Die besten Geistergeschichten aus aller Welt -  - E-Book

Die besten Geistergeschichten aus aller Welt E-Book

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Beschreibung

Die Lust am Gruseln und Nervenkitzel scheint dem Menschen angeboren: Seit jeher treiben Dämonen, Hexen, Vampire, Werwölfe und zahlreiche andere bösartige Kreaturen in der Literatur und seit dem 20. Jahrhundert ebenso in Filmen und Computerspielen ihr Unwesen. Mit dem vorliegenden Band setzt Erich Ackermann seine »besten Geistergeschichten aus aller Welt« fort und versammelt erneut neben schauerlichen Geschichten und Märchen des Volksglaubens fantastisch-gespenstische Erzählungen der großen Weltliteratur. Tauchen Sie ein in die Reiche der dunklen Magie und des Aberglaubens – Gänsehaut garantiert!

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Seitenzahl: 690

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Die bestenGeistergeschichten aus aller Welt

Herausgegeben und mit einem Vorwort von Erich Ackermann

Anaconda

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der ­Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält ­technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

© 2023 by Anaconda Verlag, einem Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagmotiv: »The Flying Ship is a ship that wandered through the seas bringing misfortune to the ships that crossed its way«, kolorierter Kupferstich, Privatsammlung © Giancarlo Costa / Bridgeman Images

Covergestaltung: www.katjaholst.de

Satz und Layout: Achim Münster, Overath

ISBN 978-3-641-31157-5V001

www.anacondaverlag.de

Inhalt

Vorwort

Die Geister in der Spinnstube

Die weiße Herberge

Die Wäscherinnen der Nacht

Draculas Gast

Das Spukhaus in Athen

Die Braut von Amphipolis

Der Gespensterbräutigam

Das Sätermädchen

Der Küster von Mörkaa

Der Andreasabend

Zusammenkunft der Toten

Das Gespenstermahl

Der Totengräber und die Gespenster

Ein weiteres Geistermahl – diesmal in Flensburg

Das Gespenst am Brunnen

Der wilde Jäger

Des Teufels Freischütz

Raunacht-Abenteuer

Der schwarze Geisterhund von Dorset

MacPhies schwarzer Hund

Tam o’Shanter und Cutty Sark, die Hexe mit dem kurzen Hemdchen

Die nächtlichen Kirchgänger

Julspuk

Die Christmesse in der Wildermänner Kirche

Die Totenmette

Wer weiß!

Die Überfahrt der Totengeister

Ein Besuch in der Anderswelt

Die Sage von der schläfrigen Schlucht (Sleepy Hollow)

Der Sargmacher

Die Strafe nach dem Tode

Die Geisterkutsche

Die schwarze Prinzessin

Eine Vision Karls des Elften

Das Seegespenst

Der fliegende Holländer

Die Höhle von Steenfoll

Die Banshee von Bunworth

Das verwünschte Schloss

Der Bahrgeist

Die dankbaren Toten

Auf dem Wasser

Geschichte des Fischers mit dem Geist (Dschinni)

Sigurd und das Gespenst

Cyprians Spukgeschichte

Die weiße Frau

Eine Geistergeschichte am Broadway

Die Nordlichtgeister

Ein Poltergeist vom platten Lande

Das Irrlicht

Das Totenhemd

Nornagest

Grettir der Starke und der ­Wiedergänger Glam

Das Gespensterhaus in der Oxford Street

Die zwei alten Bäume

Der Tod und die alte Frau

Der Totenarm

Das gebückte Mütterchen

Die Geisterküche

Ligeia

Anne Lisbeth

Ein Vampir im hohen Norden

Das Mädchen und der Vampir

Das Gespenst in Fjelkinge

Nächtliche Heimsuchung in Croglin Grange

Der Werwolf im Feenwald

Der Werwolf in Ottensen

Der tote Gast

Ursprung der bösen Geister

Der wilde Hund

Das tote Mädchen

Die Geister der Erhängten

Die Nacht auf dem Schlachtfeld

Die gespenstische Füchsin

Miura Takeschi

Die Vampirkatze

Juki-onna, die Schneefrau

Das Land des Todes

Der rote Bär Ta-ku-ka

Die Blutblume – Die Rache der Geister

Tschibi oder die zwei fettessenden Geister

Die Totenbraut

Quellenverzeichnis

Vorwort

Die Geister aller Art gehören in den großen Bereich des Übernatürlichen, welches nicht den Gesetzen der Natur unterworfen zu sein scheint und Wesen und Gebilde nicht physischer Art umfasst, die nur auf der Vermutung beruhen. Solche übernatürlichen Deutungen der Welt sind in allen Religionen zu finden und betreffen die Frage nach der Gottheit schlechthin, den himmlischen Wesen, den Prophetien, den Wundern, dem Himmel und der Erde, dem Weiterleben nach dem Tod, finden sich aber auch im Aberglauben aller Völker bei der Annahme von Geistern und Dämonen, die einen magischen Raum beherrschen. Die Annahme von Geistern ist ein nicht auf dem Verstand gegründeter Glaube, der von der Furcht und dem Nichtwissen um die wirklichen Gegebenheiten gespeist wird und gewissen Erscheinungen im physischen wie auch im psychischen Gebiet einen dämonischen und magischen Ursprung zuerteilt. Ursprünglich sind die Dämonen oder Geister bei den Griechen neutrale Wesen, die eine Mittelstellung zwischen den Menschen und Göttern einnehmen und mit ihnen in Verbindung stehen; erst das Christentum hat diese antiken wie auch die germanischen Geistwesen diabolisiert, weshalb der Begriff Dämon auch heute noch mit dem Bösen assoziiert wird. In unseren Geistergeschichten allerdings werden die Begriffe Dämonen und Geister als Synonyme gleichgesetzt.

Kulturgeschichtlich entstammt der Glaube an Geister dem Animismus der frühen Völker. Er ist eine Vorstufe der später überall entwickelten Religionen und will die Ursachen der Dinge in der Umwelt erklären. Es ist der Glaube an eine vitale Kraft in allen Lebewesen, aber auch in den Dingen, die den Menschen umgeben wie etwa Felsen, Flüsse und meteorologische Erscheinungen, der sich in der Beseelung der Welt mit Geistern manifestiert. Diese können für den Menschen sowohl eine bedrohliche als auch eine schützende Wirkung haben. Solche übernatürlichen Wesen sind Hausgeister, Spukgeister, die meist als Gespenster auftauchen, und vor allem auch Totengeister. Ihre äußere Gestalt kann anthropomorph sein, wie es meist beim Gespenst der Fall ist, theriomorph wie beim Werwolf, kann zwischen Mensch und Tier wechseln; sie kann auch ein reines Produkt der menschlichen Fantasie sein, welches dann meist ein gefährliches Ungeheuer ist, wie es oft in der Mythologie (Chimären, Meeresdrachen) vorkommt, oder auch dinglicher Art wie das Irrlicht in Mooren und Sümpfen.

Bei dieser Geisterwelt, die im Leben der Menschen und in der Welt aktiv ist, gibt es keine Unterscheidung zwischen dem Natürlichen und dem Übernatürlichen, weil der gesamte Kosmos, sichtbar wie auch unsichtbar, als natürlich angenommen wird. Neben Phänomenen wie Stürmen, Hungersnöten, Unfällen und allem anderem Missgeschick, das dem Menschen widerfahren kann, soll die Geisterwelt aber auch der ganz elementaren Umwelt mit all ihren Geheimnissen eine Deutung geben. So sind auch die vier klassischen Elemente Feuer, Wasser, Luft und Erde als Elementar- oder Naturgeister Personifikationen dieser Elemente. Der Arzt und Naturphilosoph Theophrastus Paracelsus(1493–1541) hat eine Theorie und eine Hierarchie dieser Elementargeister aufgestellt und spricht von Silvanen, Faunen, Satyrn, Panen, Nymphen, Najaden, Nereiden, Dryaden und Sylphen u. a.

Es ist die meist unbewusste Angst vor dem Unerklärlichen, dem Fremden, dem Unbestimmten, welche eine solche Geisterwelt entstehen lässt. Der Glaube an die Geister will all die Phänomene der Umwelt, die auf den Menschen, und vor allem den unaufgeklärten, zukommen und die in seine alltägliche und vertraute Umgebung einbrechen, erklärlich machen. Im Urgrund ist das Unheimliche das, was draußen liegt, nicht im Heim drinnen. Die Unwissenheit gegenüber dem Draußen lässt beim Menschen in seinem Drinnen, der eigenen Psyche, Gestalten und Geschehnisse entstehen, die dämonisch sind. Geister sind in diesem Sinne psychische Realitäten, Projektionen der eigenen unbewussten Psyche auf vermeintlich äußere magische übernatürliche Wesen. Neben der Angst vor der äußeren Umwelt spielen hierbei auch die verborgenen Ängste vor dem unbekannten Abgrund in uns selbst eine entscheidende Rolle. Dass das Gespenst nicht nur eine Projektion nach außen, sondern auch eine nach innen in die eigene Seele ist, bezeugt eine schöne, vom griechischen Schriftsteller Plutarch (um 45–125 n. Chr.) überlieferte Geschichte: Als der Cäsarmörder Brutus sich auf der Flucht auf hoher See befand, sieht er ein fürchterliches Gespenst vor sich stehen. Auf die Frage, wer es denn sei, gibt ihm dieses zur Antwort: »Dein böser Geist, Brutus. Bei Philippi sehen wir uns wieder.« Und so geschah es denn auch. In der Schlacht bei Philippi (42 v. Chr.) wird Brutus wie andere Cäsarmörder auch fallen. In dieser Geschichte ist das Gespenst das eigene böse Gewissen, das der antike Mythos in den Erinyen und Furien personifiziert. Die Angst vor der eigenen Psyche gebiert für Brutus den Horror. Das Gespenst befindet sich nicht irgendwo außerhalb, Brutus selbst ist es.

