Die betrogene Frau - Gwen Hunter - E-Book

Die betrogene Frau E-Book

Gwen Hunter

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Beschreibung

Nicolette ist jung und schön - aber in der besseren Südstaaten-Gesellschaft ist sie ein Niemand. Dennoch verliebt sich Montgomery DeLande in sie, Erbe einer der mächtigsten Familie Louisianas. Zunächst scheint das Glück vollkommen. Sie schenkt ihm drei Kinder, und er verwöhnt sie über alle Maßen. Doch irgendwann entdeckt Nicolette die dunkle Seite ihres Mannes, die tiefen Abgründe seiner Seele. Vom aufmerksamen Liebhaber verwandelt er sich in einen grausamen Sadisten. Als selbst das Leben ihrer Kinder bedroht ist, weiß Nicolette, daß sie kämpfen muß. Auf Leben und Tod ...

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Gwen Hunter

Die betrogene Frau ThrillerIns Deutsche übertragen von Mechthild Sandberg-Ciletti

Prolog

Mein Name ist Nicolette Dazincourt DeLande, und ich bin eine Mörderin.

Wie stellt man den Abschnitt eines Lebens dar, frage ich mich. Kann man es einfach zurückschneiden und zurechtstutzen, mit dem Messer darauf einhacken wie auf eine wild wachsende Glyzinie mit einer Fülle lilafarbener Blüten und grüner Ranken, die alles umwickeln und ersticken. Wie stutzt und schneidet man das üppige Gerank eines Lebens, wie macht man es zahm und fügsam, um es fremder Form und Struktur anzupassen. Was ist das für ein Leben ... farblos und gleichförmig, in eine Form gepreßt, die ein anderer ihm aufgezwungen hat. Und doch ...

Wissen Sie, was man ein Mädchen aus dem Süden lehrt? Nicht ein Großstadtmädchen, ein Mädchen vom Land, aus den Sumpfgebieten südwestlich von New Orleans, in der Gegend des Atchafalaya-Flusses. Mein Daddy war Tierarzt und nicht reich. Als ich zwölf war, kannte ich mich mit Daddys Büchse so gut aus wie auf Mamas alter Singer. Ich konnte sticken und fischen – Katzenfische zum Beispiel –, ich konnte mit dem Fischspeer auf Frösche gehen, eine Decke häkeln, mit künstlichem Köder angeln und im Notfall die ganze Praxis schmeißen. Ich konnte gebrochene Hundebeine schienen, Röntgenaufnahmen machen, bei Hunden, Katzen und Schweinen Geburtshilfe leisten, ich konnte bei Hunden, die zu ersticken drohten, den Heimlich-Handgriff anwenden, ich konnte einen unheilbar kranken Hund einschläfern, die Besitzer beruhigen, das Honorar kassieren und die Leute zufrieden nach Hause schicken. Ich konnte Flöte spielen, was ich haßte, zeichnen, schlechte Gedichte schreiben, ganz passabel französisch sprechen, ich sang im Kirchenchor und fluchte wie ein Stallknecht, aber immer leise. Das alles konnte ich. Und das war verdammt gut so.

Ich lernte Montgomery Beauregard DeLande kennen, als ich noch ein linkischer Teenager war, der auf Bäume kletterte und Tarzan und Jane spielte. Er war groß und rothaarig, mit blauen Augen und einem langen schlanken Körper, der alle Mädchen in Moisson hinriß. Er hatte eine Narbe von einer Messerstecherei über dem rechten Auge und eine zweite am Schlüsselbein. Die Narbe und ein fedriges Büschel krausen roten Brusthaars waren zu sehen, wenn er Softball spielte oder mit Henri Thibodeaux an einem Oldtimer bastelte. Und er hatte ein Lächeln, das jedes dunkle Zimmer strahlender erleuchtete als der edelste Kristallüster.

Montgomery war schon älter. Gut zweiundzwanzig. Er war einer von den DeLandes aus Vacherie, einem Ort etwa auf halbem Weg nach New Orleans. Und ich schwöre, für einen einzigen Blick von ihm hätte ich meine Seele gegeben. Beinahe hätte ich es getan. Vielleicht habe ich es sogar getan.

1

Das Leben im Süden von Louisiana war niemals leicht, außer für die Reichen, die frei wählen und sich kaufen konnten, was nötig war, um etwas zu ändern. Mein Daddy gehörte nicht zu den Glücklichen, denen Reichtum und gesellschaftliche Stellung durch Geburt mitgegeben wurden. Und das Vermögen, das er beim Ölboom Anfang der siebziger Jahre zu machen gehofft hatte, versank mit dem Geld, das er investiert hatte, und mit dem guten Ruf der Familie in den Sümpfen Louisianas. Oh, zu darben brauchten wir nie. Wir hatten immer genug zu essen, auch wenn es mit Angel oder Netz aus dem Grand Lake oder dem Flußbecken gezogen war. Und wir hatten immer Kleider auf dem Leib, auch wenn es nur solche waren, die Mama nach Vorbildern in Modezeitschriften auf ihrer alten Singer genäht hatte.

Wir wohnten in einer Kleinstadt namens Moisson, in der Nähe von Loreauville, Louisiana, im Gebiet des Atchafalaya-Flußbeckens. Baton Rouge ist im Nordosten, mit dem Auto gut zwei Stunden entfernt. New Orleans mit seiner vielschichtigen Gesellschaft und seiner geschlossenen sozialen Ordnung liegt genau östlich. Ich kannte niemanden, der der alten Garde der Südstaaten-Aristokratie angehörte oder der vergnügungssüchtigen Halbwelt, die nachts im French Quarter ihre Feste feierte.

Als ich zehn war, erbte Mama, und danach verbrachten wir jeden heißen Juli in New Orleans und schwelgten in der Kultur, in die ich nach Daddys Willen einmal einheiraten sollte. Mama war eine Ferronaire, von den New Orleans Ferronaires, und hatte sowohl finanziell als auch gesellschaftlich weit unter ihrem Stand geheiratet, nachdem ein Dazincourt ihr im Jahr ihres gesellschaftlichen Debüts auf einem der »weißen Bälle«, auf denen sich die vornehme Gesellschaft im Karneval vergnügte, den Hof gemacht und ihr Herz erobert hatte. Aber die Ferronaires heirateten stets unter ihrem Stand, da es niemanden gab, der an sie heranreichte.

Dennoch wünschten sie und Daddy sich etwas Besseres für mich als das, was Moisson zu bieten hatte, und so kam es, daß Mama, meine beste Freundin Sonja und ich jeden Juli in vornehmen Restaurants speisten, die Oper besuchten, uns Vorstellungen im Petit Théâtre du Vieux Carré und im Théâtre Marigny ansahen, das Louisiana Philharmonic Orchestra im Saenger Théâtre hörten und Jazzkapellen im Tipitina, Maple Leaf, Muddy Waters, der Absinthe Bar und im Tyler’s.

Wir sahen uns Gestüte an, wo man Vollblüter für die Rennen züchtete, und besuchten die Rennbahn Fairground, auch wenn gerade keine Saison war, und bei allem beriefen wir uns auf den Namen Ferronaire und nutzten die Beziehungen der Familie. Und wir besuchten Modehäuser, wo Mama sich alles aufmerksam ansah und sich die neuen Modelle für das kommende Jahr einprägte. Sie war mit Stoff und Nadel so geschickt wie keine zweite. Wäre sie stärker gewesen, sie hätte sich gegen Daddy aufgelehnt und ihren eigenen Laden aufgemacht. Aber vielleicht gefielen ihr die Einsamkeit Moissons und ihre Abhängigkeit von Daddy

Moisson hat in gewisser Weise auch eine Gesellschaft. Es gibt Tanzveranstaltungen, Kirchenpicknicke und in der kühleren Jahreszeit Erntefeste. Aber der Begriff der »high society« war uns völlig fremd. Modellkleider und private Karnevalsfeste gehörten einfach nicht zu unserem Erwachsenwerden. Ohne die Schule hätte ich niemals die Gelegenheit bekommen, die Art von Leuten kennenzulernen, die in die feine Gesellschaft paßten. Und ganz sicher hätte ich niemals die Art von Leuten kennengelernt, die in der Gesellschaft überhaupt keinen Platz hatten.

Von meinem neunten Lebensjahr an, als Daddy meinte, ich könnte eines fernen Tages eine Schönheit werden, besuchte ich die katholische Mädchenschule Unserer lieben Frau in Plaisant Parish. Er hoffte, ich würde einen Mann anlocken, der die Familie wieder auf das ihr angemessene soziale und ökonomische Niveau heben würde. Mit anderen Worten, er hatte die Absicht, mich auf dem Heiratsmarkt an den Meistbietenden zu verschachern. Dank den Ferronaire-Beziehungen würde ich zu den Debütantinnenfesten und den weißen Karnevalsbällen zugelassen werden. Der Rest lag dann bei mir und der Erziehung, die ich auf der Schule genossen hatte.

Der Schule hatte ich es zu verdanken, daß ich Montgomery und Sonja begegnete. Es ist paradox, daß die guten Schwestern Unserer lieben Frau mir sowohl meine Verdammnis als auch meine Erlöserin bescherten. Ich war zehn, als Sonja LeBleu nach Plaisant Parish kam. Sie war schön; eine dunkeläugige Unschuld mit langen, schmalen Händen, berückend langen Wimpern und einer natürlichen Anmut, mit der sie alle Mädchen an der Schule in den Schatten stellte, als wir die Tanzschritte lernten, die in den kreolischen Tanzsälen populär waren.

