Küchengespräche mit Frau L. - Elisabeth Schulz-Semrau - E-Book

Küchengespräche mit Frau L. E-Book

Elisabeth Schulz-Semrau

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Beschreibung

Ich bin heute fix und alle - ein türkischer Kaffee, und schon wird die große - kleine Welt lebendig in den Küchengesprächen mit Frau L., die ihre vier Kinder allein großzieht. Wie überlebte Trude R. zwanzig Jahre Lagerzeit und Verbannung? Warum will die Fürsorgestelle der minderjährigen Ines das Kind absprechen? Was geschieht, wenn Gerda, das Nuschtchen, Ziehschwester und Dienstmagd der Königsberger Zeit, plötzlich wieder mit ihrem Pappkoffer in der Tür steht? Eine lange gedemütigte Ehefrau ersinnt eine heilsame Kur für ihren pflegebedürftigen Ehemann ... Mit Wärme, Anteilnahme und Witz erzählt Elisabeth Schulz- Semrau von tapferen Leuten, denen sie begegnete. Im wörtlichen Sinn zwischen Tür und Angel frage ich sie: Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich über Sie schreibe? Mit dieser Unbedenklichkeitsgeste, die ein Charakteristikum ihres Wesens ist, wirft sie den Kopf hoch, leicht rechts, schüttelt ihn kurz, wobei sie die Unterlippe ein wenig über die obere schiebt, am Kinn bilden sich Grübchen, die Nase gerät in der Bewegung schmaler, sie sagt: Können Sie ruhig. Mich kennt ja doch keiner ... LESEPROBE: Aber jetzt las sie endlich. Und wir saßen ohne persönliche Einladung in der zweiten Reihe sogar; wir waren einfach, als die hochgeschlossene Chefredakteurin sich um sie mühte, hineingeschlüpft, so ganz selbstverständlich tuend, zwischen all den festlich gekleideten Kulturschaffenden. Dabei waren gar nicht alle gekommen, diese Kultur- - ach, ich habe keine Lust, das Wort ärgerte mich seit ’ner halben Stunde, in der wir vergeblich versucht hatten, in den Saal dieses Barockschlösschens hineinzugelangen. Sie las die Geschichte dieses Diplom-Ingenieurs, den wir schon im ersten Band kennengelernt hatten. Seine Frau war nicht mit zu uns gekommen, obwohl sie ihn liebte, er sie liebte. Einige Male war er in den kleinen Ort am Rhein gefahren, den die Schriftstellerin sicher selbst gut kannte, sie war ja aus der Gegend, immer aber ohne sie in das große Werk zurückgefahren, das er nach dem Krieg mit aufbaute. Und als sie sich endlich entschloss, sein Kind bei ihm, bei uns zu erwarten, war es zu spät, starb sie. Warum ließ sie seine Frau sterben? Nun hätten sie doch endlich leben, miteinander, füreinander leben können. Dazu brauchte sie doch nicht herüberzukommen, wäre sie dann schon lieber dageblieben, auch wenn’s Westen ist, aber sterben? - Im Leben gibt’s oft so uneingeplante Dinge, die schmerzen oder ärgern.

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Impressum

Elisabeth Schulz-Semrau

Küchengespräche mit Frau L.

Porträts und Geschichten

ISBN 978-3-86394-709-5 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien erstmals 1989 im Mitteldeutschen Verlag Halle-Leipzig.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2014 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

Gerda, das Nuschtchen

Muss man sich erinnern? Du lieber Gott, ebenso dumm ist die Frage: Muss man leben?

Denn Erinnerung und Leben ist untrennbar verbunden, das eine lässt sich nicht ohne das andere zerstören, und beides zusammen bildet einen Begriff, für den es keinen Namen gibt.

Juri Trifonow

Ach Jerdachen, Jerdachen, was soll man aus dir werden, höre ich den alten Gustav Borbe sagen, und der Gustav kannte das Leben ...

Ein Traum veranlasst mich, es ein drittes Mal zu versuchen, von Jerdachen zu schreiben. Bisher hat sie sich meinem Zugriff entzogen. Im Literarischen wie im Leben. Und ist doch immer da gewesen.

Darum mein Erschrecken über einen solchen Traum. Wie ist er mir passiert?

Ein großes Zimmer. Da bin ich als die Frau, die ich im Leben zu sein habe, nicht mehr jung, mit Beruf und Familie. Ich stehe an der Tür, an deren gegenüberliegender Seite sich eine Frau vor einem Fenster befindet, die ich auch sein soll. Aber ich weiß es besser, ich bin es nicht, es ist meine Mutter. Und irgendwo im Schatten, spüre ich deutlich, sitzt ein Mann, mein Mann, der aber auch mein Vater ist.

