Die Beurteilung - Elisabeth Schulz-Semrau - E-Book
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Elisabeth Schulz-Semrau

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Beschreibung

„Wo sind die Blitze, Kolja?“, fragt Gisela Hildebrand ihren erwachsenen Sohn. Kolja, Jahrgang 1951, stellt Ideale in Frage, die vor allem von seiner Mutter auf ihn übergegangen sind. Trotz Scheidung seiner Eltern verliefen seine Kindheit und Jugend ohne tiefgreifenden Widerspruch, haben Schule und Universität ihn in dem bestärkt, was ihn mit seiner Mutter verbindet. Doch da siedelt das Mädchen, das er liebt, nach Westberlin. Da stößt der junge, unbequeme Kunstwissenschaftler in seiner Arbeitsstätte, einem Museum, zunehmend auf Unverständnis und Widerstand. Eine negative Beurteilung verhindert, dass er an die Universität in die Forschung zurückkehren kann. Ist er selbstgerecht, wenn er mit seinen aufbrechenden Zweifeln seine Mutter attackiert? Sie wehrt sich, gerät aber zugleich in Widerstreit mit sich selbst und mit jenen, denen gegenüber sie ihren Sohn verteidigen will. Aus der Sicht beider Hauptfiguren werden Lebenserfahrungen und -ansprüche zweier Generationen konfrontiert und auf ihr produktives Miteinander hin untersucht.

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Seitenzahl: 269

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Impressum

Elisabeth Schulz-Semrau

Die Beurteilung

Roman

ISBN 978-3-86394-370-7 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien erstmals 1981 im Mitteldeutschen Verlag Halle-Leipzig.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2020 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.edition-digital.de

1. Kapitel

Sie schlugen gegen die Glastür. Sie hatten sie schon einige Male aufgerissen. Junger Mann, wir wollen auch endlich …

Wo sind die Blitze, Kolja, hörte er seine Mutter fragen. Ihre Stimme war jetzt ruhig. Er wusste sie ihre Augenbrauen zusammenschieben. Ihr heldenhaftes Geradenicht.

Er fühlte keine Wirkung auf sich. Wo sind die Blitze, Mutter, fragte er zurück. Heiser, lustlos.

Dann klickte das Gespräch aus. Die Mark war abgeredet.

Auch ohne die Leute da draußen hätte er kein weiteres Geldstück eingeworfen. Wozu auch?

Als er sich an den Wartenden vorbeischob, aus dem kleinen Postamt des Bahnhofs Friedrichstraße trat, spürte er doch Erleichterung. Nun ja, eine, die um ihn wissen wollte, wohl auch sollte, wusste es jetzt. Das wenigstens.

Ein weicher Spätnachmittag im Oktober.

Der Sommer war in diesem Jahr wie ein giftgrüner, saurer Apfel gewesen, um so mehr verwirrten die nachfolgenden, gelben Herbsttage.

Den jungen Mann mit dem von seiner Mutter im Jahre neunzehnhunderteinundfünfzig erwählten Namen Kolja trieben sie bis in die Nächte durch Straßen, in die der Atem der umliegenden Wälder brach.

Am Tag aber hätte er lange über einem Gedicht sitzen mögen, einem eigenen in der Mühe um Wörter oder einem fremden in der Faszination der Bilder, hätte planvoll maßlos in seinen Eimer mit Ton greifen wollen, um trotz allem wieder einmal Tanjas Gesicht zu versuchen. Oder – sich wenigstens an den verrückten Farben des riesigen Ahorns vor seinem Bürofenster berauschen.

Wenn – ja wenn er nicht erwachsen zu sein hatte und also vernünftig, ausgeglichen, verantwortlich, besoldet, bedienstet, beleumdet, belogen, belangt, belauert, belämmert …

Er übertrieb? Na, wenn schon. Notwehr sozusagen. Wenn einer bei vierzig Grad Kälte behauptete, es seien nur fünfundzwanzig, ließ die Ahnung von den vierzig Graden die fünfundzwanzig wie einen kühlen Frühlingstag ertragen.

Wenn man ertragen wollte. Aber wollte er das noch? Seiner Genossin Mutter jedenfalls hatte er ein glattes Nein entgegengewürfelt.

Eigentlich habe ich es ihr so gesagt, als sei sie mit daran schuld, erinnerte er sich, während er mechanisch eine große gelbe Abfahrtstabelle nach einem Zug für die Rückfahrt nach N. absuchte.

Wahrscheinlich ist es das, dass ich immer ein paar Nuancen davon drauf hatte während der letzten Jahre, sodass wir uns verschiedene Weihnachten, Ostern, Pfingsten und was sonst so an Gemeinsamkeit anfiel, verstritten und versauten.

Aber war ich wirklich allein schuld? Auf jede kritische, gar ketzerische Bemerkung stieg sie sofort voll ein, stellte sich auf die Seite der von mir Angegriffenen, verteidigte sie, fand Ursachen und Entschuldigungen und brachte mich dadurch natürlich noch mehr auf.

Ja, sie hatte überhaupt immer so getan, als sei das ganz allein ihr Land, als hätte sie es wie das liebe Herrgöttle aus weißichwas zusammengemixt und die Figürchen darin alle höchstpersönlich geboren.

Alle taten sie so, die lieben Väter und Mütter. Seine vielleicht noch am maßvollsten. Brach nur eines der Püppchen aus dem von ihnen geprägten Rhythmus aus, um einen eigenen zu finden, glaubten sie gleich, die großen Alten des Sozialismus seien bedroht.

Dabei – ach Mist! Kolja drehte sich mit einem Ruck von den Zuganschlüssen weg.

Ich muss aufpassen, dass ich nicht heiß laufe, die in N. dürfen mich nicht dazu bringen, dachte Kolja, stolperte die paar Stufen aus der Halle des Bahnhofs Friedrichstraße, verharrte unter der Normaluhr, als sei er eigens dazu hergekommen, sich mit jemand zu treffen.