Ich war erstaunt, daß Daddy mir erlaubte, tanzen zu lernen. Er, ein Anhänger der Pfingstbewegung in katholischem Gewand, pflegte des Abends beim Bibelstudium mit strengem Blick die Gefahren des Tanzens, des Umgangs mit dem anderen Geschlecht, des Sex und der Sünde zu predigen. Aber damals hatte ich vom Heiratsmarkt und Daddys Zukunftsplänen für mich noch keine Ahnung.

Sonja schien zum Tanzen geboren zu sein. Sie lernte die Schritte und Gesten, als hätte sie schon immer gewußt, wie man es macht, und hätte nur auf die Erlaubnis gewartet, endlich damit anfangen zu dürfen. Ich war weit weniger vom Glück begünstigt. Ich war zu groß für mein Alter und von Natur aus tolpatschig und hatte in der Tanzstunde die gleichen Probleme wie bei der Aussprache des Pariser Französisch, das man uns dreimal in der Woche unterrichtete. In beiden Fächern stach Sonja uns alle aus. Und wenn sie nicht noch weniger gesellschaftsfähig gewesen wäre als ich, wären wir wohl niemals Freundinnen geworden.

Sonja stand wirklich auf der untersten gesellschaftlichen Stufe. Franzosen mit schwarzem Blut in den Adern, eine Stufe tiefer noch als Mestizen und die weißen Cajuns, galten als Parias. Praktisch als Unberührbare. Sie hatten überhaupt keine Chance, in der Gesellschaft aufzusteigen – es sei denn, sie waren schön und gebildet. Sonja wollte beides werden, nach New York übersiedeln und sich als kultivierte, aber verarmte Adlige ausgeben. Passer blanc. Sich als Weiße ausgeben. Die Yankees, die mit der Klassengesellschaft des Südens nicht vertraut waren, würden Sonjas Erbe nicht erkennen und sich nicht darum kümmern. Sie konnte eine gute Partie machen und gutes grünes Yankee-Geld heiraten. So wurde jedenfalls argumentiert.

Montgomery kam in dem Jahr, in dem ich vierzehn wurde, nach Moisson. Ich war zu groß, zu mager und litt immer noch – wie eben nur Jugendliche leiden können – unter dem schlechten Ruf der Familie. Mein Onkel John Dazincourt hatte vor nur einem Jahr in einem weithin bekanntgewordenen Prozeß wegen Bestechung seine Zulassung als Anwalt verloren. Er war innerhalb weniger Jahre schon der zweite Dazincourt-Onkel, der in Verruf geraten war, und die Schande wäre für mich unerträglich gewesen, wäre nicht Sonja gewesen. Sie lächelte nur ihr geheimnisvolles Lächeln, tätschelte mir die Hand und stand mir ohne große Worte bei, bis der Skandal sich im Sand verlaufen hatte. Selbst damals schon wußte Sonja genau, wann sie den Mund aufmachen mußte und wann es besser war zu schweigen.

Zu Beginn des Frühjahrs, in dem der Skandal seinen Höhepunkt erreicht hatte, saßen Sonja und ich auf dem Schulhof zusammen und aßen unser Mittagbrot. Wir saßen, abseits von den tuschelnden Grüppchen der anderen Mädchen, der holprigen Straße am nächsten, und wischten uns gerade die Finger wohlerzogen an unseren Servietten ab, als in der Ferne Motorengeräusch laut wurde. Ein schmutziger alter Ford mit lärmendem, aber wie geschmiert laufendem Motor kam die Straße herunter und bremste. Eine Wolke feinen Staubs rieselte auf Sonja und mich herab.

Ein rothaariger junger Mann mit blauen Augen und unglaublich weißen Zähnen im staubverkrusteten Gesicht legte einen Arm ins offene Fenster und lehnte sich aus dem Wagen. Sein Blick fiel auf Sonja und blieb, wie die Blicke aller Männer, an ihr haften.

»Entschuldigen Sie, Miss. Könnten Sie mir sagen, wie ich zu Henri Thibodeaux komme? Ich bin anscheinend irgendwo falsch abgebogen.«

Das Knattern des Motors übertönte alle Geräusche aus dem Garten, aber ich konnte mir das Gekicher und Getuschel gut vorstellen. Die Schwestern hatten uns eingebleut, niemals mit fremden Männern zu sprechen, schon gar nicht mit fremden, staubbedeckten, fabelhaft aussehenden Männern, die sich aus klassischen alten Autos mit Seltenheitswert lehnten und uns so ansahen wie dieser. Wie der Fuchs, der die Beute gesichtet hat. Aber sie hatten uns auch eingebleut, niemals unsere guten Manieren zu vergessen. Die Frage des Fremden und sein offensichtliches Dilemma einfach zu ignorieren, wäre nicht die wohlerzogene Art gewesen, mit der Situation umzugehen.

Mir hatte es wie gewohnt die Sprache verschlagen. Sonja jedoch lächelte mit züchtig gesenkten Lidern und wies den Mann zur Haustür, wo Schwester Ruth stand und uns mit Argusaugen beobachtete. Der Mann lüftete seinen Hut- eine merkwürdig altmodische Geste –, legte den Rückwärtsgang ein und fuhr die Auffahrt hinauf. Verlegen und mit roten Köpfen zogen Sonja und ich uns ins kühle Klassenzimmer zurück, wo uns das Gekicher unserer Mitschülerinnen empfing.

Später am Nachmittag kam Schwester Ruth in die Tanzstunde. Sonja hatte offensichtlich reagiert, wie es sich gehörte, als sie den charmanten jungen Teufel zu Schwester Ruth geschickt hatte, anstatt selbst seine Frage zu beantworten. Schwester Ruth lobte Sonja und mich, da ich dabeigewesen war, über den grünen Klee. Das war entschieden nicht die Gardinenpredigt, die Annabella Corbello sich für uns vorgestellt hatte. Der rothaarige Charmeur hatte anscheinend selbst die sauertöpfische Schwester Ruth becirct. Aber so war Montgomery. Wenn er seinen Charme spielen ließ, fanden ihn selbst Nonnen unwiderstehlich.

Von dem Moment an, als ich ihn das erstemal sah, besetzte er mein Leben und eroberte jene geheimen Plätze, in denen bei allen jungen Mädchen die Träume nisten. Romantische Liebe und Leidenschaft blühen in diesen dunklen Verstecken, Phantasien von Errettung und heißen Küssen, von Liebeserklärungen und Treueschwüren, Phantasien, wie sie von Schriftstellern wie Devereaux und Lindsey und zahllosen anderen gespeist werden, die die romantischen Erwartungen dieser Frauengeneration nähren. In den seltsamsten Augenblicken pflegten diese Phantasien mich zu überfallen. Ich konnte in Daddys Klinik bei der Arbeit sein, und die Käfige der wenigen Patienten säubern, die über Nacht blieben, da erschien plötzlich mein imaginärer Montgomery, nahm mir den Gartenschlauch aus der Hand, riß mich in seine Arme und trug mich davon wie ein Richard Gere in Ein Offizier und Gentleman. Das waren so die typischen Tagträume.

Im wirklichen Leben hätten Hunde- und Katzenkot das Gehen zu einer prekären Angelegenheit, das Atmen schwierig und jegliche Romantik unmöglich gemacht. Aber die Realität hat mit den Träumen junger Mädchen wenig zu tun. Mein ganzes Leben drehte sich nur noch um Montgomery Ich nahm meinen Brüdern sogar das Fischen und den Krabbenfang ab, nur damit ich mit Daddys flachem Boot durch Seen und sumpfige Flußarme im Atchafalaya-Becken zu Henri Thibodeaux’ Haus tuckern konnte, weil ich hoffte, ihn dort im Hof an einem der Oldtimer basteln zu sehen, für die die beiden Männer ein Faible hatten. Aber dieses Glück hatte ich nie.

Daddy jedoch war hocherfreut darüber, daß ich anwendete, was er mich gelehrt hatte: daß ich nicht vergessen hatte, was er mir von Kindesbeinen an beigebracht hatte. So machte ich wenigstens einen Mann glücklich.

Im Ort hatte ich mehr Glück. Da sah ich Montgomery manchmal, wenn er eine der Schönen aus der Stadt zu einem Tanzfest begleitete. Ich sah ihn bei der Messe in der Kirche und zweimal bei der Beichte. Danach ging ich regelmäßig am gleichen Tag zur gleichen Zeit zur Beichte, weil ich hoffte, ihn wiederzusehen. Ich sah ihn ab und zu im Laden, wenn er für eine der wilden Partys, die er und Henri Thibodeaux veranstalteten, Schnaps kaufte.

Und ich hörte mich um. Ich brachte alles Wissenswerte über diesen rothaarigen Mann mit den ungewöhnlich eleganten Manieren in Erfahrung. Er bezauberte jeden, der ihm begegnete, von Pater Joseph, dem Gemeindepriester, bis zu dem Mann, der Therriots Lebensmittelgeschäft saubermachte. Und ich glaube, mich bemerkte er nicht einmal. Nicht ein einziges Mal.

Aber mit meinem sechzehnten Geburtstag wurde alles anders. Ich veränderte mich. Eines Tages kam ich an dem hohen goldgerahmten Spiegel im Vestibül vorüber und blieb wie angewurzelt stehen. Das Mädchen, das ich da sah, war nicht ich. Das war Daddys Vision von mir. Und ich hatte beinahe Angst davor, zurückzutreten und genauer hinzusehen. Ich tat es dennoch. Und wirklich, ich war schön.