Hinter der Tatsache, dass zumal der unaufgeklärte Mensch in und um sich das Dämonische walten sieht, verbirgt sich ein tiefes und dauerndes Gefühl des Misstrauens gegenüber der Wirklichkeit. Auch dem Menschen, der die Welt rational zu erkennen und zu deuten weiß, wohnt archetypisch ein Ahnen übernatürlicher Dinge inne, eine Grundempfindlichkeit der Angst vor dem Unheimlichen, die sich vor nichts Bestimmtem fürchtet, sondern vor der Welt dahinter, die unwillkürlich in unsere vertraute Welt einbrechen kann. Das Unheimliche an sich erregt Schrecken und Grauen; für den Philosophen Martin Heidegger (1889–1976) ist es keine konkrete Furcht, sondern »ein existentiales Gestimmtsein des Nicht-zuhause-seins in der Welt«. Für den Begründer der Psychoanalyse Sigmund Freud (1856–1939) ist das Unheimliche dem Seelenleben des Menschen vertraut, aber durch den Prozess der Verdrängung ins Unbewusste entfremdet worden. Aber dieses Unheimliche ist nicht verloren gegangen, in Träumen, Visionen, fantastischen Erzählungen und schlimmstenfalls in Wahnvorstellungen kehrt es zurück.

Der Schauer angesichts des Dämonischen und Unheimlichen hat sich mit der Weiterentwicklung des Menschengeschlechts vom mythischen zum logischen Denken nicht verflüchtigt, er hat nur eine andere Dimension angenommen. Geistergeschichten, die früher die Bauern um das winterliche Feuer geschart hatten, waren für den damaligen Rezipienten wahr. Das magische Weltbild schenkt der Existenz von zwei Welten, deren Grenzüberschreitung fließend ist, unbedingten Glauben. Der heutige Mensch glaubt nicht an das Dämonische, es überfällt ihn einfach von Zeit zu Zeit, worin sich in der modernen Industriegesellschaft auch die Empfindung widerspiegelt, einer geheimnisvollen, unbekannten Welt ausgesetzt zu sein, die im Grunde nur noch bedrohlich ist.

Der Glaube an eine Geisterwelt hat sich seit alters her in Sagen und Erzählungen niedergeschlagen, die den bedrohlichen Phänomenen eine Gestalt gegeben haben, deren Formen vielfältig sind. Die Erlebnisberichte über die Erscheinungen des Übernatür­lichen in Volksglauben und Volkssagen zeugen von einer subjektiven Glaubwürdigkeit der Tradition; für den früheren Rezipienten waren sie wahre Geschehnisse, die das Element des Schauervollen, des tremendum, vor dem es sich zu fürchten gilt, mit dem des ­fascinosum, das den Menschen fesselt und in seine Bann zieht, verbindet, so der Religionswissenschaftler Rudolf Otto (1869–1937).

Die Projektion bedrohlicher Bilder und die Umsetzung von Schreckenserlebnissen oder solcher Empfindungen in Erzählungen sind universelle kulturelle Phänomene. Kristallisation und Hauptmotiv dieser Angst vor dem Unheimlichen in allen Kulturkreisen sind der Tod und essenziell mit ihm verbunden die Nacht, die eigentliche Zeit der Toten. Wie viele Menschen, die sich auch heute noch frei von jedem Aberglauben dünken, werden in der Nacht, wenn die Psyche empfindsamer frei liegt, vom Schauer vor diesem Unheimlichen gepackt, mögen sie auch beim ersten Hahnenschrei ihre Leichtgläubigkeit belächeln und skeptisch sein! Die Unwissenheit von all dem, was in der Umwelt vor sich geht, ist ja schon am helllichten Tag beängstigend, umso mehr verstärkt sie sich auch im emotionalen Bereich noch in der Dunkelheit, zumal der Mensch physiologisch ein Tagtier ist, das mit seinen Augen die Finsternis nicht zu durchdringen vermag. In den im Volksglauben überlieferten Geistergeschichten zeigt sich die Ambivalenz dieser Totengeister, die zum einen als verehrungswürdige Ahnen erscheinen, dann aber auch immer wieder als bösartige Dämonen, die fürchterlich ins Dasein der Lebenden eingreifen.

Einzelne Motive und Gestalten in diesem Pandämonium der Angst sind archetypisch und finden sich in den Gruselgeschichten vieler Kulturen wieder wie etwa:

Naturgeister aller vier Elemente; Hausgeister; Poltergeister; Aufhocker; Todesboten; die unerlöste Seele; anthropomorphe Gespenster, die nicht erlöst und zu einer ewigen Fahrt verurteilt sind; Verkörperungen des Todes; die Zusammenkunft der Toten z. B. zu einer Geistermesse; der personifizierte Tod, der z. B. als Gerippe den Lebenden erscheint (bretonischer Ankou); Lebendtote; Wiedergänger; Vampir; Werwolf; der Tod als Bräutigam; unheimliche Tiere (schwarzer Hund, schwarze Katze); Stillstand der Zeit, in der die Toten wie z. B. an Samuin (Halloween) an die Stätte ihres früheren Lebens zurückkehren; Nachtmahr oder Nachtalb; Monster, die ihrer Gestalt nach undefinierbar sind; das unsichtbare bedrückende Ding, das auf unerklärliche Weise einfach da ist und tötet oder verletzt; Geisterschiffe; Geisterkutschen und Leichen aller Art auf Friedhöfen in aller Welt!

Neben den Sagen, die dem Volksglauben entspringen, hat sich auch früh schon die Geistergeschichte literarisch niedergeschlagen. Neben einigen Geistergeschichten aus der Antike wie bei Plautus und Plinius und den Dämonen aus Tausendundeiner Nacht wie den Dschinn, Ghulen und den Ifrit (Afrit) sind auch solche aus dem alten China und Japan überliefert. So enthält das Werk DieGeschichte des Prinzen Genji der japanischen Hofdame und Schrifstellerin Murasaki Shikibu aus dem 11. Jahrhundert Geistergeschichten und erzählt von Personen, die von Geistern besessen sind; in China ist es der Dichter Pu Songling, der im 17. Jahrhundert fantastische Geschichten von übernatürlichen Wesen erzählt, in denen vor allem die Fuchsgeister eine große Rolle spielen. Den eigentlichen Aufschwung erlebten aber die Geistergeschichten in Europa nach dem rational geprägten Zeitalter der Aufklärung mit dem Beginn der Romantik, wobei vor allem E.T.A. Hoffmann (1777–1822) prägend war. In England sind es Schauergeschichten, die in den Werken der gothic novel dem Leser wohliges Gruseln bereiten, gefolgt von den Erzählungen des Viktorianischen Zeitalters, welche die große Welle der fantastischen Horrorliteratur des 20. Jahrhunderts vorbereiten, die sich auch bis heute in den Medien Film und Internetspielen u. a. größter Beliebtheit erfreuen. Das gleiche gilt für die Literatur des 19. Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten (Washington Irving, Edgar Allan Poe), in Russland (z. B. NikolaiGogol, Alexander Puschkin) und in Frankreich (Guy de Maupassant, Prosper Mérimée).

Menschen brauchen wohl vor allem beim Erwachsenwerden solche Grusel erzeugende Geschichten, um Urängste zu verarbeiten und unschädlich zu machen. Typisch dafür ist das Grimmsche Märchen Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen. Es zeigt deutlich auf, dass Angst durch aktive Suche erlebt und unschädlich gemacht werden muss, wodurch dann der Mensch reift. In diesem Sinne also haben Geistergeschichten mit ihrem Potenzial an Schauer eine kathartische Wirkung, die weit über die äußerliche Gänsehaut hinausgeht. Dadurch dass innere Konflikte und verdrängte Gefühle aktiv ausgelebt werden, verlieren sie ihren Schrecken.

Die Geister in der Spinnstube

In jedem Dorf gibt es eine Spinnstube. Die Spinnstube heißt bei uns auch Lichtkarz. Abends im Winter, wenn alles ausgeschafft ist im Stall und in der Scheune, dann nehmen die ledigen Mädchen ihre Kunkeln* und gehen zum freundlichen Nachbarn, der eine große Stube hat und umsonst einheizt und umsonst Licht gibt, und bleiben dort oft bis zwölf oder zwei Uhr des Nachts und spinnen. Zu Hause, wenn man zu lieb einbrennen müsste und Licht hertun, würde das Spinnen wenig Nutzen bringen, der Gulden käme auf achtzehn Batzen.

