5,99 €
2,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 4,99 €
„Bitte … finde mich.“
Der grausame Psychothriller mit Gänsehaut-Garantie
Ein einziger Anruf von seiner ehemals besten Freundin Laura genügt, um Nico aus seinem geordneten Leben zu reißen. Eigentlich hat er mit seinem Job als Kameramann und seiner wunderschönen Freundin Nadine alles, wovon er immer geträumt hat. Nur das Verschwinden von Laura vor 10 Jahren lässt ihn nach wie vor nicht los. Er will herausfinden, was damals mit seiner besten Freundin passiert ist, doch je näher er dem Geheimnis kommt, desto mehr seltsame und verstörende Dinge passieren auch in seinem eigenen Leben. Als Laura ihn erneut kontaktiert und bittet, sie zu finden, lässt Nico alles stehen und liegen und reist nach New Orleans, dem Ursprung der mysteriösen Anrufe. Dort muss er sich einer grausamen Wahrheit stellen, die nicht nur Lauras Leben, sondern auch sein eigenes in tödliche Gefahr bringt …
Erste Leser:innenstimmen
„Die Geschichte hält einen bis zum Ende in Atem und überrascht immer wieder.“
„Ein unglaublich atmosphärischer Thriller, der nicht nur mit Spannung punktet, sondern auch tief in die Psyche seiner Charaktere eintaucht.“
„Die unerwarteten Entwicklungen und die permanente Bedrohung schaffen eine Spannung, die einen diesen Psychothriller kaum aus der Hand legen lässt.“
„Die Mischung aus Realität und Wahnvorstellungen ist meisterhaft umgesetzt.“
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 465
Veröffentlichungsjahr: 2024
Ein einziger Anruf von seiner ehemals besten Freundin Laura genügt, um Nico aus seinem geordneten Leben zu reißen. Eigentlich hat er mit seinem Job als Kameramann und seiner wunderschönen Freundin Nadine alles, wovon er immer geträumt hat. Nur das Verschwinden von Laura vor 10 Jahren lässt ihn nach wie vor nicht los. Er will herausfinden, was damals mit seiner besten Freundin passiert ist, doch je näher er dem Geheimnis kommt, desto mehr seltsame und verstörende Dinge passieren auch in seinem eigenen Leben. Als Laura ihn erneut kontaktiert und bittet, sie zu finden, lässt Nico alles stehen und liegen und reist nach New Orleans, dem Ursprung der mysteriösen Anrufe. Dort muss er sich einer grausamen Wahrheit stellen, die nicht nur Lauras Leben, sondern auch sein eigenes in tödliche Gefahr bringt …
Erstausgabe Juli 2024
Copyright © 2024 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten
E-Book-ISBN: 978-3-98998-184-3 Taschenbuch-ISBN: 978-3-98998-454-7 Hörbuch-ISBN: 978-3-98998-553-7
Covergestaltung: ArtC.ore-Design / Wildly & Slow Photography unter Verwendung von Motiven von stock.adobe.com: © Mikolaj Niemczewski shutterstock.com: © Moshbidon Lektorat: Astrid Pfister
E-Book-Version 24.07.2024, 15:05:25.
Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.
Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Unser gesamtes Verlagsprogramm findest du hier
Website
Folge uns, um immer als Erste:r informiert zu sein
TikTok
YouTube
Für Danni und Tanja.
Die besten Freundinnen, die man sich wünschen kann.
Das Telefon klingelte, doch es war nicht das süßliche Säuseln von Bruce Springsteens I’m on fire, das Nico weckte. Es war der Vibrationsalarm, der ihm durch Mark und Bein ging, so wie er durch das Holz des Nachttischs ging, auf dem das Mobiltelefon bei jedem Brummen eine Viertelumdrehung beschrieb.
Er griff hastig danach, vermutete das Klingeln des Weckers hinter dem plötzlichen Erwachen. Zeit aufzustehen und den Tag zu beginnen, auch wenn es sich noch gar nicht danach anfühlte. Zu seiner Überraschung zeigte das Display allerdings nicht die eingestellte Weckzeit an, sondern einen eingehenden Anruf.
Unbekannt verkündete es, anstatt einer Rufnummer. Nico warf einen flüchtigen Blick auf die Uhrzeit, die klein oben links in der Ecke angezeigt wurde. Es war kurz nach drei Uhr nachts. Kein Wunder, dass er das Gefühl hatte, noch nicht ausgeschlafen zu sein. Er war erst vor zwei Stunden ins Bett gegangen und der Wecker würde erst in fünf klingeln.
Nico gehörte zu den Menschen, die unbekannte Rufnummern gerne mal ignorierten. Allein die Uhrzeit ließ ihn dieses Mal hadern. Es waren die sorgenvollen Stunden zwischen elf Uhr am Abend und sechs Uhr am nächsten Morgen, in denen Anrufe meistens nichts Gutes verhießen. Wenn man erfuhr, dass geliebte Menschen Unfälle gehabt hatten oder im Krankenhaus lagen. Und es machte durchaus Sinn für ihn, dass die Nummern von Krankenhäusern oder Polizei nicht angezeigt wurden.
Ein ungutes Gefühl beschlich Nico und gewann schließlich die Oberhand über das bloße Genervtsein durch die nächtliche Störung. Alles in ihm verkrampfte sich schlagartig, während das kleine Ding in seiner Hand weiterhin brummte.
Er nahm den Anruf entgegen, hielt das Handy ans Ohr und hauchte ein fast geflüstertes: „Hallo?“
Für einen Moment blieb es still in der Leitung. Er war sich nicht sicher, ob es der Moment war, in dem eine automatische Sprachnachricht ansprang, um ihm zu offenbaren, dass er eine dubiose Verlosung gewonnen hatte, an der er nie teilgenommen hatte oder ob er überhaupt eine Verbindung hatte. Zu allumfassend klang die Stille, die ihm aus dem Telefon entgegenschlug. Schwarz und leer wie das All. Bereit jedes Geräusch zu ersticken.
Er wollte das Smartphone vom Ohr nehmen, um mit einem Blick auf das Display zu überprüfen, ob die Verbindung weiterhin bestand oder ob der Anrufer aufgelegt hatte, kurz bevor er den Anruf entgegengenommen hatte.
„Heute ist mein Geburtstag.“
Die Frauenstimme, die an sein Ohr drang, erkannte er sofort, obwohl auch sie kaum lauter als ein Flüstern war und er sie seit einer kleinen Ewigkeit nicht mehr gehört hatte. Sein Herz machte einen Hüpfer und setzte dann einen Schlag aus. Als es wieder einen Rhythmus gefunden hatte, war dieser deutlich beschleunigt.
Es war Laura!
Und genau das ließ ihn plötzlich daran zweifeln, dass er wirklich wach und dieser Anruf real war, denn er hatte ihre Stimme seit zehn Jahren nicht mehr gehört.
Er wollte ihren Namen sagen, fragen, ob sie es tatsächlich war, aber er hatte Angst den fragilen Traum damit zu vertreiben.
„Weißt du, wie alt ich geworden bin?“, fragte die Stimme aus der schwarzen Leere der Leitung und schien mit jedem einzelnen Wort wieder und wieder zu schreien Ja, ich bin Laura!
Real oder nicht, sie war es tatsächlich!
Ihm fiel selbst auf, wie absurd dieser Gedanke war, trotzdem fühlte er sich für ihn richtig an, und jedes weitere Wort schob ihn für Nico ein Stück weiter über die Realitätsgrenze.
„So alt wie ich“, antwortete er. „Vierzig.“
Viereinhalb Monate war er ihr voraus.
„Ein ganz besonderer Geburtstag“, sagte sie. „Weißt du, was das bedeutet?“
Er antwortete nicht … konnte es nicht.
Ja verdammt, er wusste genau, was das bedeutete. Umso fassungsloser machte es ihn, jetzt plötzlich ihre Stimme zu hören.
„Was willst du?“, fragte er, bekam die Worte aber kaum heraus. Ein dicker Kloß steckte in seinem Hals.
„Wenn wir mit vierzig noch beide Single sind, wollten wir heiraten“, erwiderte sie, was sie auch getan hätte, wenn er seine ruppige Zwischenfrage nicht gestellt hätte.
Nicos Unterlippe bebte. Er spürte, wie seine Augen feucht wurden.
„Das war, bevor du einfach von einem Tag auf den anderen verschwunden bist“, stieß er weiter erstickte Worte hervor, während sich eine erste Träne auf den Weg seine Wange herab machte. „Wo zur Hölle steckst du?“
Sie schwieg. Nur die endlose, rauschfreie Leere drang in sein Ohr.
„Ich …“ die Antwort kam mit Verzögerung, als müsste sie sich erst um sich herum umsehen. „Ich weiß es nicht.“
„Warum rufst du an, wenn du nur weiter Spielchen spielen willst?“, fragte er vorwurfsvoll und verletzt.