Groß, ja, aber gertenschlank und feingliedrig und so graziös wie eine Ballerina. Mein Gesicht war fein gemeißelt, mit goldbraunem Teint und grauen, leicht schrägstehenden Augen unter aschblondem Haar, das sich dank der Augusthitze in krausen Locken ringelte. In diesem Moment wußte ich, daß meine Träume wahr werden konnten. Ich konnte Montgomery DeLande erobern. Ich konnte es. Und ich würde es tun.

Zehn Monate später ging ich von der Schule ab. Bei der Abschlußfeier war auch Montgomery da. Ich wußte es, weil auch Henri Thibodeaux’ Schwester Anne abging und allgemein bekannt war, daß sie praktisch jeden Tag mit einem Heiratsantrag von Montgomery rechnete.

Aber ich wußte es besser. Der Montgomery meiner Träume würde sich niemals mit irgendeiner netten kleinen Maus begnügen, die mit jedem, der ihr gerade gefiel, ins Bett hüpfte. Für Montgomery DeLande war nur das Beste gut genug. Das Edelste. Das Reinste.

Dank meinen Tagträumen und der Tatsache, daß kein Junge am Ort den Grad der Perfektion erreichte, den ich Montgomery zuschrieb, war ich das alles. Rein und unberührt und reif für den Mann, der die Geduld und das Geschick besaß, mich für sich zu gewinnen.

An diesem Abend begann die Zeit unserer jungen Liebe. An diesem Abend begann mein Abstieg zur Hölle.

Wir verlobten uns am Neujahrstag des Jahres, in dem ich achtzehn Jahre alt wurde. Wenn ein neues Dach auf dem hundertfünfzig Jahre alten Haus im Watt, in dem ich aufgewachsen war, ein etwas sonderbares Zeichen zur Besiegelung eines Verlöbnisses war, so machte jedenfalls mir gegenüber keiner eine diesbezügliche Bemerkung. Und Daddy war begeistert. Sein zukünftiger Schwiegersohn war genau das, was er sich immer gewünscht hatte. Ein richtiger Mann, der es im Angeln, Jagen und im Restaurieren klassischer alter Autos mit jedem Mann in der Gemeinde aufnehmen konnte. Und er hatte Geld. Einen Haufen. Geld, das er in dem neuen Feriengebiet am Grand Lake anlegte. Geld, das er in Moisson anlegen wollte. Geld, das er im Rahmen einer finanziellen Vereinbarung, über die mit mir nie gesprochen wurde, Daddy und Mama vermacht hatte.

Ich heiratete Montgomery, als ich zwanzig war, und bekam im selben Jahr mein erstes Kind; das zweite im folgenden Jahr und mein drittes, noch ehe ich fünfundzwanzig war. Aber schon lange vor unserem Hochzeitstag waren wir ein echtes Liebespaar.

Sex hatte ich mir ganz anders vorgestellt. Oh, zu Beginn war es Leidenschaft und aufregende Entdeckung. Aber später wurde es wütendes Rasen und Toben. Und wenn es vorbei war, flüchtige Hitze und ein Gefühl des Mangels.

Leidenschaft und Begehren gehörten zu meinem Wesen wie die schwüle Hitze zu einer feuchten Nacht. Es ist etwas Besonderes am Südosten Louisianas und der Wirkung dieser Landschaft auf die Menschen. Die drückend schwüle Hitze, der Regen und der Geruch der fruchtbaren Erde bringen die elementarsten Bedürfnisse aus dem Verborgenen an die Oberfläche, so daß Leidenschaft und Begehren, Besessenheit und Raserei sich zu höchster Intensität mischen.

Unsere Hochzeitsreise bestand aus einer romantischen Woche in den Staaten und zehn wirbeligen Tagen in Paris. Mit der Concorde flogen wir nach New Orleans zurück – und ich trank soviel Champagner, daß ich am Ende zu beschwipst war, um noch gerade gehen zu können. Als erwarte er, daß ich mich unter dem Einfluß des Alkohols in ein fremdartiges Wesen verwandeln würde, beobachtete mich Montgomery mit brennenden Blicken. Mit dunklen, leidenschaftlichen Blicken. Den Alkohol nicht gewöhnt, lachte ich nur, und Montgomery mußte mich stützen, als wir durch die Flughafenhalle zum wartenden Wagen gingen, wo er mir noch mehr Champagner einschenkte.

Der Wagen war eine edle alte Luxuskarosse, die seit den sechziger Jahren im Besitz der Familie und beim Trauerzug für Präsident Kennedy eingesetzt worden war. Silbergrau, mit abgerundeten Fenstern, innen duftendes Leder. Ihr fehlte der moderne Komfort der heutigen Modelle, aber dieser Mangel wurde durch reinen Luxus aufgewogen. Als wären wir völlig ausgehungert, als hätten wir uns nicht in unserer Hotelsuite in Paris die halbe Nacht geliebt, als merkte der Chauffeur nicht, was wir hinter der geschlossenen Trennscheibe trieben, streifte Montgomery mir die Kleider ab und liebte mich auf der Fahrt aus der Stadt. Über seine Schulter hinweg sah ich New Orleans langsam entschwinden.

Wir fuhren durch die sengend heiße Stadt ins Land hinaus, durch Alleen moosüberwachsener, uralter Eichen zum letzten Ziel unserer Hochzeitsreise in der Nähe von Vacherie. Meilen außerhalb dieser Kleinstadt hielten wir vor einem zweihundert Jahre alten Herrenhaus mit einer zweistöckigen Veranda, die das ganze Haus umgab, und einem Emblem am Portal, das das Familienwappen zu sein schien – das Bild eines Raubvogels mit blutigen Klauen.

Neben dem Portal stand eine Glyzinie, ein Prachtexemplar mit duftenden Blüten, in der die Bienen summten. Sie war die einzige Pflanze hier, die nicht beschnitten und gestutzt und in Form gebracht war. Vielmehr durfte sie schon seit Jahren wild wachsen und hatte ihre langen, dünnen Ranken eng um Stamm und Äste ihres Wirtsbaums geschlungen. Beinahe liebevoll hatte sie den hohen Baum umklammert, langsam Stamm und Äste in immer enger werdenden Umarmungen erstickt, und so der mächtigen alten Eiche schließlich das Leben genommen. Ein Sinnbild von Leben und Tod, voller Sinnlichkeit und Grausamkeit, schien mir diese Glyzinie zu sein, deren Verzweigungen in langen, gewundenen Ausläufern über den Boden krochen, das Spalier hinauf und über die Veranda an der Ecke des Hauses, als wollte sie, wenn man sie nicht daran hinderte, auch noch das Haus und die ganze Umgebung ersticken. Sie war gefährlich und brutal. Ich habe Glyzinien immer geliebt, und besonders liebte ich diese unbeschnittene.

Obwohl Montgomery mir das Ziel nicht verraten hatte, wußte ich, wo wir waren. Ich hatte auf diesen Teil unserer Flitterwochen gewartet und blickte jetzt gespannt durch die getönten Fenster des Wagens auf den gepflegten Vorplatz. Nach ruhmreicher Vergangenheit empfindlich geschrumpft, umfaßte das Gut der Familie DeLande jetzt fünfhundert Morgen Nußbäume, brachliegende Felder und die Stallungen der Rennpferde. Das Haus war eines der wenigen sehenswerten alten Herrenhäuser, das von der Feuersbrunst am Ende des Bürgerkriegs verschont worden war, und wurde immer noch ausschließlich von der Familie bewohnt, deren Vorfahren es erbaut hatten.

Ohne Eile half Montgomery mir wieder in meine Kleider, glättete hier und dort mit geübter Hand ein Fältchen, und musterte mich mit scharfem, dunklem Blick.

»Reg dich nicht auf, Montgomery Ich werde mich tadellos benehmen. Du kannst dich darauf verlassen, daß deine Familie mich mögen wird.«

Er betrachtete mich einen Moment mit unergründlicher Miene, dann wandte er sich ab und öffnete die Wagentür. »Das befürchte ich ja gerade«, gab er zurück. »Daß sie dich zu sehr mögen werden.«

Verwundert über diese rätselhafte Bemerkung, öffnete ich meinen Gurt und schlüpfte in die Schuhe. Ich wußte, daß ich ihn irgendwie verärgert hatte, aber ich war entschlossen, nicht zu zeigen, daß es mich beunruhigte. Ich würde mich nicht gleich zu Beginn meiner Ehe einschüchtern lassen. Ich würde nicht wie meine Mutter werden. Niemals.

Mein Vater war nicht nur körperlich ein kräftiger Mann, er war auch eine starke Persönlichkeit. Herrisch manchmal. Aber viele Frauen hätten eine Möglichkeit gefunden, mit diesem Mann zu leben und sich dennoch eigene Träume und Ziele zu bewahren. Sie hätten gelernt, sich zu behaupten, ohne seine Liebe zu verlieren. Ich weiß es. Ich hatte es ja auch geschafft. Die Heldinnen der Bücher, die ich las, schafften es immer. Aber meine Mutter hatte es nicht geschafft.

Ich stieg aus und lächelte Montgomery strahlend an. Er antwortete mit einem düsteren Blick.

Während der Chauffeur die Berge von Gepäck auslud, führte mich Montgomery ins Haus, diesen sagenumwobenen alten Bau mit langen, kühlen Korridoren und mehr als drei Meter hohen Räumen, überladen mit alten Erbstücken, kostbaren Teppichen und Kunstwerken. Es war ein merkwürdiges Haus, unharmonisch und beunruhigend im exzentrischen Nebeneinander der Dekorationen und Einrichtungen. Montgomery, der sich etwas zu entspannen schien, als wir durch die düsteren Flure gingen, machte mich auf besondere Kostbarkeiten aufmerksam.