Allein so ganz umsonst tut’s der Spinnstubenhalter auch nicht, und das Spinnen ist auch nicht immer die Hauptsache. Da kommen die ledigen Burschen, welche ihren Schatz in der Spinnstube wissen, um die Kunkel zu heben. Das Kunkelheben ist aber nichts anders, als eine verliebte Unterhaltung, wobei es an derben Späßen nicht fehlt. Die Burschen kommen nicht leer, sondern sie bringen etwas mit, nämlich Wein und oft auch Fleischwaren, und der Spinnstubenhalter bekommt immer am meisten davon, und oft noch Geld dazu, damit er’s leide, wenn’s die Burschen oft zu toll treiben.

Das Kunkelheben ist aber noch nicht wieder die Hauptsache. Eine noch größere Hauptsache ist das Patschen oder Schwatzen. Da ist die Frau des Spinnstubenhalters, und vielleicht noch ein paar andere Frauen, oder heiratslustige Witwen, die geben den Ton an, und es wird erzählt, was vorgefallen ist den Tag über, und einander im Vertrauen mitgeteilt, was man diesem oder jenem nachsagt, dass der Hansjörg gestohlen habe und die Mariebärbel schwanger sei, und es ist eine ärgere Klatscherei als nur in irgendeiner Kaffeevisite eines Landstädtchens.

Das Klatschen ist aber auch wiederum nicht die größte Hauptsache, die allergrößten Hauptsachen sind die Geister.

Die Abendunterhaltung in einer Spinnstube wäre gar nichts, wenn man nicht am Ende auf die Geister käme. Was ist ein Geist? Ein Geist ist ein Gespenst, und ein Gespenst ist die Seele eines Abgeschiedenen, aber keine unsichtbare Seele, sondern eine sichtbare, denn sie muss zu ihrer Strafe und Qual eine bestimmte Zeit auf dieser Erde herumwandeln. Es gibt darum keine guten Geister, sondern lauter schlimme. Der Gründe, warum einer laufen muss oder geistert, gibt es verschiedene. Entweder hat er ein Verbrechen begangen, das allzu groß erscheint, als dass es Gott sogleich verzeihen könnte, oder aber, und öfter, war er ein Reicher, der dem Armen sein wenig Hab und Gut abzwackte, um sich nur allein gütlich damit zu tun, oder ein Amtmann, der die Bauern schund, dass sie die Lasten kaum erschwingen konnten, oder ein Edelmann, der seine Untertanen plagte, dass sie alle ihre Zeit mit Frondiensten hinbringen mussten, ohne für Weib und Kind etwas verdienen zu können. Die Orte, wo die Geister sich aufhalten, sind ebenfalls verschiedener Natur. Meistens sind es die Kirchhöfe, und es gibt kein ehrliches Schwabenmädchen, das abends, wenn es bereits dunkelt, an einem solchen Ort vorbei oder gar da­rüber ginge. Um zwölf Uhr über einen Kirchhof gehen, hieße Gott verachten. Allein auch andere Orte gibt’s. Jener reiche Bauer muss in seinem eigenen Hause laufen; im Keller, wo er sein Geld vergraben hat; oder auch Treppe auf, Treppe ab, und rumort herum und schlägt die Türen zu und reißt die Schubladen auf, und es klingt, als ob er Geld zählte. Oder ist es ein Acker, der unrechtmäßig erworben wurde und an den nun die Seele festgebunden ist, als an den Ort ihrer Qual, oder ein Lindenbaum, unter dem in früheren Zeiten einer erschlagen wurde, oder ein verlassenes Kloster, oder ein alter Turm, der Rest von einem Schloss, das früher da gestanden hatte, oder das Amtshaus, das jetzt in ein Schulhaus verwandelt ist. Man sieht, dass die Geister eine große Auswahl haben, wo sie laufen wollen. Ein Geist ist übrigens sehr leicht zu erkennen. Entweder sieht man gar nichts und hört bloß einen Lärm oder man sieht nichts als ein kleines Flämmchen gleich einem blauflammenden Lichte, das hin und her hüpft, bald da, bald dort, jetzt verschwindet und nun wieder auftaucht und hauptsächlich an sumpfigen Gegenden zu treffen ist. Oder ist’s ein Hund, ein schwarzer Pudel mit funkensprühenden Augen, der immer in Krümmungen sich umherbewegt und aussieht wie der lebendige Teufel, oder ist’s ein Schimmel mit drei Füßen, oder ein Rappe, der Feuer und Flammen speit, und oben drauf sitzt einer und klatscht mit der Hetzpeitsche, als ob er die Bauern prügeln wollte. Am erschrecklichsten ist’s, wenn der Geist einem Menschen gleichsieht. Man trifft diesen hauptsächlich auf Kreuzwegen und an größeren Steigen. Bald sieht er übermenschlich groß aus, wie ein in Nebel zerfließender Riese, bald macht er sich wieder klein wie ein Zwerg. Kommt ein Wagen, so hängt er sich an die Räder, wenn’s den Berg hinaufgeht und sperrt, dass die Pferde keuchen und schwitzen und doch nicht vom Flecke kommen; wenn’s aber hinuntergeht, so hängt er sich vorne an und zieht für acht Pferde und kein Halten hilft mehr etwas, im Galopp geht’s hinunter und Ross und Wagen stürzen zusammen am Fuße des Berges. Kommt dagegen ein einsamer Wanderer, so gesellt er sich zu ihm wie einer, der desselben Weges kommt, plötzlich aber nimmt er einen Fuß oder einen Arm von sich und schleudert ihn weit weg, und dann noch einen Arm und noch einen Fuß und dann den Kopf und rollt ihn vor sich her wie eine Kegelkugel und hüpft ihm nach mit dem Rumpf, und den Wanderer ergreift Grausen und Entsetzen und er läuft, was er laufen kann, über Stock und Stein, immer aber hinter sich drein hört er das heisere Lachen des Geistes und er läuft die ganze Nacht hindurch und dennoch findet er sich des Morgens an demselben Plätzchen, von dem er ausgegangen, und es ist keine Veränderung mit ihm vorgegangen, als dass er todmüde ist vom Schrecken und der Anstrengung.

Solche Dinge erzählt man sich in den Spinnstuben; Geschichte folgt auf Geschichte, immer eine gräulicher als die andere. Niemand von allen, die da sind, hat noch einen Geist gesehen, aber der Hansjörg hat’s erzählt, und des Hansjörg’s Großmutter hat ihn auch gesehen, und alle glauben steif und fest daran, und keine Predigt des Pfarrers und kein Räsonieren der Freigeister im Wirtshaus bringt den Glauben aus den Leuten heraus. Das Kindsmädchen hat das Kind schon mit solchen Geschichten zur Ruhe gebracht, und was man in zartester Jugend empfangen, das bleibt das ganze Leben hindurch. Einen Vorteil hat der Geisterglauben: er ist ein Femgericht** über die Toten. So wie einer was Schlechtes begangen, wenn’s auch nicht vor Gericht bestraft wurde, sondern bloß im Munde des Volkes bekannt ist, alsbald heißt es: er geht.

Mitternacht ist nun längst vorüber. Gesponnen ist zwar nicht viel geworden, aber es ist Zeit, nach Hause zu gehen. Kann aber das Mädchen allein nach Hause gehen? Es wäre ihr zu grausig zumute; ihr Bursche muss sie begleiten. Und er begleitet sie bis ans Haus hin und oft auch bis ins Haus hinein, und geht erst des Morgens nach Hause.

Geschichte aus dem alten Schwabenland

*Eine Kunkel ist eine alte Bezeichnung für Spinnrocken.

**Das Femgericht ahndete im Mittelalter Kapitalverbrechen wie etwa Raub, Brand, Mord, Vergewaltigung, Fälschung, Meineid und Kirchenfrevel.

Die weiße Herberge

Einst gab es in dem kleinen Dorf Le Ponthou, das im Finistère liegt, eine Herberge, die man wegen der weißen Farbe ihrer Fassade Die weiße Herberge nannte. Die Wirtsleute waren grundehrlich; jedes Jahr hielten sie gewissenhaft ihre Ostern, und man brauchte bei ihnen die Zeche nicht nachzuzählen. Viele Reisende stiegen dort ab, und ihre Pferde kannten die Stalltüre der Herberge so gut, dass sie von allein davor stehen blieben.

Der Herbst, den die Bretonen Dibenn-éost, den Enthaupter der Ernten nennen, hatte begonnen, die Tage kürzer und trüber zu machen. Als nun eines Abends Floc’h, der Wirt der Weißen Herberge, vor der Tür stand, kam ein Reisender angeritten, der wie ein bedeutender Mann aussah und ein Pferd hatte, das nicht aus der dortigen Gegend zu stammen schien. Er hielt an der Schwelle an, grüßte mit der Hand an seinem Hut und sprach zum Wirt: »Ich möchte hier zu Abend essen und für die Nacht ein Zimmer für mich allein.« Floc’h nahm mal zuerst seine Pfeife aus dem Mund, dann seinen Hut vom Kopf und antwortete:

»Gott segne Euch, mein Herr! Euer Abendessen werdet Ihr bekommen; aber ein Zimmer für Euch allein können wir Euch nicht geben, denn wir beherbergen da oben noch sechs Maultiertreiber, die nach Redon zurückkehren und die sechs Betten der Weißen Herberge in Beschlag nehmen.«

»Mein Gott, guter Mann«, antwortete ihm da der Fremde, »versucht doch bitte, dass ich die Nacht über nicht draußen bleiben muss.