Nun öffnet sich die Tür neben mir, eine dritte Frau tritt ein. Sie kommt mir bekannt vor. Mich erfasst ein freudiger Schreck. Jerdachen, rufe ich. GERDA!

Es ist Gerda Pohl, und sie sieht aus wie damals vor fünfunddreißig Jahren, als wir einander verloren. Nur selbstbewusster scheint sie geworden, denn sie baut sich vor den Personen dieses Zimmers auf. Aber vielleicht auch nur vor mir. Weil sie womöglich nur mich wahrnimmt, als ihre Bezugsperson.

So, jetzt habe ich die Ausreise beantragt, sagt sie fast triumphierend. Nun bleibe ich bei dir. Du hast mich doch so oft gerufen.

Die Ausreise - dieses Reizwort. Aber ich weiß in Gerdas Fall sofort, dass es bedeutet, sie hat das andere Deutschland verlassen und will jetzt hier, in meiner Familie leben. Aus dem freudigen Schreck wird ein Erschrecken.

Ich sehe zu der Frau am Fenster hinüber und weiß sofort, dass sie »um Gottes willen« denkt oder es sagt. Und furchtsam suchen wir den Blick des Mannes, der mein Mann oder ihr Mann, mein Vater oder ihr Schwiegersohn ist.

Was wird er sagen? Was sollen wir in unseren Tagen mit ihr? Wo bringe ich sie unter? grüble ich. Doch wohl nicht in dieser verqueren Abstellkammer unserer jetzigen Wohnung, ein Raum von der Form eines Stückes Torte, an dessen verjüngtem Teil wenigstens ein schmales Fenster Licht gibt.

Als wir die Wohnung bezogen, hatte man erläutert, die Kammer sei einmal das Dienstmädchenzimmer gewesen. Ich, natürlich an Gerdas Behausung in der elterlichen Wohnung erinnert, hatte gedacht: Also waren nicht nur meine Eltern solche - Herrschaften - gewesen ...

Gerdachen oder Jerdachen, wie sie, im Dialekt unserer Gegend angeredet, beinahe charakterisiert ist, sagt einfach: Nun bleibe ich hier bei dir ...

Erschreckt über mein Erschrecken, schrecke ich aus dem Traum.

Was war das? Habe ich sie nicht wirklich ehrlich gesucht, an die letzte mir bekannte Adresse geschrieben, und, als man mir eine weitere nannte, an jene?

Habe ich ihre Geschichte nicht einige Male schreiben müssen, auch weil ich durch ihre Existenz in meiner Kindheit ein soziales Gefühl für mein ganzes Leben gefunden habe.

Warum erschrecke ich also, wenn sie fortan mit mir - also mit uns - leben will? Hat das mit meinem Leben oder mit dem ihren zu tun? Vielleicht damit, dass mir meines vertraut, ihres aber unbekannt - womöglich aus der Kenntnis seiner Anfänge fragwürdig erscheint?

Verging ich mich erneut an diesem Menschen?

Ich weiß nicht, welche geheimnisvollen Fäden mir eben dieses Traumgeflecht knüpfte.

Anzunehmen ist jedoch, dass sie in jener Zeit gesponnen wurden, da unser beider Leben für dreizehn Jahre nebeneinander und dennoch sehr unterschiedlich verlief. Möge mich mein Gefühl nicht trügen, das mir sagt, Gerda Pohl verlangt, dass ich mich ihrer Geschichte stelle.

Möge zwischen meinem heutigen Ich und dem, das ich einmal war, die Zeit als Katalysator größtmöglicher Objektivität stehen ...

Es scheint, als habe ich Jerdachen, ehe sie neunzehnhundertachtunddreißig in mein Elternhaus kam, nicht wahrgenommen.

Das hatte wohl mit unserem Altersunterschied zu tun, Gerda war sechs Jahre älter als ich. Außerdem gehörte sie zu den Kindern, mit denen ich sowieso nicht hätte spielen dürfen. Um so genauer erinnere ich mich an ihre Kellerwohnung. In einem Keller zu wohnen war für mich mindestens wie in einem Hexenhaus.

Auch Gerdas Mutter war mir bekannt. Nicht nur, dass ich sie bei uns von Zeit zu Zeit beim Saubermachen sah. Einmal hatte ich erlebt, wie diese Frau im Molkereigeschäft ein schwarzes, abgegriffenes Portemonnaie öffnete, einige Geldstücke auf die dafür bereitgestellte Schale zählte und dabei seufzend sagte: Mein Gott, das Geld, das geht aber auch ...