Aber es gab niemand, der ihn erwartete. Niemand mehr.

Übrigens hatten Tanja und er solche fantasielosen Treffs nie nötig gehabt.

Dennoch war hier was. Und das hatte nicht nur damit zu tun, dass sein Kompass auf diese Hauptstadt, Teilstadt, seine Schmerz-, seine Herzstadt eingeordnet war.

Einmal, vor dick einem Jahr, sie waren aus dem plüschroten Vorjahrhundert einer Kellerkneipe emporgestiegen, die gerahmten muskelbepackten Ringer an den Wänden und das einsame Fiepen einer alten Harmonika hatte ihrem Tokayertaumel nichts anhaben können, da hatte sich Kolja plötzlich, während die Freunde auf den Bänken zwischen rechter und linker Straßenseite Unter den Linden sich um Fächer, Fachrichtungen und Sektionen stritten, auf einen Fleck Berliner Erde gleiten lassen.

Es hatte ihn nicht gestört, dass sie lachten, und Bofinger, der Besoffenste unter ihnen, grölte: Hast du es nötig, Sohn Hadubrand, missratener Nachkomme Pawel Kortschagins, ins Gras zu beißen?

Er hatte seinen Kopf auf die Seite gelegt und der erschrockenen Tanja, die sich über ihn beugte, zugeraunt: Hier schlägt das Herz der Welt. Hier müssen die linken und die rechten Blutbahnen ihren Weg suchen. Hier liegen die Freude und der Schmerz, die Liebe und der Abschied, Tod und Leben wie Geschwister nebeneinander.

Hier wirst du, Tan, er sprach das a englisch aus, wie sie es mochte, hier wirst du als ein Blutpartikelchen passieren, aber du wirst da sein, spüren und gespürt werden. Hörst du, wir können uns nicht verlieren!

Konjez!

Immer noch stand Kolja unter der Normaluhr.

Und da war’s wie der Zipfel eines vergilbten Märchentaschentuchs.

Er hörte Mutters damalige Freundin Gitta kichern: Sag nur, du hast den auch unter die Normaluhr bestellt?

Fünf war er vielleicht oder eher sieben. Die Frauen hatten wohl eine Art Jugenddefizit zu befriedigen gesucht. Seine Mutter, auf dem Papier noch eins mit dem Vater, und jene Tante Gitta, von einem dieser revolutionären Väter mitsamt Kind verraten und sitzen gelassen.

Womöglich war neben dem Spaß Rache am Mann überhaupt. Jedenfalls hatten sich die beiden an einem für ihr damaliges Alter riesigen Männerangebot schadlos gehalten. Ich weiß ja nicht, aber wenn Sie unbedingt wollen, Freitag, siebzehn Uhr, Friedrichstraße, unter der Normaluhr. Und sie hatten sich damit gebrüstet, beide gleichzeitig und möglichst zwei von der Sorte „Nahziel Frau“ zusammen zu bestellen.

Selten gingen sic hin. Öfter genossen sie es, hinter den gerafften Stores der kleinen Konditorei gegenüber zu äugeln: Guck bloß, der Dussel ist wirklich gekommen …

Weiber! dachte Kolja. Und wir, Gefangene unseres Geschlechts, bilden uns auch noch ein, Herr von Entscheidungen zu sein.

Ich gottverdammter Idiot, wo hab ich das gelesen: Liebe schafft alles. Wenn es das überhaupt war, wenn es das überhaupt gibt: Liebe.

Wenn die Wut dir bis unter die Stirn krabbelt, wird’s vor den Augen finster, stauchte sich Kolja zurecht.

Er hatte im letzten Vierteljahr eine eigene Methode entwickeln müssen, um sich immer wieder in den Griff zu bekommen, die letzte wirksamste Phrase war dann die: Na los, du labiler Scheißer, wenn’s nicht anders geht, schaff dich aus der Landschaft! Wen juckt’s schon …

Kolja drehte sich endlich von den Auslagen des Schnapsladens weg.

Er überquerte die Straße, trottete, die Schultern leicht vorfallend und die Hände tief in den Taschen seines Parkas, an Gesichtern hinter der gerafften Gardine jener Konditorei vorbei, am Handschuh-, am Schreibwaren-, am Schokoladengeschäft.

Zwischen Metropoltheater und Pavillonkomplex traf ihn erstmalig heute der Tag.

Das kam so stark, mit einer gewalttätigen Zärtlichkeit, dass es ihn schwindelte.

Der Nachmittagsschleier hatte sich in die Straßen fallen lassen, bauschte sich über den Lichtkegeln, die aus Geschäften und Fenstern schlugen, umschmeichelte die hastenden Menschen, isolierte und machte gleichermaßen kommunikationstüchtig.

Über dem Schiffbauerdamm jedoch triumphierte ein unwirkliches Blau, in dem einige Pinselspritzer Rosa schwammen. Doch erst in dem lautlosen Wasser der Spree unterhalb der Weidendammer Brücke wirkte es wirklich.

Diese rosengesichtige Vollkommenheit kollidierte mit der angeknacksten Persönlichkeit des jungen Mannes, und er fühlte zum ersten Mal, wie Schönheit schmerzen konnte.

Ach, Mutter, wo sind sie nun, die Blitze, dachte Kolja, für sich selbst überraschend. Und er fuhr dabei wie beschwörend mit der Hand über das kühle, glatte Geländer der Brücke.

Nein, heute sollen alle Züge der Welt ohne mich abfahren.

Warum überhaupt habe ich nicht von vornherein eingeplant, hier zu bleiben. Aber es war ja bereits alles verfahren, als ich herfuhr; und die angezweifelte Hoffnung hatte keine anderen Entschlüsse zugelassen.