„Ich weiß es wirklich nicht“, beharrte sie und in der Leere, in der der Satz ertönte, klang sie tatsächlich irgendwie verloren. „Bitte … finde mich.“
„Ich muss Schluss machen“, sagte er, auch wenn es ihm das Herz brach. „Wir wecken sonst meine Freundin auf.“ Er schwieg einen Moment und würgte den Kloß in seinem Hals herunter, um seinen Worten mehr Kraft zu verleihen, als er sagte: „Unsere Abmachung hat sich also eh erledigt.“
Er beendete das Gespräch, ohne ihr die Chance zu geben, noch etwas zu erwidern, dann starrte er ungläubig auf das Smartphone in seiner zitternden Hand. Er rief die Liste der letzten Anrufe auf und fand den Eintrag Unbekannte Nummer im Speicher.
Er hasste sich dafür, dass er einfach aufgelegt hatte, und er hasste sie dafür, dass sie angerufen hatte.
Er sah nach links. Dorthin, wo seine Ausrede hätte liegen sollen. Tat sie aber nicht. Die andere Hälfte des Bettes war leer. Die Decke seiner Freundin lag als zerwühltes längliches Knäuel neben ihm, sodass er es aus dem Augenwinkel für selbstverständlich gehalten hatte, dass sie neben ihm lag.
Bestimmt ist sie auf der Toilette, dachte er und sah zur Schlafzimmertür, die einen Spalt weit offenstand. Er wartete darauf, dass irgendetwas passierte. Dass er ein fernes Wasserrauschen aus dem Flur vernahm, sich die Tür öffnete oder das Handy, das er noch immer umklammerte, wieder zu vibrieren begann. Stattdessen geschah gar nichts.
Nachdem er drei Minuten darauf gewartet hatte, dass seine Welt sich irgendwie weiterdrehte, schwang Nico die Füße aus dem Bett und machte sich auf die Suche nach seiner Freundin.
Der Flur im ersten Stock war dunkel. Die Badezimmertür am anderen Ende stand offen, das Licht dahinter war jedoch ausgeschaltet.
„Baby?“, rief er in das dunkle Haus hinein.
Doch es blieb dunkel und still. Wo zur Hölle war sie?
Nico machte auf dem Absatz kehrt und marschierte zurück ins Schlafzimmer. Er würde sich etwas anziehen und dann weitersuchen. Erst unten, dann draußen und wenn nötig, überall.
Er betrat das Schlafzimmer und streckte die Hand nach dem Lichtschalter aus, als plötzlich die kleine Stehlampe auf dem Nachttisch seiner Freundin anging.
„Wo warst du?“, fragte sie verschlafen und wischte sich eine Strähne ihres langen blonden Haares aus dem Gesicht.
Nico schüttelte ruckartig den Kopf und kniff die Augen zu.
Hatte er seine Freundin wirklich mit einem Deckenknäuel verwechselt? Als er die Augen wieder öffnete, sah sie ihn noch immer fragend an.
„Hab dich gesucht“, antwortete er. „Wo warst du?“
Ihr Blick sah aus, als ob sie an seinem Verstand zweifelte. Verschlafen, wirr … und eindeutig zu überfordert, um all das zu verstehen.
„Komm wieder ins Bett“, sagte sie mit zarter Stimme und schlug die Decke für ihn zurück.
Nico war durcheinander. Wahrscheinlich mehr als sie. Der Anruf war anscheinend nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Er versuchte, sich an die wichtigen Dinge zu klammern: Seine Freundin war da und es ging ihr gut.
Er schlüpfte zu ihr unter die Decke und sie kuschelte sich an ihn. Er genoss ihre Wärme und den Duft ihres Haars. Er küsste ihren Kopf. Sie quittierte es mit einem wohligen Stöhnen. Innerhalb einer Minute wurde ihre Atmung tief und gleichmäßig und sie sank in einen scheinbar ruhigen Schlaf. Nico hingegen war hellwach. Er drehte den Kopf zur Seite und sah zu dem Smartphone auf seinem Nachttisch.
Von den fünf Stunden Schlaf, die er noch vor sich gewähnt hatte, würde nicht mehr viel übrig bleiben, fürchtete er.
Er sollte recht behalten. Er hatte die restliche Nacht kaum ein Auge zubekommen, und wenn doch, war er in einen unruhigen Dämmerzustand abgedriftet. Eine wässrige Suppe aus Träumen und bewussten Erinnerungen, die sich bei allem Umrühren in dieser Nacht einfach nicht zu Traum und Schlaf verdichten wollte.
Er hatte den Wecker schließlich zehn Minuten vor dem Klingeln ausgeschaltet.
Nadine wachte auf, als er sich gerade aus dem Bett stehlen wollte. Sie drehte sich zu ihm um und legte ihren Kopf auf seine Brust.
„Musst du etwa schon aufstehen?“, fragte sie und schob ihre Hand in seine Shorts.
Er spürte, wie sich ihre zierlichen Finger um ihn schlossen und begannen, ihn mit einer fordernden Auf- und Ab-Bewegung zu massieren. Sie ließ ihn in ihrer Hand wachsen und beendete seine Bettflucht mit geübten Bewegungen. Dabei entlockte sie ihm ein inniges Stöhnen.
„Ein bisschen Zeit hast du doch sicher noch, oder?“
Die hatte er. Daher lehnte er sich zurück und genoss erst ihre Hand, dann ihren Mund und schließlich die feuchte Hitze ihres Schoßes, als sie ein Bein über ihn schwang und sich auf seine Härte setzte.
Nadines Hingabe und der Orgasmus, in den sie ihn trieb, ließen all die Sorgen und Gedanken verblassen, die ihn die letzten Stunden über um den Schlaf gebracht hatten.
Vielleicht hätte er sie schon früher wecken sollen.
Als sie von ihm runter stieg, tropfte ihre beider Lust auf seinen Bauch und auf das, was darunter nun langsam und befriedigt erschlaffte. Sie ließ ihn ein weiteres Mal in ihrem Mund verschwinden. Nicos ganzer Körper verkrampfte sich, als sie alles ableckte, was noch an ihm klebte. Sie liebte es, ihren Sex danach zu schmecken.
Danach ließ sie von ihm ab und sprang aus dem Bett. Ihr verführerischer Blick wich einem Lächeln, als sie sich eines von seinen Hemden aus dem Kleiderschrank nahm und hineinschlüpfte. Sie machte sich nicht die Mühe es zuzuknöpfen, sondern ließ es verspielt offen und präsentierte ihm ihre nackte Haut darunter.
„Ich mach uns Frühstück“, verkündete sie.
Er sah von ihrer üppigen 75c runter zu dem schmalen Streifen schwarzen Schamhaars, das zwischen ihren Schenkel entlang lief.
„So?“, fragte er.
Sie nickte lächelnd und war schon auf dem Weg zur Tür hinaus.
„Du bist die perfekte Frau“, rief Nico ihr in den Flur nach.
Als ob sie das nicht ganz genau weiß, dachte er.
Dann schwang auch er sich aus dem Bett. Er stand auf wackligen Beinen da, die immer noch kribbelten. Das linke schmerzte leicht, als er es belastete.
Als Nico aus der Dusche kam, roch das ganze Haus nach Frühstück. Nadine hatte groß aufgetischt. Rührei, gebratener Speck und eine Käseplatte. Einen Berg Pancakes verfrachtete sie gerade aus einer Pfanne auf einen Teller und schob ihn in einer fließenden Bewegung in die Mitte des Tischs. Und das alles, während sie ihm zwischen den beiden offenen Hälften seines Hemds noch immer ihre nackten Filetstücke präsentierte.
„Siehst du irgendwas, das dir gefällt?“
Er lächelte angetan.
Oh ja! Die perfekte Frau!
Überhaupt gab es in diesem Leben nicht viel, worüber Nico sich hätte beschweren können. Wenn er seine perfekte Frau zu Hause zurückließ, dann nur für seinen Traumjob. Und so war er eine Stunde später befriedigt und wohlgenährt auf dem Weg ins Filmstudio.
Sein Studium der Filmwissenschaften hatte er vor zwölf Jahren abgebrochen und die Theorie hinter sich gelassen, um sich der Praxis zuzuwenden. Er hatte die unterschiedlichsten Jobs an verschiedenen Filmsets angenommen. Hatte für vierhundert Euro im Monat als Set-Runner begonnen, unbezahlte Praktika absolviert und war schließlich von Robert Engel, einem alternden Kameramann unter die Fittiche genommen worden, der von seinem Enthusiasmus begeistert gewesen war.