Ein Spiel entstand daraus für mich: Die Kellerwohnung befand sich unter dem Schreibtisch meines Vaters. Ein selbst gebasteltes Portemonnaie mit Papierschnitzeln musste geöffnet und dazu gesagt werden: Mein Gott, das Geld geht aber auch ... Das Spiel hieß: Arme Leute.

Jerdachens Haus stand mit seiner Vorderseite in der Kaplanstraße, mit seiner Breitseite in meiner, der Tragheimer Kirchenstraße. Die Anwohner der »Tragheimer«, Beamte, Angestellte, Universitätslehrer, mieden die Kaplanstraße möglichst. Dort wohnten, wie sie in einem Atemzug aufzählten: Arbeiter, Asoziale, Kommunisten, Juden.

Das Eckhaus also. Drei Stufen hinauf ging man in das schon erwähnte Molkereigeschäft, drei Stufen hinunter stieg man zu einer »Wäschemangel«.

Links neben der Tür erblickte man durch ein Fenster, das unterm Bürgersteig in einer Ausschachtung endete, eine lang gestreckte hölzerne Maschine, deren obere Hälfte sich über zwei mit Wäsche bepackte Rollen hinwegquälte, wenn jemand an einer Eisenkurbel drehte.

Rechts neben dem Einstieg gab es zwei weitere Fenster, in die hineinzuspähen ich mich oft vergeblich bemühte. Gardinen und eine immerwährende Dämmerung versperrten die Einsicht.

In diesem Zimmer und in weiteren Räumen, deren Fenster zum Hof lagen, lebte Frau Bley mit ihrer Familie, den Mädchen Dora und Gerda und einem Mann, dem Vater der Zwillinge, mit dem Frau Bley aber nicht verheiratet war.

Dass es sich um den Vater der beiden Mädchen handelte, wurde mir erst bekannt, nachdem Frau Bley gestorben war. Vorher wusste ich immer nur vom Untermieter Gustav Borbe.

Frau Bley war eine schmale, dunkelhaarige Person mit herben, versorgten Gesichtszügen, denen man ansah, dass sie früher schön gewesen waren. Überhaupt musste sie einmal, wie meine Mutter es nannte, bessere Tage gesehen haben.

In diesen besseren Tagen war sie mit einem Handwerker namens Bley verheiratet gewesen, da hatte sie, wie man in Gerdas Geburtsurkunde lesen konnte, in Tapiau oder Labiau gewohnt (da ich beide Städte nie gesehen habe, hielt ich sie nie auseinander). Aus der Ehe Bley stammte der Sohn Walter, den ich später oft mit den beiden Schwestern als schönen Bruder und tapferen Fliegersoldaten auf einem Foto bewunderte. Er sah seiner Mutter sehr ähnlich.

Wahrscheinlich starb der Ehemann früh, und Frau Bley muss irgendwie in Nöte und an den viel älteren und wenig ansehnlichen Fleischer Gustav Borbe geraten sein.

Vielleicht verhielt es sich auch ganz anders: Jener Bley war ein brutaler Mensch gewesen, seine Frau hatte ihn verlassen und sich dem gutmütigen, ruhigen Fleischer zugewandt, beschlossen, wie auch immer, mit ihm zusammenzuleben.

Das Ergebnis jedenfalls waren die sich wenig ähnelnden Zwillinge, die den Mädchennamen der Mutter, Pohl, tragen mussten.

Natürlich kommt mir hier die Frage in den Sinn, warum mir Gerda nie über die Herkunft ihrer Eltern erzählte.

Aber wann hat sie denn überhaupt von sich erzählen können ...?

Meine Mutter hatte Frau Bley wohl durch die Benutzung der Wäscherolle kennengelernt. Wahrscheinlich war das Mangeln fremder Wäsche die Hauptverdienstquelle der Familie. Aber ausgereicht haben wird es nicht, denn Frau Bley hatte noch mehrere Reinemachestellen.

Zu uns kam sie eine Zeit lang wöchentlich, um unserem Dienstmädchen beim großen Hausputz zu helfen. Meine Mutter nahm auch daran teil, indem sie Handreichungen machte, vor allem aber Anordnungen traf.

An jenem Tag, da es geschah, muss ich in der Nähe gewesen sein. Ich erinnere mich an aufgerollte Teppiche, übereinandergestapelte Möbelstücke. Im Herrenzimmer auf dem Fußboden hatte Frau Bley gekniet und gebohnert, während Edith Fenster putzte, meine Mutter Staub wischte, wahrscheinlich hatten sie auch mich dazu angestellt.

Plötzlich war Frau Bley lautlos umgesunken. Sie muss schon nicht mehr schwer gewesen sein. Die beiden Frauen betteten sie mühelos auf das Sofa.

