Die besten Pater-Brown-Geschichten - Gilbert Keith Chesterton - E-Book

Die besten Pater-Brown-Geschichten E-Book

Gilbert Keith Chesterton

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Beschreibung

Der kleine, rundliche und kurzsichtige Pater Brown entspricht nicht gerade der Idealvorstellung eines Meisterdetektivs, aber der Schein trügt: mit Humor, List und Scharfsinn bringt er sämtliche Übeltäter zur Strecke. Von einem Kriminalfall zum nächsten stolpert der katholische Geistliche mit dem schwarzen Regenschirm, womit er seinen oberen Dienstherren, den Bischof, zur Weißglut bringt. Doch hinter der scheinbaren Unbeholfenheit verbirgt sich ein scharfer Blick für alles Menschliche. Die besten der zwischen 1911 und 1935 entstandenen Pater-Brown-Geschichten, die den streitbaren Schriftsteller und Publizisten Gilbert Keith Chesterton unsterblich machten, finden sich hier versammelt. – Mit einer kompakten Biographie des Autors.

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Seitenzahl: 447

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Gilbert Keith Chesterton

Die besten Pater-Brown-Geschichten

Ausgewählt und übersetzt von Stefanie Kuhn-Werner

Reclam

2021 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: Anja Grimm Gestaltung

Coverabbildung: © Gutentag-Hamburg

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2021

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-961924-8

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-020652-2

www.reclam.de

Inhalt

Das blaue Kreuz | The Blue Cross

Der geheimnisvolle Garten | The Secret Garden

Die seltsamen Schritte | The Queer Feet

Die Sternschnuppen | The Flying Stars

Die Ehre des Israel Gow | The Honour of Israel Gow

Die Sünden des Prinzen Saradin | The Sins of Prince Saradine

Der Hammer Gottes | The Hammer of God

Der Mann in der Passage | The Man in the Passage

Caesars Kopf | The Head of Caesar

Der Salat des Oberst Cray | The Salad of Colonel Cray

Das Hundeorakel | The Oracle of the Dog

Vaudreys Verschwinden | The Vanishing of Vaudrey

Anhang

Anmerkungen

Nachwort

Zeittafel

Das blaue Kreuz

Zwischen dem silbernen Band des Morgens und dem grünen, glitzernden Band des Meeres legte der Dampfer in Harwich an und entließ einen Menschenschwarm wie Fliegen, in dem der Mann, dem wir folgen müssen, keineswegs auffiel – was er auch gar nicht wollte. Er hatte nichts Bemerkenswertes an sich außer einem leichten Gegensatz zwischen seiner legeren Ferienkleidung und seiner würdevollen Amtsmiene. Seine Kleidung bestand aus einem leichten blassgrauen Jackett, einer weißen Weste und einem silbernen Strohhut mit graublauem Band. Sein hageres Gesicht dagegen war dunkel und endete in einem kurzen, schwarzen Bart, der spanisch aussah und zu einer elisabethanischen Halskrause gepasst hätte. Mit dem Ernst eines Müßiggängers rauchte er eine Zigarette. Nichts an ihm deutete darauf hin, dass das graue Jackett einen geladenen Revolver, die weiße Weste eine Polizeimarke und der Strohhut einen der genialsten Köpfe Europas verbargen. Denn es war Valentin höchstpersönlich, der Chef der Pariser Polizei und der berühmteste Detektiv der Welt, und er kam aus Brüssel nach London, um den größten Fang des Jahrhunderts zu machen.

Flambeau war in England. Der Polizei dreier Länder war es schließlich gelungen, die Spur des berühmten Verbrechers von Gent nach Brüssel und von Brüssel nach Hoek van Holland zu verfolgen; und man vermutete, dass er sich das Gedränge und Durcheinander des Eucharistischen Kongresses zunutze machen würde, der gerade in London stattfand. Wahrscheinlich würde er als kleiner Kirchenbeamter oder Sekretär getarnt reisen; aber natürlich konnte Valentin nicht ganz sicher sein. Kein Mensch konnte bei Flambeau sicher sein.

Es ist jetzt viele Jahre her, dass dieser Goliath des Verbrechens plötzlich damit aufhörte, die Welt in Aufruhr zu versetzen; und als er damit aufhörte, herrschte – so wie es nach dem Tod Rolands hieß – eine große Stille auf Erden. Aber zu seiner besten Zeit (ich meine natürlich seiner schlimmsten) war Flambeau eine so wohlbekannte internationale Persönlichkeit wie Kaiser Wilhelm II. Beinahe jeden Morgen meldete die Zeitung, dass er sich den Folgen eines außergewöhnlichen Verbrechens durch das Verüben eines neuen entzogen hatte. Er war ein Gascogner von hünenhafter Gestalt und wahrhaft verwegen. Über die Ausbrüche seines athletischen Temperaments erzählte man sich die wildesten Geschichten: wie er einmal den juge d’instruction auf den Kopf gestellt hatte, um dessen »fünf Sinne zu ordnen«; oder wie er, einen Polizisten unter jedem Arm, die Rue de Rivoli entlanggelaufen war. Zu seiner Entschuldigung muss man anführen, dass er seine sagenhaften physischen Kräfte normalerweise nur bei solch unblutigen, wenn auch unrühmlichen Begebenheiten einsetzte; seine wahren Verbrechen bestanden überwiegend in genialen Raubzügen großen Stils. Aber jeder seiner Diebstähle war geradezu eine neue Sünde und gäbe Stoff für eine eigene Geschichte ab. Er war es, der die große Tiroler Molkerei-Gesellschaft in London leitete, ohne Molkerei, ohne Kühe, ohne Wagen, ohne Milch, aber mit ein paar tausend Kunden. Diese belieferte er ganz einfach dadurch, dass er die kleinen Milchflaschen, die vor den Haustüren der Leute standen, wegnahm und sie vor die Türen seiner eigenen Kunden stellte. Er war es, dem es auf rätselhafte Weise gelang, einen heimlichen Briefwechsel mit einer jungen Dame zu unterhalten, deren gesamte Post abgefangen wurde: indem er zu der außergewöhnlichen List griff, seine Botschaften unendlich klein auf die Objektträger eines Mikroskops zu fotografieren. Typisch für viele seiner Unternehmen jedoch war ihre überwältigende Schlichtheit. Angeblich veränderte er einmal des Nachts alle Hausnummern in einer Straße, nur um einen einzigen Reisenden in die Falle zu locken. Verbürgt ist, dass er einen transportablen Briefkasten erfand, den er in ruhigen Vororten an einer Straßenecke aufstellte in der Hoffnung, dass unkundige Fremde Postanweisungen hineinwürfen. Und schließlich war er als überraschend geschickter Akrobat bekannt; trotz seiner riesigen Gestalt konnte er wie ein Grashüpfer springen und wie ein Affe in den Baumwipfeln verschwinden. Darum wusste der große Valentin, als er sich aufmachte, Flambeau zu finden, nur zu gut, dass seine Abenteuer noch längst nicht zu Ende wären, wenn er ihn erst einmal gefunden hätte.

Aber wie konnte er ihn finden? Dieses Problem wälzte der große Valentin unaufhörlich in seinen Gedanken.

Etwas allerdings gab es, was Flambeau auch mit all seiner Verkleidungskunst nicht verbergen konnte: und das war seine außergewöhnliche Körpergröße. Hätten Valentins scharfe Augen eine große Obstfrau, einen großen Grenadier oder auch nur eine leidlich große Herzogin erspäht, er hätte sie vielleicht auf der Stelle verhaftet. Aber im ganzen Zug befand sich niemand, der ein verkleideter Flambeau hätte sein können, wie eben eine Katze auch keine verkleidete Giraffe sein kann. Über die Leute auf dem Dampfer hatte er sich bereits ein Bild gemacht; nicht mehr als sechs Leute, so viel stand fest, waren in Harwich oder später zugestiegen: als Erstes ein kleiner Bahnbeamter, der bis zur Endstation fuhr; nach zwei Stationen drei ziemlich kleine Gemüsegärtner; in einer kleinen Stadt in Essex eine sehr kleine Dame in Witwenkleidung, in einem kleinen Dorf in Essex schließlich ein sehr kleiner römisch-katholischer Priester. Als sein Blick auf diesen fiel, gab Valentin auf und wäre fast in Lachen ausgebrochen. Der kleine Priester war geradezu der Inbegriff des Einfaltspinsels aus dem Osten: Sein Gesicht war so rund und glatt wie ein Norfolk-Knödel, und seine Augen blickten naiv in die Welt. Er trug mehrere in braunes Papier gewickelte Pakete, die er vergeblich beieinander zu halten versuchte. Zweifellos hatte der Eucharistische Kongress viele solcher Geschöpfe aus ihrer ländlichen Abgeschiedenheit hervorgelockt, blind und hilflos wie plötzlich ans Tageslicht geratene Maulwürfe. Valentin war ein Skeptiker der strengen französischen Denkweise und mochte daher auch keine Priester. Aber er konnte sie bemitleiden, und dieser hier hätte wohl in jedem Menschen Mitleid erweckt. Er hatte einen großen, abgenutzten Regenschirm bei sich, den er ständig zu Boden fallen ließ, und wusste offenbar nicht, welches der richtige Abschnitt seiner Rückfahrkarte war. Mit der Einfältigkeit eines Mondkalbes erklärte er jedem im Abteil, dass er gut aufpassen müsse, weil er etwas aus echtem Silber »mit blauen Steinen« in einem seiner braunen Pakete habe. Die kuriose Mischung aus Essexer Weltfremdheit und heiliger Einfalt amüsierte den Franzosen die ganze Zeit über, bis der Priester – wer hätte es gedacht? – in Stratford mit all seinen Paketen den Zug verließ, gleich darauf jedoch zurückkehrte, um seinen Schirm zu holen. Bei dieser Gelegenheit erwies sich Valentin sogar als so gütig, ihn davor zu warnen, vor lauter Sorge um das Silber jedermann davon zu erzählen. Doch mit wem er auch sprach, immer forschte Valentins Blick nach einem anderen; unausgesetzt hielt er Ausschau nach jemandem, der, ob reich oder arm, männlich oder weiblich, an die sechs Fuß hoch war; denn Flambeau maß noch zehn Zentimeter mehr.