Im Speisezimmer standen sechsundzwanzig hochlehnige Frank-Lloyd-Wright-Stühle um einen kunstvoll verzierten Louis-XIV-Tisch, und an der Wand hing eine Sammlung antiker Schwerter, deren Klingen geschärft und poliert Waren, als würden sie täglich gebraucht.

An der gegenüberliegenden Wand stand ein moderner skandinavischer Schrank, sechs Meter lang, hinter dessen Glastüren elegante orientalische Vasen und zweihundert Jahre altes Porzellan zur Schau gestellt waren, das auch heute noch von der Familie benutzt wurde. Die Wände waren in einem matten Schwarz gestrichen und mit dunkelgrüner Emailfarbe gesprenkelt, die Bodenleisten und Zierleisten waren dunkelgrün; dazu passende grüne Vorhänge fielen von der Decke herab auf den dunklen Holzfußboden. Das Zimmer hätte düster gewirkt, wäre nicht eine Wand hoher Fenstertüren gewesen, die das Nachmittagslicht hereinließen.

Abgetretene Aubusson-Teppiche lagen auf den Böden, und in jedem Raum gab es Sammlungen irgendeiner Art. An den Wänden im Salon hing eine Sammlung Picasso-Zeichnungen, deren moderne Formen einen reizvollen Kontrast zu den antiken Möbeln bildeten. Im Musikzimmer hingen zwei Monets, es gab mehrere Geigen, einen alten Steinway – nicht gestimmt – und gepolsterte Art-Deco-Sessel. Stilarten, Perioden und Farben waren in eigenartigen Kombinationen zusammengestellt, und das emaillierte dunkle Grün, das sich durch das ganze Haus zog, umfaßte alles wie ein kühles Band.

Wir besichtigten nur das Erdgeschoß des Hauptflügels, aber schon da ging mir auf, daß die DeLandes eine weit wohlhabendere Familie als die Ferronaires waren. Ich fragte mich, was Montgomery an mir gefunden hatte, da er doch viel bessere Partien hätte machen können.

Neun der DeLande-Kinder, einige von ihnen mit Ehefrauen, und ein rundes Dutzend Kinder erwarteten uns im Empfangsraum im hinteren Teil des Haupthauses. An den Wänden dieses Zimmers hingen Geweihe und der Kopf eines Louisiana-Panthers, der seit Jahrzehnten zu den bedrohten Arten zählt. Schneeweiße Silberreiher, mit ausgebreiteten Schwingen oder im Nest mit ihren Jungen, und Schlangenhäute vermoderten an den Wänden und auf Borden, uralte Trophäen eines blutigen Sports. Und überall gab es Raubvögel. Ohreneulen und ein halbes Dutzend verschiedener Adlerarten, von denen einige heute vom Aussterben bedroht sind, Schleiereulen und Falken und Habichte, alle hoch oben auf einem Bord, das oberhalb der Fenstertüren rund um das Zimmer lief. Alle waren verstaubt und vernachlässigt. Manche sahen aus, als stünden sie seit Generationen da, und mir fiel das Wappenschild auf dem Portal ein – ein Raubvogel mit blutigen Klauen.

Weichgepolsterte Sessel und Sofas mit verblichenen Bezügen standen Seite an Seite mit asketischen Holzbänken, kleinen Tischen – von zahllosen Nässeringen und Brandnarben von Zigaretten und Zigarren gezeichnet. Trotz seiner Höhe wirkte der Raum dank der geballten Kraft dieser Familie klein und intim.

Sie saßen alle auf einer Seite des Zimmers. Es sah beinahe so aus, als hätten wir mit unserem Erscheinen eine Art zwangloser Familienkonferenz gestört. Sie musterten uns mit unverhohlenen Blicken, taxierend und abschätzend, wie sie da im Halbkreis um die Grande Dame DeLande geschart waren, diese einstmals aufsehenerregende Schönheit, über die in den Salons und Ballsälen Louisianas ein halbes Jahrhundert lang getuschelt und geklatscht worden war. Ich erwiderte die Blicke mit gleicher Unverfrorenheit. Sie war immer noch eine auffallende Frau, mit schwarzen Augen, blasser Haut und langem silbergrauen Haar, in das eine Perlenschnur gewunden war. In Gold gefaßte Perlenohrringe hingen schwer an ihren Ohrläppchen, und an ihrer linken Hand trug sie einen schlichten goldenen Reif neben einem monströsen Smaragdring von gleicher Farbe wie das Seidenkleid, das sie trug. All diese Einzelheiten registrierte ich mit großer Aufmerksamkeit und war mir gleichzeitig des Schweigens der versammelten DeLandes bewußt, die mich ihrerseits einer eingehenden Musterung unterzogen.

Es gab zahllose Gerüchte über diese dunkeläugige Sirene, die Grande Dame, die meisten unbestimmt und geschwätzig, jedoch eine Komponente enthielten sie alle: daß das letzte Kind, Miles Justin, nicht der Sohn Monsieur DeLandes sei, sondern eines seiner eigenen Söhne, im Inzest mit der Grande Dame gezeugt; daß die Grande Dame, schon damals wurde sie so genannt, dem alten Herrn mit einem seiner eigenen Söhne Hörner aufgesetzt und ihm dazu noch offen ins Gesicht gelacht habe.

Außer sich vor Wut habe DeLande sie töten wollen, sei jedoch vorher von einem seiner Söhne erschossen worden. Der älteste war zu dieser Zeit siebzehn Jahre alt gewesen. Die Grande Dame hatte danach – fälschlich, wie es hieß – gestanden, ihren Mann getötet zu haben, war aber niemals vor Gericht gestellt worden. So groß war der Einfluß der DeLandes. Und niemand wußte, welcher ihrer Söhne den Jüngsten gezeugt und welcher den Alten getötet hatte. So tuschelten die einen.

Die anderen stellten sie als Heldin dar, die einen ihrer Söhne vor dem Tod bewahrt habe, indem sie ihren Mann erschoß, als dieser Amok gelaufen war und die ganze Familie mit einem Jagdmesser bedroht hatte. Den Anhängern dieser Story zufolge war DeLande von seinem Bruder zum Hahnrei gemacht worden.

Ich hatte keine Meinung zu diesen Gerüchten und nicht den Mut, Montgomery nach der Wahrheit zu fragen. Ich war außerdem jung, leichtsinnig und unbekümmert, von meiner Klugheit überzeugt. Ich riß meinen Blick von dieser Frau los, als ich in den Tiefen ihrer Augen sah, daß sie meine Gedanken gelesen hatte und über sie erheitert war, vielleicht auch ein wenig zornig.

In das Schweigen hinein sagte Montgomery: »Nicolette Dazincourt DeLande, meine Frau.« Die Betonung auf den letzten beiden Worten war herausfordernd und trotzig, genau wie sein Blick. Ich hatte die Gründe, die er für das Nichterscheinen seiner Familie zu unserer Hochzeit genannt hatte, akzeptiert, aber als ich jetzt diesen Ton hörte, machte ich mir doch meine eigenen Gedanken.

Nach Montgomerys Worten blieb es lange still. Dann begann einer der Brüder langsam und akzentuiert zu applaudieren, ob mir oder Montgomerys Eröffnung, weiß ich bis heute nicht. Er stand von dem steifen Stuhl auf, auf dem er gesessen hatte, und trat einen Schritt vor, groß und geschmeidig, ein halbes Lächeln auf dem jungenhaften Gesicht.

Er nahm meine Hand und neigte den Kopf, um mit den Lippen meine Fingerspitzen zu berühren, eine Geste, die bei jedem anderen lächerlich gewirkt hätte. Als er den Kopf wieder hob, lächelte er und sagte: »Miles Justin. Der Friedensstifter.« Ich hatte den Eindruck, daß in den Tiefen seiner schwarzen Augen Gelächter blitzte, das die Begrüßungsszene zur Farce machte. Erleichtert erwiderte ich das Lächeln.

Ein zweiter Bruder mit blitzenden grünen Augen nickte, ohne sich zu erheben. »Andreu. Der Älteste.« Es klang wie eine Erklärung oder ein Hinweis auf einen Rang. Als sollte ich den Worten eine besondere Bedeutung entnehmen.

Wieder neigte einer den Kopf. »Richard.« Kleiner und stämmiger als die anderen Männer, mit Augen, die weder blau noch grün waren, aber hart und unergründlich.

Ein Mann mit einem frechen Lächeln trat auf mich zu, stieß Miles mit einer groben Bewegung zur Seite und zog mich in seine Arme, um mich mitten auf den Mund zu küssen. Sein Blick war auf Montgomery gerichtet, der hinter mir stand, und er lachte leise, als er mich losließ. »Willkommen zu Hause, kleine Schwester. Ich bin Marcus.«

Montgomery erstarrte, und eine der Schwestern stieß einen Zischlaut aus. Ich hatte den Eindruck, daß es Angelica war, Montgomerys Lieblingsschwester, die einzig Rothaarige unter den Frauen. Wer auch immer es war, das Geräusch löste eine geheime Spannung, und plötzlich lachten alle, drängten alle zugleich zu mir, um mich mit Küssen und Umarmungen willkommen zu heißen und genauer zu betrachten.

Kalt und distanziert oder mit einer Wärme, die ans Ungehörige grenzte, begrüßten mich die Mitglieder von Montgomerys seltsamer Familie, während die Grande Dame mit Blicken, die so kühl waren wie ihr Lächeln, zusah. Schließlich führte Montgomery mich zu ihr, um mich ihr vorzustellen. Ich roch ihr Parfum, als sie ihre rechte Hand hob. Doch anstatt mir die Hand zu geben, drehte sie nur langsam ihren Zeigefinger im Kreis – schweigender Befehl, mich zu drehen, so daß sie mich von allen Seiten begutachten konnte wie etwa eine seltene Vase, die sie zu kaufen beabsichtigte. Mit glitzernden dunklen Augen lächelte sie Montgomery zu, und der nickte zur Erwiderung. Aber es lag mehr in diesem Nicken als einfache Zustimmung. Es enthielt etwas, das mich schaudern machte.