Ich war hinausgeschickt worden, aber was sich dann ereignete, war in unserer Familie oft genug als eine Art Gütezeichen erwähnt worden.

Ein starker Kaffee wurde gekocht, und meine Mutter hatte sich zu Frau Bley gesetzt. Die Frau vertraute meiner Mutter an, dass sie schon lange, in letzter Zeit aber unter unerträglichen Schmerzen leide.

Wahrscheinlich habe ich nicht mehr lange zu leben, sie weinte. Was wird bloß aus den Mädchen? Um Dora mache ich mir weniger Sorgen, die ist kess, die wird schon durchkommen. Aber Jerdachen ist so ein Nuschtchen, die geht unter in dieser harten Welt.

Frau Bley hatte die Hände meiner Mutter gefasst und gebeten: Bitte, Frau A., nehmen Sie meine Gerda zu sich! Sie sind ein guter Mensch! Jerdachen kann doch bei Ihnen arbeiten! Machen Sie ein tüchtiges Dienstmädchen aus ihr, sie wird Ihnen treu sein ...

Ob meine Mutter von der Krankheit oder dem »guten Menschen« mehr gerührt war, weiß ich nicht. Wahrscheinlich hatte sie die ganze Szene überhaupt nicht so ernst genommen, denn schließlich raffte sich Frau Bley wieder auf und arbeitete weiter. Sie verließ nach Stunden eine blitzsaubere Wohnung, dabei nahm sie allerdings das Versprechen meiner Mutter mit: Wir würden eine ihrer Töchter, Gerda, aufnehmen, wenn ...

Sicher habe ich Frau Bleys Fortgehen deshalb im Gedächtnis behalten, weil ich sie danach nie wiedersah.

Sie war dunkel gekleidet, wirkte sehr dünn. Ihr Gesicht war bleich unter einem schwarzen Kopftuch, das sie bei der Arbeit getragen hatte. Sie löste das Tuch, die schwarzen Haare darunter zeigten einige weiße Fäden, sie zog Haarnadeln aus ihrem Knoten, ein dicker glänzender Zopf fiel auf den Rücken, den sie neu ordnete. Womöglich macht es das spätere Wissen, aber von der Frau ging etwas aus, für das ich damals keine Worte hatte: Würde.

Drei Tage später starb Frau Bley an Krebs.

Meine Eltern hatten es sich nicht nehmen lassen, wie sie später öfter erwähnten, »die arme Seele« auf ihrem letzten Weg zu begleiten. Sie waren die einzigen »feinen Leute« gewesen unter den anderen. Und sie hielten das gegebene Wort: Noch am Tag der Beerdigung holte mein Vater Gerda zu uns.

Sie stand, so meine Erinnerung, wenig größer als ich, in jeder Hand einen verschnürten Pappkarton, mit ihren Habseligkeiten in unserer Küchentür, war schmucklos gekleidet und roch, das hatte ich sofort geschnüffelt, irgendwie streng. Armeleutegeruch, sagten meine Eltern.

Gerda hatte ihr dünnes, braunes Haar zu zwei festen Zöpflein geflochten. Rattenschwänze, dachte ich. Sie stand, ohne ein Wort zu reden, den Kopf gesenkt, und traute sich offensichtlich nicht, weiter in die Küche hineinzugehen und ihre Sachen abzustellen.

Ich schlich um sie herum, betrachtete sie wie ein seltsames Tier.

Das ist Gerda, sagte meine Mutter zu Edith und mir, sie hat jetzt bei uns ihr Zuhause, kümmert euch um sie.

Als das fremde Mädchen nun doch aufblickte, sah ich es. Igitt, die schielt ja ...

Obwohl erst sieben Jahre alt, war ich schon angekränkelt von einem Aberglauben meiner östlichen Heimat, der behauptete, dass Menschen, die irgendeinen körperlichen Fehler hatten, mit dem Bösen in Verbindung ständen.

Ich beäugte das Mädchen, ohne dass ich etwas von ihm wusste, mit einigem Grausen.

Solange Gerda bei uns lebte - und das waren dreizehn Jahre -, wurde, wenn es uns an anderen Argumenten zu fehlen begann, ihr »falscher« Blick als Ausdruck eines falschen Charakters gewertet. Einfachste Form davon war, dass ich »doofes Schielauge« rief, wenn ich wütend auf Gerda war.

Wahrscheinlich hat sich die Dreizehnjährige in jener ersten Nacht in dem fremden Haus in den Schlaf geheult. Denn wie war das zu verkraften, eine Mutter in der Grube verschwinden zu sehen und danach selbst in eine unbekannte, eher feindliche als freundliche Umgebung ausgesetzt zu werden?

