viel Erheiterndes zu erzählen hätte», erwiderte sie, ebenfalls lächelnd, was sich allerdings mehr wie Zähnefletschen anfühlte. «Wir konnten uns nicht ausstehen.»
Victoria lachte. «Das kann ich mir vorstellen. Ben hat mir erzählt, dass er in seiner Jugend ein ziemlich wilder Kerl war. Nicht, dass sich daran bis heute viel geändert hätte. Man muss ihn schon zu zähmen wissen.» Sie zwinkerte kokett.
Lena gab keine Antwort.
Entweder Victoria registrierte Lenas ausbleibende Reaktion nicht, oder sie ignorierte sie bewusst. «Sorry, ich muss weiter, sonst schmilzt die Eisbombe.» Sie hob demonstrativ die Schachtel in die Höhe. «Eine Überraschung für Ben; er hat ja heute Geburtstag. Und der Champagner wird auch warm. Ich hatte ihn zwar auf Eis gelegt, aber inzwischen ist es natürlich geschmolzen …» Sie zuckte mit den Schultern. «Bis bald, man sieht sich.»
Schweigend sahen Lena und Alex zu, wie sie zu ihrem Auto ging, die Eisbombe verstaute, einstieg und davonfuhr. Alex war die Erste, die das Wort ergriff, nachdem sie verschwunden war. «Das ist Ben Fellners Freundin? Ernsthaft?»
Lena rührte in ihrem Cappuccino. «Du hast es doch gehört: Sie ist diejenige, die ihn zu zähmen weiß.» Obwohl ihr eigentlich nicht danach zumute war, musste sie grinsen, und Alex prustete los.
«Ich fass es echt nicht», ächzte sie schließlich und wischte sich erschöpft die Lachtränen aus den Augenwinkeln. «Die ist das wandelnde Münchner Klischee. Wie passt das denn zusammen?»
«Wir haben keine Ahnung, was zu Ben passt», wandte Lena ein. «Er hat schließlich jahrelang in München gelebt. Da ist er sicher nicht ständig in Rangerklamotten herumgelaufen.» Es versetzte ihr einen unerwarteten Stich, an Ben und Victoria als Paar zu denken, wie sie in München gemeinsam auf Partys gingen, sich in teuren Restaurants mit schicken Freunden trafen, Vernissagen und Konzerte besuchten. Wie sah Ben wohl im Anzug aus? Alex hatte recht. Es passte nicht. Sie konnte sich Ben in diesem Szenario nicht vorstellen.
Nachdenklich sah Alex in die Richtung, in die der Mini davongebraust war. «Dich jedenfalls kann Miss Raffaello schon mal nicht ausstehen.»
«Wie kommst du denn darauf? Sie kennt mich doch gar nicht.»
Alex musterte sie ungläubig. «Sag bloß, das hast du nicht bemerkt! Die war doch nur deshalb so scheißfreundlich, weil sie dich hasst. Sie denkt offenbar, dass du eine Gefahr für sie bist.»
Lena lachte auf. «Was für ein Schmarrn. Wieso sollte sie so was denken?»
«Sag du’s mir.» Alex’ blaue Augen sprühten Funken. «Wo hast du sie noch mal kennengelernt?»
«Bei Ben. Ich wollte … mit ihm etwas besprechen, aber er war nicht da, also bin ich wieder gegangen. Sie und ich haben keine zwei Sätze miteinander gesprochen.»
«Hat wohl gereicht.» Alex nippte an ihrem Cappuccino und fuhr leichthin fort: «Ich wusste gar nicht, dass du und der neue Ranger schon so wichtige Dinge zu besprechen habt, dass du deswegen gleich persönlich zu ihm hochfährst.»
«Was willst du damit sagen?»
«Kann es sein, dass du Ben Fellner gar nicht so abstoßend findest, wie du immer behauptest?»
«Spinnst du?», empörte sich Lena. «Ich wollte nur mal ein paar Takte mit ihm reden, damit wir in Zukunft besser miteinander auskommen. Immerhin werden wir uns jetzt öfter über den Weg laufen.»
«Schon klar. Versteh ich.» Alex nickte so ernst und nachdrücklich, dass Lena argwöhnisch wurde.
«Machst du dich grad lustig über mich?»
«Würd ich mich nie trauen!» Vehement schüttelte Alex den Kopf. «Ist ja auch egal, ob du auf ihn stehst …»
«Ich steh nicht auf ihn!»
«Wie auch immer, der böse Ben hat ja eh seine Löwenbändigerin, nicht wahr?»