Das Ohr an den Puls dieser Stadt legen und wie Anthäus ein bisschen stärker aufstehen …

Wohin also? Kolja rannte von der Weidendammer Brücke den Kupfergraben entlang, sprang in die dort pausierende Straßenbahn Nummer 46, die sich gleich danach in Bewegung setzte. Zu Tante Anna, hatte er beschlossen.

Wann das mit den Blitzen in seiner Familie begonnen hatte, wusste Kolja nicht mehr genau.

Als ersten Erinnerungsschimmer spürte er sich klein und heulend in den Armen seines Vaters hängen. Sie standen vor dem breiten Fenster des Wohnzimmers, die Gardine war beiseitegeschoben; der Vater, ihm den Kopf streichelnd, fragte: Kolja, wo sind die Blitze?

Und obwohl sich am Himmel kein bitteres Wölkchen zeigte – sie hatten damals noch in dem winzigen Haus vor dem ungeheuren Feld, das abwechselnd mit Korn oder Kartoffeln bepflanzt war, gewohnt – stiekste er mit seinem kleinen Zeigefinger in die linke obere Fensterseite und sagte voller Überzeugung: Da sind die Blitze!

Und es war nicht gelogen, denn danach vertropften alle Tränen. Und obwohl Kolja mit den Jahren die Kraft der Blitze und überhaupt das ganze idealische Hoffnungsspiel anzweifelte, eine Wurzel zumindest war geblieben und steckte, für ihn selbst unbegreifbar, tief in dem Acker seiner Kindheit.

Hinter dem Dorotheenstädtischen Friedhof war er aus der Straßenbahn ausgestiegen, obwohl er noch zwei Stationen hätte fahren können.

In einem Gemüsegeschäft ließ er sich drei große Navelorangen geben, suchte in einem Selbstbedienungsladen zwei Päckchen des frischesten Kaffees und stopfte damit seine Taschen voll.

Er ging langsam durch ihm wohlvertraute Straßen, guckte hier und verharrte da, zum Beispiel vor der aus roten Klinkersteinen erbauten und in die übrige Straßenzeile eingepassten Kirche, die, wie er wusste, einer landeskirchlichen Gemeinschaft gehörte. „Herberge zur Heimat“ stand über dem Eingang.

Einmal, als Tanja und er sehr gefroren hatten – Tanja waren die Kohlen ausgegangen, und für den Weg bis zu ihm war sie an diesem angebrochenen Abend zu müde gewesen – da waren sie in irgendeine Andacht geschlichen und hatten sich unter den, wie es schien, wohlwollenden Blicken der Gläubigen in eine Bank gezwängt.

Ein Mann, in Kleid und Wort einem Pfarrer kaum ähnlich, hatte nach der Geschichte vom armen Lazarus in nicht einwandfreiem Deutsch, aber in freier Rede Einfühlsames für die Nöte gewöhnlicher Leute gefunden.

Ach, Kolja, sagte Tanja, als sie im Menschenstrom die Kirche verließen, hätt’ ich doch wenigstens das gehabt … Auf dem Weg bis zur Schröderstraße Nummer einunddreißig hatte ihm Tanja ihre Geschichte erzählt …

Ich hab meinen Namen nicht wie du, weil meine Eltern dem großen Bruder damit einen Obelisken stiften wollten. Ich habe gar keine Eltern. Ich hatte immer nur eine Mutter. Die, Tochter eines Gutsarbeiters, hat bis zum siebzehnten Lebensjahr als Hilfskraft in einer Gärtnerei gearbeitet. Dann muss sie wohl die Sehnsucht nach Bildung und Welt in die Stadt getrieben haben. Sie landete in einer Spinnmaschinenfabrik, kurz die Spinne genannt. Schon ein Jahr darauf ist sie auf einem Tanzboden einem Alexander Sergejitsch aus der Ukraine begegnet. Damals soll’s noch so unorganisierte Begegnungen gegeben haben. Also was ganz Normales. Oder?

Na, jedenfalls nicht für die Leute unseres Dorfes.

Meine naive Mutter kehrte nun nicht mehr allein an den Futtertrog ihrer Herkunft zurück. Und sie hielt über das, was sie mitbrachte, leider nicht ihren damals noch schönen Mund. Ein Kind der Liebe, sagte sie, wir sind über Zäune füreinander gesprungen, und – es wird nie wieder jemanden für mich geben.

Letzteres hat sie gehalten, ich glaube, sie weiß heute gar nicht mehr warum. Und wenn sie’s weiß, an mich hat sie dabei am wenigsten gedacht.

Ich wuchs also auf in diesem dreimal verfluchten Nest als Kind des Russenliebchens – so flüsterten sie hinter vorgehaltener Hand. In der ersten Klasse fragte mich der Lehrer – er hatte schon meine Mutter unterrichtet – scheinheilig behutsam nach meinem Vater aus. Und weißt du, was ich ihm erzählte? Mehr hatte meine Mutter nicht zu bieten – ich sagte: Mein Papa ist aus der Sowjetunion, wo viel Korn wächst, das Dorf heißt Ukraine. Er hat meiner Mutti einen blühenden Apfelzweig geschenkt und hat ihr zwischen Kornfeldern – weißderteufel, wo sie in der Stadt so was fanden – Krakowiak vorgemacht. Das ist nämlich ein Tanz, da springt man so, dass man die rechte Stiefelspitze in die linke und die linke in die rechte Hand bekommt. Soso, freute sich der verspießte Kerl, dabei bist du wohl herausgekullert.

Oh, weißt du, wie ich gelernt habe, meine Geschichte zu verfremden? Dem Stabülehrer in der EOS der Kreisstadt erzählte ich es schon so: Ach, wissen Sie, meine Mutter studierte in der SU, da hat sie mich mitgebracht. Ob er’s glaubte, weiß ich nicht, bei meinen Schulkameraden habe ich jedenfalls damit Eindruck geschunden.

Auf unserem Dorf blieb ich abgestempelt.