Als er jedoch in Liverpool Street ausstieg, war er absolut sicher, dass ihm der Verbrecher bis jetzt nicht entkommen war. Er suchte Scotland Yard auf, um seine Machtbefugnisse zu klären und die eventuell nötige Hilfe anzufordern, zündete sich daraufhin erneut eine Zigarette an und begab sich auf einen langen Spaziergang durch die Straßen von London. Als er die Straßen und Plätze jenseits von Victoria Station durchstreifte, blieb er plötzlich stehen. Er stand vor einem altmodischen, friedlichen, für London sehr typischen Platz, über dem eine wundersame Stille lag. Die hohen Wohnhäuser ringsum sahen wohlhabend und unbewohnt zugleich aus; das mit Büschen bestandene Viereck in der Mitte wirkte so verlassen wie ein grünes Inselchen im Pazifik. Eine der vier Seiten lag wie eine Art Podium sehr viel höher als die drei anderen, und die Harmonie dieser Zeile wurde unvermittelt und in unverwechselbar Londoner Manier unterbrochen: durch ein Restaurant, das sich dem Aussehen nach von Soho hierher verirrt hatte. Es war ein ungemein ansprechendes Gebäude, mit zwergwüchsigen Topfpflanzen und langen, zitronengelb und weiß gestreiften Markisen; es lag ganz besonders hoch über der Straße, und entsprechend dem üblichen Flickwerk der Londoner Bauweise führte eine Treppe direkt von der Straße zur Eingangstür, fast wie eine Feuerleiter zu einem Fenster im ersten Stock. Valentin stand rauchend vor den gelb-weißen Markisen und sah sie lange nachdenklich an.

Das Unglaublichste an Wundern ist, dass sie geschehen. Ein paar Wolken am Himmel verschmelzen miteinander zu der Gestalt eines menschlichen Auges. Auf einer Reise ins Ungewisse sieht man mitten in der Landschaft einen Baum emporragen, der genau die Gestalt eines Fragezeichens hat. Ich selbst habe während der letzten Tage beides gesehen. Nelson stirbt im Augenblick des Sieges, und ein Mann namens Williams ermordet rein zufällig einen Mann mit dem Namen Williamson; es klingt wie Kindesmord. Kurzum, es gibt ein Element märchenhaften Zufalls im Leben, das die Menschen, die nur an Alltägliches glauben, fortwährend übersehen. Wie es Poes Paradox so schön formuliert: Wahre Weisheit rechnet stets auch mit dem Unvorhergesehenen.

Aristide Valentin war durch und durch französisch; und der französische Verstand ist eine besondere Spielart des Verstandes: ist Verstand ausschließlich und total. Valentin war keine »Denkmaschine«, denn das ist eine geistlose Wortschöpfung des modernen Fatalismus und Materialismus. Eine Maschine ist schließlich nur eine Maschine, weil sie nicht denken kann. Aber er war ein denkender Mensch, und ein einfacher Mensch dazu. All seine wunderbaren Erfolge, die wie Zauberei erschienen, hatte er durch zähe Logik, durch klares, schnörkelloses französisches Denken errungen. Die Franzosen versetzen die Welt nicht in Aufregung, indem sie eine paradoxe Theorie aufstellen, sondern indem sie eine Binsenweisheit in die Tat umsetzen. Und dies sehr gründlich, wie in der Französischen Revolution. Aber eben weil Valentin wusste, was Vernunft ist, kannte er auch die Grenzen der Vernunft. Nur jemand, der nichts von Motoren versteht, spricht vom Autofahren ohne Treibstoff; nur jemand, der nichts von Vernunft versteht, spricht von Beweisführung ohne handfeste, unwiderlegbare Beweise. Hier gab es keine handfesten Beweise. Flambeau war in Harwich entwischt; falls er überhaupt in London war, konnte er in Gott weiß welcher Verkleidung auftreten: als großer Landstreicher im Park von Wimbledon ebenso wie als großer Zeremonienmeister im Hotel Metropol. In einem derartigen Zustand gänzlicher Unwissenheit hatte Valentin seine eigene Sicht- und Vorgehensweise.

In solchen Fällen verließ er sich auf das Unvorhergesehene. In solchen Fällen, in denen er nicht der Spur des Vernünftigen folgen konnte, folgte er kühl und bedacht der Spur des Unvernünftigen. Anstelle der richtigen Orte, wie Banken, Polizeistationen, beliebte Treffpunkte, suchte er bewusst die falschen auf; er klopfte an jedes leerstehende Haus, lief jede Sackgasse hinunter, jede mit Abfall verstopfte Gasse hinauf, bog in jede Straße ein, die ihn mit Sicherheit ins Abseits führte. Er rechtfertigte diese verrückte Methode ganz logisch. Seiner Ansicht nach war es am schlechtesten, wenn man einen Anhaltspunkt hatte; am besten, man hatte überhaupt keinen Anhaltspunkt, denn möglicherweise bestand die Chance, dass irgendetwas Merkwürdiges, das dem Verfolger auffiel, auch dem Verfolgten aufgefallen war. Irgendwo musste man anfangen, und vielleicht am besten gerade dort, wo ein anderer aufhören würde. Irgendetwas am Verlauf der Treppe, die in das Gebäude führte, irgendetwas an der Stille und dem altmodischen Aussehen des Restaurants erregte das Quäntchen romantischer Phantasie, über das der Detektiv immerhin verfügte, und hieß ihn, aufs Geratewohl einen Versuch zu machen. Er eilte die Treppe hinauf, nahm am Fenster Platz und bestellte eine Tasse schwarzen Kaffee.

Es war bereits später Vormittag, und er hatte noch nicht gefrühstückt. Auf dem Tisch waren die Spuren eines vorausgegangenen Frühstücks zu erkennen, was ihm seinen Hunger zum Bewusstsein brachte; er bestellte noch ein pochiertes Ei und schüttete gedankenverloren etwas weißen Zucker in seinen Kaffee. Die ganze Zeit dachte er an Flambeau. Er rief sich ins Gedächtnis, auf welch unterschiedliche Weise Flambeau bisher schon entkommen war: einmal zum Beispiel aufgrund einer Nagelschere und einmal wegen eines brennenden Hauses; einmal, weil er für einen unfrankierten Brief bezahlen musste, und einmal, indem er die Leute durch ein Teleskop einen Kometen betrachten ließ, der vielleicht die Welt zerstören würde. Er hielt seinen Detektivverstand für ebenso fähig wie den des Verbrechers, was der Wahrheit entsprach. Aber er war sich des eigenen Nachteils deutlich bewusst. »Der Verbrecher ist der schaffende Künstler, der Detektiv dagegen nur der Kritiker«, sagte er mit einem bitteren Lächeln und führte seine Kaffeetasse langsam zum Mund, setzte sie jedoch sehr schnell wieder ab. Er hatte Salz hineingestreut.