«Genau!», gab Lena zurück, vielleicht etwas energischer als notwendig.
Sie stellte sich Victoria in ihrem weißen Flatterkleid und dem schicken Auto vor und Ben, zu dem eine Geburtstagsfeier mit Eisbombe und Champagner ungefähr so gut passte wie Klangschalenmeditation zu Jack Reiter, und wollte lachen, doch es gelang ihr nicht. Der schöne Spätsommertag hatte an Glanz verloren, die Sonne blinzelte weniger fröhlich durch die Blätter der Kastanie am Kirchplatz, die ihren Schatten auf die Tische vor der Eisdiele warf, das wolkenlose Blau des Himmels wirkte plötzlich leer und endlos weit entfernt. Sie fühlte sich, als hätte sie etwas verloren, von dem sie bisher gar nicht gewusst hatte, dass sie es hätte haben wollen.
Bichlbrunn 5 km.
Nora Demir folgte erleichtert dem gelben Schild, das von der Bundesstraße weg und in den Wald führte. Endlich. Die Fahrt von Berlin bis München war bei Weitem weniger anstrengend gewesen als der letzte Abschnitt ihrer Reise. Zuerst kilometerlanger Stau, weil viel zu viele Autos sich von der Autobahn in das schmale Tal drängten, das nach Garmisch-Partenkirchen führte, dann die Weiterfahrt auf einer extrem schmalen, kurvigen Straße Richtung Tirol, weswegen sie schon gedacht hatte, sie hätte sich verfahren. Und jetzt glücklicherweise der erste Hinweis darauf, dass ihr Navi recht hatte und das Ziel tatsächlich nicht mehr weit entfernt war.
Die Straße schlängelte sich zunächst durch einen leblos wirkenden, dunklen Forst, vorbei an endlosen Reihen dünner Fichtenstangen, eine an der anderen, aufgereiht wie Soldaten. Dann weiter nach oben, wo die Eintönigkeit langsam in dichten Mischwald überging. Nach einer Kehre, vorbei an einem bedrohlich überhängenden Felsen, der aussah, als würde er jeden Moment auf die Straße stürzen, trat der Wald urplötzlich zurück und gab den Blick in ein von hohen Bergen umgebenes, idyllisches Tal frei.
Nora fuhr an den Straßenrand und stieg aus. Eine milde Brise wehte ihr die Haare ins Gesicht. Mit einer ungeduldigen Handbewegung strich sie sie hinter die Ohren. In den letzten fast zwei Jahren waren sie ziemlich gewachsen. Von dem Undercut war nichts mehr zu sehen, die Haare reichten ihr bis zu den Schultern, lockten sich sogar leicht. Durch ihren neuen Haarschnitt wirkte sie weicher und offener, wie ihre Schwester bei ihrem letzten Besuch gemeint hatte. Doch das täuschte, denn in Noras Inneren war in den vergangenen Monaten genau das Gegenteil passiert. Alles in ihr hatte sich verschlossen und verhärtet, sie fühlte sich, als wäre sie innerlich aus Stein. Nora trat ein paar Schritte an die Kante, dorthin, wo die Straße wieder nach unten führte, und musterte das Dorf. Bichlbrunn schmiegte sich an die flache Flanke eines sanft gerundeten Bergs, der sich, gemessen an den umgebenden Gipfeln, mit seiner grünen Kuppe niedrig und harmlos ausnahm. Etwas weiter rechts erhob sich der markante Gipfel des Teufelskopfs, den sie bereits von Aufnahmen kannte: ein schroffer, zackiger Brocken, der in seiner Wuchtigkeit feindselig aussah – ganz im Gegensatz zur Zugspitze, die sich weiter entfernt dahinter im milchigen Dunst des Spätsommernachmittags verlor und so freundlich-entrückt wie ein mystischer Ort wirkte. Nora spürte, wie in ihr beim Anblick des Teufelskopfs die Angst vor der bevorstehenden Aufgabe hochkroch wie eine Schlange, die sich an ihrem Rückgrat emporschlängelte, und sie überkam das dringende Bedürfnis, eine Zigarette zu rauchen. Nach fast zehn Jahren Abstinenz hatte sie im letzten Jahr wieder zu rauchen begonnen, aus Verzweiflung und Langeweile und dem destruktiven Wunsch, sich selbst Schaden zuzufügen. Aber natürlich durfte sie jetzt nicht rauchen. Es würde das harte Konditionstraining zunichtemachen, dem sie sich mithilfe ihres Coaches unterzogen hatte. Ein ganzes Team aus Physiotherapeuten, Fitness- und Mentaltrainern war seit Monaten damit beschäftigt, sie wieder fit zu machen, sie kam sich vor wie ein gestraucheltes Rennpferd, das zu wertvoll war, um es zu