Bestimmt hat es meine Mutter nie so mitbekommen, sie übernahm den Dorfkonsum, da erhöhte die mitgelieferte Lebensgeschichte den Wert eines Pfunds Zucker. Als ich als Mädchen zu zählen begann, schworen die Bauernbengels sich auf mich ein, als ob ich’s urwüchsiger konnte als andere. Unglücklicherweise durchschaute ich dies erst, als ich ehrlich verknallt und sechzehnjährig im Bett des Sohns vom LPG-Vorsitzenden gelandet war. Weißt du, Kolja, was ich mir da geschworen habe?

Kolja wusste es, sie hatte es nicht zu wiederholen brauchen, es begann ihn ja bereits zu treffen …

Warum hatte er damals nichts infrage gesetzt? Er hatte sich von ihrem Lebenslauf in Mitleid aufweichen lassen, dabei hätte er ihr an diesem Abend zumindest sagen müssen: Lass doch die alten Storys, Tanja, wer ist davon schon frei? Manchmal denke ich, unsere Alten hatten ihr Grunderlebnis in Nazizeit und Krieg oder kurz danach. Wir aber haben das unsere mit ihnen. Das lähmt uns. Und uns von ihnen zu befreien, bereitet Schmerz, ihnen wohl noch mehr als uns. Trotzdem müssen wir es tun! Besser noch wäre vielleicht gewesen, sie einfach bei der Hand zu nehmen, zu sagen, lass ihn uns suchen, Tanja, den Mann aus der Ukraine! Denn wir wären borniert, wollten wir nicht glauben, dass es sie gibt, wirkliche Väter …

Blitze, alles Blitze, fasste Kolja zusammen, klatschte im Weitergehen einige Male mit flacher Hand auf die Kirchenklinker. Ringsum nahte inzwischen, was sie in seiner Familie „blaue Stunde“ nannten. Straßen, Häuser mit Kneipen und Geschäften, Autos schienen im Dämmern zusammenzurücken, wie das Mobiliar eines gemütlichen alten Zimmers.

In dieser seltsamen Schwebe konnte Kolja Menschen durch die Straßen segeln und Autos um die Fernsehantennen gleiten lassen. Ihm selbst wuchsen womöglich zwei Meter lange Beine, und er stakste gemächlich in Höhe des ersten Häuserstocks an verwunderten Gesichtern vorbei, während er seine Seele wie ein Stadtpudelchen an der Leine hinter sich hertrippeln ließ.

Zeichne das, hatte Tanja gefordert.

Die Jalousien sind frisch gestrichen, fiel Kolja als erstes auf, dann sah er, dass das ganze Haus renoviert worden war. Die Fensterbretter ihres Zimmers erschienen ihm seltsam hoch, und er erschrak.

Aber nein, an den Flurwänden wucherte wie je die pilzige Lebenslandkarte des Hauses, und das blank geputzte Messingschild mit dem Namen „Kotsch“ war auch noch da.

Kolja musste dreimal klingeln, ehe er die eiligen, trotzdem vorsichtig tastenden Schritte der alten Frau erkannte und die Tür geöffnet wurde.

Annachen, was ist denn los? fragte Kolja entsetzt.

Annachen hatten sie zu ihr gesagt, wenn sie ganz gut mit ihr sein wollten.

Annachen, wir woll’n heute feten, borgste uns deine schönen ollen Bowlengläser? Oder - Los, Annachen, trink jetzt deinen Gallentee, dann kannste morgen besser mit der Pankow streiten, weil sie wieder die Treppe nicht gemacht hat.

Kolja Hildebrand verharrte erschrocken und hilflos vor der alten Frau. So hatte er sie noch nie erlebt.

Ihre zwar dünnen, aber stets sorgfältig zu einem Knötchen geschlungenen weißen Haare hingen in zoddrigen Fasern in das hakennasige Altfrauengesicht, über das aus rot geränderten, scheinbar wimperlosen trüben Augen Wassergüsse zu strömen schienen.

Die sauber geflickte Schürze über einem Kleid, das Kolja noch als ein abgelegtes von Tanjas Mutter erkannte, war proper wie eh.

Proper war eins von Tante Annas Lieblingswörtern gewesen, und Kolja hatte einmal gescherzt, ob sie sich das vielleicht von diesem Westobersäuberer abgehört hätte. Die alte Frau war empört gewesen. Ich von denen? Die höchstens von mir. Ich war die properste Filialenleiterin aller Meierfilialen. Nein, mein Junge, merk dir eins, ein Mensch, verlässt er das Haus, muss proper sein von Kopf bis Fuß. Nicht so oben hui, unten pfui. Wenn dir dann was passiert, du wachst im Krankenhaus auf, wird dir nie was peinlich sein.

Es hatte Kolja gereizt zu erwidern: Piepegal wär mir das, Annachen, Hauptsache, meine Glieder wären noch alle da. Doch es hinderte ihn die Haltung, mit der sich diese Achtzigjährige so zusammenhielt.

Tanja, die sie einmal bei einem Grippeschub gepflegt hatte, erzählte, wie erstaunlich sauber, fast appetitlich die alte Frau ihren Körper hielt, im Gegensatz allerdings zu ihrer Wohnung, wo es ihr manchmal zum ordentlichen Saubermachen an Kraft fehlte. Seltsamer- oder verständlicherweise störte sie eine unaufgeräumte Wohnung kaum. Ooch, das ist nicht das Wichtigste im Leben, wehrte sie ab, ich werd’s schon noch machen …

Anna Kotsch, Wirtin ganzer Studentengenerationen, ließ Kolja keine weitere Zeit zum Überlegen, was mit ihr sein könnte. Sie fasste den jungen Mann bei der Hand, zog ihn hinter die schwere Eisentür in den Flur ihrer Wohnung und sagte, als habe er eben nur im Laden des Nebenhauses einen Beutel Milch für sie geholt: Komm man, Kolja, mein Geld ist verschwunden. Ich weiß genau, ich hab es irgendwo verwahrt, aber es ist weg, verstehst du, einfach weg. Und heut ist doch erst der Siebzehnte.