Ich war froh, als der Butler zum Abendessen rief, ehe dieses Unbehagen sich verstärken konnte, und wir traten gemeinsam den Weg zum Speisezimmer an, die Grande Dame zu meiner Linken, Montgomery rechts von mir. Miles zog mir am Tisch den Stuhl heraus. Sein Lächeln war sanft und leicht ironisch, für sein Alter sehr reif. Er konnte nicht älter als vierzehn sein.

Die lange Tafel bot uns allen bequem Platz, zumal die kleinsten Kinder trotz ihres empörten Geschreis zum Essen in die Küche verfrachtet worden waren. Das Licht der untergehenden Sonne warf lange Schatten und Regenbogenglanz über den gedeckten Tisch, während die Dienstboten in dunklen Jacken uns lautlos und vollendet bedienten.

Das Tischgespräch war typisch für den Süden, man sprach von Pferden, von der Landwirtschaft, von der Weltwirtschaft und viel von Politik. Und dennoch schien ich nur in diesen Kreis zu passen, wenn ich schwieg, obwohl ich mich mit Pferden recht gut auskannte und eine Heilbehandlung für eine Zuchtstute mit Verdauungsproblemen vorschlug. Nur Miles Justin machte sich die Mühe, darauf zu reagieren und nach dem Rezept des Kleiebreis zu fragen, mit dem Daddy Mr. Guidrys zarten kleinen Paso Fino behandelt hatte.

Nach dem »leichten Abendessen« – einer opulenten Angelegenheit mit sechs Gängen – kehrte die Familie wieder in das Wohnzimmer zurück. Ich war still, da ich Montgomerys zunehmende Erregtheit wahrnahm. Familienmitglieder kamen und gingen, einzeln und in Paaren, die einzige, die sich niemals aus ihrem Sessel erhob, war die Grande Dame, deren Blicke alles verfolgten, oft zu mir und Montgomery schweiften, der jedesmal zusammenzuzucken schien, wenn er merkte, daß sie ihn beobachtete.

Zweimal starrte ich zornig zurück, als unsere Blicke einander begegneten, und das schien sie zu amüsieren; sie nahm es jedesmal mit einem kleinen Nicken zur Kenntnis. Spät am Abend, als diese schwierige und unerfreuliche Familie den Reiz des Neuen für mich längst verloren hatte, gab mir die Grande Dame ein Zeichen. Komm zu mir. Ich weiß nicht, wie sie es machte. Sie sprach nicht; sie machte keine Bewegung. Aber ich wußte, daß ich aufgefordert war zu kommen.

Ich ging zu ihr und ließ mich auf ein Kissen zu ihren Füßen nieder. Dutzende dieser Kissen lagen überall im Zimmer verstreut, mit halb abgerissenen Quasten, durchgesessen oder modrig vom Alter, alle aus demselben alten, braunfleckigen Aubusson-Teppich gemacht. Ich wählte eines mit blassen Rosen und goldenen Troddeln, spielte mit den Quasten, während diese Frau mich anstarrte und das nachmittägliche Unbehagen wiederkehrte. Die feinen Härchen auf meinen Armen und in meinem Nacken sträubten sich.

»Sie sind schwanger.« Sie sagte es in einem Ton, wie ihn vielleicht ein Mitglied einer königlichen Familie einem Dienstmädchen gegenüber vor seiner Entlassung anschlagen würde. Voller Geringschätzung und Verachtung. Ich schluckte. Ich hatte niemandem außer Sonja etwas davon gesagt, und Montgomery hatte mich gebeten, auch seiner Familie gegenüber zu schweigen. Offenbar hatte er sich nun doch entschlossen, seine Mutter zu informieren, und sie war nicht erfreut über die Neuigkeit.

»Nein. Er hat es mir nicht gesagt«, bemerkte sie, meine Gedanken erratend. »Wir haben in unserer Familie einen sechsten Sinn für manche Dinge.« Sie lächelte endlich, ein echtes Lächeln, jenes Lächeln, das vierzig Jahre lang die Menschen um sie herum in Bann geschlagen hatte, und ich begriff, wie sie sich die Macht erobert hatte, die sie heute in einem Teil des Staates besaß. Wenn sie dieses Lächeln lächelte, funkelte sie wie ein schwarzer Opal mit feurigem Herzen. »Wann ist es soweit?«

Ich hielt es für sinnlos, mit einer Lüge zu antworten, die sie, das wußte ich, sofort durchschauen würde; darum sagte ich mit aller Würde, die mir zu Gebote stand: »In sieben Monaten.«

»Hat mein Sohn Sie geheiratet, weil Sie mit seinem Balg schwanger sind?«

Ganz beiläufig brachte sie die beleidigende Frage hervor, als verdiente sie nicht mehr als eine ruhige und gelassene Antwort. Doch ich sprang zitternd vor Zorn auf und entgegnete auf sie hinunterblickend leise: »Ihr Sohn und ich waren zwei Jahre verlobt. Sie wurden zur Hochzeit eingeladen. Dieses Kind war geplant. Ich sage Ihnen das jetzt, weil Sie ... weil er Ihnen offensichtlich bis zu dem Moment, als ich hier zur Tür hereinkam, nichts von mir erzählt hat. Ich bin nicht irgendein hergelaufenes Flittchen, das ihn hereingelegt hat.«

Anstatt auf meine Tirade zu antworten, lachte sie, hell und perlend. »Flittchen. Das Wort gefällt mir. Ich habe es schon seit Jahren nicht mehr gehört. Nein, Sie sind kein Flittchen. Familie?«

»Dazincourt und Ferronaire.« Ich wußte, daß sie den Zorn in meinen Augen sah, aber sie ignorierte ihn einfach.

»Ach ja. Der Ferronaire-Skandal. Ich erinnere mich, daß Ihre Mutter durchbrannte und weit unter ihrem Stand heiratete. Aber Ihr Vater war ein gutaussehender Mann, und viele beneideten sie. Ich eingeschlossen. Sie sind akzeptabel. Sagen Sie meinem Sohn, er kann sich beruhigen. Er war ja den ganzen Abend so hippelig wie eine Hure im Bett einer Königin.«

Ich wußte, daß ich entlassen war. Montgomery, der direkt hinter mir stand und jedes Wort gehört hatte, nahm meinen Arm und führte mich weg. Wir gingen durch zwei lange Korridore zu unseren Zimmern. Montgomery hielt meinen Ellbogen so fest, daß alles Gefühl aus meinen Fingern wich und Schmerz meinen Arm hinaufzog. Nachdem wir das zweitemal um eine Ecke gebogen waren, kannte ich mich nicht mehr aus, aber Montgomery zögerte nicht ein einziges Mal, im Gegenteil, seine Schritte wurden immer schneller, als er mich eine unbeleuchtete Treppe hinaufzog, dann durch einen Flur zu dem erleuchteten Zimmer an seinem Ende.

Es war ein luxuriöses Appartement in Waldgrün mit französischen, rustikalen Antiquitäten, die ich unter anderen Umständen sehr bewundert hätte. Aber ich war zornig. Ich war so zornig, daß ich zitterte.

Unsere Koffer waren ausgepackt, unsere Nachtwäsche auf dem Bett zurechtgelegt, und Montgomery knallte die Tür hinter uns zu. Er ließ meinen Arm fallen, als hätte er sich daran verbrannt, und ging schnurstracks ins Badezimmer. Ich folgte ihm wütend.

»Was hast du dir dabei gedacht? Was hast du dir dabei gedacht, ihnen nichts zu sagen? Was hast du dir dabei gedacht, mich nicht vorzuwarnen?«

Er drückte bedächtig Zahnpasta aus der Tube auf seine Bürste.

»Du hast sie überhaupt nicht zur Hochzeit eingeladen, nicht wahr? Montgomery? Antworte mir!« Ich riß an seinem Handgelenk, daß ihm die Zahnbürste aus der Hand fiel, und zog ihn herum, so daß er mir ins Gesicht sehen mußte.

Seine Augen funkelten zornig. Aber noch etwas anderes spiegelte sich in ihnen. Furcht? Ich wandte mich hastig ab. Er schloß von hinten die Arme um mich und lachte. Es klang hysterisch. Er quetschte mich in seinen Armen zusammen, zerrte mich ins Schlafzimmer zurück, aufs Bett, um mich mit brutaler Gewalt zu nehmen. Voller Angst ließ ich ihn tun, was er wollte, und protestierte nicht einmal, als er mir wehtat, indem er in mich eindrang, obwohl ich völlig unvorbereitet war.

In den Büchern, die ich zu lesen pflegte, diesen romantischen Romanen von immerwährender Liebe, waren die Männer nach dem Sex stets zugänglich und gutgelaunt, voller Zuneigung und zur Versöhnung bereit. Montgomery jedoch verfiel in düsteres Schweigen und einen unruhigen Schlaf. Ich wagte nicht, mich zu rühren und tat bis nach Mitternacht kein Auge zu.

In der Nacht erwachte ich, vielleicht weil ich ein Geräusch gehört hatte, ein Echo, den Hauch eines Atems oder einer Bewegung, die nicht an diesen Ort gehörten, und sah zwei Gestalten am Fußende des Betts. Ich stieß einen unterdrückten Schrei aus und grapschte nach der Decke, die irgendwie zu meinen Füßen hinuntergerutscht war, und zog sie mir bis zum Hals hinauf. Richard und Marcus standen dort in der Dunkelheit und beobachteten mich, und ich wurde blutrot, weil ich nackt eingeschlafen war, von Montgomerys Arm niedergehalten nach der brutalen Intimität unserer Umarmung.