erschießen. Noch nicht, aber das würde sich schlagartig ändern, wenn sie jetzt versagte. Sie hatte sich von ihrem Berater überzeugen lassen und alles, ihre gesamte Zukunft!, auf diese eine Karte gesetzt, Sponsoren- und Werbeverträge abgeschlossen, Fernsehinterviews gegeben, sich bei der Reha von einem Fernsehteam begleiten lassen und ein medienwirksames Geheimnis um die Art und Weise ihres Comebacks gemacht. Niemand rechnete damit, dass es hier und auf diese Weise erfolgen würde. Doch heute Abend würden sie die Bombe platzen lassen. Steffen, ihr Berater, war bereits seit gestern da, er wohnte in einem Hotel in Garmisch, wo sie ebenfalls hätte absteigen sollen. Flug von Berlin nach München, dann mit einem Fahrer nach Garmisch ins beste Hotel am Platz, das war der Plan gewesen, doch sie hatte abgelehnt. Sie brauche Zeit allein für sich, hatte sie argumentiert, Ruhe und die Nähe der Berge. Es ergebe keinen Sinn für sie, in Garmisch abzusteigen. Steffen hatte widerwillig zugestimmt, doch als sie sich für eine kleine Pension statt des Hotels Post entschieden hatte, des einzigen Hotels in Bichlbrunn, war er wütend geworden. «Eine Pension? Bist du bescheuert? Nora Demir kann doch nicht in einer popeligen Dorfklitsche wohnen. Nicht jetzt, wo du zurückkommst. Wie sieht das denn aus, verflucht noch mal?»
Sie hatte sich dennoch durchgesetzt. Ihr Physio-Team und sogar Steffen würden in ein paar Tagen nachkommen und dann im Hotel absteigen. Das war der Vorteil, wenn man ein wertvolles Rennpferd war, das zudem als labil und leicht durchgeknallt galt: Man wurde wie ein rohes Ei behandelt und konnte sich sogar bescheuerte Ideen leisten. Nur rauchen, das durfte man nicht.
Nora riss sich vom Anblick der beeindruckenden Kulisse des Wettersteingebirges los und stieg wieder in ihr teures neues Auto, natürlich vom Hersteller gesponsert, startete und fuhr los. Die lange Autofahrt, allein von Berlin hierher, war ebenfalls Teil ihres eigenen Plans gewesen. Sie müsse endlich wieder Autofahren, hatte sie Steffen beschworen. Sie konnte sich schließlich nicht ihr Leben lang herumkutschieren lassen. Er hatte auch in diesem Punkt nachgegeben, doch dieser Teil war der schwerste gewesen. Sie hatte erst damit drohen müssen, alles hinzuwerfen, bis er klein beigegeben und zornig ausgestoßen hatte: «Mach doch, was du willst.»
Die Straße wand sich jetzt bergab, über sanft gewellte Wiesen, auf denen Kühe grasten und Bauern mit ihren Traktoren mit der Heuernte beschäftigt waren. Nora ließ das Fenster herunter, sog den warmen, würzigen Duft ein, der sie an alte Heidi-Filme, nackte Zehen im Gras und milde Sommerabende vor den Toren der Stadt denken ließ. Langsam überquerte sie die ziemlich neu wirkende Nepomukbrücke, die sich über einen Fluss spannte, der Ache hieß. Beides konnte sie von einem makellos weißen Schild ablesen. Unter ihr schäumte hellgrün und wild der Fluss, der sich in einer großen Schleife durch das Tal zog. Dann näherte sie sich dem Dorf. Ein spitzer Kirchturm ragte in den blauen Himmel und scharte die Häuser mit ihren Geranien vor den Fenstern und den großen Vordächern um sich wie eine Glucke ihre Küken.
«Eine verdammte Puppenstube ist das hier», murmelte sie, während sie in das Dorf hineinfuhr, und dachte an Neukölln, wo sie aufgewachsen war. Einen größeren Kontrast gab es wohl nicht.
Sie fuhr vorbei an der Feuerwehr und weiter die Dorfstraße entlang. Die Schule und der Kindergarten sahen beide frisch renoviert aus, es gab ein bunt gestrichenes Klettergerüst in einem Garten, in dem tatsächlich Gras und Blumen wuchsen und der offenbar den Pausenhof bildete. Nora dachte an ihren alten Schulhof, eine betonierte Fläche, daneben der angeranzte Sportplatz, von einem löchrigen Gitter umgeben, überall Graffiti und kein einziger Grashalm, von Blumen ganz zu schweigen. Sie hätten sowieso keinen Tag überlebt. Wo sie aufgewachsen war, hatte man etwas gegen schöne Dinge. Die einzige Möglichkeit, mit ihnen umzugehen, war, sie zu zerstören.