Und sie begann, Kolja wie ihrem engsten Vertrauten genau aufzurechnen, wie viel sie am Ersten Rente von der Sparkasse geholt habe, was an Miete für Tanjas Zimmer dazugekommen und wie viel für Kohlen, Gas und Licht und für dies und jenes bereits abgegangen sei.

Immer noch Tanja, dachte Kolja. Tanjas Zimmer …

Wie viel fehlt? unterbrach er den fahrigen Bericht.

Hundert, Junge, zwei neue Fünfziger, entgegnete die alte Frau. Sie hatte plötzlich Koljas Gesicht zwischen ihren alten Händen, hielt es beschwörend und bittend umspannt. Hundert – und ich hab nicht mal mehr Kaffee im Haus.

Kolja machte sich aus der Gebärde der alten Frau frei, legte seinen Arm auf ihre Schulter, geleitete sie in ihr Zimmer und war wie geblendet; noch nie hatte er hier so viele Lampen brennen sehen.

Er führte sie zu einem der zwei Sessel, der eigentlich nur eine Statistenrolle zu spielen hatte, zumindest konnte sich Kolja kaum vorstellen, dass man darauf sitzen mochte. Er stand vor einem kleinen runden Tisch, darauf ein alter Radioapparat; der ließ, wie er wusste, ziemlich eigenwillig zwei Sender aus sich heraus.

Auf diesem Apparat war Anna Kotschs Lebenshilfe aufgebaut. Bilderrahmen mit Menschen verschiedensten Alters.

Natürlich fand sein Blick als erstes Tanja. Er selbst hatte sie ja so festgehalten, heimlich. Sie saß auf dem Segelboot mit wütendem oder missmutigem Gesicht und schälte über einem Eimer Kartoffeln. Damit hatte es eigentlich angefangen. Er hatte nach diesem Gemütsschuss kurzerhand die geschlechtliche Arbeitsteilung durchbrochen und dem ziemlich patriarchalisch eingestellten Ralf erklärt: Also, ich mach das nicht mehr mit, warum sollen wir dussliger sein als Frauen, ab jetzt ist jeder von uns einmal mit Essenkochen dran. Der hatte getückscht, wozu hab ich diese verheiratete Ische denn mitgeschleppt, hatte sich schließlich gefügt und war nach seinem zweiten Mittagessen kurzerhand abgefahren. So kam es zum ersten ihrer zwei Sommer, noch nicht zerklirrt im Muss: man mag, man will und man könnte …

Kolja zwang sich weg von dem Bild. Er traf gleich daneben auf Tante Annas Lieschen, dieses Wesen, für Kolja fast ungesichtig, in weißem Kleid, lang bis zu den Knöcheln und darunter weiße Schuhe. Wahrscheinlich hat sie für mich darum kein Gesicht, weil sie schon genau so lange tot ist, wie ich lebe. Wie soll ich so jemanden als Zeitgenossen werten? Obwohl es Tante Annas Lebenszentrum war: Lieschen. Dabei war Tante Anna zwanzig oder mehr Jahre verheiratet gewesen. Doch sie hatte den mürrisch blickenden Eisenbahner in die rechte Ecke aller Fotos verbannt. Der alte Bock, sagte sie verächtlich. Na ja, Kerls wollen immer nur das. Mir war das nischt! Aber mein Lieschen – mit dreieinhalb hab ich sie mir ins Haus geholt. Mehr konnte eine nicht mein Kind sein. Mit dreißig haben sie sie mir unter die Erde gebettet. Zehn Jahre habe ich gegen die verdammten Tuberkeln proper angekämpft. Sie war zu gut für diese Welt, mein Lieschen.

Als Tante Anna mitbekam, wie Kolja trotz aller Einsicht unter Tanjas Aufbruchsabsichten litt, behauptete sie: Mein Lieschen, Junge, das würde dich lieben. Das ließe dich nie … Und er hatte abwehren müssen, dass sie ihre familiäre Nachfolgemär bis zu Lieschens und seinen Kindern weiterspann.

Nun drückte er sie also vor dem Radio und ihrer Fotohistorie in den Sessel und sagte tröstend: Lass nur, Tante Anna, ich finde dir schon dein Geld!

Nachdem er im Nachttisch zwischen Brillenfutteralen, Ohropaxkugeln, Pillenröllchen, Kämmen und Haarnadeln nichts entdeckt hatte, ging er zielgerichtet zu ihrem Vertiko, öffnete die obere Glastür, suchte in Tassen, Porzellandöschen, Kristallschälchen. Vergeblich.

Na, Tante Anna, wandte er sich an die Zuschauende, diesmal haste das Geld aber sicher verwahrt.

Sag ich doch, Junge, aber muss ich das nicht, wo sie mir einmal, das ist so dreizehn Jahre her, da lebte die Liptower noch …

Ich weiß, Tante Anna, unterbrach Kolja die alte Frau und ging nun durch das Zimmer, stieg drei Treppchen hoch zu Klo und Küche, um systematisch weiter Tante Annas Verstecke abzutasten.