Marcus streckte mir seine Hand entgegen und schien verwundert, als ich vor ihm zurückschreckte. Einen Augenblick später wandten sich beide ab und gingen. Lautlos schlössen sie die Tür hinter sich. Die Augen Montgomerys, der neben mir lag, glitzerten in der Nacht, und ich hatte das unheimliche Gefühl, er gebe mir die Schuld am Erscheinen seiner Brüder in unserem Zimmer. Ohne ein Wort drehte er sich auf die Seite und kehrte mir den Rücken. Ich schlüpfte in das Nachthemd und fiel wieder in einen unruhigen Schlaf.

Montgomery beantwortete meine Fragen nicht. Als ich am folgenden Morgen die Rede auf seine Familie brachte, ging er einfach zur Tür hinaus und schloß sie hinter sich ab. Warum hatte er nicht am Abend zuvor seine Brüder ausgesperrt?

Durch das Schlafzimmerfenster sah ich zu, wie die Familie sich auf der Terrasse zum Frühstück versammelte. Sie wirkten ernst und feierlich, aber ich konnte ihre Stimmen nicht hören. Die Grande Dame saß an dem Tisch, der den Fenstertüren am nächsten stand. Montgomery gesellte sich zu der Gruppe, schob sich geschmeidig durch das Gedränge am Büffet und bediente sich. Er setzte sich zu einer Gruppe Frauen, später kam noch Miles Justin dazu, der unbekümmert ein Bein über die Lehne seines Stuhls schwang. Sein Jeanshemd und die Cowboystiefel stachen von der lässigen Eleganz der anderen deutlich ab.

Mir knurrte der Magen, während ich hinunterblickte und zusah, wie die Gruppe erst wuchs, dann wieder schrumpfte. Ich sah, wie die Grande Dame Montgomery und Miles zu sich zitierte. Ich sah, wie Marcus sich näherte und die Männer zornig zu werden schienen. Ihre Bewegungen wurden plötzlich steif und gespannt, und ich glaubte, sie würden gleich aufeinander losgehen. Dann entfernte sich die ganze Familie und verschwand hinter einer Hausecke, während ein kleines Heer von Dienstboten auf die Terrasse eilte, um wieder Ordnung zu machen. Ich ließ mich in einen Sessel sinken. In mir gärte es. Ich fragte mich, ob diese ganze Episode etwas mit dem nächtlichen Besuch in unserem Schlafzimmer zu tun hatte.

Später kam Montgomery zurück, in der einen Hand ein Tablett, in der anderen ein blutiges, mit Spitzen besetztes Leinentuch, das er sich an den Hals drückte. Er stieß die Tür mit dem Fuß zu und schloß mit der linken Hand ab, wobei er einen Blutfleck auf dem lackierten Holz hinterließ. Lächelnd näherte er sich mir mit jener pantherhaften Geschmeidigkeit, die allen De-Lande-Männern eigen zu sein schien.

Ich starrte auf das Blut, das durch das Spitzentüchlein sickerte und auf sein Hemd tropfte. »Montgomery?« Aller Zorn und alle Wut über den einsamen Morgen verflogen beim Anblick seines Bluts, das sich auf seinem Kragen sammelte.

»Ja, Milady?« Sein Ton klang übermütig, voller Leben und Gelächter wie in unserer Verlobungszeit. Seine Augen blitzten heiter. »Ist meine Herrin hungrig?«

Ich nahm das Tablett und stellte es auf den Tisch am Fenster. Dann wartete ich unsicher.

»Und? Willst du mich nicht verbinden? Oder mußte ich vielleicht ganz umsonst warten, bis du mit der Schwesternschule fertig warst, ehe ich dich heiraten durfte?« Mit dem rechten Arm umschloß er meine Taille und wirbelte mich durch das Zimmer, während das Blut in sein Hemd rann und durch unsere Kleider hindurch meine Haut rötete. Es war hellrot und klebrig, und ich konnte meinen Blick nicht davon wenden.

»Komm, mein schönes Weib. Tu deine Pflicht, und verarzte deinen verwundeten Gatten.« Er küßte mich mit weichen Lippen.

»Was ist denn passiert?« Meine Stimme war heiser, und ich räusperte mich.

»Ich habe mich beim Rasieren geschnitten.«

Beinahe hätte ich gelacht. Das war der DeLande-Charme. Ich hätte ihm dafür am liebsten den Hals umgedreht. Doch er tanzte mit mir ins Badezimmer und murmelte, die Lippen an meinen Hals gepreßt, etwas von Pflaster und Wasserstoffsuperoxyd.

Er taumelte beinahe, als er mich endlich an das kühle Waschbecken drückte. Ich wappnete mich innerlich und zog das Taschentuch weg.

Es war eine Schnittwunde von einem Messer, ungefähr sieben Zentimeter lang und tief. Sie war nur deshalb nicht noch tiefer gegangen, weil die Klinge auf sein Schlüsselbein gestoßen war. Hätte die Klinge ihn nur ein paar Millimeter weiter oben getroffen, so wäre sie an dem schützenden Knochen vorbei tief in seinen Hals geglitten und hätte sich in die große Schlagader gebohrt, deren Pulsen ich unter der blutverschmierten Haut fühlen konnte.

Ich drückte mit zitternden Fingern die Ader zu, während ich im Apothekerschränkchen nach den Dingen suchte, von denen er gesprochen hatte. Die ganze Zeit wanderten seine Hände, die er nun nicht mehr dazu brauchte, die Verletzung zuzudrücken, über meinen Körper, schmierten mir das Blut in die Kleider, in die Haare und auf die Haut. Wie betrunken lallend lehnte er sich an mich und erschwerte mir dadurch die Arbeit, aber es gelang mir schließlich, die Wunde zu säubern und das Wasserstoffsuperoxyd darauf zu träufeln. Montgomery schnappte nach Luft, biß mich in den Hals und schlug mir die Gaze, die ich hielt, beinahe aus der Hand.

»Laß das. Ich muß das saubermachen und verbinden und die Blutungen ...«

»Und ich brauche dich.«

»Das sieht man.« Er lachte über den bissigen Spott in meinem Ton. »Wann reisen wir ab?«

»Am Montag«, murmelte er, während er mich aus dem Badezimmer zum immer noch ungemachten Bett schob. »Zieh dich aus.«

»Sag mir, was passiert ist.« Ich wollte mit ihm handeln. Montgomery ging nicht darauf ein. Er zog die feuchte, blutrote Gaze weg und riß mir mit blutigen Händen die Kleider vom Leib. Dann stieß er mich aufs Bett. Ich sah in seine Augen, und das unheimliche Licht in ihnen ließ mich in meinen Bemühungen, die Blutungen zu stillen, innehalten. Sein Atem ging in röchelnden Stößen, und wieder biß er mich, diesmal in die Brust, brutal. Ich gab alle Gegenwehr auf.

Montgomery bemerkte die Veränderung in meinem Verhalten sofort und wurde sanft und zärtlich. Er sah mir in die Augen, während ich passiv unter ihm lag und sein Blut auf meine Brust, meinen Hals und mein Haar tropfte.

Ich begann schnell und heftig zu atmen, nicht aus Leidenschaft, sondern aus Furcht; meine Haut war kalt und klamm, in meinen Händen und Füßen begann es zu kribbeln.

Hyperventilation, flüsterte eine sachliche, vernünftige Stimme in mir. In Montgomerys Augen glitzerten Wahnsinn und funkelndes Gelächter.

Hinterher ließ er mich auf dem Bett liegen und ging ins Bad. Ich hörte das Rauschen der Dusche, das Klatschen des Wassers, als es auf die Fliesen und auf Montgomerys Körper schlug. Ohne mich zu rühren, sah ich zur Decke hinauf, zählte die Rosetten der Stuckverzierung, während sein Blut auf mir trocknete. Ich bemühte mich, nichts zu denken.

Ich hatte einmal einen tollwütigen Hund gesehen. Ein verwirrter Junge hatte ihn gebracht, der nicht wußte, was der Wahnsinn bedeutete, und keine Ahnung hatte, was die Bißwunden in seinen Armen ihn und seine Familie an Schmerz und Angst kosten würden. Der Hund hatte sich, sobald der Junge ihn aus den Armen gelassen hatte, auf dem Boden gewunden, hatte geschnappt und um sich geschlagen und gestrampelt. Ich hatte den Jungen ins Wartezimmer geführt, und Daddy hatte sein Gewehr geholt und den Hund erschossen. Und dieser Hund hatte Montgomerys Augen gehabt.

Trocken und sauber, die Wunde verbunden, ein Badetuch um die Taille, kam er wieder und brachte das Tablett ans Bett. Er schüttelte die Kissen auf, zog mich hoch und setzte mich zurecht wie eine Puppe. Und ohne sich von dem Blut und dem Geruch des Spermas irritieren zu lassen, fütterte er mich.

Ich aß, weil ich Angst hatte abzulehnen. Danach kleidete Montgomery sich an und ging, ohne mir eine Erklärung zu geben. Der Schlüssel drehte sich von außen im Schloß.

Ich blieb das ganze Wochenende in dem Zimmer eingesperrt. Zu meinem Schutz, behauptete Montgomery später. Weil ich zu unschuldig, zu schön, eine allzu starke Versuchung für seine Brüder sei, und er niemals teilen würde, was er für sich gewählt hatte. Teilen mit seinen Brüdern? Mich teilen?