Die Hunde haben einen Zwinger, und es ist nicht gerecht, dass Christenmenschen bei so einem Wetter keine Stelle finden können, wo sie ihr Haupt hinbetten können.«

»Fremder Herr«, sagte dann der Wirt untröstlich, »ich kann Ihnen nur sagen, dass die Herberge voll ist, und dass nur das rote Zimmer noch frei ist.«

»Na gut«, dann der Unbekannte, »dann gebt mir dieses!«

Aber der Wirt kratzte sich am Kopf und wurde traurig, dass er dem Reisenden das rote Zimmer nicht geben konnte.

»Seit ich hier Wirt in der Weißen Herberge bin«, sagte er dann schließlich, »haben nur zwei Männer in diesem Zimmer übernachtet, und am folgenden Morgen waren ihre Pferde, die am Abend noch schwarz waren, ganz weiß.«

»Habt Ihr hier denn hier wiederkehrende Tote, guter Mann?«, fragte da der Fremde.

»Ja, die gibt es hier in der Tat«, murmelte Floc’h.

»Na dann, bei der Güte des Lieben Gottes und der Jungfrau Maria, macht mir im roten Zimmer Feuer und legt eine Wärmflasche ins Bett, denn mir ist kalt.«

Der Wirt tat dann, was der Reisende verlangt hatte. Als dieser nun zu Abend gegessen hatte, wünschte er allen, die noch am Tisch saßen, eine gute Nacht und ging dann nach oben ins rote Zimmer. Der Wirt und seine Frau aber zitterten am ganzen Leibe und begannen zu beten.

Als der Reisende oben in seinem Zimmer war, schaute er um sich. Es war ein großes feuerrotes Zimmer, mit großen Flecken an der Wand, die leuchteten so, dass man hätte glauben können, sie seien mit noch frischem Blut gemalt. Hinten im Raum stand ein viereckiges Bett, das von großen Vorhängen umgeben war. Sonst war alles leer im Zimmer, und man hörte den Wind im Kamin und in den Fluren heulen und klagen, als seien es Seelen, die um Gebete flehten.

Der Reisende kniete nieder, betete ganz leise zu Gott und ging dann furchtlos zu Bett; bald war er auch schon eingeschlafen.

Aber als es gerade von der fernen Kirche her Mitternacht schlug, wurde er wach und hörte, wie sich die Bettvorhänge an ihren Stangen bewegten und sich zu seiner Rechten öffneten. Als er aus seinem Bett heraussteigen wollte, stießen seine Füße an etwas Kaltes und voller Entsetzen wich er zurück: Vor ihm stand ein Sarg mit vier Kerzen an seinen vier Ecken, und das große schwarze Leichentuch darüber war mit weißen Tränen übersät. Schnell schwang sich der Reisende auf die andere Seite des Bettes, und sogleich auch war der Sarg auch dahin gekommen und versperrte ihm wieder den Weg. Fünf Mal versuchte er, aus dem Bett herauszukommen, und fünf Mal stellte sich der Sarg mitsamt Kerzen und schwarzem Tuch vors Bett unter seine Füße.

Da begriff der Reisende, dass es ein Toter war, der ihn um etwas bitten wollte. Er kniete in seinem Bett nieder, bekreuzigte sich und sagte:

»Wer bist du, Toter? Sprich! Ein Christ hört dir zu.«

Da erhob sich aus dem Sarg eine Stimme:

»Ich bin ein Reisender, der von den Wirtleuten, die vor den jetzigen diese Herberge hatten, ermordet worden ist. Ich bin im Zustand der Sünde gestorben und muss jetzt im Fegefeuer büßen.«

»Womit kann ich dir, du Seele in großer Not, deine Pein lindern?«, fragte da unser fremder Reisender.

»Ich brauche sechs Messen, die für mich ein Priester in schwarzer und weißer Stola in der Kirche Notre-Dame von Le Folgoat liest; dann auch noch eine Pilgerfahrt, die ein Christ in meinem Anliegen zur Kirche Notre-Dame de Rumengol macht!«

»Du Seele in Pein, du wirst deine sechs Messen bekommen, und ich, der ich ein Christ bin, werde in deinem Anliegen auch eine Pilgerfahrt nach Notre-Dame de Rumengol machen.«

Kaum hatte der Reisende diese Worte gesprochen, da verlöschten die Kerzen, die Vorhänge ums Bett zogen sich von selbst zu, und alles war wieder ganz still. Der Reisende verbrachte indes den Rest der Nacht in Gebeten.

Am folgenden Morgen erzählte er dem Wirt alles, was vorgefallen war, und sagte ihm dann: »Guter Mann, ich bin Monsieur de Rohan, aus der vornehmsten Familie der ganzen Bretagne. Ich werde eine Pilgerfahrt nach Rumengol machen und die sechs Messen bezahlen. Seid also von nun an nicht mehr beunruhigt, denn die arme Seele wird erlöst werden.«

Ein Monat später hatte das rote Zimmer seine rote Farbe verloren; es war wieder weiß und heiter geworden wie die anderen, und man hörte darin kein anderes Geräusch mehr als das der Schwalben, die ihr Nest im Kamin hatten, und drinnen sah man nichts anderes mehr als drei Betten und ein Kruzifix.

Der Reisende hatte Wort gehalten.

Märchen aus der Bretagne

Die Wäscherinnen der Nacht

Wie alle anderen Menschen auch sind die Bretonen Kinder der Sünde, aber sie lieben ihre Toten; sie haben Erbarmen mit denen, die im Fegefeuer schmachten, und bemühen sich, diese von ihrer schweren Prüfung zu erlösen. Jeden Sonntag beten sie nach dem Gottesdienst auf der Erde, wo ihre armen Körper verwesen, für deren Seelen. Vor allem im November nehmen sie ihre Christenpflicht besonders ernst. Wenn Allerheiligen kommt, denkt jeder an die, die ihnen zur Gerechtigkeit Gottes vorangegangen sind. Man lässt für sie Messen lesen, zündet Kerzen an, empfiehlt sie der Fürsprache der besten Heiligen, geht mit den Kindern an ihre Grabsteine, und nach der Vesper zieht der Pfarrer mit seiner Gemeinde von der Kirche auf den Friedhof, um dort die Gräber zu segnen. In der Nacht vor Allerheiligen erleichtert Christus auch ein wenig die Pein der armen Seelen und erlaubt ihnen, diejenigen Häuser wieder aufzusuchen, in denen sie früher gewohnt hatten. Dann sind die Häuser der Lebenden so voll von den zurückkehrenden Toten wie die welken Blätter in einem Hohlweg. Deshalb lassen die guten Christen in dieser Nacht den Tisch gedeckt und löschen das Feuer nicht im Kamin: So können die heimgekehrten Toten dort ihr Mahl einnehmen und ihre Glieder wärmen, die von der Kälte des Friedhofs ganz starr und klamm geworden sind. Aber wie es gute Menschen gibt, die die Jungfrau Maria und ihren Sohn verehren, gibt es genauso die Kinder des Satans, die ihre nächsten Angehörigen vergessen. Einer von diesen letzteren war Wilherm Postik. Sein Vater war aus dieser Welt gegangen, ohne die Absolution bekommen zu haben, und wie das Sprichwort sagt, wie der Vater so der Sohn. So hatte denn der junge Postik nichts anderes im Sinn als verbotene Vergnügen: wenn er konnte, ging er während des Gottesdienstes zum Tanz und trank dann mit den Pferdehändlern. Der Liebe Gott hatte es indes nicht an Warnungen an ihn fehlen lassen: seine Mutter, seine Schwestern und auch seine Frau waren im gleichen Jahr gestorben, aber das hatte er leicht verschmerzt. Auch der Pfarrer hatte ihn vergeblich in der Predigt gewarnt, er sei der Stein des Anstoßes in der ganzen Pfarrei. Aber diese öffentliche Warnung war kein Grund für Wilherm, sich zu bessern; nein im Gegenteil: sie führte nämlich nur dazu, dass er ganz mit der Kirche brach; und das war leicht vorauszusehen, denn ein entlaufenes Pferd holt man nicht dadurch zurück, dass man die Peitsche knallen lässt. So wurde denn Wilherms Leben immer liederlicher, ohne Gott und Gebot wie das eines Fuchses im Dickicht.

Die schönen Herbsttage waren inzwischen zur Neige gegangen, und das Fest der Toten war gekommen. Alle Getauften zogen ihre Trauerkleider an und gingen in die Kirche, um für ihre lieben Verstorbenen zu beten, nur Wilherm nicht. Der zog seine Festtracht an und machte sich auf den Weg in den nächsten Marktflecken, der ein Treffpunkt für gottlose Matrosen und leichte Mädchen war. Und die ganze Zeit, die die anderen an diesem Gedenktag mit Gebeten für die Erlösung der armen Seelen verbrachten, die weilte er an diesem gottlosen Ort: er sprach dem Wein zu, machte Glücksspiele mit den Matrosen und erzählte den Mädchen unanständige Geschichten. So ging es dort bis fast Mitternacht zu, und er wollte nicht eher heim in sein Dorf gehen, bis seine anderen Spießgesellen von ihrem sündhaften Treiben müde geworden wären. Er selbst war standhaft im Feiern und ging als letzter aus dem Wirtshaus und war dabei noch genauso munter und sicher auf den Beinen wie vorher.