Denn die alte Frau suchte ihr Geld fast monatlich, und das, seit man ihr vor dreizehn Jahren, wie sie jedes Mal erzählte, die gesamte Rente aus der Wohnung gestohlen hatte. Sie verbuddelte es seitdem an den unmöglichsten Ecken, und Tanja und er hatten einige Male an diesem Suchspiel ihren Spaß gehabt. Kalt, eiskalt, heiß, heißer …

Und wenn das Geld diesmal wirklich weg ist? Sie wird ja immer älter, tudlicher, überlegte Kolja. Ich kann sie doch nicht so sitzen lassen. Ungefähr fünfzig habe ich bei mir, könnte Montag noch was schicken. Obwohl, wenn ich meine Arbeit hinhaue, kann ich nur noch mit dem Gehalt von diesem Monat rechnen. Zwanzig Jahre, Kolja, habe ich arbeiten müssen, ehe ich das Geld verdiente, mit dem du anfängst, hörte er seine Mutter. Hab ich das so eingerichtet? hatte er gedacht. Und jetzt wird sie zetern, dass ich unüberlegt alles infrage setze und die schöne Existenz verspiele. Schon mit sechzehn hatte ich die Theorie, dass dieses Leben wie nach dem Reichsbahnfahrplan organisiert ist, man muss pünktlich alle Anschlüsse schaffen: Abitur, Studium usw., durch gute Zensuren oder gute Beurteilungen, FDJ-, Parteibeitritt. Und man darf nicht viel fragen, was auf der Reise passiert oder wo sie eigentlich endet …

Und so war’s bisher bei ihm ja auch gelaufen.

Kolja, bat die alte Frau, hast du mal Streichhölzer? Sie fingerte aus der einen Schürzentasche ein Päckchen Karo hervor, aus der anderen ihre silberne Zigarettenspitze, eine Beigabe, die sie noch nie verbummelt hatte. Offenbar hatte sie sich beruhigt. Ihre Stimme schien tief aus der Brust zu kommen, um, weiter oben angelangt, fröhlich krähend zu enden.

Hör doch mal, Kolja, hatte Tanja gesagt und voll und guttural doog tock tock tock tock gemacht. Na, wer ist das?

Sie hatte recht, Annachen tuckte wie ein riesiges weißes Huhn. Sie sah sogar so aus. Sie hatte für Kolja etwas ungemein Mütterliches, Beruhigendes. Da erschreckten natürlich dünne mauzige Hilfelaute um so mehr. Nachdem die alte Frau einige tiefe Züge getan hatte – dabei hielt sie die Spitze mit der Zigarette seltsam elegant von sich weg, wie Kolja es höchstens in alten Filmen gesehen hatte, wo Damen riesige Hüte trugen und die Zigarettenspitze zu ihrer edlen Gesichtssilhouette führten –, mir fällt da ein, sagte sie, als ich die Rente holte, war die Studentin schon im Praktikum. Also bitte such mal in Tanjas Zimmer, Junge!

Ich Idiot, dachte Kolja, warum bin ich hierhergekommen, es konnte doch gar nicht ohne Tanja-Memento abgehen.

Oder ist es dir zu schwer, dort hineinzugehen? fragte sie besorgt. Ach, Tante Anna, er tat großspurig, ich bin dabei, in jeder Hinsicht zu frustrieren.

Das Zimmer war äußerlich, wie es bei Tanja gewesen war: zwei Sofas über Eck, dazwischen der alte schwarze Tisch, dem sie mit Tante Annas Erlaubnis die Beine gekürzt hatten. An der Wand gegenüber der weiße Schrank, in dessen Türfüllung sie Fototapete – Kirschblüten – geklebt hatten. Daneben, auch als Raumteiler genutzt, das Klavier und dahinter das Waschbecken und die Küchenecke: Wandbrett mit zweiflammigem Gaskocher, darunter eine Hälfte Küchenschrank, während die andere Tante Annas Küchenwand zierte.

Das bekannte Poster mit Che, ein Plakat, die Ankündigung eines wahnsinnig begehrten Konzerts von Karajan. Nachdem er drei Stunden umsonst nach Karten angestanden hatte, sie beide sich trotzdem stur auf den Fußboden im Rundgang der Kongresshalle hockten und so das Konzert hörten, hatte er das Plakat nachts sorgsam von einer Litfaßsäule abgelöst.

Seine Ramponiertheit macht den Wert, hatte Tanja befunden. Dann das Foto eines dieser stillen, traurigäugigen Mädchen auf altem Kanapee vor ovalen Bildern, dazu das Gedicht eines Alfred Ehrenberg – sie mochten es beide:

Nicht habe ich Gewalt,

Augen zu geben blinden Steinen.

Leicht aber einem verachteten,

Armen, alten Sessel,

Dem ein Fuß fehlt,

Bringe ich Freude,

Mich zart auf ihn setzend.

Seid sanft, o ihr Starken!

Und Macht versammelnd im Mut,

Bald werden, Seligen gleich die Menschen

Entrauscht sein fahlkranker Armut

Und in ihrem Dasein,

Die Götter sterben,

Finden den Himmel.

Nirgendwo hatte es einen richtigen Arbeitstisch in diesem Zimmer gegeben. So hatte Tanja ihre Honoraraufträge gedrückt und gebückt auf dem zu den Liegen passenden niedrigen Tisch heruntergetippt.

Woher kannte er dieses Zimmer?

Was sollte es ihm?

Plötzlich eine Ahnung – ein Geruch. Kolja hatte erfahren, dass die Blumen Freesien hießen. Deren Geruch erinnerte ihn an Tanjas Haut.

Er hatte es damals nicht gewusst. Er war in jenem Frühling in dieser ungeliebten Stadt einem Duft hinterhergeirrt, der ihn schlug, und die Blumenfrau hatte ihm den als Freesien verkauft.

Was ihn jetzt anfiel, woher immer es auch aufgestiegen sein mochte, es war Tan.

Der Tag.

In seinem Anbruch hatte Ralf sie beide mit dem Auto abgeholt, das er wieder einmal seinem reichen, aber gottlob müden Fleischermeistervater ausgespannt hatte.

Er hatte eine tschechische Studentin mitgebracht, von der Tanja und Kolja nicht begriffen, wie dieser Schwadroneur zu ihr kam.