„Wenn ich sowieso den halben Tag damit beschäftigt bin, deine Fragen zu beantworten“, hatte der Mann mit dem gemütlichen Bierbauch gesagt, „dann solltest du auch was für mich tun, finde ich.“
Noch am selben Abend hatte er Rücksprache mit der Produktionsleitung gehalten und am nächsten Tag war Nico offiziell ihm und seinem Assistenten, einem unausstehlichen Stinkstiefel namens Andreas Puhl unterstellt gewesen … der letzte junge Mann, der Engels Interesse geweckt hatte. Puhl hatte den Neuen so richtig leiden lassen.
Lehrjahre seien nun mal keine Herrenjahre, hatte er dabei süffisant angemerkt, was seinem Lebensalter durchaus angemessen war.
Nico hatte sich nicht beschwert. Er hatte getan, was ihm aufgetragen wurde, hatte Ausdauer und Geduld bewiesen, vor allem aber Talent. Als Puhl schließlich immer größere Töne gespuckt hatte, war auch Engel sein widerlicher Charakter nicht länger verborgen geblieben. Die beiden gerieten häufiger in Streit, jetzt wo der arrogante Assistent mehr Zeit hatte, um am Set negativ aufzufallen, und eines Morgens trennten sich ihre Wege noch vor der ersten Klappe des Tages vor aller Augen. Nico wusste nicht, was der Anstoß des Streits gewesen war, aber er hatte Engel zuvor noch nie schreien gehört. Der sympathische Endfünfziger war vor aller Augen explodiert und hatte Puhl fünf Minuten vor Drehstart gefeuert.
Fast noch beunruhigender als sein plötzlicher Ausbruch, war die Geschwindigkeit gewesen, in der er sich wieder beruhigt hatte. Er benötigte eine halbe Drehung um die eigene Achse, bis Nico in sein Blickfeld geriet, um zu erkennen, dass er gerade unprofessionell gewesen und den Dreh gefährdet hatte.
Mit sanfter Stimme fragte er seinen Materialassistenten: „Glaubst du, du kannst heute die Schärfe ziehen?“
Es war Nicos Aufstieg zum Kameraassistenten – nach gerade einmal zwei Monaten.
Vier Jahre später hatte er seinen ersten Film als Kameramann gedreht. Inzwischen war er einer der besten seines Fachs in Deutschland. Er drehte gute Filme, verdiente gutes Geld und schulterte seine Kamera zwischen den Takes schon mal selbst, um seine Assistenten zu entlasten.
Auch heute hatte er sie als Erster in der Hand. Nach den doppelten Freuden des Morgens strotzte er nur so vor Energie. Nur sein linkes Bein protestierte, als er noch zusätzlich das schwere Stativ schulterte. Es war ein stechender Schmerz von erlesener Qualität, der sein Knie einsacken ließ und Nico einen zischenden Laut entlockte. Er balancierte bemüht auf seinem zweiten, stabilen Bein und versuchte vor allem die fragile, teure Kamera zu schützen.
Innerhalb von Sekunden waren seine beiden Assistenten bei ihm. Kameraassistentin Julia nahm ihm die Kamera aus der Hand, während Materialassistent Ben seinen Chef stützte und ihm gleichzeitig die Last des Stativs von der Schulter hievte.
„Alles in Ordnung?“, fragte er besorgt. „Bist du umgeknickt?“
„Nein, ich …“ Nico zögerte. Ja, was eigentlich?
Als das Gewicht des Stativs nicht mehr zusätzlich auf ihm lag, befreite sich Nico dankbar aus Bens stützendem Griff. Er belastete vorsichtig das linke Bein. Der Schmerz war noch da, auch wenn er durch die schnelle Hilfe seiner beiden Assistenten nachgelassen hatte. Er saß tief in Muskeln, Sehnen und Knochen.
„Ich weiß auch nicht“, versuchte er das Problem erneut zu beschreiben. „Ich bin heute Morgen aufgewacht und der Schmerz war da.“
„Ich besorg dir ne Tablette“, bot Julia an. „Und du hältst dich heute mal ein bisschen zurück.“
„Du bist doch nur scharf auf meinen Job“, scherzte Nico.
„Ich will deinen Job gar nicht“, frotzelte sie zurück. „Reicht mir völlig, wenn du mich ausnahmsweise mal meinen machen lässt.“
Nico streckte beide Hände in die Höhe und kapitulierte.
„Dann sei eben mein Lastenmuli“, gab er sich augenzwinkernd geschlagen.
Er war kein Gefangener alter Rollen- und Geschlechterklischees. Er wusste, dass Julia schleppen konnte und dass sie dem Job auch ohne seine Hilfe mehr als gewachsen war. Sogar mehr als das. Dass sie hinter seinem Job her sei, war zwar ein Scherz gewesen, aber Nico war überzeugt davon, dass sie eines nicht allzu fernen Tages eine großartige Kamerafrau abgeben würde. Und er war sich sicher, dass auch sie sich nur ungern ihre Kamera abnehmen lassen würde. Er würde stolz auf sie sein – bis sie ihm die ersten Jobs vor der Nase wegschnappte.
Sie kehrte mit einer Schmerztablette und einer kleinen Flasche Wasser zu ihm zurück und fragte: „Ist das schon das Alter?“
Drauf geschissen, dachte Nico. Er würde sie auch dann noch mögen, wenn sie ihm den Platz an der Spitze streitig machte.
Er spülte die Tablette mit einem Schluck Wasser herunter und gab die Flasche an Julia zurück.
„Die ist ziemlich schwer“, kommentierte er und wies auf sein Bein.
„Schlimmster Chef der Welt“, zog sie ihn auf, schulterte die Kamera und die Wasserflasche und marschierte in Richtung Set. „Ich sag schon mal Bescheid, dass es bei dir ein bisschen länger dauert.“
„Du bist meine Lieblings-Praktikantin“, rief Nico ihr hinterher.
Julia zeigte ihm über die freie Schulter hinweg den Mittelfinger. Er lachte.
Er liebte seinen Job.
***
Die Hilfe seiner Kollegen und die regelmäßige Versorgung mit Schmerzmitteln verschafften Nicos Bein Linderung, doch tief im Fleisch pochte es weiter. Immer wieder nutzte er die Umbaupausen zwischen zwei Kameraeinstellungen, um seinen Oberschenkel zu massieren, doch nichts verschaffte ihm vollends Linderung. Er war froh, als der Aufnahmeleiter den Drehschluss ausrief und er den beruflichen Teil des Tages geschafft hatte.
Zum Abendessen war er mit Nadine und einer gemeinsamen Freundin verabredet. Er hätte auch nichts dagegen gehabt, die Verabredung abzusagen und den Tag stattdessen auf dem Sofa ausklingen zu lassen, aber sie hatten Jessica ewig nicht gesehen. Außerdem stand er nun mal auf Burger und im BeeFunky in der Südstadt machten sie einen der besten BBQ-Burger, die er je gegessen hatte.
Essen bedeutete zugleich sitzen, und auch wenn der Schmerz blieb, war es für Nico die Hauptsache, das Bein nach dem anstrengenden Tag ein wenig entlasten zu können. Abgesehen von dem zusätzlichen Gewicht, das ihm der riesige Burger auf die Rippen zaubern würde, in den er seine Zähne gerade das erste Mal vergrub.
Das ist es wert, schrie die Geschmacksexplosion in seinem Mund.
Er streckte die Hand nach dem riesigen Berg Süßkartoffelfritten aus, der auf einem separaten Teller in der Tischmitte stand, und den sie sich zu dritt teilten.
Die beiden Frauen hatten offenbar gerade genau den gleichen Gedanken. Nico lächelte, als er die beiden zierlichen Hände streifte.
Er fragte sich, ob das auch für den aktuellen Gedanken galt, dass Pommes frites nicht das Einzige waren, was man zu dritt teilen könnte.
Ein Gedanke, den er nicht zum ersten Mal hatte – aber sich auch nicht zum ersten Mal über die Lippen zu bringen wagte.
Jessica war eine äußerst attraktive Frau. Eine Schauspielerin, genau wie Nadine. Etwas kleiner und zierlicher, mit kurzem blonden Haar und süßen Grübchen, die sich in ihren Wangen bildeten, als sie Nicos Lächeln erwiderte.
Er fühlte sich unwillkürlich ertappt. War sein Blick so eindeutig gewesen? Oder dachte sie vielleicht wirklich das gleiche?
Er schnappte sich eine Handvoll Pommes vom Berg und zog sich zurück, bevor er sich auch noch von seiner Freundin ertappt fühlte. Verstohlen spähte er zu ihr hinüber, spürte aber keinen Vorwurf in ihrem Blick. Warum sollte sie auch plötzlich prüde sein? Es war ja nichts passiert.
Trotzdem wollte Nico nichts kaputtmachen. Weder die Beziehung mit Nadine noch die Freundschaft zu Jessica, denn gute Freundinnen fand man selten. Die letzte war …
Er musste an Laura denken und an den nächtlichen Anruf.
Finde mich!, hatte sie gesagt.