Valentin besah sich das Gefäß, das den silbrigen Puder enthalten hatte; es war zweifellos eine Zuckerdose und so eindeutig für Zucker bestimmt wie eine Champagnerflasche für Champagner. Er fragte sich, warum man wohl Salz darin aufbewahrte. Er sah sich suchend um, ob es auch Gefäße von der üblichen Sorte gab. Ja, da standen zwei bis oben gefüllte Salzstreuer. Vielleicht hatte auch der Inhalt der Salzstreuer eine besondere Würze. Er kostete; es war Zucker. Daraufhin blickte er mit dem Ausdruck neu erwachten Interesses in dem Restaurant umher, ob vielleicht noch weitere Spuren jener einzigartigen, künstlerischen Eigenart auszumachen waren, die Zucker in Salzstreuer und Salz in Zuckerdosen füllt. Doch bis auf einen merkwürdigen Spritzer, den irgendeine dunkle Flüssigkeit an einer der weißen Wände hinterlassen hatte, machte der Raum im Ganzen einen sauberen, freundlichen und normalen Eindruck. Er läutete nach dem Kellner.

Als dieser dienstbare Geist, mit wirren Haaren und – ob der frühen Stunde – noch leicht verschlafenen Augen herbeieilte, bat ihn der Detektiv, der für die schlichten Formen des Humors durchaus etwas übrig hatte, den Zucker zu kosten und zu prüfen, ob er dem guten Ruf des Hotels gerecht werde. Die Folge davon war, dass der Kellner plötzlich gähnte und von einer Sekunde zur anderen aufwachte.

»Spielen Sie Ihren Gästen jeden Morgen diesen reizenden Streich?«, fragte Valentin. »Verliert es niemals seinen Reiz für Sie, Salz und Zucker zu vertauschen?«

Als ihm die Ironie der Frage aufgegangen war, versicherte ihm der Kellner stammelnd, dass nichts dergleichen in der Absicht der Hotelleitung liege, es müsse sich um ein höchst merkwürdiges Versehen handeln. Er hob die Zuckerdose hoch und betrachtete sie; er hob den Salzstreuer hoch und betrachtete diesen, wobei der Ausdruck seines Gesichts immer verwirrter wurde. Schließlich entschuldigte er sich abrupt, eilte hinaus und kehrte nach ein paar Sekunden mit dem Besitzer zurück. Auch der Besitzer betrachtete eingehend Zuckerdose und Salzstreuer; auch der Besitzer blickte verwirrt drein.

Plötzlich stieß der Kellner einen Schwall unartikulierter Worte hervor.

»Ich glaub«, sagte er heftig stotternd, »ich glaub, die zwei Priester warn’s.«

»Welche zwei Priester?«

»Die zwei Priester«, sagte der Kellner, »die die Suppe an die Wand geschmissen ha’m.«

»Suppe an die Wand geschmissen?«, wiederholte Valentin, überzeugt, dass es sich hierbei um einen metaphorischen Ausdruck aus dem Italienischen handeln müsse.

»Ja, ja«, sagte der Kellner aufgeregt und zeigte auf den dunklen Spritzer auf der weißen Tapete, »da drüben an die Wand ha’m sie sie geschmissen.«

Valentin sah den Besitzer fragend an, der ihm mit einem etwas ausführlicheren Bericht zu Hilfe kam.

»Ja, Sir«, sagte er, »das stimmt schon, obwohl ich nicht glaube, dass es etwas mit der Zucker-und-Salz-Geschichte zu tun hat. Zwei Geistliche betraten sehr früh, kurz nachdem wir geöffnet hatten, das Restaurant und tranken Suppe. Beide waren ruhige, ehrenwerte Herren; der eine von ihnen bezahlte die Rechnung und ging hinaus; der andere, alles in allem anscheinend ein bisschen tranfunzelig, brauchte ein paar Minuten länger, bis er seine Siebensachen beisammen hatte. Aber schließlich ging er. Nur, unmittelbar bevor er auf die Straße trat, hob er absichtlich seine Tasse, die er nur zur Hälfte ausgetrunken hatte, und kippte die Suppe ganz plötzlich an die Wand. Ich hielt mich im Hinterzimmer auf, genauso wie der Kellner; ich stürzte gleich herbei, sah aber nur noch, dass die Wand bespritzt und der Raum leer war. Nicht, dass es besonders großen Schaden angerichtet hätte, aber es war einfach unverschämt; und ich versuchte, die Männer auf der Straße einzuholen. Aber sie waren schon zu weit; ich sah nur noch, wie sie in die Carstairs Street einbogen.«

Schon war der Detektiv auf den Beinen, den Hut auf dem Kopf, den Spazierstock in der Hand. Er hatte ja bereits entschieden, in seinem Zustand des totalen Nichtwissens, dem ersten seltsamen Fingerzeig zu folgen; und dieser Fingerzeig war seltsam genug. Er bezahlte seine Rechnung, schlug die Glastüren klirrend hinter sich zu und bog gleich darauf um die nächste Ecke.

Zum Glück bewahrte er selbst in solch erregenden Momenten seinen kühlen, flinken Blick. Und irgendetwas vor einem Geschäft fesselte für den Bruchteil einer Sekunde diesen Blick. Valentin kehrte um, um der Sache auf den Grund zu gehen.

Es war ein preiswerter Obst- und Gemüseladen, der einen Teil seiner Ware, mit simplen Namens- und Preisschildern versehen, im Freien ausstellte. Das Auffallendste in der Auslage waren die zu Bergen aufgehäuften Orangen und Nüsse. Auf dem Berg mit den Nüssen lag ein Stück Pappe, auf dem mit blauer Kreide deutlich geschrieben stand: »Beste Orangen aus Tanger, zwei Stück einen Penny.« Der Orangenberg trug ein Schild mit der ebenso klaren und genauen Aufschrift: »Feinste brasilianische Nüsse, vier Pence das Pfund.« Valentin starrte auf die beiden Pappschilder, und er hatte das Gefühl, als wäre ihm diese höchst feinsinnige Art von Humor schon einmal begegnet, und zwar vor nicht allzu langer Zeit. Er lenkte die Aufmerksamkeit des rotgesichtigen Obsthändlers, der ziemlich mürrisch die Straße auf und ab blickte, auf die Ungenauigkeit in seiner Werbung. Der Händler sagte nichts, steckte jedoch mit einer heftigen Bewegung die Schilder an die richtige Stelle. Lässig auf seinen Spazierstock gestützt, betrachtete der Detektiv weiterhin den Laden mit prüfendem Blick. Schließlich sagte er: »Bitte verzeihen Sie meinen scheinbar abwegigen Einfall, guter Mann, aber ich würde Sie gern etwas über experimentelle Psychologie und Gedankenassoziation fragen.«

Der rotgesichtige Ladenbesitzer sah ihn mit drohendem Blick an, doch Valentin fuhr, seinen Spazierstock schwingend, munter fort. »Was«, so fragte er, »was haben zwei in einem Obstladen falsch aufgestellte Preisschilder mit einem Schaufelhut, der in London Urlaub macht, gemeinsam? Oder, falls ich mich nicht klar genug ausdrücke, worin besteht die geheimnisvolle Gedankenverbindung zwischen Nüssen, die man als Orangen bezeichnet, und zwei Geistlichen, von denen einer groß, der andere klein ist?«

Dem Gemüsehändler traten, wie einer Schnecke, die Augen aus dem Kopf; einen Moment lang sah es tatsächlich so aus, als würde er sich auf den Fremden stürzen. Schließlich stieß er zornig die Worte hervor: »Ich weiß ja nicht, was Sie damit zu tun haben, aber wenn Sie einer von ihren Freunden sind, dann können Sie ihnen bestellen, dass sie einen von mir auf den Dez kriegen, wenn sie noch mal meine Äpfel durcheinanderwerfen, Pfarrer hin oder her.«

»Wirklich?«, fragte der Detektiv mitfühlend. »Haben sie Ihre Äpfel durcheinandergebracht?«

»Ja, der eine von ihnen«, sagte der erboste Obsthändler, »er hat sie über die ganze Straße verstreut. Ich hätte den Dummkopf ja erwischt, aber ich musste doch die Äpfel auflesen.«

»In welche Richtung sind die zwei Pfarrer gegangen?«, fragte Valentin.

»Die zweite Straße links und dann quer über den Platz«, entgegnete der andere eilfertig.

»Danke«, sagte Valentin und verschwand wie durch einen Zauber. Jenseits des zweiten Platzes stieß er auf einen Polizisten und sagte: »Dies ist eine dringende Sache, Konstabler, haben Sie zwei Geistliche mit Schaufelhüten gesehen?«

Der Polizist brach in ein glucksendes Lachen aus. »Das habe ich, Sir; und wenn Sie mich fragen, war der eine von ihnen betrunken. Er stand derart hilflos mitten auf der Straße, dass –«

»In welche Richtung sind sie gegangen?«, blaffte Valentin.