Ich kann nur darauf hoffen, dass meine Mutter, die auch warmherzig sein konnte, dem verschüchterten, wahrscheinlich verzweifelten Kind an jenem Tag übers Haar gestrichen hat oder dass wenigstens Edith, um ihr eigenes Los als Dienstmädchen wissend, schwesterliche Hilfe gab.

Mir ist dieses Geschehen als ein Erinnerungszeichen geblieben. Ich weiß nicht, ob das fremde, ältere Mädchen mir leid tat, ob ich nachfühlen konnte: Der ist die Mutter gestorben ...

Meine Eltern haben jedenfalls diese Möglichkeit der Erziehung meiner Gefühle nicht genutzt. Wohl weil ihnen dieses Menschenkind zu unwichtig war.

Erst nachdem ich, allerdings schon sechzehnjährig, aber längst nicht erwachsen, meine eigene Mutter verlor, vermochte ich nachzufühlen, was da geschehen war.

Aber das Bild »Gerda in unserer Küche, in jeder Hand einen Pappkarton« haftet in mir wie ein Titelblatt zu ihrer Geschichte.

War es in Frau Bleys Kellerwohnung dunkel, so kam das, worin Gerda jetzt zu wohnen hatte, einer Höhle gleich. Die bisherige Speisekammer war ausgeräumt worden, es wurden ein Ziehharmonikabett gekauft, ein Regal mit Vorhang und ein Stuhl dazugestellt. Elektrisches Licht wurde in Gerdas »Zimmer« bis zu unserer Flucht aus der Stadt nicht gelegt. Einzig ein Dämmerschein kam am Tag durch ein kleines Fenster, das in mein danebenliegendes Kinderzimmer führte.

Um ins Bett zu finden, musste das Mädchen eine Kerze anzünden, was mein Vater ihr aber zeitweise verbot. Die würde sonst noch die ganze Wohnung abbrennen!

Natürlich überschritt das Mädchen, nachdem es sich eingewöhnt hatte, immer wieder dieses Verbot, und da ich später selbst heimlich im Bett, nur durch eine Kerze oder Taschenlampe beleuchtet, las, verpetzten wir einander dieses Vergehens wegen nicht. Ich versorgte mich sogar, denn das Fenster ließ sich von meiner Seite öffnen, mit Liebesromanen, die Gerda auf einem Regal unterhalb des Fensters stapelte. Beliefert wurde sie damit von ihrer Schwester Dora. Ab und an versteckte oder klaute ich Jerdachen aber auch, was sie sonst an Schätzen aufbewahrte. Ich stieg auf den Pfosten meines Bettes, griff durchs Fenster und durchwühlte ungeniert ihre »Kostbarkeiten«. Das waren eine bunte Schleife oder ein paar Bonbons, ein Apfel, ein billiges Kettchen vielleicht.

Wehrte sich Gerda dagegen, sagte ich: »Haste sowieso von uns geklaut!«

So lernte sie, ihr Eigentum besser zu verstecken.

Obwohl man mir eingetrichtert hatte, dass ich etwas Besseres als Gerda sei, schließlich waren meine Eltern »Herrschaften« - Gerda sagte es ... die Herrschaften sind nicht zu sprechen ... -, entwickelte sich zwischen uns zeitweise ein Verhältnis wie unter feindlichen Schwestern. Und selbst wenn wir uns hauten und ich mir bei den Eltern zu Unrecht Recht holte, glaube ich, dass unsere Beziehung nicht nur mir, sondern auch Gerda einen gewissen Schutz oder eine Geborgenheit gab.

In ihrem ersten Jahr bei uns war Gerda noch zur Schule gegangen. Sie war das, was man heute eine leistungsschwache Schülerin nennt. Sie saß das dritte Jahr in der sechsten Klasse. Anfangs hatte mein Vater versucht, ihre Schularbeiten zu überwachen.

Vor Angst noch stärker schielend, saß sie vor diesem Berg von einem Mann und kämpfte mit den schrecklichen Zahlen. Bruchrechnung, sagte der, das kapiert die nie! Die ist dumm wie Bohnenstroh. Und wenn er in Wut und damit in den Kommandoton seiner Militärzeit verfiel, schleuderte er verletzende Wörter wie Schafsnase, Riesenrindvieh, Rhinozeros auf das Häufchen Unglück vor ihm, das nun überhaupt nicht mehr in der Lage war, noch irgendetwas zu berechnen. Bei der ist Hopfen und Malz verloren, kommentierte mein Vater voller Verachtung.