Sie hatte verloren geklungen.
Die Erinnerung an sie verdrängte sogar den Berg aus schwitzenden Leibern aus Nicos Kopf, zu dem der Berg aus Pommes und Fingern ihn in Gedanken geführt hatten.
Hatte er Lauras Verhalten fälschlicherweise als Spielchen abgetan? Hatte er zu früh aufgegeben, nach ihr zu suchen?
Nach ihrem Verschwinden hatte er Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt. Er hatte versucht sie zu erreichen. Erst über ihre eigenen Telefonnummern, und als diese plötzlich abgemeldet waren per E-Mail. Dann über Freunde. Er hatte das Internet auf den Kopf gestellt. Ihren Namen in jede Suchmaschine des World Wide Web gehämmert und doch niemals Informationen gefunden, die nicht aus der Zeit vor ihrem Verschwinden stammten. Es gab nur ihr verwaistes Facebook-Profil oder einen Online-Bericht über das letzte Volleyballspiel, das sie mit ihrer Mannschaft gewonnen hatte. Keinen Hinweis darauf, dass sie in einer anderen Stadt aufgetaucht war, einen neuen Job angenommen, geheiratet hatte oder gestorben war. Sie war spurlos verschwunden. Vom Erdboden verschluckt. Zumindest für ihn.
„Nico?“, drang Nadines Stimme aus weiter Ferne an sein Ohr und holte ihn aus der Vergangenheit zurück.
Die beiden Frauen sahen ihn erwartungsvoll an.
Nico blickte auf das BBQ-Bacon-Kunstwerk in seiner Hand. Seit dem ersten Bissen hatte sich nicht viel getan, außer dass der Burger langsam abkühlte. Was für eine Verschwendung! Nico nahm einen zweiten großen Bissen.
„Laura hat mich gestern Nacht angeruf…“, begann Nico, nachdem er die ersten fünf Minuten der Fahrt nach Hause wieder in Grübeleien versunken war.
„Ich glaube, Jessy steht auf …“, setzte Nadine gleichzeitig an.
Beide verstummten.
„Was?“, fragten sie zeitgleich nach und lachten.
„Du zuerst“, sagte Nadine.
„Nein, nein, nein“, widersprach ihr Nico. „Du zuerst.“
„Ich glaube, Jessy steht auf dich“, sprach sie den Gedanken vollständig und mit fast beiläufiger Leichtigkeit aus.
Nicos Körper reagierte unwillkürlich auf die überraschende Aussage und das Auto machte einen kleinen, kaum merkbaren Schlenker in Richtung Mittelstreifen.
„Ach Quatsch“, sagte er und tat es ab.
„Doch, ich glaube schon.“ Sie blieb beharrlich und fragte dann geradeheraus: „Stehst du denn auf sie?“
„Was? Nein!“
„Sie ist eine hübsche Frau“, gab Nadine zu bedenken.
„Ich hab schon eine.“
Sein Blick haftete auf der Straße. Er vermied es, Nadine anzusehen, denn er fürchtete, dass er gerade knallrot wurde und war froh, dass es dunkel war – und in der Nacht bekanntlich alle Katzen grau.
„Du kannst es ruhig zugeben“, bohrte sie weiter nach und Nico spürte deutlich, dass sie ihn vom Beifahrersitz aus anstarrte. „Ich finde es nicht schlimm, wenn du andere Frauen attraktiv findest. Ich finde sie ja auch attraktiv.“
Er riskierte einen kurzen Blick aus dem Augenwinkel. Sie starrte ihn immer noch an, bohrte nach Antworten wie nach Öl. Nico zuckte mit den Schultern und versuchte, es beiläufig wirken zu lassen.
„Ja, sie ist hübsch“, traute er sich vorsichtig einen Schritt vor.
„Schwein!“, strafte sie ihn entrüstet, wandte den Blick ab und starrte nun ihrerseits raus ins Scheinwerferlicht.
Na toll! Ein Fettnäpfchen mit Ansage!
„Komm schon, Baby“, sagte Nico mit seiner sanftesten Stimme. „Tausende Frauen da draußen sind hübsch.“
„Mhm“, knurrte Nadine abweisend, drehte den Kopf demonstrativ weiter nach rechts und sah nun aus dem Beifahrerfenster.
Okay Nico, jetzt denk besser verdammt genau nach, was du als Nächstes sagst, schärfte er sich ein, kam aber zu keinem Ergebnis. Doch irgendetwas musste er sagen. Der größte Fehler wäre die letzten zehn Minuten Fahrt schweigend zu verbringen. Er holte tief Luft und war gerade bereit, um sein Leben zu feilschen, als Nadine neben ihm losprustete.
„Oh, ich halt’s nicht mehr aus“, meinte sie, lachte hemmungslos und schmiegte sich an seinen Arm. „Du bist so süß, wenn du Panik hast.“
„Jetzt kuschel dich nicht an“, protestierte Nico und zog spielerisch seinen Arm aus ihrem Griff.
Sie startete einen zweiten Versuch, klammerte sich an ihn. Bei siebzig Kilometern pro Stunde hinterm Steuer konnte er nirgendwo hin. Ein erbärmlicher Schauspieler war er außerdem, also fiel auch eine Retourkutsche flach. Nico gab sich geschlagen. Sie hauchte ihm einen Kuss auf die Wange.
„Ich hasse dich“, murmelte er, ohne es ernst zu meinen.
„Nein, du findest mich heiß“, widersprach sie und fügte dann voller Schadenfreude hinzu: „Genau wie Jessy.“ Sie lachte erneut und wuschelte ihm durchs volle Haar. „Weißt du, dass ich mal was mit ihr hatte?“, fragte Nadine jetzt.
Das Auto machte wieder einen winzigen Schlenker, als ihre Worte in Nicos Hirn ankamen.
„Damals“, fuhr sie fort, „am Set von Meine wundersamen Träume.“
Er sah sie überrascht an, ließ den Wagen dabei etwas mehr ausbrechen.
„Damals waren wir doch schon zusammen“, sagte er ernst.
Offenbarte sie ihm gerade etwa, dass sie ihn betrogen hatte?
„Verklag mich doch“, tat sie es spielerisch ab, als wäre es keine große Sache. „Wenn Frauen betrunken sind, machen sie manchmal miteinander rum. Außerdem haben wir damals nur gedatet.“
Im Scheinwerferlicht eines entgegenkommenden Autos sah er die diebische Freude in ihren Augen.
Was sie wohl gerade in seinen entdeckte? Den Schock oder das Kribbeln, das niedere Regionen auf den Weg geschickt hatten, während Nicos Kopfkino langsam anlief?
Ihr Griff zwischen seine Schenkel sprach eine deutliche Sprache. Genau wie das nervöse Zucken, das sie unter dem Jeansstoff spürte.
„Haben wir jetzt Streit?“, fragte sie verführerisch und begann, die wachsende Beule zu massieren. „Oder willst du lieber, dass ich weitererzähle?“
Er antwortete nicht. Sie massierte weiter – und erzählte ihm alles. Sie begann damit, wie Jessica und sie sich auf einer der zahlreichen Partys, die bei Filmdrehs nach Drehschluss veranstaltet wurden, nähergekommen waren. Wie sie zusammen Tequilas getrunken und getanzt hatten. Wie ihre Lippen sich das erste Mal berührt hatten. Wie zart und weich sich Jessicas angefühlt hatten.
Nadine ließ ihn einen seltsamen Cocktail aus Eifersucht und Lust kosten.
Sie hatten damals ihr drittes Date gehabt. Das vierte war bereits verabredet gewesen, für den Abend, an dem sie von den Dreharbeiten zu Meine wundersamen Träume zurückkehrte. Wenn sie leugnete, dass es zu diesem Zeitpunkt auf etwas Festes bei ihnen hinausgelaufen war, machte sie sich oder ihm etwas vor. Dennoch törnte es ihn an, zu erfahren, dass es von ihr ausgegangen war, dass die beiden Frauen kurze Zeit später zusammen auf der Toilette des Clubs verschwunden waren, wo Nadine ihre Hand unter Jessicas Kleid und in ihr Höschen geschoben hatte.
Da sie dabei den Reißverschluss seiner Hose öffnete und Nicos harte achtzehn Zentimeter in die Freiheit entließ, hatte Leugnen keinen Sinn. Stattdessen trat er das Gaspedal weiter durch, um schneller zu Hause zu sein, damit er sich voll und ganz auf seine Frau konzentrieren konnte – und auf die gemeinsame Freundin, mit der sie ihn betrogen hatte.
Seine Härte wieder in die Hose zu bekommen war nicht ganz einfach. Auch in ihrem Gefängnis aus Jeans und Reißverschluss war seine Erektion noch deutlich sichtbar und so hoffte Nico, niemandem zu begegnen, auf dem kurzen Stück vom Parkplatz zur Haustür.