»Sie haben einen von diesen gelben Bussen da drüben genommen«, antwortete der Mann, »die nach Hampstead fahren.«

Valentin zeigte seinen Ausweis und sagte hastig: »Rufen Sie zwei Ihrer Leute; sie sollen mich bei der Verfolgung unterstützen.« Er überquerte die Straße mit solch ansteckender Energie, dass der schwerfällige Polizist seinem Befehl geradezu wieselflink gehorchte. Eineinhalb Minuten später stießen auf der anderen Straßenseite ein Inspektor und ein Beamter in Zivil zu dem französischen Detektiv.

»Nun, Sir«, begann der Inspektor mit wichtigem Lächeln, »was ist eigentlich –?«

Mit einer Einhalt gebietenden Geste seines Stockes fiel ihm Valentin ins Wort. »Ich erkläre Ihnen alles, wenn wir erst da oben in dem Bus sitzen«, sagte er und schlängelte und wand sich geschickt durch das Verkehrsgewirr. Als alle drei keuchend im Oberdeck des gelben Gefährts auf die Sitze sanken, meinte der Inspektor: »In einem Taxi könnten wir viermal so schnell sein.«

»Wohl wahr«, antwortete ihr Anführer gelassen, »wenn wir nur die leiseste Ahnung hätten, wohin wir fahren.«

»Nun, und wohin fahren wir?«, fragte der andere und starrte ihn an.

Valentin zog ein paar Sekunden stirnrunzelnd an seiner Zigarette; dann nahm er sie aus dem Mund und sagte: »Wenn Sie wissen, was ein Mensch vorhat, überholen Sie ihn; wenn Sie aber herausfinden wollen, was er vorhat, bleiben Sie hinter ihm. Gehen Sie, wenn er geht; bleiben Sie stehen, wenn er stehen bleibt; bewegen Sie sich so langsam vorwärts wie er. Dann sehen Sie vielleicht, was er gesehen hat, und können dasselbe tun wie er. Alles, was wir tun können, ist, aufmerksam nach einer merkwürdigen Sache Ausschau zu halten.«

»Was für eine merkwürdige Sache meinen Sie«, fragte der Inspektor.

»Jede merkwürdige Sache«, antwortete Valentin und verfiel wieder in hartnäckiges Schweigen.

Scheinbar endlos quälte sich der Omnibus über die Straßen nach Norden; der große Detektiv gab keine weiteren Erklärungen ab, und vielleicht verspürten seine Helfer insgeheim zunehmend Zweifel an dem ganzen Unternehmen. Vielleicht verspürten sie insgeheim auch zunehmend den Wunsch, etwas zu essen, denn die Zeit des Mittagessens verstrich, und die endlosen Straßen in den nördlichen Vororten zogen sich wie ein teuflisches Teleskop scheinbar immer wieder in die Länge. Es war eine jener Fahrten, auf denen man unaufhörlich denkt, nun müsse man wirklich am Ende der Welt angekommen sein, um dann festzustellen, dass man sich erst am Anfang des Tufnell Park befindet. London verlor sich in schmutzigen Kneipen und trostlosen Ecken, um dann auf unerklärliche Weise in hell erleuchteten Geschäftsstraßen und protzigen Hotels neu zu erstehen. Es war, als würde man durch dreizehn einzelne, hässliche Städte fahren, von denen eine in die andere überging. Doch obwohl die Winterdämmerung bereits die Straße vor ihnen verdunkelte, verharrte der Detektiv aus Paris immer noch schweigend und wachsam auf seinem Sitz und ließ kein Auge von den Straßenfronten, die rechts und links vorbeiflogen. Als sie Camden Town hinter sich gelassen hatten, waren die Polizeibeamten fast eingeschlafen; jedenfalls fuhren beide erschreckt hoch, als Valentin aufsprang, ihnen mit der Hand auf die Schulter klopfte und dem Fahrer zu halten befahl.

Sie stolperten die Treppe hinunter auf die Straße, ohne zu begreifen, warum man sie aufgestört hatte; als sie aufklärungheischend um sich blickten, sahen sie, wie Valentin triumphierend mit dem Finger auf ein Fenster auf der linken Straßenseite deutete. Es war ein großes Fenster in der Vorderfront eines luxuriösen, palastartigen Gasthauses; es gehörte zu dem Teil, der für vornehmes Dinieren reserviert war, und trug die Aufschrift »Restaurant«. Wie alle übrigen Fenster der Hotelfassade bestand auch dieses aus verziertem Mattglas, nur befand sich genau in seiner Mitte, wie ein Stern im Eis, ein großer schwarzer Sprung.

»Da haben wir ja unseren Hinweis«, rief Valentin und schwang seinen Stock, »das zerbrochene Fenster.«

»Welches Fenster? Welchen Hinweis?«, fragte sein erster Assistent. »Wo, bitte, ist denn der Beweis, dass das hier etwas mit den beiden zu tun hat?«

Valentin zerbrach vor Wut fast seinen Bambusstock.

»Beweis!«, schrie er. »Du lieber Gott! Der Mann verlangt einen Beweis! Nun, allerdings, die Chancen stehen zwanzig zu eins, dass es nichts mit ihnen zu tun hat. Aber was können wir denn sonst tun? Begreifen Sie nicht? Entweder wir folgen der kleinsten wahnwitzigen Möglichkeit, oder wir können uns zu Hause in unser Bett legen.« Türenschlagend stürmte er, gefolgt von seinen Begleitern, in das Restaurant, und schon bald nahmen sie an einem kleinen Tisch eine späte Mahlzeit ein, wobei sie sich den Stern aus gesprungenem Glas von innen ansahen. Nicht dass sie das viel schlauer gemacht hätte!

»Ihre Fensterscheibe ist zerbrochen, wie ich sehe«, sagte Valentin zu dem Kellner, als er seine Rechnung beglich.

»Ja, Sir«, gab dieser zur Antwort, während er sich intensiv mit dem Wechselgeld beschäftigte, das Valentin stillschweigend um ein enormes Trinkgeld erhöhte. Sichtlich belebt, richtete der Kellner sich auf.

»Ach ja, Sir«, sagte er bereitwillig. »Ganz komische Sache das, Sir.«

»Wirklich? Erzählen Sie uns doch davon«, sagte der Detektiv mit beiläufiger Neugier.

»Also, es kamen zwei Männer in Schwarz herein«, berichtete der Kellner, »zwei von diesen ausländischen Geistlichen, die zurzeit hier herumrennen. Sie verzehrten ein billiges, bescheidenes Mittagessen, und der eine von ihnen bezahlte und ging hinaus. Der andere war gerade im Begriff, ihm zu folgen, als ich noch mal mein Wechselgeld überprüfte und feststellte, dass er mir mehr als das Dreifache bezahlt hatte. ›Hier‹, sage ich zu dem Burschen, der schon fast aus der Tür war, ›Sie haben zu viel bezahlt.‹ ›Oh‹, sagt er kühl, ›ist das wahr?‹ ›Ja‹, sage ich und will ihm die Rechnung zeigen. Na, das war vielleicht ein Schlag.«

»Was meinen Sie?«, fragte sein Gesprächspartner.

»Na, ich hätte auf sieben Bibeln geschworen, dass ich vier Shilling auf die Rechnung geschrieben habe. Aber nun seh ich, dass ich klar und deutlich vierzehn Shilling aufgeschrieben habe.«

»Ja«, rief Valentin und bewegte sich langsam, aber mit gespanntem Blick, »und weiter?«

»Da sagt der Pfarrer an der Tür ganz ruhig: ›Tut mir leid, wenn ich Ihre Buchführung durcheinanderbringe, aber das reicht wohl für das Fenster.‹

›Welches Fenster?‹, frage ich. ›Für das Fenster, das ich jetzt kaputtschlage‹, sagt er und zertrümmert die verdammte Scheibe mit seinem Schirm.«

Alle gaben einen Ausruf des Erstaunens von sich, und der Inspektor murmelte vor sich hin: »Sind wir denn hinter entsprungenen Irren her?« Der Kellner fuhr mit sichtlichem Gefallen an der lächerlichen Geschichte fort:

»Eine Sekunde lang war ich wie vor den Kopf geschlagen und konnte überhaupt nichts tun. Der Mann marschierte aus dem Raum und folgte seinem Freund um die nächste Ecke. Dann liefen sie so schnell die Bullock Street hinauf, dass ich sie nicht mehr einholen konnte, obwohl ich extra durch die Schankstube gerannt bin.«

»Bullock Street«, sagte der Detektiv und schoss die Straße ebenso schnell hinauf wie das seltsame Paar, das er verfolgte.