Kolja hatte ihn sogar in Verdacht, dass er weiterhin auf Tanja hoffte und dafür das sensible, wissensdurstige Moldaumädchen ihm zudachte, denn Ralf bugsierte Tanja neben sich nach vorn. Ihnen beiden war es gleich, sie hatten das Gefühl, Leila sogar einen Gefallen zu tun, sie passte viel mehr zu ihnen als zu Ralf. Der sah zwar aus wie Dean Reed, was Tan akzeptierte und Kolja wütend machte, war aber nach Erkenntnis beider leer wie ein Pappkarton.

Sie fuhren in Richtung Weimar. Vormittags in Naumburg.

Fleischermeister junior hatte das Gefühl, mit seinem kunstgeschichtlichen Wissen wuchern zu müssen. Er tat Kolja fast leid, weil die zwei Mädchen sich über Ralf lustig machten, bewusst dusslige Fragen stellten. Ansonsten war es ihm gleich. Er war, obwohl hinter Tanja sitzend, wie selten mit ihr gemeinsam. Fasste er ihre dünnen Schultern, gaben sie ihm Antwort in einer bisher nicht gekannten Zärtlichkeit.

Sie gingen das Straßenschlüppchen bis zum Dom, kehrten auch kurz und genäschig in der kleinen Konditorei ein, traten in das kühle Kirchenschiff und unter dem berühmten Kreuz hinweg in den Westchor zu den Stifterfiguren. Ralf redete, erklärte und ward nicht gehört. Die Uta, die Regelindis, der Markgraf von …

Kolja hielt sich dicht hinter Tanja. Es war ein so irres körperliches, unkörperliches Spiel, wie Kolja es noch nie erlebt hatte. Himmel, Hölle, Herrgott … Als sie den Dom verließen, kippte das unendliche Blau einfach über das graue Gemäuer, und Kolja zupfte für seine Liebste die Gänseblumen zwischen den alten Pflastersteinen mitten aus dem Himmelsmeer.

Sie glitten die sanften Thüringer Landstraßen hinauf und hinunter. Ralf sang ihnen mit hübscher Stimme Folklore, die Landschaft verlangte es, und er erzählte dazwischen, was sie nicht verlangten, Witze, lachte selbst am geräuschvollsten.

Kolja und Tanja vermieden es, einander anzusehen, zu sehr war der eine im anderen. Sie fürchteten, ohne darüber nachzudenken, einander entgegenzufallen, und das vor diesen Fremden.

Plötzlich forderte Leila, sie wolle nach Buchenwald. Den Protest der drei anderen schlug sie stumm mit der Erklärung: Mein Großvater ist von dort nie zurückgekehrt. Ich hätte ihn gern gekannt, er soll ein lustiger Mann gewesen sein.

Die drei im Auto fühlten sich deutsch.

Kolja hasste einen Moment das Mädchen neben sich. Welches Recht hatte sie, Betonquader in seinen Sommertag zu schieben? Er spürte ernüchternd, wie Tanjas Blut aus seinem Körper und seins aus ihrem wich.

Ralf vergaß seine hübsche Singstimme, verlor seine Häschenwitze. Sie schwiegen fast bis zur Auffahrt der Gedenkstätte und waren wortarm beim Gang durch das Lager.

Als Jugendweihling war Kolja hier gewesen, hatte mehr oder weniger sensationsschaudernd das durchschossene Herz, die tätowierte Haut und den Haufen verstaubter Menschenhaare betrachtet. Allerdings hatte er damals neben, vor und hinter sich immer seine Mutter gespürt mit ihrem: Sieh es dir genau an, mein Sohn, das darf nie wieder passieren! Und er hatte alles pflichtschuldig in sich aufzustellen versucht.

Kolja konnte nicht sagen, dass die Schreckens-Exponate, die ihm inzwischen glatt wie in einer Messehalle organisiert erschienen, irgendetwas in ihm lockerten.

Dennoch ging er zwischen den Beweismaterialien, den Riesenabbildern und Dokumenten, als sei er jedes eigenen Gefühls beraubt.

Er musste immerfort das Mädchen ansehen, das womöglich unter den Verhungerten auf den Bettenpritschen oder in den Arbeitskommandos, unter den zur Verbrennung Aufgeschichteten einen Großvater zu entdecken suchte.

Diese Gefühlslähmung hatte die drei noch nicht verlassen, als sie schon Goethes Gartenhaus besucht hatten und vor dem Flüsschen – nimmer werd ich froh – auf einer Bank ausruhten.

Erst Leila, die von den Empfindungen ihrer Begleiter nichts zu ahnen schien, die in die riesigen Wiesen des Parks rannte, Margeriten abriss, um daraus für Ralfs dicken Lockenkopf einen Kranz zu winden, brachte sie langsam wieder in diesen Hochsommertag zurück.

Bekränzt mit weißen Blütenketten trödelten sie durch das geschäftige Weimar und durchwanderten die Schillerstübchen. Doch vor dem Haus am Frauenplan graulten sie sich auf einmal, das an Kunst und Wissenschaft so vollkommene Domizil des großen Meisters auch noch über sich ergehen zu lassen. Lieber ein paar Eishütchen hintereinander, und zur Empörung der Weimaraner die verstaubten, müden Füße ins plätschernde Wasser um eine kleine Brunnenfigur.

Als sie sich am Abend von den Freunden in Friedrichstraße verabschiedeten – die Wärme hockte noch voll zwischen den Häusern – beharrte Tanja darauf, der Tag dürfe nicht alltäglich enden.

Sie wühlte aus dem Teppichbeutel, den sie über der Schulter getragen hatte, das Portemonnaie mit dem fremden Geld heraus, zog Kolja zum Intershop, wählte zwei Flaschen Beaujolais, einige Süßigkeiten, Salznüsse und einige Schachteln Pall Mall.

Kolja mochte dieses Geld bei ihr nicht, es war schließlich von IHM. Aber er sagte nichts, um nicht noch einmal den Tag zu unterbrechen! Doch kam er sich ausgehalten vor.

Dann, hier in diesem Zimmer auf dem Klavier, der Brief … Da war der Tag zerbrochen.