Er hatte Glück. Keine Nachbarn, die noch verspätet den Müll rausbrachten oder eine letzte Runde mit dem Hund drehten.
Nur Nadine, die ihn ungeduldig den Hausflur entlang und ins Wohnzimmer zerrte, wo sie ihn direkt aufs Sofa bugsierte und seine feucht glänzende Männlichkeit wieder befreite. Dann entledigte sie sich ihres Höschens, stellte sich über seine angewinkelten Beine und hob den Saum ihres Kleids, sodass er auch ihre Erregung sehen konnte.
Es gefiel ihr scheinbar sehr, mit ihm zu spielen. Unendlich langsam ließ sie sich auf ihn herabsinken, gab seiner Spitze zunächst nur einen feuchten Kuss ihrer Lust, während sie ihm erzählte, wie sie und Jessica sich ein Taxi ins Hotel geteilt hatten und schon während der Fahrt die Finger nicht mehr aus dem Höschen der jeweils anderen lassen konnten. Dann durfte er endlich in sie eindringen, und sie umschloss ihn warm und eng und nahm ihn immer tiefer in sich auf. Sie ließ den Saum ihres Kleidchens los. Er brauchte nicht zu sehen, wie er sie ausfüllte. Es genügte, wenn er sich vorstellte, wie sie ihre Zunge zwischen Jessicas Schenkel geschoben und sie sanft in ihr kreisen gelassen hatte.
Sie beugte sich zu ihm hinunter, gab ihm einen Kuss und ließ ihn ihre Zunge in seinem Mund spüren. Dann führte sie ihre Lippen an sein Ohr.
„Genau diese Zunge“, flüsterte sie verführerisch und schob sie ihm dann wieder in den Mund.
Nico zerriss es fast vor Lust.
Sie richtete sich wieder auf und sah auf ihn herab. Dann stöhnte sie leise, als sie den Rhythmus ihres Beckens von einem sanften Kreisen in eine fordernde Vor- und Rückwärtsbewegung änderte, und ihm dabei erzählte, wie sie Jessicas Finger in sich gespürt hatte, so wie sie ihn jetzt spürte. Bevor sie sich auf ihr umgedreht hatte, um Jessica von ihrer Lust kosten zu lassen. Wie sie einander mit ihren Zungen um den Verstand und schließlich zum Höhepunkt gebracht hatten. In diesem Moment konnte sich auch Nico nicht länger zurückhalten und explodierte förmlich in ihr.
Nadine sank über ihm zusammen. Er spürte ihren warmen Atem an seinem Hals, dicht an seiner pochenden Schlagader. Er zitterte heftig am ganzen Körper und zittrig waren auch seine Worte, als er sagte: „Du hast mich betrogen.“
„Wir haben damals nur gedatet“, hauchte sie warm in sein Ohr und wusste, dass es ihm genügen würde.
Das Pochen in seinem linken Bein weckte Nico, bevor es das Pochen zwischen seinen Schenkeln tun konnte.
Der langsam anschwellende Schmerz riss ihn aus einem Dreier mit Nadine und Jessica, bevor es ein nächtlicher Samenerguss tun konnte. Jessicas Traumgestalt verschwand aus dem Bett. Nadine lag schlafend auf ihrer Seite und hatte ihm den Rücken zugekehrt.
Wenigstens an ihrer Position hatte sich nichts geändert.
Er überlegte, sie zu wecken, um wenigstens einen Teil des Traums in die Realität zu retten, denn sein Penis gierte nach ihr. Doch sein Bein gierte noch wesentlich stärker nach Linderung. Er stahl sich daher aus dem Bett und setzte den linken Fuß vorsichtig auf. Der Schmerz veränderte sich, wurde für einen Moment aggressiver, dann nistete er sich in diesem neuen, stechenden Gefühl ein und gab Nico die Chance, sich an ihn zu gewöhnen. Er schlug mit der flachen Hand auf seinen Oberschenkel ein und hoffte, damit die verwirrten Nervenenden wieder auf Kurs bringen zu können. Eine Art Neustart zu erzwingen. Allerdings mit durchwachsenem Ergebnis.
Er würde es mit Bewegung versuchen!
Er schlich humpelnd aus dem Zimmer, weil er seine Freundin nicht aufwecken wollte.
Nico wanderte durchs Haus. Er belastete und schonte den Fuß abwechselnd, doch nichts brachte die erhoffte Linderung.
Langsam wird es eine Sache für den Doktor, dachte er, als er sich am unteren Ende der Treppe den Schmerzensschweiß von der Stirn wischte.
Er wusste, dass ihm um drei Uhr nachts höchstens die Tür der Notaufnahme im Krankenhaus offenstand und so schleppte er sich fürs Erste ins Badezimmer, durchsuchte den Spiegelschrank über dem Waschbecken und warf schließlich zwei Ibuprofen ein.
Drei Uhr, die Uhrzeit erinnerte ihn an letzte Nacht. Genau zu dieser Zeit hatte sein Telefon geklingelt.
Die Verschollene hatte angerufen.
Doch warum? Sie hatte Spielchen gespielt. Nicht die quälend schöne Art von Spielchen, wie Nadine.
Laura hatte gesagt, sie wisse nicht, wo sie ist. Sie hatte auf blöde, alte Versprechungen aus Jugendtagen gepocht, kurz nachdem die beiden die Schule beendet hatten. Ihren Geburtstag angesprochen. Nichts wirklich Besorgniserregendes.
Dann hatte sie ihn gebeten, sie zu finden. Ohne gehetzt oder ängstlich zu klingen, aber verloren hatte sie sich angehört.
Seine beste Freundin hatte ihn mitten in der Nacht angerufen und ihn um Hilfe gebeten.
Nico wartete nicht, bis die Wirkung der Schmerztabletten einsetzte. Er hatte bereits vierundzwanzig Stunden gewartet. Er kämpfte sich aus dem Sessel auf die Beine und stapfte die Treppe hinauf. So leise es die Mechanik erlaubte, ließ er die Dachbodenluke herunter. Er zog die Leiter aus und setzte das untere Ende fast lautlos auf den Holzdielen vor dem Schlafzimmer ab. Dann stieg er die schmalen Stufen hinauf in Richtung der dunklen, rechteckigen Luke über ihm. Das alte, selten benutzte Holz der Leiter ächzte unter jedem seiner Schritte. Das Humpeln seines linken Beins belastete die Treppe noch zusätzlich.
Er streckte den Kopf in die Dunkelheit des Dachbodens und sah überhaupt nichts. Irgendwo am anderen Ende gab es ein winziges Fenster, durch das der Schornsteinfeger aufs Dach gelangte, aber die Nacht draußen schien heute so allumfassend zu sein, dass nicht einmal der Schimmer des Mondes einfiel.
Nico war lange nicht mehr hier oben gewesen. Wie lange genau konnte er nicht sagen. Er tastete an den vertikalen Balken um sich herum nach einem Lichtschalter. Schließlich fand und betätigte er ihn. Eine einsame nackte Glühbirne flackerte in der Mitte auf, so schwach, dass er den orangenen Draht darin glühen sehen konnte, ohne dass er vom Rest der Lampe überstrahlt und geschluckt wurde.
Nico sah das Licht, aber es erreichte ihn bei Weitem nicht. Ebenso wenig wie die dunklen Ecken des Dachbodens. Es bot ihm eine grobe Orientierungshilfe, mehr nicht.
Er dachte darüber nach, die Leiter wieder hinabzusteigen, um sich eine Taschenlampe zu holen, entschied sich aber dagegen. Er hatte das Knarzen jeder einzelnen Stufe noch gut im Ohr – und spürte jede einzelne von ihnen noch immer im Bein. Bei beidem wollte er sein Glück durch ein weiteres Auf und Ab nicht herausfordern.
Er machte einen Schritt von der Luke weg auf den ersten Dachbalken in Richtung Glühbirne. Im schummrigen Licht konnte er die nächsten drei Balken nur erahnen. Er tastete sich vorsichtig von einem auf den nächsten, weil er wusste, dass die Zwischendecke ihn nicht tragen würde. Es war einer der Dachböden, bei denen man schon mal plötzlich ins Leere trat und dann mit dem Fuß eine Etage tiefer im Raum baumelte. Diesen Schock wollte er Nadine nicht zumuten, und seinem pochenden Bein erst recht nicht den zusätzlichen Schmerz.
Nico wusste, die Dunkelheit zu seiner linken und seiner rechten, wo sich die Dachschrägen immer weiter dem Boden annäherten, war mit Kartons und Kisten gefüllt. Sie standen auf Holzplatten, die über die Dachträger gelegt waren, um mehr Stauraum zu schaffen. Während er in ihrer Mitte von einem Träger zum nächsten balancierte, wünschte er sich, er hätte diese Methode auch für den Mittelgang gewählt.
Nun erreichte er die Glühlampe.