Ihr Weg führte sie nun an kahlen Backsteinmauern vorbei, die wie Tunnels aussahen; durch Straßen, in denen es kaum Licht und nur wenige Fenster gab; Straßen, die aus allem erbaut zu sein schienen, was irgendwie und irgendwo an Abfall liegengeblieben war. Die Dunkelheit nahm zu, und selbst für die Londoner Polizisten war es nicht leicht, genau zu sagen, in welche Richtung sie sich bewegten. Der Inspektor war jedoch ganz sicher, dass sie zu guter Letzt im Bereich der Heide von Hampstead landen würden. Plötzlich durchbrach der Schein eines gewölbten, vom Gaslicht erhellten Fensters wie eine Blendlaterne die blaue Dämmerung, und Valentin blieb einen Augenblick vor dem kleinen, kunterbunten Süßwarenladen stehen. Nach kurzem Zögern trat er ein; vollkommen ernst stand er inmitten der lustigen Farben der Konditorei und wählte mit einer gewissen Sorgfalt dreizehn Schokoladenzigarren aus. Er suchte sichtlich nach einer Einleitung, aber das war nicht nötig.

Die eckige, ältlich wirkende, aber junge Verkäuferin hatte seine elegante Erscheinung nur mit einem mechanischen, flüchtigen Blick wahrgenommen; als sie jedoch die Ladentür durch die blaue Uniform des Inspektors versperrt sah, schien ihr Blick zu erwachen.

»Oh«, sagte sie, »falls Sie wegen dem Päckchen hier sind, das hab ich schon weggeschickt.«

»Päckchen?«, wiederholte Valentin und sah sie nun seinerseits fragend an.

»Ich meine das Päckchen, das der Herr hiergelassen hat – der geistliche Herr.«

»Um Himmels willen«, sagte Valentin, indem er sich vorbeugte und zum ersten Mal sein gespanntes Interesse wirklich erkennen ließ, »erzählen Sie uns um Himmels willen genau, was passiert ist.«

»Also«, begann die Frau etwas unsicher, »die zwei Pfarrer kamen vor etwa einer halben Stunde herein, kauften ein paar Pfefferminzbonbons, schwatzten ein bisschen über dies und das und gingen dann in Richtung Heide davon. Aber schon nach einer Sekunde kommt einer der beiden zurück in den Laden und fragt: ›Habe ich hier ein Päckchen liegengelassen?‹ Nun, ich habe überall nachgesehen, konnte aber nichts entdecken. Daraufhin sagt er: ›Macht nichts. Aber wenn es noch auftaucht, schicken Sie es bitte an diese Anschrift‹, und er gab mir die Adresse und einen Shilling für meine Bemühungen. Und tatsächlich, obwohl ich dachte, ich hätte überall nachgesehen, fand ich doch ein braun eingewickeltes Päckchen und schickte es an die angegebene Adresse. Sie fällt mir jetzt nicht mehr ein, es war irgendwo in Westminster. Aber weil die Sache anscheinend so wichtig war, dachte ich, die Polizei wäre vielleicht deshalb gekommen.«

»Das ist sie auch«, sagte Valentin knapp. »Ist die Hampsteader Heide hier in der Nähe?«

»Eine Viertelstunde geradeaus«, sagte die Frau, »und Sie sind mittendrin.« Valentin sprang aus dem Laden und begann zu laufen. Die anderen Polizeibeamten trabten widerwillig hinter ihm drein.

Die Straße, durch die sie hindurcheilten, war eng und schattig, und als sie unvermittelt auf die kahle Ebene unter dem endlosen Himmel hinaustraten, stellten sie überrascht fest, wie hell und klar der Abend noch war. Eine vollkommene pfauengrüne Kuppel verwandelte sich zwischen dem zunehmenden Schwarz der Bäume und dem dunklen Veilchenblau der Ferne in Gold. Die strahlend grüne Färbung war gerade tief genug, dass man ein paar Sterne wie Kristallsplitter aufblitzen sah. Der letzte Rest des Tageslichtes lag wie ein goldener Schimmer über der Silhouette von Hampstead und jener beliebten Senke mit dem Namen Tal des Heils. Die Ausflügler, die in dieser Gegend umherstreiften, hatten sich noch nicht völlig zerstreut: einige Paare, deren Umrisse kaum noch zu erkennen waren, saßen auf den Bänken, und hier und da hörte man entfernt ein schrilles Mädchenlachen von einer der Schaukeln. Die himmlische Herrlichkeit vertiefte sich und verhüllte allmählich die unendliche Gewöhnlichkeit des Menschen; und während Valentin an dem Abhang stand und seinen Blick über das Tal schweifen ließ, entdeckte er, was er gesucht hatte.

Unter den schwarzen, sich in der Ferne auflösenden Gruppen war eine ganz besonders schwarze, die sich nicht auflöste – eine Gruppe von zwei Gestalten im geistlichen Gewand. Obwohl sie so klein wie Insekten schienen, konnte Valentin erkennen, dass einer der beiden viel kleiner war als der andere. Obwohl der andere die Haltung eines über seine Arbeit gebeugten Studenten hatte und sich unauffällig benahm, konnte Valentin erkennen, dass der Mann mehr als sechs Fuß maß. Er biss die Zähne zusammen und marschierte vorwärts, wobei er ungeduldig seinen Stock schwang. Als sich der Abstand deutlich verringert hatte und die zwei schwarzen Gestalten wie unter einem riesigen Mikroskop immer größer wurden, entdeckte er noch etwas anderes; etwas, das ihn erschreckte, das er jedoch irgendwie erwartet hatte. Wer auch immer der hochgewachsene Pfarrer sein mochte, an der Identität des kleinen konnte keinerlei Zweifel bestehen. Es war sein Freund aus dem Zug von Harwich, der stämmige kleine curé aus Essex, den er wegen seiner braunen Pakete zur Vorsicht gemahnt hatte.

Nun, so weit passte schließlich alles ganz logisch zusammen. Valentin hatte bei seinen Nachforschungen am Morgen erfahren, dass ein gewisser Pater Brown aus Essex ein mit Saphiren besetztes silbernes Kreuz, eine Reliquie von beträchtlichem Wert, bei sich hatte, um sie einigen ausländischen Geistlichen auf dem Kongress zu zeigen. Zweifellos war dies das »Silberne mit den blauen Steinen«, und zweifellos war Pater Brown der kleine Einfaltspinsel aus dem Zug. Nun war ja nichts Erstaunliches an der Tatsache, dass Flambeau dasselbe wie Valentin herausgefunden hatte; Flambeau fand alles heraus. Es war auch nichts Erstaunliches an der Tatsache, dass Flambeau, wenn er etwas von einem Saphirkreuz hörte, den Versuch unternehmen würde, es zu stehlen; das war die natürlichste Sache der Welt. Und es war erst recht nichts Erstaunliches an der Tatsache, dass Flambeau ein so treuherziges Schaf wie den Mann mit dem Schirm und den Paketen nach Herzenslust an der Nase herumführen würde. Er war die Art Mensch, die jedermann willig an einer Leine zum Nordpol führen könnte; also war es kein Wunder, dass ein Schauspieler wie Flambeau, als Priester verkleidet, ihn in die Hampsteader Heide führen konnte. So weit schien das Verbrechen klar; und während der Detektiv den Pfarrer um seiner Hilflosigkeit willen bedauerte, verachtete er Flambeau fast ein wenig dafür, dass er sich ein solch tölpelhaftes Opfer auserkoren hatte. Aber während Valentin alles, was inzwischen geschehen war und zu seinem Triumph geführt hatte, im Geist noch einmal vorüberziehen ließ, zermarterte er sich umsonst das Hirn: er konnte nicht den geringsten Sinn und Zweck darin erkennen. Wie hing das zusammen: Man stiehlt einem Priester aus Essex ein blau-silbernes Kreuz und wirft einen Teller Suppe an die Wand. Man bezeichnet Nüsse als Apfelsinen und bezahlt im voraus die Fensterscheibe, die man dann zertrümmert? Wo war das Bindeglied? Er war am Ende seiner Jagd angekommen, aber irgendwie war ihm der Kern der Sache entgangen. Wenn er einmal einen Fall nicht löste, was selten genug vorkam, dann hatte er normalerweise den Schlüssel des Verbrechens gefunden, nur den Verbrecher nicht gefasst. Hier nun hatte er den Verbrecher erwischt, doch noch immer nicht die Zusammenhänge begriffen.