Nun hatte er vor lauter Trinken das Herz auf der Zunge. Laut grölte er auf allen Wegen die Lieder, die die Mutigsten sonst nur ganz leise brummen; und an den Wegkreuzen ging er vorbei, ohne leiser zu werden oder gar den Hut abzuziehen. Auf seinem Heimweg schlug er auch mit seinem Stock auf die Ginsterbüschel rechts und links des Weges und hatte keine Angst, damit die Seelen derer zu treffen und zu verletzen, die in dieser Nacht unterwegs waren.

So kam er auch an eine Wegkreuzung, an der zwei Straßen nach seinem Dorf abgingen. Die längere stand unter dem Schutz Gottes, während die kürzere von den wiederkehrenden Toten heimgesucht wurde. Viele Leute, die hier nachts vorbeigekommen waren, hatten Geräusche gehört und Dinge gesehen, von denen man nur spricht, wenn man in Gesellschaft mehrerer Menschen ist oder wenn ein Weihwasserkessel nicht weit weg ist. Aber Wilherm hatte nur Angst vor dem Durst und vor hässlichen Mädchen. So schlug er denn den kürzeren Weg ein und ließ seine Holzschuhe so laut auf den Kieselsteinen krachen, dass man es weithin hören musste.

Es war aber eine mondlose Nacht, und der Wind wirbelte die welken Blätter hoch in die Luft, die Quellen entlang des Hügels plätscherten traurig vor sich hin, die Büsche zitterten wie ein Mensch, der große Angst hat, und mitten in dieser Stille klangen die Schritte Wilherms in der Nacht laut wie die von Riesen. Aber nichts konnte ihn erschüttern und ängstigen, und er ging seelenruhig weiter.

Als er an dem alten verfallenen Gutshaus vorbeikam, hörte er, wie der Wetterhahn ihm zurief: »Kehr doch um, kehr um!« Aber Wilherm ging weiter, bis er zu dem Wasserfall kam, der ihm zurief: »Geh nicht weiter, geh nicht weiter!« Wilherm aber setzte seine Füße auf die vom Fluss glatt geriebenen Steine und ging ans andere Ufer hinüber. Als er zu der alten wurmstichigen Eiche kam, flüsterten deren Zweige immer wieder: »Bleib hier, bleib hier!« Aber Wilherm schlug beim Vorbeigehen mit seinem Stock auf den morschen Baum und beschleunigte seine Schritte.

Schließlich war er in dem Tal angelangt, in dem die Geister ihr Unwesen treiben; vom Glockenturm dreier Pfarreien in der Ferne schlug es Mitternacht, und Wilherm begann, ein munteres Liedchen vor sich hin zu pfeifen. Aber als er gerade den vierten Vers pfiff, hörte er schon einen Karren kommen, dessen Räder nicht mit Eisen beschlagen waren, und bald auch sah er, wie dieser sich ihm näherte, er war bedeckt mit einem Leichentuch. Wilherm erkannte gleich, dass es der Karren des Todes war: sechs Rappen zogen ihn, und vorne saß der leibhaftige Ankou und lenkte ihn. Er hielt eine eiserne Peitsche in seiner Hand und wiederholte immer wieder: »Weiche oder erbleiche!«

Wilherm machte Platz, ohne auch nur im Geringsten aus der Fassung zu geraten, und fragte noch frech:

»Was machst du denn hier, Bleichgesicht?«

»Ich überfalle und fälle!«, antwortete Ankou.

»Dann bist du also ein Dieb oder ein Mörder?«, fragte da Wilherm.

»Ich bin ein Schnitter ohne Rücksicht und Nachsicht auf jeden, wer er auch sei.«

»Also ein Dummkopf oder ein brutaler Schläger! Aber wohin bist du denn heute Nacht so eilig unterwegs?«, wollte Wilherm dann doch gerne wissen.

»Ich bin auf dem Weg, um Wilherm Postik zu holen«, versetzte das Gespenst, und weiter ging seine Fahrt.

Unser Lebemann aber brach in schallendes Gelächter aus und marschierte weiter. Als er zu der kleinen Schlehdornhecke kam, die zum Waschhaus führte, bemerkte er zwei ganz in Weiß gekleidete Frauen, die Wäsche zum Trocknen über das Gebüsch legten.

»Bei meinem Leben!«, rief er da. »Das sind aber zwei Mädchen, die keine Angst vor Tod und Teufel haben. Warum seid ihr noch so spät draußen auf der Wiese, meine Täubchen?«

»Wir waschen, wir trocknen, wir bleichen!«, antworteten die zwei im Gleichklang.

»Was denn?«, wollte der junge Mann wissen.

»Das Leichentuch für einen Toten, der im Augenblick noch spricht und jetzt noch unterwegs ist.«

»Für einen Toten? Verflixt noch mal! Sagt mir, wie er heißt?«

»Wilherm Postik«, kam von beiden die Antwort wie aus einem Mund.

Da lachte Wilherm noch lauter als zuvor und ging den kleinen holprigen Weg hinunter. Aber je weiter er voranschritt, desto deutlicher hörte er, wie die Wäscherinnen der Nacht mit ihren Klopfern auf die Steine des nahen Waschhauses schlugen; und bald schon erblickte er diese selbst, sie klopften auf die Leichentücher und sangen dabei ein trauriges Lied:

»Kommt kein Christ vorbei, der uns rettet,

Müssen wir bis zum Jüngsten Tage waschen,

Beim Mondenschein und Windsgeheul

Müssen wir waschen das Leichentuch weiß.«

Sobald sie den lustigen Gesellen erblickt hatten, liefen sie alle laut schreiend auf ihn zu, zeigten ihm ihre Leichentücher und brüllten, er solle sie auswringen. »Einen kleinen Dienst unter Freunden kann man nicht ablehnen«, meinte Wilherm fröhlich, »aber jede von euch, schönen Wäscherinnen, der Reihe nach; ein Mann hat schließlich nur zwei Hände sowohl zum Auswringen als auch zum Umarmen!«

Er legte dann seinen Stock beiseite und ergriff den Zipfel des Leichentuchs, den ihm eine der Toten darbot, und achtete genau darauf, immer auf der gleichen Seite wie diese auszuwringen, denn er hatte von älteren Leuten gehört, das sei das einzige Mittel, solchen Gespenstern zu entkommen, ohne von ihnen zermalmt zu werden. Aber währenddessen umringten andere Wäscherinnen Wilherm, der in ihnen seine Tante und seine Frau, seine Mutter und seine Schwestern erkannte. Alle riefen sie: »Tausendfaches Unheil soll über den kommen, der die Seinen in der Hölle schmoren lässt. Tausendfaches Unheil!« Und dabei schüttelten sie ihr wirres Haar, hoben ihre weißen Klopfer hoch, und an allen Waschhäusern des Tals, entlang aller Hecken, oben auf allen Heidelandschaften hörte man Stimmen, die immer wieder riefen: »Tausendfaches Unheil! Tausendfaches Unheil!«

Jetzt war Wilherm außer sich und spürte, wie sich die Haare auf seinem Kopf hochstellten. Verwirrt wie er war, dachte er nicht mehr an die Vorsichtsmaßnahmen, die er vorher ergriffen hatte, und vergaß, das Tuch mit der Wäscherin über einen Strang zu drehen; er begann, es auf der anderen Seite auszuwringen, und im gleichen Augenblick schnürte dieses ihm die Hände wie ein Schraubstock zusammen, und er ging bewusstlos zu Boden, zermalmt an all seinen Gliedmaßen von den eisernen Händen der Wäscherin.

Bei Morgendämmerung kam ein junges Mädchen aus Henvik namens Fantik ar Fur an der Stelle vorbei und blieb stehen, um einen Zweig Stechpalme in ihren Topf Milch zu tun. Da erblickte sie Wilherm, wie er da hingestreckt auf den blauen Steinen lag. Weil sie glaubte, dass es der Wein war, der ihn derart zu Boden hatte gehen lassen, trat sie näher und berührte ihn leicht mit einem Binsenhalm, um ihn aufzuwecken. Als sie aber sah, dass er sich nicht regte, wurde sie von Angst ergriffen und lief ins Dorf, um dort Bescheid zu sagen. Darauf gingen der Pfarrer, der Glöckner und der Notar, der auch Bürgermeister war, zu der genannten Stelle; sie hoben den Leichnam auf und legten ihn auf einen Ochsenkarren. Doch die gesegneten Kerzen, die man anzünden wollte, gingen immer wieder aus, was wohl bedeutete, dass Wilherm Postik für immer verdammt war. Daher bettete man auch seinen Leichnam außerhalb des Friedhofs unter die steinerne Kirchhofmauer, wo die Hunde und die Ungläubigen stehen bleiben.