Das war seine Basis, beschloss er.
Er drehte sich einmal im Kreis. Das Licht reichte bis an die ersten Kartons zu jeder Seite heran. Nicht besonders weit also. Er nahm sich vor, bei nächster Gelegenheit den restlichen Dachboden mit weiteren Holzplanken auszulegen und die Glühbirne auszuwechseln, wusste jedoch, dass er sich schon morgen dazu würde zwingen müssen, seine Vorsätze beizubehalten. Was Handwerker-Tätigkeiten anging, war Nico faul und desinteressiert.
Er balancierte auf dem Träger unter der Lampe nach rechts und öffnete den ersten Karton. Er ertastete alte Klamotten und weiter unten Turnschuhe. Der Karton war leicht, deshalb stellte er ihn auf der Zwischendecke zu seiner Rechten ab und zog den nächsten an seine Stelle. Das Klirren und Klimpern aus dem Innern, ließ ihn auf Geschirr tippen. Dieser Karton war zu schwer, als dass er ihn der Zwischendecke zumuten würde. Nico begann Tetris zu spielen. Er schob andere Kartons beiseite, stapelte sie über- und nebeneinander, während er die Inhalte überprüfte.
Als er die erste Kiste mit Büchern und Ordnern fand, schleppte er diese zurück in den Lichtschimmer der Glühbirne und durchwühlte den Inhalt. Romane, Koch- und Sachbücher. Nico brachte den Karton zurück und tauschte ihn gegen den nächsten. Im Schein der Lampe blickte er auf Ordner und Papierkram. Immer noch nicht das, was er suchte, aber es wurde wärmer.
Als er den Deckel des nächsten Kartons öffnete, huschte ihm ein kurzes „Bingo“ über die Lippen.
Fotoalben!
Ein kilo-schwerer Blick in die Vergangenheit. Fluch und Segen des analogen Zeitalters.
Nico konnte die gute alte Zeit förmlich riechen. Die Muffigkeit der Jahre stieg ihm aus der Kiste entgegen. Alterndes Papier, verblasste Farbstoffe und Klebeecken vermischten sich zu einem einzigartigen Duft, den man heute nur noch selten fand.
Nico nahm das erste Album heraus und schlug es auf. Die Zeitreise katapultierte ihn vierzig Jahre zurück. Er hielt gerade seine früheste Kindheit in den Händen. Baby Nico im Krankenhaus in den Armen seiner glücklichen Mutter und seines stolzen Vaters. Das erste Kennenlernen mit den Großeltern und anderen Familienmitgliedern. Die Taufe, die das einzig Christliche war, das seine Eltern ihm je aufgezwungen hatten. Gefolgt von den ersten ein, zwei Jahren seines Lebens, in denen er noch ein nutz- und gedankenloser Klumpen gewesen war. Er hielt ein ganzes Buch voller Erinnerungen in der Hand, an die er selbst keine Erinnerung mehr hatte. Und so verlockend es auch sein mochte, in sie einzutauchen, es war nicht die Vergangenheit, nach der er suchte. Er klappte das Album zu, legte es neben sich auf die Zwischendecke und angelte das nächste aus dem Karton und dann das übernächste, und schließlich das vierte. Er traf seine Familie wieder. Die, die noch lebten, ebenso wie die, die schon lange gegangen waren. Doch es blieb bei kurzen Besuchen, denn sobald Nico ausschließen konnte, dass sich die Fotos, nach denen er suchte, in dem Album befanden, klappte er es zu und legte es beiseite. Als er am Grund des Kartons angekommen war, atmete er zischend aus. Seine Suche war noch nicht vorüber und so durchforstete er weiter den Dachboden und Kiste um Kiste.
„Nico?“ Nadines Stimme ließ ihn zusammenzucken.
Kurz darauf reckte sie ihren Kopf durch die Einstiegsluke. Erst jetzt fiel Nico auf, dass es inzwischen hell genug im Raum war, sodass er sie erkennen konnte. Der matte Schein eines wolkenverhangenen Tages fiel durch das kleine Fenster am hinteren Ende des Dachbodens ein und tauchte das Kistenchaos, das Nico angerichtet hatte, in ein diffuses Licht. Genau wie den verwirrten Ausdruck im Gesicht seiner Freundin.
„Was machst du denn hier?“
„Ich konnte nicht schlafen.“
„Und da dachtest du, du tust was?“
„Weißt du, wo meine alten Fotoalben sind?“, antwortete er mit einer Gegenfrage.
„Äh …“ Sie starrte auf das Chaos um ihn herum. „Du sitzt gerade mittendrin?“
„Ja, aber das sind nicht die, die ich suche.“
„Okay“, sagte sie leicht überfordert und deutete auf eine der hinteren Ecken des Dachbodens. „Vielleicht sind sie ja da drüben.“
Nicos Blick folgte ihrem ausgestreckten Finger und gerade, als er den Stapel geöffneter Kartons erblickte, auf den sie deutete, fügte sie trocken hinzu: „Ach nein, da hast du ja auch schon gesucht.“
Er sah sie vorwurfsvoll an.
„Sorry“, entschuldigte sie sich, allerdings ohne es ernst zu meinen. „Es ist früh morgens und mir war kalt, weil mein Freund nicht im Bett war, um mich warm zu kuscheln, obwohl es Samstag ist.“
Nico verspürte leichte Schuldgefühle.
„Wie spät ist es?“, wollte er wissen.
„Viertel vor neun. Kommst du wenigstens frühstücken?“
Sein Blick wanderte über den Kreis aus Fotoalben, dann über die geöffneten und durchwühlten Kartons um sich herum.
Was er suchte, war nicht hier oben.
„Ja“, sagte er und beschloss das Aufräumen auf seine To-do Liste zu setzen, gleich unter Glühbirne auswechseln und weitere Planken verlegen.
Als er wenige Minuten später die Leiter einklappte und die Dachbodenluke schloss, verschob er das alles auf unbestimmte Zeit.
Nicos Körper saß am Frühstückstisch bei Bacon, Eiern und Croissants, doch seine Gedanken wanderten durchs Haus. In den Keller, wo weitere Kartons lagerten. In die Garage, wo auch die ein oder andere Ecke mit Erinnerungsstücken gefüllt sein könnte.
„Ob du noch was willst, habe ich gefragt“, zwang Nadine ihn gedanklich zurück an den Tisch.
Sie war aufgestanden und hatte die Pfanne mit dem Rührei sowie die Käseplatte in der Hand und wollte augenscheinlich den Tisch abräumen. Nico verneinte mit einem Kopfschütteln.
„Gehts dir gut?“, fragte sie besorgt mit einem Blick auf seinen halb vollen Teller.
„Ja, ich bin nur …“ Er verstummte. „… Laura hat gestern Nacht angerufen“, vollendete er den Satz, den er zugunsten von Nadines Geständnis ihrer sexuellen Eskapaden am vorherigen Abend unvollendet gelassen hatte.
Nadine sah ihn fragend an.
„Meine beste Freundin.“
„Pfft!“, schnaubte sie verächtlich. „Tolle beste Freundin.“
Früher hätte er niemals zugelassen, dass seine Partnerin schlecht über Laura sprach, oder irgendjemand sonst. Er hätte es ihr unmissverständliche klar gemacht und vielleicht sogar die Beziehung beendet. Aber dieses Früher war lange her.
Jetzt war Nadine sein Leben. Und es war ein gutes Leben, das er führte. Das Beste, das er je geführt hatte. Er dachte nicht im Traum daran, sie zu verlassen. Vor allem nicht für jemanden, der ihn verlassen hatte.
„Ja, ich weiß“, sagte er und machte Zugeständnisse, bei denen er sich unwohl fühlte.
„Was wollte sie denn?“, fragte Nadine.
„Ich weiß es nicht“, gestand ihr Nico. „Es war eine Art …“ Er traute sich nicht, das Wort Hilferuf auszusprechen.
„Und, wo hat sie all die Jahre über gesteckt?“
„Sie hat gesagt, sie wüsste es nicht.“
Nadine sah ihn skeptisch an.
„Oh toll! Sie hat also nach zehn Jahren angerufen, um dich zu verarschen.“ Sie sah ihn warnend an. „Und sag jetzt bloß nicht, das würde sie niemals tun.“
Es hatte ihm tatsächlich auf der Zunge gelegen. Er sprach es zwar nicht aus, dachte es aber weiterhin. Gleichzeitig war er gerührt, dass Nadine sich um ihn sorgte und versuchte, die Stimme der Vernunft für ihn zu sein. Sie wusste schließlich, wie sehr ihm Lauras plötzliches Untertauchen zu schaffen gemacht hatte. Damals und auch heute noch.
„Lass uns über etwas anderes sprechen“, versuchte sie ihn vom Thema abzulenken, doch Nicos Gedanken hingen weiterhin in Lauras Spinnennetz.