Es folgte eine kleine Tankstelle mit zwei museumsreifen Zapfsäulen, ein Zeitungsladen, der ein wenig einem Berliner Späti glich, und dann kam der sauber gepflasterte Dorfplatz mit dem Rathaus, einem Wirtshaus samt Biergarten und einer Eisdiele. Kirche, Wirtshaus, Rathaus. Die bayerische Dreifaltigkeit.
Als sie weiterfuhr durch enge Gassen mit bunt bemalten Häusern, hinter denen sich schroff die Berge erhoben, beschlich sie das Gefühl, sich in einer alten Postkarte zu befinden, in einem Traum oder einem kitschigen, etwas überbelichteten Film aus den Fünfzigerjahren des letzten Jahrhunderts. Es war von allem zu viel. Zu viele Blumen an den Fenstern, zu bunte Malereien an den Fassaden, das Kopfsteinpflaster zu romantisch, die Berge zu malerisch, der Himmel zu blau.
«So wohnt doch niemand ernsthaft», murmelte sie. «Da kann man ja gleich ins Museum ziehen.» In letzter Zeit sprach sie öfter mit sich selbst, das hatte sie sich in den endlosen Stunden im Krankenbett angewöhnt, was ihr seltsame Blicke der Schwestern und Mitpatienten eingebracht hatte. Sollten sie doch glotzen. Sie brauchte das, um zu hören, dass sie unter all dem Gips, den Verbänden, den Schmerzen und der Verzweiflung wirklich noch am Leben war.
Das Navi bat, bei der Bäckerei in eine schmale Sackgasse einzubiegen, die an kleinen Handwerksbetrieben und blühenden Gärten vorbeiführte. Am Ende des Sträßchens stand ein Haus mit roten Fensterläden, von Efeu und wildem Wein überwuchert, inmitten eines riesigen Grundstücks. In großen, geschwungenen Buchstaben stand über der Tür: Pension Wildgruber.
Nora parkte und stieg aus. Die Büsche am Zaun entlang blühten rot und violett und waren von Insekten bevölkert. Astern? Sie kannte sich nicht besonders gut mit Blumen aus. Es brummte und summte, und ein satter Geruch nach Kräutern, reifen Früchten, Gras, Natur drang ihr in die Nase. Sie hob den Kopf. Schwalben drehten am Himmel ihre Kreise und stießen spitze, hohe Schreie aus. Irgendwo läuteten Kuhglocken. Ansonsten herrschte Stille. Nora verzog das Gesicht zu einem kurzen, verlegenen Lächeln. Es fühlte sich ungewohnt an, wie eingefroren. Wann zum Teufel hatte sie zum letzten Mal gelacht? Sie konnte sich nicht erinnern. Tief einatmend, sah sie sich noch einmal um. Sie war im Märchenwunderland gelandet, alles hier war fast zu schön, um wahr zu sein, irgendwo musste es einen Haken geben. Dennoch: Ihr fast schon ganz zu Stein gewordenes, geschundenes Herz signalisierte ihr, dass sie eine gute Entscheidung getroffen hatte. Das hier war der richtige Ort für sie.
Auf den Tag genau zwei Monate war Ben nun wieder in Bichlbrunn. Der Hochsommer war in den Spätsommer übergegangen, ein Gewitter und ein paar Regentage in der letzten Woche hatten die brütende Hitze fortgewaschen, und als schließlich die Sonne wieder hervorgekommen war, war ihr Licht weicher, die Luft klarer gewesen und der Himmel von einem stillen, unwirklich leuchtenden Blau, das man in München nie erleben konnte, weshalb es gerade im Spätsommer und im Herbst die Städter in Scharen hinaus in die Berge zog.
Er konnte es verstehen, jetzt, wo er wieder hier lebte. Gerade um diese Zeit war es hier unvergleichlich schön. Die vergangenen Wochen waren intensiv gewesen. Er hatte versucht, all die widersprüchlichen Emotionen, die ihn seit seiner Rückkehr schier überwältigt hatten, mit Arbeit in den Griff zu bekommen, und davon gab es mehr als genug. Sein Vorgänger, Xaver Feichtmeier, der sich nach seiner Pensionierung als Förster noch eine Weile ehrenamtlich um die Naturschutzgebiete rund um Bichlbrunn gekümmert hatte, bevor er zu seiner Tochter nach Spanien gezogen war, hatte zwar ein gutes Gespür für die Natur und ihre Bedürfnisse besessen. Aber in der praktischen Umsetzung war vieles im Argen geblieben, dazu war er einfach schon zu alt gewesen.