Die beiden Gestalten, denen sie folgten, krabbelten wie schwarze Fliegen die riesige, grüne Silhouette eines Hügels hinan. Anscheinend waren sie in ein Gespräch vertieft und achteten nicht darauf, wohin sie gingen; jedenfalls bewegten sie sich auf die wilden und noch einsameren Hochflächen der Heide zu. Als der Vorsprung kleiner wurde, mussten die Verfolger die unwürdige Haltung des Jägers auf der Pirsch einnehmen, sich hinter Baumgruppen kauern und sogar bäuchlings durch das tiefe Gras kriechen. Durch den Einsatz dieser wenig eleganten Fortbewegungsart kamen die Jäger sogar nahe genug an die Beute heran, um die leise Unterhaltung mit anzuhören, aber es war nichts deutlich zu verstehen außer dem Wort »Vernunft«, das von einer hohen, fast kindlichen Stimme mehrmals wiederholt wurde. Einmal, in einer jäh abfallenden, mit dichtem Gestrüpp bestandenen Bodensenke, verloren die Beamten die zwei Gestalten gänzlich aus den Augen. Erst nach qualvollen zehn Minuten fanden sie wieder ihre Spur; sie führte am Rand eines steil abfallenden Hügels entlang, der über ein Amphitheater blickte, auf dessen Bühne sich gerade das großartige, schwermütige Schauspiel eines Sonnenuntergangs abspielte. An diesem eindrucksvollen, wenn auch verlassenen Ort stand unter einem Baum eine alte wackelige Holzbank. Auf dieser Bank saßen die beiden Geistlichen, noch immer ernsthaft ins Gespräch vertieft. Noch hielt sich das prächtige Grün und Gold am dunkler werdenden Horizont; doch die Kuppel darüber verfärbte sich allmählich von Pfauengrün in Pfauenblau, und die Sterne traten immer deutlicher daraus hervor, wie einzelne große Juwelen. Stumm gab Valentin seinen Begleitern einen Wink und kroch hinter den großen, dichtverzweigten Baum; und während er in tödlichem Schweigen dort stand, vernahm er zum ersten Mal die Worte der seltsamen Priester.

Nachdem er eineinhalb Minuten gelauscht hatte, erfasste ihn ein entsetzlicher Zweifel. Womöglich hatte er die beiden englischen Polizeibeamten zu einem Unternehmen in die Wildnis der nächtlichen Heide gelockt, das ungefähr so vernünftig war wie die Suche nach Feigen an einer Distel. Denn die beiden Priester sprachen haargenau wie Priester, ehrfürchtig, gelehrt und mit Muße über die unergründlichen Rätsel der Theologie. Der kleine Pfarrer aus Essex sprach besonders klar, sein rundes Gesicht den immer heller leuchtenden Sternen zugewandt; der andere sprach mit gesenktem Kopf, so als wäre er es nicht einmal wert, sie anzusehen. Aber weder in einem weißen italienischen Kloster noch in einer schwarzen spanischen Kathedrale hätte man ein unschuldigeres geistliches Gespräch belauschen können.

Das Erste, was Valentin hörte, war das Ende eines Satzes von Pater Brown: »… was man im Mittelalter wirklich unter der Unbestechlichkeit des Himmels verstand.«

Der größere Priester nickte mit gesenktem Kopf und sagte:

»Ach ja, diese modernen Ungläubigen berufen sich auf ihre Vernunft; aber wer kann schon jene Millionen Welten betrachten, ohne zu spüren, dass es vielleicht andere wundervolle Welten über uns gibt, in denen Vernunft absolut unvernünftig ist?«

»Nein«, sagte der andere Priester. »Vernunft ist immer vernünftig, selbst in der letzten Vorhölle, im verlorenen Grenzland der Dinge. Ich weiß, dass viele Leute der Kirche vorwerfen, sie schränke die Vernunft ein; aber genau das Gegenteil ist der Fall. Einzig und allein die Kirche räumt der Vernunft den höchsten Rang ein. Einzig und allein die Kirche bestätigt, dass selbst Gott an die Vernunft gebunden ist.«

Der andere Priester wandte sein ernstes Gesicht dem gestirnten Himmel zu und sagte:

»Doch wer weiß, ob in jenem unendlichen Universum –?«

»Nur im physischen Sinne unendlich«, unterbrach ihn der kleine Priester und wandte sich mit einer heftigen Bewegung seinem Gesprächspartner zu, »nicht unendlich, wenn man darunter versteht, den Gesetzen der Wahrheit zu entfliehen.«

Hinter seinem Baum zog und zerrte Valentin in stummer Wut an seinen Fingernägeln. Er hörte förmlich das Gekicher der englischen Polizeibeamten, die er auf eine wilde Vermutung hin hierher geführt hatte, nur damit sie nun dem metaphysischen Geschwätz zweier abgeklärter alter Geistlicher lauschen konnten. In seiner Ungeduld entging ihm die ebenso sorgfältig entwickelte Antwort des großen Geistlichen, und als er wieder zuhörte, war es erneut Pater Brown, der sprach:

»Vernunft und Gerechtigkeit erfassen auch den entferntesten, einsamsten Stern. Betrachten Sie diese Sterne. Sehen sie nicht aus, als wäre jeder einzelne ein Diamant oder Saphir? Sicher, Sie können sich eine verrückte Botanik oder Geologie nach Ihrem Geschmack vorstellen. Denken Sie zum Beispiel an Diamantenwälder mit Blättern aus Brillanten. Stellen Sie sich den Mond als blauen Mond vor, als einen einzigartigen, riesenhaften Saphir. Aber glauben Sie nicht, dass diese ganze durcheinandergeratene Astronomie auch nur das Geringste an der Vernunft und Gerechtigkeit menschlichen Handelns ändern würde. Selbst auf Ebenen aus Opal und unter Perlenklippen würden Sie noch eine Anschlagtafel finden mit der Aufschrift: ›Du sollst nicht stehlen.‹«

Valentin war soeben im Begriff, sich aus seiner starren, krummen Haltung zu erheben und möglichst unauffällig davonzuschleichen, am Boden zerstört durch die eine große Torheit seines Lebens. Aber etwas an dem langen Schweigen des großen Priesters gebot ihm abzuwarten, bis dieser sprach. Als er schließlich das Wort ergriff, sagte er einfach, mit gesenktem Kopf und die Hände auf den Knien:

»Nun, ich glaube noch immer, dass andere Welten vielleicht unsere Vernunft übersteigen. Das Geheimnis des Himmels ist unergründlich, und vor dieser Wahrheit kann ich mich nur verneigen.«

Dann, das Gesicht noch immer gesenkt und ohne auch nur im Geringsten Haltung und Stimme zu verändern, setzte er hinzu:

»Und jetzt geben Sie mir dieses Saphirkreuz, klar? Wir sind ganz allein hier, und ich könnte Sie wie eine Strohpuppe in Stücke reißen.«

Die völlig unveränderte Stimme und Haltung verlieh der schrecklichen Wendung des Gesprächs etwas seltsam Gewalttätiges. Aber der Hüter der Reliquie schien lediglich um einen winzigen Bruchteil den Kopf zu drehen. Offenbar hielt er noch immer sein treuherziges Gesicht den Sternen zugewandt. Vielleicht hatte er nicht richtig verstanden. Oder vielleicht hatte er sehr wohl verstanden und saß nur starr vor Schrecken da.

»Ja«, sagte der große Priester mit der gleichen leisen Stimme und in der gleichen reglosen Haltung, »ja, ich bin Flambeau.«

Dann, nach einer Pause, setzte er hinzu:

»Na los, nun geben Sie mir das Kreuz.«

»Nein«, antwortete der andere, und die Silbe hatte einen merkwürdigen Klang.

Flambeau ließ plötzlich seine priesterliche Anmaßung fahren. Der große Dieb lehnte sich zurück und lachte leise, aber anhaltend.

»Nein«, rief er, »Sie werden es mir nicht geben, Sie stolzer Prälat. Sie werden es mir nicht geben, Sie kleiner, weltfremder Simpel. Und soll ich Ihnen sagen, warum nicht? Weil ich es bereits in meiner Brusttasche habe.«

Der kleine Mann aus Essex wandte Flambeau im Dunkeln sein scheinbar verwirrtes Gesicht zu und sagte mit dem ängstlichen Eifer des naiven Pfarrers in alten Schwänken:

»Sind – sind Sie sicher?«

Flambeau kreischte vor Vergnügen.

»Wahrhaftig, Sie sind eine echte Zirkusnummer«, rief er. »Ja, Sie Trottel, ich bin ganz sicher. Ich war so schlau, ein Duplikat des richtigen Päckchens anzufertigen, und jetzt, mein Freund, haben Sie das Duplikat und ich die Juwelen. Ein alter Trick, Pater Brown – ein ganz alter Trick.«

»Ja«, sagte Pater Brown und fuhr sich wieder mit einer seltsam vagen Geste durch das Haar. »Ja, davon habe ich schon gehört.«

Der Goliath des Verbrechens beugte sich mit plötzlich erwachtem Interesse zu dem kleinen Priester vom Lande hinüber.