„Weißt du, wo die Fotoalben aus meiner Schulzeit sein könnten?“, fragte er.
„Keine Ahnung. Ich dachte auf dem Dachboden, bei den anderen.“
Er schüttelte abwesend den Kopf.
Nach dem Frühstück stieg er die Kellertreppe hinunter. Die Glühbirne brannte durch, als er das Licht einschaltete.
Na klasse, dachte er. Als wollte das Haus nicht, dass er Erfolg hatte. Er tastete sich zum selten benutzten Werkzeugschrank hinüber, fand das Fach mit den Ersatzbirnen und tauschte die defekte aus.
Es werde Licht! Nicht besonders viel davon, aber immerhin. Wo kauften sie nur diese verdammten Glühbirnen?
Auch hier unten blieb seine Suche erfolglos. Der Dachboden war die deutlich heißere Spur gewesen.
Er durchwühlte gerade die wenigen Kartons, die in einer Ecke der Garage aufgetürmt waren, als Nadine hinter ihm durchs offene Tor trat. Frustriert ließ er die Kiste mit der Weihnachtsdekoration mit einem Knall und einem darauffolgenden Klirren auf den Boden fallen.
„Tja, das waren dann wohl die Lichterketten“, kommentierte Nadine genervt.
„Sorry“, stieß Nico zwischen den geschlossenen Zähnen hervor.
„Gefunden?“, wollte sie wissen.
Er schüttelte den Kopf.
„Vielleicht sind sie ja beim Umzug verloren gegangen“, vermutete Nadine.
Allein der Gedanke daran stach wie eine Nadel in sein Herz. In seinem Bein sowieso.
Sein Bein! Es brauchte dringend eine Pause. Er trat aus der Garage heraus in den trüben Tag. Die Wolken drängten sich in schmucklosem Grau über ihm. Er setzte sich auf einen der Blumenkübel, die die Einfahrt von der Straße zur Garage hin zu beiden Seiten schmückten und streckte es aus.
„Hast du Schmerzen?“, fragte Nadine.
„Ja, mein Bein spinnt irgendwie rum.“
„Ich hol dir eine Tablette.“
Nico nickte.
„Und dann ruhst du dich mal ein bisschen aus und versuchst, dich zu entspannen“, schlug sie vor. „Du hast heute Nacht immerhin kaum geschlafen.“
Wahrscheinlich hatte sie recht. Er fühlte sich wie ausgekotzt.
Nadine gab ihm kurz darauf zwei Schmerztabletten, die er einwarf und führte ihn zum Sofa, wo sie ihn in eine Decke einwickelte. Dann legte sie Leonard Cohens You want it darker-Platte auf, weil sie wusste, dass Cohens rauchig tiefe Altersstimme eine beruhigende Wirkung auf Nico hatte. Anschließend kuschelte sie sich an ihn und wurde zum kleinen Löffel.
„Hast du nichts Besseres zu tun?“, fragte er und machte ihr damit klar, dass sie ihre Zeit nicht damit vergeuden musste, sich um seine Wehwehchen zu kümmern.
„Besser als das?“, fragte sie, als wäre schon der bloße Gedanke obszön.
Sie griff nach seinem Arm und legte ihn sich um die Hüfte, schob ihre Finger zwischen seine und machte seine Welt damit sofort wieder ein bisschen besser.
Das Display leuchtete auf, kurz bevor das Mobiltelefon brummend kleine Kreise auf Nicos Nachttisch zu drehen begann.
Er hatte es stumm geschaltet, es aber nicht übers Herz gebracht, auch den Vibrationsalarm zu deaktivieren.
Er war sofort hellwach und streckte die Hand nach dem Telefon aus. Als er es berührte, verstummte es. Der Anrufer hatte aufgelegt. Das Einzige, was das leuchtende Display ihm noch verriet, war die Uhrzeit.
Er checkte die Liste der letzten Anrufe, doch sie zeigte nichts an. Keinen Anruf unter unbekannter Nummer. Überhaupt keinen Anruf seit einem kurzen Telefonat, das er am Nachmittag mit seinen Eltern geführt hatte.
Hatte er sich das Vibrieren des Handys nur eingebildet? Vielleicht aus einem Traum mitgenommen und für einen kurzen Moment nach dem Aufwachen die Grenzen verwischt?
Er legte das Telefon wieder beiseite und drehte sich um. Nadines Hälfte des Betts war leer. Die Schlafzimmertür stand offen. Der Flur war dunkel und still.
„Baby?“, fragte er laut, bekam jedoch keine Antwort.
Nico schwang die Beine aus dem Bett und stand auf. Er wollte gerade den ersten Schritt in Richtung Tür machen, als etwas seinen Knöchel umschlang und daran zog. Er verlor das Gleichgewicht und fiel nach vorne.
Er bekam die Hände gerade noch rechtzeitig vor seinen Körper, um den Sturz abzufangen. Trotzdem presste es ihm die Luft aus den Lungen. Nico sah über die Schulter nach hinten. Eine Hand hielt sein Bein knapp oberhalb des Fußes umklammert. Der Angriff war von unter dem Bett gekommen. Mit einem zweiten kräftigen Zug wurde Nico auf den dunklen Spalt zu gezogen.
Nico versuchte, seinen linken Fuß aus dem Griff zu befreien, und trat mit dem rechten nach hinten aus. Von Einbrechern und Mördern bis hin zu Nadine, die sich einen Scherz erlaubte, war er auf alles vorbereitet. Monster schloss er nicht vollkommen aus. Doch Nico hätte nie erwartet, plötzlich in ihre blauen Augen und ihr Gesicht zu blicken.
„Laura!“
Sofort stellte er den Überlebenskampf ein. Sie legte den Zeigefinger auf die schmalen Lippen und bedeutete ihm, leise zu sein.
„Man schreit doch nicht rum, wenn man sich zusammen unter dem Bett versteckt“, flüsterte sie.
„Wie zur Hölle …“ Nico kniff die Augen zusammen und riss sie kurz darauf wieder auf.
Laura war immer noch da. Ihr braunes Haar, das ihr rundes Gesicht einrahmte, das wiederum ihr verschmitztes Lächeln betonte, von den kleinen Grübchen links und rechts ihrer Mundwinkel bis hin zu dem Strahlen ihrer Augen.
„Wie? Was?“ Nico wusste nicht, mit welcher Frage er anfangen sollte.
„Weißt du noch, wie wir uns als Kinder unter dem Bett versteckt haben …“, fragte sie, „… wenn wir etwas Wichtiges zu besprechen hatten.“ Sie legte den Kopf auf ihren Armen ab und lächelte ihn an. „Oder was man halt so für wichtig gehalten hat.“
Nico dachte nach. Er suchte nach der Erinnerung, die sie beschrieb, so wie er nach den Fotos gesucht hatte, die das Gesicht zeigten, in das er gerade blickte.
Wie die Bilder, blieb auch die Erinnerung verloren.
„Nein“, sagte er, als er zu dieser Erkenntnis gelangte. „Wir haben uns doch erst als Jugendliche kennengelernt.“
Das Lächeln auf ihrem Gesicht gefror und begann dann zu schmelzen wie Eis in der Sommersonne. Ihre Mundwinkel senkten sich, die süßen Grübchen verschwanden. Der Glanz in ihren Augen verblasste und wich einer tiefen Besorgnis.
Sie wusste, er hatte recht.
Zusammen mit ihrem Gesicht verfinsterte sich auch der Raum, um die beiden herum.
Schatten wuchsen um das Bett, hüllten Nicos Schlafzimmer ein und verwandelten es in eine heruntergekommene Absteige. Dreckverschmierte Wände, zerbrochene Möbel, mit Brettern vernagelte Fenster. Eine fette Ratte huschte an der Wand am Kopfende des Bettes entlang. Und ein Paar Füße in dreckigen schwarzen Arbeitsstiefeln waren am Fußende zu sehen. Einmal mehr presste Laura den Finger auf die Lippen und sah Nico aus ängstlichen, weit aufgerissenen Augen an.
Plötzlich bohrte sich die Klinge einer Machete durch die Matratze und zwischen ihre Gesichter … trennte Nico und Laura voneinander. Aus Reflex wichen sie beide vor dem silbernen Metall zurück. Dann wurde Laura ruckartig von ihm weggezogen. Sie schrie panisch auf.
Nico reagierte blitzschnell und bekam ihre ausgestreckte Hand zu fassen, hielt sie mit aller Kraft fest, während zwei Meter weiter an ihren Beinen gezerrt wurde.
„Ich hab dich!“, versicherte er ihr, merkte jedoch allzu deutlich, dass sie ihm Millimeter für Millimeter entglitt.
Die Verzweiflung in ihrem Blick wuchs. Der Zug an ihren Beinen auch. Kurz darauf hatte Nico nur noch ihre Finger in seinem Griff.