Ben hatte sich mit den Wegen für die Touristen rund um das Dorf beschäftigt, sie neu ausgeschildert, marode Stellen zusammen mit den Gemeindearbeitern instandgesetzt, Hinweis- und Warnschilder und Erklärungstafeln entworfen und einen Plan entwickelt, wo sie aufgestellt werden sollten. Jede freie Minute, die er nicht mit Wegearbeiten oder vor dem PC in seinem neuen Büro in der Vogelwarte verbracht hatte, war er mit seiner Irischen Wolfshündin Hilde querfeldein durch das Gebiet gestreift, hatte versucht, ein Gespür für sein Revier zu bekommen, einem Wolf ähnlich, der das alte Rudel verlassen hat und sich eine neue Heimat erschließt. Maxi, sein Praktikant, hatte ihn hin und wieder begleitet, bevor er sich im Juli zurück an die Uni verabschiedet hatte, doch am liebsten war Ben allein unterwegs gewesen. Mit Miri Gulbrandt, der Leiterin der Vogelwarte, kam er gut aus. Teilweise überschnitten sich ihre Arbeitsbereiche, im Übrigen ließen sie einander in Ruhe, von gelegentlichen abendlichen Treffen vor Bens Haus mit Bier oder einem Glas Wein abgesehen.
Ben warf einen Blick aus dem Küchenfenster hinaus auf die Wiese, die sich rund um das Pförtnerhaus bis zum Waldrand erstreckte. Das Gras leuchtete im satten, saftigen Grün, es war ein schöner, warmer Sommer gewesen, nicht zu trocken und nicht zu feucht. Der Bauer, der die Fläche gepachtet hatte, würde vermutlich zur letzten Mahd erst im September kommen. Der Blick über die weite Lichtung und die dunkle Baumlinie, die sie begrenzte, entspannte ihn. Die Vogelwarte mit dem Pförtnerhäuschen lag etwas erhöht am Hang des Rabensteins. Von seinem Küchenfenster aus hatte Ben daher einen guten Blick auf Bichlbrunn, das sich unterhalb des Waldes bis zu den Flussauen der Ache erstreckte, die dort hellgrün schäumend in Richtung Garmisch dahinfloss. Die Straße, die dem Flusslauf folgte, war der einzige Zugang in das enge Bichlbrunner Tal, das sich, umringt von Wetterstein und Zugspitze, an die Flanke des Rabensteins schmiegte.
Ben verband eine tiefe Hassliebe mit diesem Ort, und jedes Mal, wenn er hier am Fenster stand und bewusst ins Tal hinunterblickte, machten sich diese widersprüchlichen Empfindungen bemerkbar. Er liebte die Natur, die ihn hier umgab, das Wilde und Ursprüngliche, das sich in dieser Ecke der bayerischen Alpen aufgrund der Abgelegenheit des Bichlbrunner Tals noch weitgehend erhalten hatte, und er hatte vor, sich mit ganzem Herzen dafür einzusetzen, dass es erhalten blieb.
Andererseits hatte das abgelegene und enge Tal auch seine Schattenseiten: die Engstirnigkeit vieler Bichlbrunner, die sich weigerten, einen Blick über den Tellerrand, sprich: über die sie umgebenden Bergspitzen hinaus zu werfen. Wer hier nicht geboren war, würde nie dazugehören, und wer sich einmal gegen die eingeschworene Gemeinschaft gestellt hatte, dem wurde nicht vergeben. Sämtliche Ereignisse, Missgeschicke wie Glücksfälle, Tragödien, Komödien, Peinlichkeiten und Fehltritte, alles, was in einer größeren Stadt eine Halbwertszeit von Tagen oder wenigen Wochen hatte – sofern es überhaupt registriert wurde –, ging hier ins kollektive Gedächtnis des Ortes ein, verband sich mit Gewesenem, Erinnertem und Hinzuerfundenem und fügte sich ein in das Gewebe, aus dem die ehernen Gesetze der Dorfgemeinschaft bestanden. Diese Gesetze nährten sich aus Geschichten, die Jahrhunderte oder auch nur ein paar Jahre alt sein konnten, ein dicht gewebter Teppich aus Worten und Erinnerungen, nahezu unzerstörbar.