Ich glaube, dass ich in diesem Fall doch ein wenig mit Gerda litt. Schließlich fürchtete auch ich den alten Mann und begann unter seinem »Bildungsdrang« zunehmend zu leiden.

Der Schatten meines Vaters verdunkelt mir noch heute manchmal den Blick. Ich ertappe mich zum Beispiel dabei, dass ich objektive Hinweise meines Mannes trotzig als persönliche Belehrungen von mir weise. So ist es wohl auch nicht verwunderlich, wenn beide in jenem Traum zu einer und auch wieder nicht zu einer Person verschmelzen.

Als ich später im Lehrerinstitut etwas über den bürgerlich-demokratischen Pädagogen Diesterweg hörte, fiel mir auf einmal der Name von Gerdas Schule wieder ein. »Diesterwegschule« war damals für mich wie ein Synonym für Holzpantinen-, Armen- und Läuseschule gewesen.

Eines Tages hatte sich Gerda nämlich Läuse in der Schule geholt. Entsetzen bei meiner Mutter. Läuse in ihrem Haus! Edith musste den Kopf des Mädchens mit allen möglichen Tinkturen traktieren, während meine Mutter wochenlang meine langen, dicken Haare vorbeugend mit einem Staubkamm strähnte.

Was habe ich mir da nur aufgeladen, stöhnte Mutter immer öfter. Ich rächte mich an Gerda mit »Läusejule« und Kneifen.

Sicher war Gerda meinem Vater dankbar, dass er der Direktion der »Diesterwegschule« klarmachen konnte, das Mädchen ruhig aus der sechsten Klasse zu entlassen, denn was brächte ihr schon eine Versetzung in die siebente, die sie diesmal erreicht hatte.

Nun wurde Gerdas Erwachsenwerden vorangetrieben. Unsere Hausschneiderin musste der Schulentlassenen zwei Kleider nähen, ein schwarzes, aus einem alten Abendkleid meiner Mutter, für die Konfirmation, das zweite, aus neu gekauftem blauem Taft, für die davor stattfindende Prüfung. Da ließ man sich doch nicht lumpen ...

Zur Konfirmation wurde ein Kuchen gebacken. Der Küchentisch erhielt eine weiße Decke, und Gerda durfte ihre Schwester einladen. Nach dem Kaffee gingen die drei Mädchen Edith, Gerda und Dora auf dem Steindamm in eine Kinovorstellung »über vierzehn«, worum ich sie sehr beneidete.

Der Ernst ihres Lebens begann für Gerda, als es in Deutschland überhaupt »ernst« zu werden begann. Es war das Jahr neunzehnhundertneununddreißig ...

Dass Gerda den Kriegsbeginn bewusster aufnahm als ich, glaube ich kaum. Überhaupt kann ich über eine politische Haltung Gerdas kaum etwas aussagen.

Ich weiß nicht, ob mein Vater dahintersteckte, oder ob sie IHNEN nicht klug genug war und SIE darum auf Gerda verzichteten. Während Dora einige Male in BDM-Kluft bei uns auftauchte, wurde Gerda nicht in den »Bund Deutscher Mädel« - oder, wie Dora hinter vorgehaltener Hand kicherte, »Bund Deutscher Milchkühe« - aufgenommen. Ich ahne nicht, ob sie darüber froh war oder ob sie es bedauerte. Immerhin hätte sie dadurch von Zeit zu Zeit der nie abreißenden Arbeit entkommen können.

Aber wenn sie auch nicht in der Lage war, darüber zu reflektieren, es passierte ja um sie herum.

Neunzehnhundertachtunddreißig hatte man in K. den Juden, wie anderswo in Deutschland, die Fenster eingeworfen und ihre Geschäfte geplündert. Die Synagoge war in Brand gesteckt worden und das jüdische Waisenhaus. Die Kinder irrten barfuß, in Nachthemden auf den Straßen herum, ehe man sie mit den jüdischen Erwachsenen ganz verschwinden ließ.

Den Krieg bekam die ganze Familie, also auch Gerda, durch meinen Vater kenntnisreich aufbereitet. Erst die Siege, dann die Niederlagen.

Ihre Tätigkeit wurde durch die angeordneten »Eintopfsonntage« beeinflusst und ihr Hunger durch die abnehmenden Rationen der Lebensmittelmarken gesteigert.

Sie erlebte, wie die für unser Haus verantwortliche Dame von der »NS-Frauenschaft« bemängelte, dass in unserer Wohnung ein Bild des letzten Kaisers, aber keines vom Führer hing. Woraufhin meine Eltern eine Fotografie von Hitler und Mussolini anschafften.