Ich schwankte das ganze Wochenende zwischen Wut und Furcht, Verzweiflung und Niedergeschlagenheit. Ich war sicher in dem Zimmer, solange kein Feuer aus- oder einer der Brüder einbrach. Aber ich langweilte mich und fühlte mich einsam und verlassen und verzehrte mich vor Neugier. Diese Familie konnte doch keine Gefahr für mich sein. Ich mußte die Situation und Montgomerys rätselhafte Bemerkungen mißverstanden haben. Und den Blick des tollwütigen Hundes in seinen Augen ... ganz bestimmt. Und doch ...

Als der Montag kam, reisten wir ab, ohne uns zu verabschieden. In Miles Justins klassischem alten Kabriolett fuhren wir mit offenem Verdeck die gewundene Auffahrt hinaus, und ein heißer Wind spielte in meinem Haar. Ich war tief erleichtert, als wir das alte Haus hinter uns ließen, dessen dunkle Fenster, als ich zurückblickte, wie schwarze Augenhöhlen in einem Totenschädel aussahen, in die sich die Ranken der gewundenen, vielverzweigten Glyzinie wie arthritische Finger hineinstreckten.

Plötzlich erschien Miles Justin auf der vorderen Veranda. Eine Hüfte leicht an das Geländer gelehnt, blickte er uns nach. Selbst über die wachsende Entfernung hinweg trafen sich unsere Blicke, und er lächelte. Mit der ganzen raubtierhaften Anmut der DeLandes hob er die linke Hand, umfaßte die Krone seines Cowboyhuts und drückte einen Finger in die Vertiefung in der Mitte. Er lüftete den Hut ein klein wenig. Es war Galanterie und Scherz zugleich, und ich lachte, als die Auffahrt eine Biegung machte, und die Glyzinie meinen rätselhaften jungen Schwager, der immer noch seinen Hut hochhielt, meinem Blick entzog.

Ich hätte es wissen müssen. Ich hätte es verstehen müssen.

2

Der Wind war heiß und trocken. Sengend fegte er um die Windschutzscheibe herum, sog mir bald alle Feuchtigkeit aus der Haut, belegte sie mit einem glitschigen Film aus Öl und Salz. Selbst Miles Justins fein getuntes rostrotes Cord L-29 Kabriolett, Baujahr 1930, zeigte nach so vielen Stunden ununterbrochener Fahrt Ermüdungserscheinungen. Ich hatte mich mit einem Sonnenschutzmittel eingerieben, sobald ich das offene Verdeck des schnittigen Wagens mit dem Gepäckständer am Heck und dem altmodischen Klappsitz zu Gesicht bekommen hatte. Doch da stand die Sonne schon hoch, und es dauerte eine Weile, ehe das Mittel wirkte. Die Sonne hatte mein Gesicht und meine Schultern gerötet, der Wind hatte mein Haar so lange gezaust, bis der Zopf, den ich am Morgen geflochten hatte, sich löste, und ich fühlte mich so elend, daß ich am liebsten losgeheult hätte.

Montgomery, finster und einen kaum verhohlenen Zorn beherrschend, hatte alle meine zaghaften Versuche, Konversation zu machen, ignoriert und kein Wort mit mir gesprochen, seit er sich von dem französischen Bett im Haus seiner Familie erhoben hatte. Als ich einmal wagte, ihn zu berühren, zuckte er zurück und legte den Arm in seinen Schoß. Ich war zwar nicht mehr in einem Zimmer eingesperrt, aber ich war immer noch eine Gefangene.

Mein anfänglicher Zorn über die Inhaftierung hatte sich im Lauf der einsamen Stunden in dem fremden Zimmer gelegt, war von Unverständnis für das unberechenbare Verhalten des Mannes, den ich geheiratet hatte, verdrängt worden. Die romantischen Tage von Paris waren von diesem neuen Montgomery, diesem distanzierten, nicht einzuschätzenden Mann, zum trügerischen Traum, zur Lüge degradiert worden. Selbst seine Art, sich zu bewegen, hatte sich während unseres Aufenthalts auf dem Familiensitz der DeLandes verändert; die geschmeidige Grazie war den ruckhaften Bewegungen eines rastlosen, eingesperrten Tiers gewichen. Die warme Leidenschaft der vorangegangenen Wochen war verschwunden, verdrängt von einem kalten, gewaltsamen Brand, an dem ich keinen Anteil hatte.

Ich hatte gehofft, mit der wachsenden Entfernung von der Familie werde sich langsam die unbeschwerte, liebevolle Beziehung wieder einstellen, die vorher zwischen uns bestanden hatte.

Doch die Stunden vergingen, und Montgomery schien nur immer tiefer in das schwarze Loch zu fallen, das er sich selbst gegraben hatte, und die Last seines Schweigens legte sich über mich wie ein düsterer Schleier.

Die Landschaft vermochte nicht, meine Stimmung aufzuhellen. Im allgemeinen liebte ich die flache, vom Wasser beherrschte Landschaft des Atchafalaya-Beckens, heute jedoch schienen mir der Verfall und die Fäulnis, die es im sumpfigen Marschland immer gibt, einen Blick in Montgomerys Seele zu erschließen, auf geheime Orte, die ich eben erst entdeckt hatte, und ich fröstelte trotz der sengenden Hitze.

Seit mehr als sechstausend Jahren, seitdem die Wasser der letzten Eiszeit zurückgewichen waren, tobte zwischen dem Golf von Mexiko mit seinen salzhaltigen Gezeitengewässern und den Flüssen Mississippi und Atchafalaya ein Kampf auf Leben und Tod. Ein endloser Krieg zwischen Salzwasser und Süßwasser, bei dem jede Sturmbö, jedes tropische Gewitter und jeder Hurrikan das Meer landwärts trugen, wo es das zarte Leben der Küstengebiete vernichtete und verstümmelte. Der Mississippi wehrte sich und brachte Süßwasser, Humus und Nährstoffe nach Süden, die den Salzgehalt in der Erde und dem Marschland neutralisierten, so daß in dem geschädigten Land neues Leben entstehen konnte.

Es konnte also vorkommen, daß wir, soweit das Auge reichte, nur tote und sterbende Bäume sahen, kaum mehr als moosverkleidete dürre Stämme, die wie anklagende skeletthafte Finger zum wolkenlosen Himmel zeigten. Und dann konnte die Straße urplötzlich eine Biegung machen und mitten in die sumpfigen Marschen eines lebendigen Stücks Land führen, mit moosverhangenem Grün, dunkel gefiederten Zypressen und den noch dunkleren, schwarzen Walnußbäumen, mit Hickorybäumen, knorrigen, alten Eichen, die man hier cheniers nannte, Pekannuß- und Amberbäumen, Weiden, wildwachsenden Ranken- und Kletterpflanzen und Blumen wie Lotus und purpurrote Wasserhyazinthe. Angesichts dieser üppigen Vegetation wurde mein Verlangen zu weinen beinahe übermächtig.

Zweimal verloren sich die gewundenen, nur teilweise asphaltierten Straßen, auf denen wir fuhren, im Sumpf. Die Natur hatte sich zurückgeholt, was ihr gestohlen worden war, und der Mensch hatte es nicht der Mühe wert gehalten, darauf zu reagieren. Einige dieser Straßen waren selbst in den neuesten Karten nicht eingezeichnet. Beide Male hielt Montgomery an, wendete den Wagen vorsichtig und fuhr wieder zurück.

Die Straßen, die uns trugen, würden eines Tages verschwunden sein, in die Tiefe gezogen und verschlungen von dem Schlamm, der schon jetzt an den Straßenrändern leckte. Wir schreckten Rotwild auf und bremsten vor Geiern ab, die auf der Straße hockend an grauen Fleischbrocken nagten. Wir kamen an toten Gewässern vorüber, an alten Friedhöfen mit Mauern aus schneeweißem Marmor, an verlassenen Häusern, verlassenen Geschäften und Eisenbahndepots. Alligatoren lagen in der Sonne, ein Silberreihernest im Röhricht war um diese Tageszeit fast leer. Wir begegneten wenigen Autos. Wenigen Menschen.

Ich wußte nie, wo wir uns befanden, aber Montgomery zögerte an keiner Kreuzung oder Umleitung, sondern durchmaß das Land so rastlos, als jage er etwas nach, das nicht zu greifen war. Unablässig schweifte der Blick seiner blauen Augen umher, bald musterte er in schweigender Konzentration ein Stück Land, ein Zuckerrohrfeld oder ein verlassenes Industriegelände. Irgendwann an diesem endlosen Tag begriff ich, daß Montgomery nicht versuchte, mit mir in die Irre zu fahren oder mich auf grausame Weise, unter sengender Sonne mit dem Flußbecken vertraut zu machen. Er war in Geschäften der Familie DeLande unterwegs.

Mehrmals drosselte er das Tempo, als wir an kleinen Lichtungen in den Sumpfwäldern vorüberkamen, die durch verrostete, nicht mehr gebrauchte Öl- und Erdgasleitungen oder Brunnen gekennzeichnet waren. Unternehmen, die jetzt bankrott waren oder lukrativere Ölvorkommen gefunden hatten, hatten diese Leitungen, die einst unter Wasser oder Erdablagerungen versteckt gewesen waren, als Schrott zurückgelassen. An mehreren dieser Orte sah ich Schilder, von Kletterpflanzen überwuchert oder im hohen Unkraut liegend, auf denen das ausgebleichte Wappen der DeLandes zu erkennen war, der Raubvogel mit den blutigen Klauen.