»Sie haben davon gehört?«, fragte er. »Wo haben Sie denn davon gehört?«

»Nun, ich darf Ihnen natürlich seinen Namen nicht nennen«, sagte der kleine Mann schlicht. »Er war eines meiner Beichtkinder, wissen Sie. Zwanzig Jahre lang hat er mit Erfolg ausschließlich von vertauschten, gleich aussehenden Packpapierpäckchen gelebt. Als ich also anfing, Sie zu verdächtigen, musste ich sofort daran denken, wie der arme Bursche es gemacht hat, verstehen Sie?«

»Anfingen, mich zu verdächtigen«, wiederholte der Verbrecher mit wachsender Spannung. »Hatten Sie wirklich so viel Grips, mich nur zu verdächtigen, weil ich Sie bis in diesen abgelegenen Teil der Heide gelockt habe?«

»Nein, nein«, sagte Brown leicht entschuldigend. »Ich habe Sie schon bei unserer ersten Begegnung verdächtigt, wissen Sie. Es lag an der kleinen Ausbuchtung des Ärmels, da, wo Sie und Ihresgleichen das Stachelarmband tragen.«

»Wie, beim Tartarus«, schrie Flambeau, »haben Sie von diesem Stachelarmband erfahren?«

»Ach, die eigenen Schäfchen, verstehen Sie?«, sagte Pater Brown, wobei er mit nahezu ausdruckslosem Gesicht die Augenbrauen hochzog. »Als ich Seelsorger in Hartlepool war, hatten wir dort drei mit Stachelarmbändern. Weil ich Sie also von Anfang an im Verdacht hatte, verstehen Sie, war es meine ganze Sorge, auf irgendeine Weise das Kreuz in Sicherheit zu bringen. Ich habe Sie genau beobachtet, wissen Sie. Schließlich sah ich, wie Sie die Päckchen vertauschten. Daraufhin, verstehen Sie, habe ich sie nochmals vertauscht. Und dann habe ich das richtige zurückgelassen.«

»Zurückgelassen?«, wiederholte Flambeau, und zum ersten Male war in seiner Stimme noch ein anderer Unterton als der des Triumphes.

»Tja, genauso war es«, sagte der kleine Priester in dem gleichen ungerührten Ton wie zuvor. »Ich kehrte zurück in diesen Süßwarenladen und fragte, ob ich ein Päckchen vergessen hätte; für den Fall, dass es noch auftauchen würde, hinterließ ich eine private Adresse. Ich hatte natürlich nichts liegengelassen, aber als ich diesmal den Laden verließ, tat ich es. Und so rannte niemand hinter mir her mit dem wertvollen Päckchen, sondern es wurde per Eilpost an einen Freund von mir in Westminster geschickt.« Dann fügte er leicht betrübt hinzu: »Das habe ich auch von so einem armen Kerl in Hartlepool gelernt. Er machte es so mit Handtaschen, die er auf Bahnhöfen mitgehen ließ, aber jetzt ist er in einem Kloster. Ach ja, man erfährt manches, wissen Sie«, ergänzte er und strich sich wieder mit der gleichen entschuldigenden Geste traurig über das Haar. »Das lässt sich nicht vermeiden, wenn man Priester ist. Die Leute erzählen uns nun einmal solche Sachen.«

Flambeau zerrte ein braunes Päckchen aus seiner Innentasche und riss es in Stücke. Es enthielt nichts als Papier und ein paar Stückchen Blei. Mit einem wilden Satz war er auf den Beinen und schrie:

»Ich glaube Ihnen nicht. Ich glaube nicht, dass ein Tölpel wie Sie das alles deichseln kann. Ich glaube, dass Sie das Ding immer noch bei sich haben, und wenn Sie es nicht sofort hergeben – dann, wir sind schließlich ganz allein hier, dann nehme ich es mir mit Gewalt!«

»Nein«, sagte Pater Brown schlicht und erhob sich ebenfalls, »Sie werden es sich nicht mit Gewalt nehmen. Erstens, weil ich es wirklich nicht mehr bei mir habe, und zweitens, weil wir nicht allein sind.«

Flambeau blieb wie angewurzelt stehen.

»Hinter jenem Baum«, sagte Pater Brown und zeigte mit dem Finger die Richtung an, »stehen zwei kräftige Polizeibeamte und der berühmteste Detektiv der Welt. Wie sie hierher kommen, fragen Sie? Nun, natürlich habe ich sie hierher gebracht! Wie mir das gelungen ist? Das kann ich Ihnen sagen, wenn Sie wollen! Meine Güte, man muss tausend solcher Tricks kennen, wenn man mit Verbrechern zu tun hat! Nun, ich war ja nicht sicher, ob Sie ein Dieb waren, und es wäre völlig unmöglich gewesen, einen Priester des eigenen Klerus zu verleumden. Also stellte ich Sie auf die Probe, um zu sehen, ob Sie sich durch irgendetwas verraten würden. Normalerweise macht jemand Theater, wenn er merkt, dass Salz in seinem Kaffee ist; tut er es nicht, hat er einen Grund, ruhig zu bleiben. Ich vertauschte Salz und Zucker, und Sie sagten kein Wort. Normalerweise beschwert sich jemand, wenn seine Rechnung um ein Dreifaches zu hoch ist. Bezahlt er sie stillschweigend, will er um keinen Preis auffallen. Ich änderte Ihre Rechnung, und Sie bezahlten sie.«

Die Welt schien darauf zu warten, dass Flambeau sich wie ein Tiger auf den Pater stürzte. Doch er war wie betäubt, gebannt von einer grenzenlosen Neugier.

»Nun«, fuhr Pater Brown mit plumper Deutlichkeit fort, »da Sie keinerlei Spuren für die Polizei hinterlassen würden, musste dies jemand anders tun. Also sorgte ich an jedem Ort, an den wir kamen, für irgendetwas, das für den Rest des Tages Gesprächsstoff liefern würde. Ich richtete keinen großen Schaden an – eine bespritzte Wand, verstreute Äpfel, eine zerbrochene Fensterscheibe; aber ich rettete das Kreuz, wie das Kreuz immer gerettet werden wird. Jetzt ist es bereits in Westminster. Es wundert mich, dass Sie mich nicht mit der ›Eselspfeife‹ aufgehalten haben.«

»Mit der was?«, fragte Flambeau.

»Ich bin froh, dass Sie nie davon gehört haben«, sagte der Priester und verzog das Gesicht. »Es ist eine üble Sache. Ich bin sicher, Sie sind ein zu guter Mensch, um ein ›Pfeifer‹ zu sein. Gegen die Eselspfeife hätte ich mich nicht einmal mit dem Drehsprung wehren können; meine Beine sind nicht kräftig genug.«

»Wovon, um Himmels willen, sprechen Sie?«, fragte der andere.

»Oh, ich dachte, Sie kennen den Drehsprung«, sagte Pater Brown angenehm überrascht. »Sie können also doch noch nicht so weit vom rechten Weg abgekommen sein!«

»Aber woher, zur Hölle, kennen Sie all diese Greuel?«, rief Flambeau.

Der Schatten eines Lächelns überzog das runde, einfältige Gesicht seines geistlichen Widerparts.

»Ach, vermutlich weil ich ein weltfremder Simpel bin«, sagte er. »Ist Ihnen nie der Gedanke gekommen, dass ein Mensch, der fast ausschließlich damit befasst ist, sich die von Menschen begangenen Sünden anzuhören, wohl auch etwas von dem Bösen im Menschen weiß? Aber, um die Wahrheit zu sagen, hat mich noch ein anderer Aspekt meines Berufs davon überzeugt, dass Sie kein Priester waren.«

»Welcher?«, fragte der Dieb fast atemlos.

»Sie zweifelten die Vernunft an«, sagte Pater Brown. »Das ist schlechte Theologie.«

Und in ebendem Augenblick, als er sich umwandte, um seine Sachen zusammenzusuchen, traten die drei Polizeibeamten aus dem Dunkel der Bäume. Flambeau war Künstler und Sportsmann. Er trat zurück und machte vor Valentin eine tiefe Verbeugung.

»Verneigen Sie sich nicht vor mir, mon ami«, sagte Valentin mit silberner Klarheit. »Verneigen wir uns beide vor unserem Meister.«

Und sie standen beide einen Augenblick barhäuptig da, während der kleine Priester aus Essex blinzelnd nach seinem Schirm suchte.