Märchen aus der Bretagne

Draculas Gast

Es wird vielfach angenommen, dass diese Kurzgeschichte Bram Stokers, die 1914 erschien, das erste vor der Veröffentlichung gelöschte Kapitel für seinen Roman Dracula von 1897 ist. In diesem Fall wäre der Ich-Erzähler der junge Rechtsanwalt Jonathan Harker, der Graf Dracula in seinem Schloss in den Karpaten (Siebenbürgen) besucht, um dem Grafen beim Kauf eines Hauses in der Nähe von London behilflich zu sein.

Als wir zu unserer Fahrt aufbrachen, schien die Sonne hell über München, und die Luft war erfüllt von der Freude über den Frühsommer. Gerade als wir abfahren wollten, kam Herr Delbrück, der maître d’hôtel des Vier Jahreszeiten, wo ich abgestiegen war, barhäuptig zur Kutsche herunter, wünschte mir eine angenehme Fahrt und sagte zum Kutscher, der immer noch seine Hand an der Klinke der Wagentür ruhen ließ: »Denken Sie daran, vor Einbruch der Dunkelheit zurück zu sein. Der Himmel scheint hell und klar, aber ich spüre einen Schauer im Nordwind, der mir sagt, dass es einen plötzlichen Sturm geben könnte. Aber ich bin sicher, dass sie nicht zu spät kommen werden.« Dabei lächelte er und fügte noch hinzu: »Sie wissen ja, was es heute für eine Nacht ist.« Johann antwortete mit Nachdruck: »Ja, mein Herr«, berührte dabei seinen Hut zum Gruß und fuhr schnell los. Als wir dann aus der Stadt heraus waren, gab ich ihm ein Zeichen anzuhalten und fragte ihn: »Sagen Sie mir, Johann, was ist das heute für eine Nacht?« Er bekreuzigte sich und antwortete lakonisch: »Walpurgisnacht!« Dann nahm er seine Uhr hervor, ein schweres, altmodisches deutsches Silberding, so groß wie eine Rübe, und schaute mit zusammengezogenen Augenbrauen darauf, wobei er leicht ungeduldig mit den Schultern zuckte. Ich war mir im Klaren, dass das seine Art war, mit dem gebotenen Respekt gegen die unnötige Verzögerung zu protestieren, und sank dann wieder in die Polster der Kutsche zurück, wobei ich ihn lediglich aufforderte, weiterzufahren. Er fuhr schnell wieder an, als wolle er die verlorene Zeit einholen.

Ab und zu schienen die Pferde ihre Köpfe hochzuwerfen und argwöhnisch die Luft zu schnuppern. Wenn dies geschah, schaute ich mich immer beunruhigt um. Die Straße war ziemlich öde und trostlos, weil wir gerade eine Art hohes windgepeitschtes Plateau überquerten. Auf einmal erblickte ich einen wohl wenig benutzten Weg, der in ein kleines gewundenes Tal hinabzuführen schien. Dieses Tal war so malerisch, dass ich Johann, auch auf die Gefahr hin, ihn zu beleidigen, zum Anhalten aufforderte, was er auch tat. Als der Wagen dann zum Stehen kam, bat ich ihn, diese Straße doch hinunterzufahren. Da erfand er alle möglichen Ausreden und bekreuzigte sich dauernd, während er sprach. Dadurch wurde nun meine Neugier geweckt, und ich stellte ihm verschiedene Fragen, worauf er ausweichende Antworten gab; dabei schaute er immer wieder wie zum Protest auf seine Uhr. Schließlich sagte ich: »Nun Johann, ich will diesen Weg nehmen. Ich werde Sie nicht zwingen, mich zu begleiten, doch sagen Sie mir nur, warum Sie nicht gerne mitkommen; das ist alles, worum ich Sie bitte.« Anstatt mir zu antworten, ließ er sich geradezu vom Kutschbock fallen, so schnell stand er vor mir auf dem Boden. Dann streckte er mir bittend die Hände entgegen und flehte mich an, nicht weiterzufahren. In seine Antwort hatte er gerade so viele englische Wörter ins Deutsche eingemischt, dass ich den Sinn seiner Warnung noch eben verstand. Er schien mir immer gerade davor zu sein, mir den wahren Grund seiner Angst zu erzählen, hielt aber kurz zuvor inne und sagte dann nur: »Walpurgisnacht!«

Ich versuchte, mit ihm darüber zu sprechen, aber es ist schwer, mit einem Mann zu reden, wenn man seine Sprache nicht kennt. Der Vorteil lag sicher auf seiner Seite, denn obwohl er anfing, grob und gebrochen Englisch zu sprechen, war er dauernd so erregt, dass er immer wieder in seine Muttersprache verfiel, wobei er jedes Mal auf seine Uhr schaute. Dann wurden auch noch die Pferde unruhig und schnupperten die Luft. Johann wurde daraufhin sehr bleich, schaute erschrocken um sich und sprang plötzlich nach vorn, nahm sie am Zaumzeug und führte sie etwa zwanzig Fuß weiter. Ich folgte ihm und fragte ihn, warum er dies getan habe; statt mir eine Antwort zu geben, bekreuzigte er sich, zeigte auf die Stelle, die wir eben verlassen hatten, zog seinen Wagen in die Richtung des anderen Weges, wodurch er ein Kreuz andeutete, und sagte zuerst auf Deutsch, dann auf Englisch: »Begrabt ihn, der sich selbst tötete!« Ich erinnerte mich dabei an den alten Brauch, Selbstmörder an Kreuzwegen zu begraben, und sagte: »Ach, ich verstehe, ein Selbstmörder. Wie interessant!« Und doch konnte ich mir bei meinem Leben nicht erklären, warum die Pferde Angst hatten und scheuten.

Während wir uns unterhielten, vernahmen wir ein seltsames Geräusch, es war eine Art Bellen und Kläffen zugleich und war von weit entfernt zu hören, aber die Pferde wurden sehr unruhig, und Johann hatte eine ganze Weile Mühe, sie zu beruhigen. Er war totenblass und sagte:

»Es klingt wie ein Wolf, aber zu dieser Zeit gibt es hier keine Wölfe.«

»Wirklich nicht?«, fragte ich. »Ist es schon lange her, dass hier Wölfe gesehen worden sind?«

»Im Frühling und im Sommer schon lange nicht mehr. Aber mit dem Schnee sind die Wölfe schon öfters hier gesehen worden; das ist noch nicht so lange her.«

Während er die Pferde streichelte und sie zu beruhigen versuchte, zogen dunkle Wolken schnell über den Himmel. Der Sonnenschein ging dahin, und ein Hauch von kaltem Wind schien über uns hinwegzuziehen. Es war jedoch nur ein Hauch und mehr eine Warnung als eine Tatsache, denn schnell zeigte sich wieder der helle Sonnenschein. Johann hob seine Hand über die Augen, während er nach dem Horizont schaute, und sagte: »Der Schneesturm kommt bald.« Dann sah er wieder auf seine Uhr, hielt sogleich die Pferde fest am Zügel, denn diese bewegten sich noch unruhig auf dem Boden und schüttelten mit dem Kopf; dann stieg er wieder auf den Kutschbock, als wäre es jetzt wieder an der Zeit, die Fahrt fortzusetzen. Ich aber war ein wenig hartnäckig, blieb an meinem Platz stehen und stieg nicht sofort in die Kutsche. Dann zeigte ich nach unten und sagte:

»Erzählen Sie mir von diesem Ort, wohin die Straße führt!«

Und wieder bekreuzigte er sich und murmelte ein Gebet, bevor er zu antworten begann:

»Er ist unheilig.«

»Was ist unheilig?«, fragte ich nach.

»Das Dorf.«

»Dann gibt es dort ein Dorf?«

»Nein, nein! Seit Jahrhunderten lebt dort niemand mehr.«

»Aber Sie sagten doch, es gäbe dort ein Dorf«, fragte ich, weil meine Neugier jetzt geweckt war.

»Es gab mal eins.«

»Und wo ist es jetzt?«

Daraufhin begann er mit einer langen Geschichte, so durcheinander, dass ich ihren Inhalt nicht ganz verstehen konnte. Ich bekam nur so viel mit, dass vor langer Zeit, vor Hunderten von Jahren, dort Menschen gestorben und in ihren Gräbern beigesetzt wurden und dass man unter der Erde Stimmen hörte. Als man dann die Gräber öffnete, fand man Männer und Frauen, die rosig vor Leben waren und deren Münder rot vor Blut waren. Und so flohen die, die übriggeblieben waren, in Eile, um ihr Leben zu retten, ja und auch ihre Seelen – wobei er sich wieder bekreuzigte – in andere Gegenden, in denen die Lebenden lebten und die Toten tot waren und nicht irgendwie anders. Er hatte offensichtlich Angst, diese letzten Worte auszusprechen, und wurde immer aufgeregter, als er mit seiner Erzählung fortfuhr. Es schien, als ob seine Fantasie die Macht über ihn ergriffen hätte, und er endete mit einem wahren Anfall von Angst, leichenblass, schwitzend, zitternd und sah sich um, als ob er erwartete, im hellen Sonnenschein auf der offenen Ebene eine schreckliche Geistererscheinung zu Gesicht zu bekommen. Schließlich schrie er in einer letzten Not der Verzweiflung:

»Walpurgisnacht!«, wobei er auf den Wagen deutete, um mich zum Einsteigen zu bewegen. Mein ganzes englisches Blut stieg dabei auf; ich blieb stehen und sagte zu ihm: »Du hast Angst, Johann, große Angst! Fahr nach Hause, ich werde allein zurückkehren. Die Wanderung wird mir guttun.« Die Wagentür stand offen; ich nahm meinen eichenen Wanderstab, den ich auf meinen Ausflügen immer mit mir führe, schloss die Wagentür, wies in Richtung München und sagte: »Fahr nach Hause, Johann. Die Walpurgisnacht betrifft einen Engländer nicht.«

Die Pferde waren jetzt noch unruhiger denn je, und Johann versuchte sie in Zaum zu halten, wobei er mich aufgeregt anflehte, doch nicht etwas so Dummes zu tun. Ich hatte Mitleid mit dem armen Kerl, weil er es so ernst meinte, aber trotzdem konnte ich mir ein Lachen nicht verkneifen. Sein Englisch war ihm jetzt völlig abhandengekommen; in seiner Angst hatte er vergessen, dass sein einziges Mittel, sich mir verständlich zu machen, darin bestand, meine Sprache zu sprechen, und so plapperte er in seiner Muttersprache Deutsch. Es fing an, etwas mühsam zu werden. Nachdem ich ihm nochmal die Richtung »Nach Hause« gewiesen hatte, drehte ich mich um und machte mich auf den Weg ins Tal.