Beinahe hätte ich Montgomery nach dem Namen des Vogels, dem Symbol seiner Familie, gefragt, aber dann hielt ich doch lieber den Mund. Wenn ich wieder bei meinen Büchern und Lexika war, konnte ich nachschlagen und den Vogel selbst identifizieren. Ich brauchte ihn überhaupt nichts zu fragen.

Eigensinnig preßte ich die Lippen zusammen und genoß das Gefühl von Stärke, das dem Trotz entsprang. Eigensinn ist eine Charaktereigenschaft der Dazincourts. Die Hälfte dessen, was ich von meinem Vater gelernt hatte, war Heimatkunde und Tiermedizin. Die andere Hälfte war reiner Eigensinn.

Er hatte mich gelehrt, mit Schlangen umzugehen und die Rückenflossen frisch gefangener Katzenfische nicht anzurühren. Er hatte mich gelehrt, statt nutzlosen Mitleids Charakterstärke zu zeigen, wenn es darum ging, ein leidendes Tier von seinen Schmerzen zu erlösen. Er hatte mich gelehrt, meinen Standpunkt zu behaupten, wenn es um eine Sache ging, die es wert war, verteidigt zu werden. Er hatte mich den Wert von Prinzipien, Integrität und Ehrlichkeit gelehrt; und wann diese Werte im Vergleich mit den höheren Werten elementarer Menschenrechte und zum Schutze von Unschuldigen ihren Sinn verloren. Aber den Umgang mit meinem Ehemann hatte er mich nicht gelehrt.

Wir kamen an einem weiteren menschenverlassenen Ort vorüber, den nichts kennzeichnete als die Spuren vergangener Habgier: ein Baumfriedhof unter einer Decke von Wasserlinsen und stillem Wasser, das sich nur manchmal teilte, um einen Nutria oder eine Bisamratte mit feuchtglänzendem Körper an die Oberfläche zu lassen. Baumstümpfe wie Grabsteine, für die Holzverarbeitung nicht zu gebrauchen, waren von den Holzfällern zurückgelassen worden, um Zeugnis abzulegen von der Raffsucht früherer Generationen jener Familie, in die ich eingeheiratet hatte.

Seit sieben Generationen waren die DeLandes damit beschäftigt, ein Vermögen zurückzugewinnen, das nach dem Bürgerkrieg verlorengegangen war, und mit diesem Ziel hatten sie das Marschland zerstört und mit skrupelloser Effizienz den Profit eingestrichen. Der Grande Dame und den Geschwistern DeLande gehörte gemeinsam mehr Land in der südlichen Hälfte des Staates als jeder anderen Familie. Mehr als den meisten Konsortien. Es war einst ein reiches Erbe gewesen; Natur und Mensch hatten zusammengewirkt, es zu zerstören. Die Natur mit salzigen Überschwemmungen und schweren Regenfällen, Überflutungen und Orkanen. Der Mensch mit der Pest seiner Selbstsucht und Profitgier. Keiner hätte freiwillig das Wasser getrunken, das durch das Flußbecken strömte. Bakterien und Mikroben von Exkrementen und Abfällen, Hunderte von Karzinogenen und anderen Schadstoffen machten es ungenießbar und gefährlich.

Generationen von Trappern, Jägern, Moospflückern, Holzarbeitern und Fischern hatte dieser südliche Teil des Staates mit seinen Tieren, seinem Holz und seinen anderen natürlichen Reichtümern ernährt, und in den letzten zwei Generationen auch die wachsende Öl- und Gasindustrie. Aber alle, die sich von den Schätzen dieses Landes nahmen, hatten ihm in irgendeiner Weise Gewalt angetan und Spuren ihres Verbrechens hinterlassen. Und auch ich gehörte jetzt dazu.

Noch immer würdigte mich Montgomery keines Blicks, keines Worts.

Wir waren den ganzen Tag gefahren, hatten nur gehalten, wenn der Wagen Benzin brauchte, was häufig der Fall war. Der Cord verbrauchte Benzin in Mengen, und die alte Benzinuhr funktionierte nicht richtig. Nicht ein einziges Mal fragte Montgomery mich nach meinem Befinden oder meinen Bedürfnissen, und die beiden Male, als ich in den kleinen Tankstellen, an denen wir hielten, zur Toilette rannte, glaubte ich ernstlich, er würde es fertigbringen, ohne mich weiterzufahren. Aber erwartete, lässig an den Roadster gelehnt, den Blick zum Himmel gerichtet oder auf eine vorbeiziehende Waschbärenfamilie.

Je näher wir Moisson kamen, desto häufiger dachte ich an meinen Daddy und stellte mir vor, was für einen Empfang er mir bereiten würde, wenn ich Montgomery einfach verließ und in mein Elternhaus zurückkehrte. Ich zwinkerte mit geschwollenen Augenlidern, um die Tränen zurückzudrängen, und biß mir auf die Lippen, um nicht zu weinen oder Montgomery anzuflehen, mit mir zu sprechen. Ich wollte getröstet werden, und ich wußte, daß ich Trost im Haus meiner Kindheit finden konnte. Aber dann dachte ich an das neue Dach und Paris und den Montgomery, den ich gekannt hatte, ehe wir die Familie DeLande besucht hatten, und wieder hatte ich Mühe, die Tränen zu unterdrücken.

Gegen Abend, als die Sonne rasch versank, eine gewaltige rotgoldene Kugel, die über den Zypressenhainen und Zuckerrohrfeldern hing und die Welt in zartes Rosarot tauchte, sah ich endlich den ersten vertrauten Orientierungspunkt – Bonnett’s Fleischerei und Grillrestaurant. Wir waren etwa zwanzig Meilen vor Moisson, näherten uns auf einer in nördlicher Richtung verlaufenden Straße, die ich selten gefahren war. Wir hatten das ganze Becken umrundet, waren auf kleinen Nebenstraßen kreuz und quer gefahren und hatten auf diese Weise für die Fahrt hierher doppelt so lange gebraucht, wie normal gewesen wäre. Und Montgomery hatte in dieser ganzen Zeit nicht ein einziges Wort mit mir gesprochen.

Seit unserem letzten Halt waren drei Stunden vergangen. Der Zeiger der Benzinuhr stand auf »Leer«, ich war hungrig, durstig, ängstlich, von der Sonne verbrannt und unglücklich. Ich haßte diesen neuen Montgomery und verwünschte mich dafür, daß ich ihn geheiratet hatte. Immer wieder wallte auch Furcht in mir auf. Die Erinnerung an den wilden Wahnsinnsblick Montgomerys, als er blutend auf mir gelegen hatte, suchte mich in den seltsamsten Augenblicken heim, wie eine Warnung, die mir nicht aus dem Kopf gehen wollte.

Bonnett’s hatte in Moisson Tradition, sowohl als Fleischerei, in der die Hausfrauen ihren Braten kauften, wie auch als Eßlokal und Bar, wo man sich abends traf. Es gab hier weit und breit das beste Essen, das war nicht nur den Einheimischen bekannt, sondern auch den Touristen, die zum Fischen in diese Gegend kamen.

Eine wirksamere Reklame als die appetitlichen Düfte, die aus dem Restaurant und der Küche von Bonnett’s ins Freie wehten, gab es nicht. Das Lokal selbst war nichts Besonderes, eigentlich nur eine Baracke, an die immer wieder angebaut worden war, so daß eine Reihe kleiner, dunkler, ineinander übergehender Räume entstanden war. Vor der ungestrichenen Baracke mit dem eingesunkenen Dach aus rostendem Wellblech gab es eine Zapfsäule und hinter dem Haus eine öffentliche Toilette.

Montgomery hielt den Wagen vor der Zapfsäule an und schaltete den Motor aus. Ohne ein Wort zu sagen, öffnete ich die Tür auf meiner Seite, nahm meine Handtasche und stieg aus. Ich ging nach hinten, zur Toilette, in der es zwar weder Papier noch Seife gab, die aber dennoch sauberer war als die meisten.

Ich mußte warten und nutzte die Zeit, um mir das vom Wind zerzauste Haar zu bürsten. Als ich zurückging, das Gesicht gewaschen, das Haar glänzend von der Bürste, die Lippen frisch gemalt, beschloß ich, nicht gleich wieder in die bedrückende Enge des Wagens zurückzukehren. Statt dessen ging ich mit einer Fünf-Dollar-Note in der einen Hand und meiner Handtasche in der anderen in das Lokal. Montgomery mochte es aushalten, einen ganzen Tag lang nichts zu essen, aber ich war völlig ausgehungert und mein ungeborenes Kind ebenfalls. Jetzt würde ich endlich etwas essen.

Ich trat durch die schmale Tür ins Haus. Schon von den Gerüchen, die mich empfingen, lief mir das Wasser im Mund zusammen. Obwohl es ein Montag war, war ziemlich viel Betrieb. In einem der kleinen Räume feierte eine Gruppe Sportangler einen erfolgreichen Tag, in einem anderen fand eine Zusammenkunft eines dieser komischen Klubs statt – die Lions oder Tigers oder Bears ... Du lieber Gott... Zum erstenmal an diesem Tag mußte ich lächeln.

Bei Billy Bonnett, Koch/Metzger/Wirt, gab es die besten warmen Mahlzeiten und das beste Fleisch in der ganzen Gegend – in Marinade eingelegten Braten; gefüllten Kalbsmagen; mehrere Arten von Blutwurst, Knoblauchwurst, Schweinskopfkäse, ein Gumbo, das wirklich Leib und Seele zusammenhielt, gedünstete Langusten, Schweinegrieben, luftgetrocknetes Rindfleisch, Froschschenkel, gegrilltes Gemüse aus den Gärten der Umgebung und drei Arten Reis.