Der geheimnisvolle Garten

Aristide Valentin, Chef der Pariser Polizei, verspätete sich, so dass einige seiner Gäste bereits vor ihm zum Essen eintrafen. Sie wurden jedoch von seinem langjährigen Diener Ivan vertröstet, einem alten Mann mit einer Narbe und einem Gesicht, das fast ebenso grau war wie sein Schnurrbart; er saß wie immer an einem Tisch in der Eingangshalle – einer Halle, die voller Waffen hing. Valentins Haus war vielleicht ebenso außergewöhnlich und berühmt wie der Hausherr selbst. Es war ein altes Haus, umgeben von hohen Mauern und riesigen Pappeln, die fast bis zur Seine hinabreichten; aber das Merkwürdigste – und aus polizeilicher Sicht vielleicht Wertvollste – seiner Architektur bestand darin, dass es absolut keinen Ausgang gab außer dieser Vordertür, die von Ivan und seinem Waffenarsenal bewacht wurde. Der Garten war weitläufig und kunstvoll angelegt und vom Haus aus durch zahlreiche Ausgänge zu erreichen. Doch es gab nicht einen einzigen Ausgang vom Garten in die Außenwelt; er war ringsum von einer hohen, glatten, unüberwindlichen Mauer eingefasst, die oben noch mit speziellen Eisenspitzen versehen war; der Garten war sicherlich kein schlechter Ort zum Nachdenken für einen Mann, den umzubringen sich ein paar hundert Verbrecher geschworen hatten.

Wie Ivan den Gästen erklärte, hatte ihr Gastgeber angerufen und gesagt, er sei zehn Minuten aufgehalten worden. In Wirklichkeit traf er noch ein paar letzte Vorkehrungen für Hinrichtungen und ähnliche hässliche Dinge; und obwohl diese Pflichten ihm zutiefst zuwider waren, erledigte er sie stets mit großer Gewissenhaftigkeit. So unbarmherzig er bei der Verfolgung von Verbrechern war, so milde zeigte er sich bei ihrer Bestrafung. Seitdem er in Frankreich und weiten Teilen Europas als oberste Instanz bei der Aufklärung von Verbrechen galt, hatte er seinen großen Einfluss redlich dazu benutzt, Urteile zu mildern und Gefängnisse zu säubern. Er war einer der großen humanitären Freigeister Frankreichs, deren einziger Fehler es ist, dass ihre Gnade noch mehr Kälte verströmt als ihre Gerechtigkeit.

Als Valentin eintraf, trug er bereits seinen schwarzen Abendanzug und die rote Rose im Knopfloch – eine elegante Erscheinung mit seinem dunklen, von Silberfäden durchzogenen Bart. Er ging, ohne sich aufzuhalten, in sein Arbeitszimmer, von dem eine Tür in den angrenzenden Garten führte. Sie stand offen, und nachdem er seinen Aktenkoffer sorgfältig verschlossen hatte, blieb er einige Sekunden an der geöffneten Tür stehen und blickte hinaus. Ein greller Mond stach immer wieder aus den vom Sturm gejagten Wolkenfetzen hervor, und Valentin verfolgte dieses Schauspiel mit einer Nachdenklichkeit, die ungewöhnlich war für eine so wissenschaftliche Natur wie die seine. Aber vielleicht haben diese wissenschaftlichen Naturen irgendwie eine übersinnliche Vorahnung von den schwierigsten Problemen ihres Lebens. Falls Valentin sich in einem solch mystischen Zustand befand, erholte er sich jedenfalls schnell davon, denn er wusste, dass er sich verspätet hatte und seine Gäste zum Teil bereits eingetroffen waren. Mit einem schnellen Blick vergewisserte er sich bei seinem Eintritt in den Salon, dass sein wichtigster Gast auf jeden Fall noch nicht da war. Alle anderen Stützen seiner kleinen Abendgesellschaft sah er vor sich: er sah Lord Galloway, den englischen Botschafter – einen cholerischen alten Mann mit rötlichen Apfelbäckchen, der das blaue Band des Hosenbandordens trug. Er sah Lady Galloway, dünn wie ein Faden, mit silbernem Haar und einem sensiblen, vornehmen Gesicht. Er sah ihre Tochter, Lady Margaret Graham, ein blasses, hübsches Mädchen mit elfenhaftem Gesicht und kupferfarbenem Haar. Er sah die Herzogin von Mont St. Michel, schwarzäugig und üppig, und ihre beiden ebenso schwarzäugigen und üppigen Töchter. Er sah Dr. Simon, einen typisch französischen Wissenschaftler mit Brille, braunem Spitzbart und einer Stirn mit jenen parallel verlaufenden Furchen, die das sichtbare Zeichen für bestraften Hochmut sind, da sie sich durch ein ständiges Hochziehen der Augenbrauen eingraben. Er sah Pater Brown aus Cobhole in Essex, dem er vor kurzem in England begegnet war. Er sah – vielleicht mit größerem Interesse als einer der anderen Anwesenden – einen hochgewachsenen Mann in Uniform, der sich vor den Galloways verbeugt hatte, ohne dass ihm dies besonders herzlich gedankt worden wäre, und der nun allein auf seinen Gastgeber zuging, um ihn zu begrüßen. Es war Kommandant O’Brien von der französischen Fremdenlegion. Er war eine schlanke, jedoch etwas eingebildete Erscheinung, glattrasiert, dunkelhaarig, blauäugig, und hatte, was bei einem Offizier jenes berühmten Regiments der triumphalen Fehlschläge und geglückten Selbstmorde nur natürlich schien, ein zugleich schneidiges und melancholisches Auftreten. Er war seiner Abstammung nach ein irischer Gentleman und hatte in seiner Jugend die Galloways, vor allem Margaret Graham, gut gekannt. Er hatte sein Land wegen hoher Schulden verlassen und bewies nun seine völlige Loslösung von der britischen Etikette dadurch, dass er nur noch in Uniform und mit Säbel und Sporen umherstolzierte. Als er vor der Familie des Botschafters seine Verbeugung machte, neigten Lord und Lady Galloway steif den Kopf, und Lady Margaret blickte zur Seite.

Aber mochten sich diese Leute auch wegen irgendwelcher alten Geschichten füreinander interessieren, ihr berühmter Gastgeber interessierte sich nicht sonderlich für sie. Zumindest war in seinen Augen keiner von ihnen der Gast des Abends. Valentin erwartete aus besonderen Gründen einen weltberühmten Mann, dessen Bekanntschaft er in der Zeit seiner großen detektivischen Unternehmungen und Triumphe in den Vereinigten Staaten gemacht hatte. Er erwartete Julius K. Brayne, jenen Multimillionär, dessen ungeheure, geradezu überwältigende Stiftungen an kleine Sekten in den amerikanischen und englischen Zeitungen mit viel Spott und noch mehr feierlicher Anerkennung bedacht wurden. Niemand konnte genau sagen, ob Mr. Brayne nun ein Atheist, ein Mormone oder der Anhänger einer anderen undurchsichtigen Sekte war, aber er war bereit, Geld in jedes intellektuelle Gefäß zu stecken, vorausgesetzt, es war ein noch unerprobtes Gefäß. Eines seiner Hobbys war es, auf den amerikanischen Shakespeare zu warten – ein Hobby, das mehr Geduld erfordert als das Angeln. Er bewunderte Walt Whitman, hielt aber Luke P. Tanner aus Paris, Pennsylvania, für tausendmal »progressiver« als Whitman. Er liebte alles, was er für »progressiv« hielt. Er hielt auch Valentin für »progressiv«, womit er ihm bitter unrecht tat.

Als die massive Gestalt von Julius K. Brayne den Salon betrat, hatte dies ähnliche Wirkung wie das Ertönen eines Gongs. Er besaß diese wunderbare Eigenschaft, die nur sehr wenige von uns für sich in Anspruch nehmen können, dass seine Gegenwart ebenso ins Gewicht fiel wie seine Abwesenheit. Er war ein Hüne, ebenso massig wie groß, und seine durchweg schwarze Abendkleidung wurde nicht einmal durch eine Uhrkette oder einen Ring aufgelockert. Sein Haar war weiß und wie das eines Deutschen streng zurückgebürstet; er hatte ein rotglühendes, engelhaftes Gesicht, und an seinem Kinn saß ein einsames dunkles Haarbüschel, das diesem ansonsten kindlichen Gesicht einen theatralischen, geradezu mephistophelischen Ausdruck verlieh. Doch die Anwesenden hielten sich nicht lange damit auf, den berühmten Amerikaner anzustarren; sein Zuspätkommen war schon zu einem häuslichen Problem geworden, und mit Lady Galloway am Arm wurde er schnellstens ins Esszimmer geschickt.

Bis auf einen Punkt waren die Galloways freundlich und harmlos. Solange Lady Margaret nicht den Arm dieses Abenteurers O’Brien nahm, war es ihr Vater zufrieden; und das hatte sie nicht getan, sondern sich, ganz Anstand und Sitte, von Dr. Simon zu Tisch geleiten lassen. Trotzdem war der alte Lord Galloway unruhig, fast grob. Während des Essens verhielt er sich noch diplomatisch; als jedoch, bei den Zigarren angelangt, drei der jüngeren Männer – Simon, der Arzt, Brown, der Priester,