Vom Einfall in »Russland« war Gerdas Bruder Walter betroffen. Oft warteten sie wochenlang sehnsüchtig auf einen Feldpostbrief, bis schließlich gar keiner mehr kam.

Die beiden Terrorangriffe der Angloamerikaner 1944, die unsere Heimatstadt, vergleichbar Dresden, zerstörten, erlebten wir beide fast auf uns allein gestellt.

Sie war es, die, von meiner Mutter geschickt, russischen Fremdarbeitern heimlich Brot zustecken musste.

Sie lernte das Ukrainermädchen Jelena im Haushalt an, wie sie einst von Edith angelernt worden war.

Und schließlich verließ und verlor sie mit uns die Heimatstadt ...

Wenn ich mich nicht irre, blieb Edith nach Gerdas Konfirmation noch ein weiteres Jahr, zumindest eine Reihe von Monaten, bei uns, um Gerda richtig einzuarbeiten. Das geschah weniger aus Rücksichtnahme auf das spillrige, immer noch einem zwölfjährigen Kind gleichende Jerdachen als auf meine Mutter, die in anderen Umständen war und wahrscheinlich daran dachte, eines der beiden Mädchen als Kindermädchen zu gebrauchen. Das Kind wurde tot geboren.

Davon erfuhr ich erst, als ich schon erwachsen war. Die Eltern hatten wohl den Mädchen verboten, mir davon zu erzählen. Dabei muss dieses Geschehen eine chaotische Wirkung auf meine Eltern gehabt haben, denn für eine Zeit lang ließen sie die beiden Dienstmädchen und auch mich aus den Augen.

Das gab uns Freiräume und auch Gerda die Möglichkeit, sich noch einmal kindlich auszuspielen.

Jerdachen musste tatsächlich Kind sein, ebenso wie ich. Das dritte, neugeborene Baby war meine Puppe, die wurde in den Kinderwagen meiner toten Schwester gebettet. Unsere »Eltern« waren Dora und Edith.

Dora überragte Jerdachen um eine Handbreite, war ein hübsches, kräftiges, mehr ihrer Mutter ähnelndes Mädchen. Sie war der Vater unserer improvisierten Familie, Edith die Mutter. Das Spiel wurde in den Anlagen am Oberteich betrieben, dazu hatten sie den Wäschevorrat des toten Kindes »ausgeliehen«, Laken, Badetücher, Windeln. Während Gerdas und meine Aufgabe darin bestand, artig oder ungezogen zu sein, zu petzen, auf »unsere kleine Schwester« aufzupassen, gelobt oder bestraft zu werden, schliefen die Eltern wiederholt miteinander auf Parkbänken, von einem großen Moltontuch zugedeckt.

Irgendetwas war da, aber ich begriff es nicht. Wahrscheinlich war dieses Spiel überhaupt wegen seines sonderbaren Aspekts von den Mädchen ausgewählt worden ...

Interessanter waren für mich Spiele in der Kaplanstraße oder auf dem Kirchenplatz vor der Tragheimer Kirche.

Auf mein Betteln hin nahm mich Jerdachen einige Male in ihre Armeleutestraße mit. Dass de aber nuscht deine Mutter sagen tust! drohte sie.

Aber wo würde ich ... Ich half ihr sogar rasch bei einigen Arbeiten, denn ohne Gerda würden die »Kroppzeugkinder« nie mit mir spielen.

Wir tobten als Räuber und Prinzessin durch Wohnhäuser vom Keller bis zum Boden, versteckten uns auf Hinterhöfen, kletterten in den verbotenen Pfarrgarten oder schlichen durch den stillen, von riesigen Bäumen überdachten Park eines Stifts vornehmer alter Fräuleins.

Nie hätte ich ohne Gerda die aufregende Maßlosigkeit wilder Spiele erfahren, nie ein sich bis zur Erschöpfung Austoben. Sicher waren Gerdas Tage, bevor ihre Mutter starb, öfter von solchen Spielen geprägt gewesen. Wie schlimm muss es also für sie gewesen sein, als sie bei uns nun zunehmend in die Pflicht genommen wurde.

Als Gerda fünfzehn Jahre geworden war, wurde Edith entlassen. Nun zählte Jerdachen als richtiges Dienstmädchen und bekam einen monatlichen Lohn von fünfzehn Deutschen Reichsmark. FÜNFZEHN ...

Gewiss, sie wurde ernährt - darüber wird zu reden sein - gekleidet, aus den abgelegten Sachen meiner Mutter, hatte ein Dach überm Kopf - genauer eine Speisekammerdecke.