Mit einer verzweifelten Geste drehte Johann seine Pferde in Richtung München. Ich stützte mich auf meinen Stock und schaute ihm nach. Eine Weile fuhr er langsam die Straße entlang, dann kam über den Kamm des Hügels ein großer dünner Mann gegangen. Ich konnte so viel in der Ferne sehen. Als dieser etwa auf gleicher Höhe der Kutsche war, begannen die Pferde zu springen und herumzutreten und dann vor Schreck zu wiehern. Johann konnte sie nicht mehr festhalten; so stürmten sie die Straße hinunter und rannten wie verrückt fort. Ich sah ihnen nach, bis sie außer Sichtweite waren, und suchte dann mit den Augen den fremden Mann; doch auch er war verschwunden.

Leichten Herzen bog ich in die Seitenstraße in das tiefer unten gelegene Tal ab, wogegen Johann sich so hartnäckig gesträubt hatte. Für mich gab es nicht den geringsten Grund für seine Einwände. Ein paar Stunden schlenderte ich so vor mich hin, ohne an Zeit oder Entfernung zu denken, und sah auch weder einen Menschen noch eine menschliche Behausung. Was die Gegend betrifft, kann man nur von Trostlosigkeit sprechen. Aber das nahm ich solange nicht wahr, bis ich nach einer Kurve auf der Straße an einen weit zerstreuten Waldrand kam. Jetzt erst bemerkte ich, dass mich die Öde der Landschaft, durch die ich gegangen war, unbewusst beeindruckt hatte. Ich setzte mich hin, um etwas auszuruhen, und sah mich um. Da spürte ich auf einmal, dass es viel kälter war als zu Beginn meiner Wanderung, und ein Geräusch wie Seufzer schien mich zu umgeben, und ab und zu war hoch über mir eine Art von gedämpftem Gebrüll zu vernehmen. Als ich nach oben schaute, bemerkte ich große dicke Wolken, die in großer Höhe schnell von Norden nach Süden über den Himmel zogen. Es gab Anzeichen, dass bald ein großer Sturm in einer hohen Luftschicht losbrechen würde. Mir war etwas kalt, und da ich dachte, das käme von dem langen Stillsitzen nach dem Wandern, machte ich mich wieder auf den Weg.

Die Gegend, die ich jetzt durchquerte, war etwas malerischer. Es gab zwar keine auffälligen Dinge, die die Augen erfreuen konnten, doch die Gegend an sich hatte einen besonderen Reiz. Die Zeit kümmerte mich nicht, und erst als die Dämmerung über mich hereinbrach, begann ich darüber nachzudenken, wie ich wohl einen Weg nach Hause finden würde. Die Luft war kalt, und die über mir dahintreibenden Wolken waren deutlich zu spüren. Sie waren von einem weit entfernten Rauschen begleitet, aus dem in gewissen Abständen jener geheimnisvolle Schrei zu kommen schien, von dem Johann gesagt hatte, er käme von einem Wolf. Eine Weile zögerte ich. Aber ich hatte vor, das verlassene Dorf aufzusuchen; also ging ich weiter und gelangte jetzt auf eine Art offenes Feld, das ringsum von Hügeln umgeben war, deren Seiten mit Bäumen bedeckt waren, die sich bis in die Ebene ausdehnten. Ich folgte mit meinen Augen den kurvenreichen Verlauf der Straße und sah, dass sie sich an einem dunklen Waldstück entlang schlängelte und dahinter nicht mehr zu erblicken war.

Als ich hinsah, spürte ich einen kalten Schauer in der Luft, und es begann sogleich zu schneien. Mir kamen die vielen Meilen in den Sinn, die ich in dieser trostlosen Gegend zurückgelegt hatte, und ich eilte dann schnell in den nahen Wald, um dort Schutz zu suchen. Der Himmel wurde immer schwärzer, und der Schnee fiel schneller und schwerer, bis die Erde vor mir und um mich herum zu einem glitzernden weißen Teppich geworden war, dessen vorderer Rand sich in der Unbestimmtheit des Nebels verlor. Die Straße hier war ziemlich grob und unbearbeitet, und wenn sie in der Ebene verlief, waren ihre Grenzen nicht so markiert und erkennbar, als wenn sie durch Einschnitte ging. Nach kurzer Zeit schon stellte ich fest, dass ich vom Weg abgekommen war, da ich nicht mehr auf eine harte Oberfläche auftrat und meine Füße immer tiefer in Gras und Moos versanken. Der Sturm wurde mit der Zeit immer heftiger und blies mit stärkerer Kraft, dass ich froh war, vor ihm herlaufen zu können. Die Luft wurde eiskalt, und trotz meiner Übung begann ich zu leiden. Bald schon fiel der Schnee so stark und in dicken Flocken wirbelnd um mich herum, dass ich meine Augen kaum noch offenhalten konnte: Ab und zu wurde der Himmel durch das Zucken von Blitzen zerrissen, in deren Licht ich eine große Menge von Bäumen erkennen konnte, vor allem Eiben und Zypressen, welche alle von einer dicken Schicht Schnee bedeckt waren.

Bald schon hatte ich den Schutz der Bäume erreicht und konnte dort in relativer Stille das Brausen des Windes über mir hören. Jetzt war die Schwärze des Sturmes mit der Dunkelheit der Nacht verschmolzen. Langsam aber begann sich der Sturm abzuschwächen, denn er kam jetzt nur noch in heftigen Böen und lauten Windstößen. In solchen Momenten schien sich das seltsame Geräusch des Wolfs in vielen ähnlichen Geräuschen um mich herum widerzuspiegeln. Ab und an fiel durch die schwarze Masse der dahintreibenden Wolken ein zerstreuter Strahl des Mondlichts, der die Gegend etwas erhellte und mich erkennen ließ, dass ich mich am Rand eines dichten Zypressen- und Eibenwaldes befand. Als der Schneefall nachließ, lief ich aus dem Wald heraus und begann mich näher umzusehen. Ich dachte, dass es unter so vielen Fundamenten, über die ich gelaufen war, doch noch ein Haus geben könnte, in dem ich für eine Weile Unterschlupf finden könne, auch wenn es in Trümmern lag. Und wirklich: als ich um den Rand des Waldes herumging, stieß ich auf eine niedrige Mauer, die ihn umgab. Ich folgte dieser und fand alsbald auch eine Öffnung, an der die Zypressen eine Art Allee bildeten, die zu einem viereckigen Gebäude führten. Gerade aber hatte ich dieses erblickt, da verdunkelten die dahintreibenden Wolken den Mond, und ich musste den Pfad in der Dunkelheit gehen. Der Wind muss wohl kälter geworden sein, denn ich fühlte, dass ich beim Gehen zitterte. Doch gab es Hoffnung auf Schutz, und ich tastete mich aufs Geratewohl weiter.

Plötzlich herrschte Stille, und ich hielt inne. Der Sturm war vorüber, und in Übereinstimmung mit dem Schweigen der Natur schien auch mein Herz auf zu schlagen, aber das nur für Sekunden, denn plötzlich brach das Mondlicht durch die Wolken und ließ mich einen Friedhof erblicken, der vor mir lag. Und jetzt konnte ich sehen, dass das quadratische Gebäude vor mir ein marmornes Grabmal war, so weiß wie der Schnee, der es bedeckte. Mit dem Mondschein zugleich ließ sich ein heftiger Seufzer des Sturms hören; es war so, als ob dieser sich wieder mit einem langen Heulen neu erheben wollte, wie es auch bei vielen Hunden und Wölfen der Fall ist. Ich war ehrfürchtig und voller Angst zugleich und fühlte, wie sich die Kälte meiner bemächtigte und mich schier erstarren ließ. Während der Sturm erneut loszubrechen drohte, näherte ich mich, von einer Art von Faszination angezogen, dem Grabmal, denn ich wollte sehen, was es für eine Bewandtnis mit ihm hatte und warum es so allein an einem solchen Ort stand. Ich ging um es herum und las über der dorischen Pforte in deutscher Sprache:

GRÄFINDOLINGENVONGRAZ

INDERSTEIERMARK

GESUCHTUNDTOTAUFGEFUNDEN

1801

Auf der Spitze des Grabmals, offensichtlich durch den massiven Marmor getrieben – denn das Ganze bestand nur aus ein paar riesigen Steinblöcken – befand sich ein großer Eisenstachel oder Pfahl. Auf der Rückseite des Mals stand in großen kyrillischen Buchstaben eingraviert der Satz:

DIETOTENREISENSCHNELL

Etwas so Unheimliches und Seltsames umhüllte die ganze Sache, dass mich ein gewaltiger Schauer überkam und ich der Ohnmacht nahe war. Zum ersten Mal tauchte der Wunsch in mir auf, Johanns Rat befolgt zu haben. Plötzlich durchfuhr mich ein Gedanke, der wohl durch die geheimnisvollen Umstände und durch den Schock ausgelöst worden war: Es war Walpurgisnacht!