„Lass mich nicht los“, flehte sie, während die Finger in seinem Griff weniger wurden.
Ein weiterer kräftiger Ruck und sie rutschten komplett aus seiner Hand.
Sie schrie, versuchte, sich am Boden festzukrallen. Ihre Nägel zersplitterten, während sie unter dem Bett herausgezogen wurde.
„Finde mich!“, schrie sie ihm entgegen.
Dann wurde sie gepackt und in die Höhe gerissen, sodass die Matratze Nico die Sicht auf sie versperrte. Er hörte Laura schreien, sah ihre Füße, die wild um sich traten, während sie in Richtung Zimmertür geschleppt wurde.
Nico haderte mit sich. Er musste ihr helfen, aber er war auch ein verschrecktes Tier, das sich kaum rühren konnte. Der Gedanke, unter dem Bett hervorzukriechen und zu erblicken, was er bisher nur hatte erahnen können, ließ seinen ganzen Körper versteifen.
Die Machete steckte noch in der Matratze. Wer auch immer Laura gepackt hatte, war also jetzt unbewaffnet und hatte alle Hände voll damit zu tun, seine wild um sich tretende Gefangene festzuhalten. Laura war sportlich und gut in Form. Sie würde es ihrem Angreifer bestimmt nicht leicht machen. Sie kämpfte gerade um ihr Leben – Nico hingegen lag hier rum und zitterte wie Espenlaub und hoffte, dass wer auch immer sie geschnappt hatte, nicht zurückkam und sich mit ihr begnügen würde. Der scheinbar leichteren Beute.
Gott, was war er nur für ein Freund?
Nico ballte die Hände zu Fäusten und zerriss damit alle unsichtbaren Fesseln, die seinen Körper am Boden hielten. Er rollte unter dem Bett hervor und sprang auf. Er orientierte sich kurz, um auszuschließen, dass ihm in dem heruntergekommenen fremden Schlafzimmer weitere Gefahr drohte, dann rannte er auf die Tür zu und nach draußen in den Flur.
Das ganze Haus war verrottet, hatte nichts mehr mit dem Zuhause gemein, das er mit Nadine teilte. Als hätten sich zwei Ebenen der Realität verschoben.
Silent Hill!, schoss es ihm durch den Kopf. Die Verwandlung des beschaulichen Videospiel-Städtchens in die höllengleiche Parallelwelt, die ihm vor seiner Playstation kalte Schauer über den Rücken gejagt hatte, während er und Laura es nächtelang gemeinsam gezockt hatten.
Jetzt, zwanzig Jahre später, war er auf einmal dort. Er hatte zugesehen, wie sich die Sicherheit seines Schlafzimmers vor seinen Augen aufgelöst und in diesen scheußlichen Ort verwandelt hatte. Dampf zischte aus Rohren über seinem Kopf. Blut und Exkremente waren entlang der Wände verschmiert, manchmal waren die Abdrücke der Hände, die es getan hatten, noch deutlich in den Spuren zu erkennen.
Plötzlich erblickte er Laura.
Der Flur, der sich vor ihm erstreckte, schien endlos zu sein, und wurde von viel zu schwachen, hektisch flackernden Glühbirnen erleuchtet.
Wenigstens das hatte dieser schreckliche Ort noch mit seinem Zuhause gemeinsam.
Die Gestalt, die Laura umklammert hielt, war riesig und brachte bestimmt hundertfünfzig Kilo auf die Waage, ohne dabei dick zu wirken, stattdessen hatte sie die Statur eines Profi-Wrestlers aus den Achtzigerjahren. Da konnte Laura treten und zappeln so viel sie wollte, gegen diesen Koloss kam sie niemals an.
Jetzt erblickte sie Nico. Hoffnung flammte in ihren Augen auf. Sie streckte die Hand nach ihm aus, machte aus den zwanzig Metern zwischen ihnen neunzehneinhalb. Der nächste Schritt des Kolosses korrigierte den Abstand allerdings wieder. Sie schrie gequält seinen Namen.
Wild entschlossen, mit dem Mut der Verzweiflung und in dem Wissen, dass sie vermutlich nicht einmal gemeinsam das Gewicht ihres Gegners auf die Waage brachten, stürmte Nico los, bereit sich auf den Riesen zu stürzen.
Dieser hatte gerade die Hände voll. Das würde Nicos ersten Angriff begünstigen. Außerdem kam er von hinten. Wenn er sein Ziel erreichte, Laura zu befreien, stand es zwei gegen einen. Zumindest wenn sie es nicht schafften, zu fliehen, und sich dem Kampf stellen mussten.
Nico hatte die Hälfte der Strecke zurückgelegt, war bereit zu töten und war bereit zu sterben. Laura schrie nach Hilfe. Nico stieß einen wütenden Kampfschrei aus.
„Nico? Was ist los?“, fragte Nadine erschrocken.
Er kam zum Stehen, sah nach rechts und blickte in das Gesicht seiner Freundin, die ihn entgeistert anstarrte. Hinter ihr befand sich ein Badezimmer, gepflegt und sauber. Beides löste ein Gewitter in seinem Kopf aus. Er kniff die Augen zusammen und öffnete sie dann wieder. Nadine stand vor ihm. Er sah den Flur entlang. Er war zurück in seinem Haus. Ihrem Haus. Am Ende ihres Flurs wartete kein hundertfünfzig Kilo Koloss, den es zu bekämpfen galt. Und auch keine Laura, die er retten musste. Die Hölle war verschwunden. Er war in Sicherheit und Laura war … weg.
Nicos Herz hämmerte wild in seiner Brust. Das Adrenalin rauschte durch seinen Körper. Er schnaufte heftig, konnte noch immer nicht richtig einordnen, was geschehen war. Er rechnete damit, dass die Idylle um ihn herum jederzeit wieder kollabieren und der Horror zurückkehren würde. Als Nadine ihre Hand auf seine Wange legte, zuckte er erschrocken zusammen.
Er zitterte am ganzen Körper. Wieder etwas, das Hölle und Zuhause gemeinsam hatten.
„Gott, was ist denn los mit dir?“, fragte Nadine besorgt und schob ihre Hand von seiner Wange hoch zu seiner Stirn. „Du glühst ja richtig.“
Doktor Möller schob Nico das Stäbchen in den Mund, drückte sanft seine Zunge nach unten und leuchtete den Rachenraum mit der kleinen Stablampe ab.
„Da sieht es auch gut aus“, befand er und das Stäbchen verschwand wieder aus Nicos Mund.
Zuvor hatte er bereits seine Ohren gecheckt, seinen Puls gemessen und Brust und Rücken abgehört. Er hatte keine einzige Notiz auf dem veralteten Patientenbogen aus Papier gemacht, der neben dem selten angerührten Computer des Arztes auf dessen Schreibtisch lag. Alles schien in Ordnung zu sein.
„Körperlich sehe ich keine Anzeichen für einen Infekt“, erklärte er folglich.
Nico glaubte dem weißhaarigen Mann. Es fiel ihm leichter, Ärzten zu vertrauen, deren Haar die gleiche Farbe wie ihr Kittel und ihre Praxis hatten. So war es schon immer gewesen. Sein Arzt musste der Generation seiner Eltern entstammen. Mindestens. Ein Opa war fast noch besser. Er hatte mal in einem Artikel gelesen, dass ältere Ärzte oft in altmodischen Methoden festgefahren wären und seltener Fortbildungen besuchten, aber das war ihm egal. Diese Entscheidung war keine rationale, es war eine Bauchsache. Er musste sich bei seinem Arzt wohlfühlen und das konnte er nicht, wenn er sich vorstellte, dass sie den gleichen Lebensweg genommen hatten.
Nico kannte schließlich seine jungen Jahre und wusste, dass sie wild gewesen waren. Das Abitur, das abgebrochene Studium, die endlosen Nächte. Er konnte sich nur schwer den Händen eines Mannes anvertrauen, von dem er sich vorstellte, dass sie all das ebenfalls durchgemacht hatten. Er wusste, wie jung und unvernünftig er sich heute noch manchmal fühlte – oder benahm. Sah er sich selbst im Arztkittel im Türrahmen einer Praxis stehen, würde er jeden verstehen, der die Beine in die Hand nahm und nicht mehr zurückschaute.
Doktor Möller nahm auf der anderen Seite des Schreibtischs Platz und überflog Nicos Patientenakte.
„Und die Albträume?“, hakte Nico nach. „Und das …“ Er zögerte, das Wort Schlafwandeln auszusprechen, weil er nicht das Gefühl hatte, dass er das tatsächlich getan hatte. Die Kombination aus dem, was Nadine als Albträume und Schlafwandeln bezeichnet hatte, fühlte sich für ihn auch heute, am nächsten Tag, noch absolut real an.
„Das Schlafwandeln?“, schlug sich der Arzt auf die Seite seiner Freundin.