Kolja hätte beschwören können, dass sie sich Stunden wortlos gegenüberstanden. Mach’s auf, flüsterte Tanja endlich, bitte, Kolja, mach du’s auf!

Er hatte den Brief geöffnet, obwohl er genau wusste, was darin zu lesen war. Er hatte immer eine Hoffnung gehabt, nun, da er den Umschlag aufriss, hatte er sie nicht mehr.

… teilen wir Ihnen mit, dass Ihrem Antrag auf Ausreise stattgegeben wurde. Sie haben sich bis zum …

Tanja warf sich so an ihn, dass er auf die linke Liege stolperte. Sie heulte, klammerte sich an ihn, schlug mit Kopf und Fäusten gegen seine Brust. Sie war verzweifelt, verrückt, halb irr.

Ihre Körper fielen sich zu, verknäulten und verbissen sich ineinander. Da war kein Freesienduft mehr und keine wunderblaue Himmelskuppel, durch die sich schwimmen ließ, ein weißer Fisch, den anderen umspielend.

Da war die Verzweiflung nackter als sie selbst, die ließ sie schamlos werden und Wege rücksichtslos zertrampeln, die sie zuvor, einander hütend, nur vorsichtig ertastet hatten.

Plötzlich, wie sie ausgebrochen, endete die Raserei.

Sie sahen einander, wie wohl jene zwei im Paradies sich gesehen haben mochten nach der verbotenen Entdeckung.

Sie rochen den Schweiß ihrer Körper, und ihre Nacktheit legte sich zwischen sie wie eine Unsauberkeit.

Da hatte Kolja verlegen seine Kleider aufgelesen und wortlos das Zimmer verlassen.

Genau da habe ich versagt, wusste Kolja jetzt, wie nach der Paradiesvertreibung hätte nun die Mühsal unseres wirklichen Lebens beginnen müssen! Das war mein Part in dieser Symphonie. Ich habe den Einsatz glattweg verpasst.

Er ging zu der alten Frau hinüber und legte ihr zwei Briefumschläge vor das Radio.

Einen hattest du oben in die Klavierinnereien gelegt, Annachen, der andere steckte hinterm Spiegel.

Nun geh ich uns einen anständigen Kaffee kochen!

Erst jetzt entdeckte er Tante Anna seine Mitbringsel.

Ach Gottseidank, stöhnte sie, und – du bist ein feiner Mensch, mein Junge, du wärst auch ein guter Mann für Tanja geworden. Warum hast du sie gehen lassen? Die hat dich geliebt, du, glaub einer alten Frau!

Kolja verschwand in Tante Annas Küche.

Aber Annachen folgte seiner Fährte, sie trippelte hinter Kolja her, unterstützte jeden seiner Handgriffe, dort die Mühle, hier die Kanne, da der Wasserkessel, Kännchen, Tassen. Und als er schließlich auf dem Stuhl saß, ihre große alte Kaffeemühle zwischen den Knien, ein schönes Stück, das schon seinen Preis im Antiquitätenladen wert war, stellte sie sich vor ihn hin und fragte geradezu: Also, warum hast du sie gehen lassen?

Kolja schob sie leicht beiseite und stand auf.

Annachen, fragte er, hatte dabei schon die Blechklappe des Brotkastens gelüftet, zu essen hast du wohl nichts?

Ach Herrgott, Tante Anna vergaß ihre Frage, legte entgeistert die Zigarettenspitze auf einen der Aschenbecher, die überall in ihrer Wohnung platziert waren, nu hab ich ja gar nichts eingekauft, weil doch das Geld weg war, und es ist nach sieben. Mittagessen haben sie mir von der Volkssolidarität gebracht. Da ist noch’n bisschen, wenn du willst?

Weißte was, Tante Anna, bind deine Schürze ab, wir gehen aus! Mir ist ganz mulmig, ich hab heute Morgen nur ’ne Knacker mit Schrippe im Zug gegessen. Vor und nach dem verdammten Gespräch an der Uni hab ich nichts in mich reingekriegt.

Sie sträubte sich noch ein bisschen: Solange nicht ausgegangen, keine feinen Sachen, ein junger Mensch mit so einer alten Schachtel …

Kolja ließ sich nicht abbringen, er wurde fast fröhlich, ging an Tante Annas Schrank, suchte Kleid und Strickjacke für sie heraus, putzte selbst ein paar breite, weniger abgetragene Schuhe blank und erklärte der immer noch verwirrten Frau: Wenn nicht anders, muss man die Blitze aus der Suppe fischen …

Ungefähr fünfzehnjährig war Kolja eines Tages außerplanmäßig aus dem Oberschulinternat nach Hause gekommen.

Er hatte irgendetwas für die Schule gebraucht. Als er die Tür der Wohnung aufschloss, sprang ihm ein lang gezogenes, schreckliches Schreien entgegen, wie er es noch nie bei einem Menschen gehört hatte. Er musste erst sein Entsetzen überwinden, ehe er sich in die Wohnung traute. Dann rannte er durch den Flur und riss die Tür auf, hinter der es schrie.

Seine Mutter stand mitten im Zimmer, hatte den Kopf weit zurückgeworfen, der ganze Körper schien sich zu konzentrieren, und heulte unaufhörlich aus einem riesenhaft verzerrten Mund.

Der Junge schüttelte sie, sie bemerkte es anfangs nicht. Erst als er auf sie einzureden suchte, erschrak sie, rannte aus dem Zimmer, riss das Bad auf, und er hörte, wie sie sich erbrach.

Was war geschehen?

Als sie zu erzählen begann, dabei war es zwischen ihnen wenig üblich, sich Intimes anzuvertrauen, rannte sie noch einige Male ins Bad und dann plötzlich aus der Wohnung. Kolja hinterher.

Da hatte es eine Liebe gegeben. Nach ihrem Anfall – so meinte Kolja – musste es überhaupt die Liebe gewesen sein.