Walpurgisnacht, das war nach dem Glauben von Millionen Menschen die Stunde, in der der Teufel leibhaftig auf Erden weilt und die Toten aus ihren Gräbern steigen und umhergehen, die Zeit, in der alle bösen Dinge der Erde und der Luft und des Wassers ein wildes Gelage abhalten. Gerade diesen Ort hatte der Kutscher so sehr gemieden. Dies hier war das seit Jahrhunderten verlassene Dorf! Dies war der Ort, wo der Selbstmörder lag. Und gerade an diesem Ort war ich jetzt, mutterseelenallein, ohne Mut, zitternd vor Kälte in einem Leichentuch von Schnee und einem wilden Sturm, der um mich herum tobte. Es brauchte jetzt all meine Philosophie, all meinen Glauben, den man mir beigebracht hatte, all meinen Mut, um nicht unter der Last einer alles erdrückenden Angst zusammenzubrechen.

Und jetzt begann ein mächtiger Tornado über mich hereinzubrechen. Der Boden erbebte, als ob Tausende von Pferden über ihn dahintrabten, und der Himmel kam mit eisigen Schwingen über mich herab, nicht als Schnee, sondern diesmal als Hagel, dessen große Körner so heftig auf die Erde prasselten, als wären sie von kriegerischen Kämpfern geschleudert worden. Es waren Hagelkörner, die Blätter und Zweige niederschlugen, sodass der Schutz der Zypressen nichts mehr nützte, da deren Stämme wie Getreidehalme aussahen. Zunächst war ich unter den nächsten Baum geflüchtet, aber gerne verließ ich diesen Platz und rannte zu der einzigen Stelle, die noch Zuflucht bot: die tiefe dorische Pforte des Grabmals. Dort kauerte ich an der massiven Bronzetür und war vor dem Prasseln der Hagelkörner geschützt, die mich nun nur berührten, wenn sie vom Boden oder vom Marmor zurückspritzten.

Als ich mich nun gegen die Pforte lehnte, bewegte sie sich etwas und begann sich nach innen zu öffnen. In diesem erbarmungslosen Unwetter war mir selbst der Schutz einer Grabesgruft angenehm, und ich wollte sie gerade betreten, als ein Gabelblitz am Himmel aufzuckte und alles hell erleuchtete. In dem Augenblick sah ich, als ich in die Dunkelheit der Gruft blickte – und das ist so wahr, wie ich lebe – eine wunderschöne Frau mit rosigen Wangen und roten Lippen, die auf einer Totenbahre zu schlafen schien. Als nach dem Blitz der Donner losbrach, wurde ich wie von der Hand eines Riesen ergriffen und nach draußen in den Sturm zurückgeschleudert. Das Ganze geschah so plötzlich, dass ich von den Hagelkörnern zu Boden geworfen wurde, bevor ich noch überhaupt einen seelischen oder körperlichen Schock verspürte. Gleichzeitig beherrschte mich ein seltsames Gefühl, das ich nicht allein war. Ich schaute zum Grabmal. Im selben Augenblick zuckte wieder ein Blitz herab, der den eisernen Pfahl an der Spitze des Grabes zu treffen schien und durch ihn bis zur Erde herabfuhr, wobei er den Marmor in einer Feuerglut zum Bersten und zum Zerbröckeln brachte. Die tote Frau erhob sich für einen Augenblick wie in einem Todeskampf, während sie von den Flammen umzingelt wurde, und ihr bitterer Schmerzensschrei erstarb in dem Donnerschlag. Das Letzte, was ich hörte, war eine Mischung von schrecklichen Geräuschen; dann wurde ich wieder von einem riesigen Griff gepackt und weggeschleudert, wobei die Hagelkörner auf mich niederprasselten und die Luft ringsum vom Heulen der Wölfe widerhallte. An was ich mich zuletzt erinnerte, war eine unbestimmte, weiße, sich bewegende Masse, als ob alle Gräber um mich herum die Phantome ihrer mit Tüchern verhüllten Toten ausgesandt hätten, die sich mir durch die weißen Nebel des treibenden Nebels näherten.

Allmählich begann sich bei mir vage das Bewusstsein wieder zu regen, dann ein Gefühl der Müdigkeit, welches fürchterlich war. Eine Zeitlang erinnerte ich mich an nichts mehr, dann kehrten langsam meine Sinne wieder zurück; meine Füße schienen geradezu von Schmerzen geplagt zu werden, doch konnte ich sie nicht bewegen; sie schienen taub zu sein. Im Nacken und den ganzen Rücken hinab spürte ich ein Gefühl wie von Eis, und meine Ohren wie auch meine Füße waren tot und taten doch fürchterlich weh. In meiner Brust aber hatte sich ein Gefühl von Wärme breitgemacht, das im Vergleich dazu eher wohlig war. Es war wie ein Alptraum, ein physischer Alptraum, wenn ich mal diesen Ausdruck gebrauchen darf, denn auf meiner Brust lag ein schweres Gewicht, das mir das Atmen schwermachte.

Diese Periode einer halben Lethargie schien lange zu währen, und als sie nachließ, muss ich wohl in den Schlaf gefallen oder ohnmächtig geworden sein. Dann kam eine Art von Übelkeit wie die erste Stufe der Seekrankheit und ein unbändiger Wunsch, von etwas frei zu sein, aber wovon wusste ich nicht. Es umhüllte mich eine riesige Stille, als ob die ganze Welt schliefe oder gar tot sei, und all das wurde nur unterbrochen von einem leisen Keuchen wie von einem Tier ganz in meiner Nähe. Ich fühlte ein warmes Kratzen an meiner Kehle, dann wurde ich mir der schrecklichen Wahrheit bewusst, die mir das Herz fast zum Stehen brachte und mir das Blut wie wild in den Kopf schießen ließ: Irgendein großes Tier lag auf mir und leckte an meiner Kehle. Ich fürchtete mich zu bewegen, denn irgendein Instinkt von Klugheit ließ mich regungslos liegen. Das Tier indes schien zu erkennen, dass sich etwas in mir verändert hatte, denn es hob den Kopf. Da sah ich durch meine Wimpern über mir die beiden großen flammenden Augen eines riesigen Wolfs. In seinem weit aufgerissenen roten Rachen blitzten seine scharfen weißen Zähne, und ich konnte seinen heißen Atem, der scharf und beißend war, auf mir spüren.

An das, was danach passierte, kann ich mich nicht mehr erinnern. Darauf kam ich wieder durch ein leises Knurren zu mir, dem ein mehrmaliges Schreien folgte. Hierauf hörte ich wohl von sehr weit entfernt ein »Hallo, hallo!« und es klang, als würde es von vielen Menschen gleichzeitig gerufen werden. Vorsichtig hob ich meinen Kopf und schaute in die Richtung, aus der die Stimmen zu vernehmen waren, aber der Friedhof nahm mir die Sicht. Der Wolf heulte immer noch auf seine schauerliche Art, und es begann sich ein roter Glanz um den Zypressenwald zu bewegen, als ob er den Rufen folgen würde. Als die Stimmen immer näherkamen, wurde das Heulen des Wolfes immer lauter und schneller. Ich hatte Angst, mich irgendwie durch Geräusche oder Bewegungen bemerkbar zu machen. Und immer näher kam das rote Leuchten über das weiße Leichentuch, das der Schnee in der Dunkelheit über mich gebreitet hatte. Da erschien auf einmal im Trab eine Reitertruppe mit Fackeln hinter den Bäumen. Der Wolf erhob sich sogleich von meiner Brust und machte sich zum Friedhof fort. Ich sah, wie einer der Reiter seinen Karabiner hob und auf mich anlegte. Ein Kamerad schlug seinen Arm hoch, und ich hörte, wie die Kugel über meinen Kopf hinweg pfiff. Er hatte mich wohl irrtümlicherweise für den Wolf gehalten. Ein weiterer erblickte das Tier, als es davonlief, und es folgte ein Schuss. Dann galoppierte die Truppe vorwärts, einige Soldaten auf mich zu, andere folgten dem Wolf, der zwischen den schneebedeckten Zy­pressen verschwand. Dass es Soldaten waren, erkannte ich an ihren Mützen und ihren langen Militärmänteln.