So scheuerte, bürstete, kratzte, fegte, saugte, bohnerte, wusch Jerdachen in den nächsten zehn Jahren unsern Dreck weg. Klein, mager, schielend rackerte sie durch sechs Zimmer und drei weitere Räume. Eines Tages hackte sie sich ein Stück Finger weg.

Wieder so ein Zeichen ... Anstatt Mitgefühl zu empfinden, nahm ich ihren ekligen Finger als Beweis ihrer Minderwertigkeit. Wahrscheinlich brauchte ich eine solche Sicht, um mein schlechtes Gewissen zu unterdrücken, da ich doch erlebte, wie meine Spielgefährtin ausgenutzt wurde.

Eventuell war es aber auch so, dass ich, ein Kind, über das die Eltern ständig ihre Unzufriedenheit äußerten, froh war, dass da eine war, die noch weniger taugte als ich. Und sicher nahm ich die Ausbrüche meines Vaters über die Verstocktheit dieses »Groschenferkels« als Rechtfertigung oder fühlte Genugtuung, wenn meine Mutter von Gerdas falschem Blick sprach und behauptete: Wenn die könnte, wie sie wollte ...

Dabei glaube ich nicht, dass Gerda so weit dachte, die Welt ihrer Herrschaften stürmen oder gar stürzen zu wollen. Sie beließ es wohl bei Empörungs- oder Hassgefühlen. Die allerdings konnte man ihr ansehen. Hatte mein Vater wieder einmal seine Schimpfkanonade losgelassen, stand Gerdachen, den Kopf in verhaltener Wut gesenkt, vor ihm, und ich hegte die Befürchtung, gleich würde das Mädchen wie ein Ziegenböckchen auf den dicken Bauch des Mannes losgaloppieren. Oft hörte ich sie in ihrer Kammer vor sich hinmurren.

Später, als wir alle »aus dem Nest gefallen« waren, getraute sie sich endlich, meinem Vater Widerworte zu geben, sich zu wehren, vor allem auch gegen mich. Aber da fühlte sie sich wohl auch durch eine neue, andere Zeit bestärkt.

Damals in Königsberg blieb es bei einer stillen Aufmüpfigkeit.

Dora war da ganz anders. Meist, wenn sie die Schwester besuchte, schimpfte sie auf ihre »Herrschaft«.

Ich weiß nicht, ob Frau Bley auch dafür noch gesorgt hatte, Dora arbeitete im Stift der alten Damen am Kirchenplatz. Zu die Olsch jeh ich nicht mehr, soll sich ihren Placheister selber machen, sagte sie zu Gerda und mir und wechselte zum nächsten alten Fräulein über.

Meine Mutter sah es nicht gern, dass Dora kam. Die ist frech und ordinär! Bestimmt gibt sie sich schon mit Männern ab!

Wenn Dora ihre Besuche einzuschränken begann, so sicher nicht, weil sie meine Eltern fürchtete, sondern weil sie ihre freien Sonntage nun wirklich nicht mit der langweiligen Schwester zu vertun gedachte. Bist’n dummes Huhn, sagte sie zu Gerda und meinte damit wohl auch, dass die ihre spärliche Zeit »dem Alten« opferte. Gemeint war Gustav Borbe.

Nach Auflösung der Bleyschen Kellerwohnung war Gustav B. in ein winziges, weil billiges Zimmer in der Königsstraße gezogen. Er traute sich nie zu uns, um seine Tochter zu besuchen. Aber immer, wenn Gerda Ausgehsonntag hatte, eilte sie den weiten Weg, die Tragheimer Kirchenstraße entlang, über den Paradeplatz, die Schlossteichbrücke, durch die Weißgerberstraße über den Roßgärter Markt in die Königsstraße. Von den möglicherweise vier Stunden Ausgang wurden mindestens achtzig Minuten allein für den Weg verbraucht.

Und nun sagte es Gustav Borbe immer wieder, bekümmert seine Tochter betrachtend: Ach Jerdachen, Jerdachen, was soll man aus dir werden ...

Wer, wenn nicht er, wusste, wie wenig bleiben konnte zum Ende eines Lebens. Obwohl er im achtundsechzigsten Lebensjahr noch einmal gebraucht wurde.

Da die jungen Männer auf die »Schlachtfelder Europas« getrieben wurden, holte man den alten Fleischer zurück in den Städtischen Schlachthof.

Beim ersten Mal hatte mich Jerdachen, wohl der Not gehorchend, zu ihrem Vater mitgenommen. Ohne mich wäre ihr Ausgang gestrichen worden. Schließlich muss das Kind auch an die frische Luft, verlangte meine Mutter.

Vielleicht war es eine Art Armenpension, eine schlampige Frau, »Zachhudelhexe« schimpften wir hinterher, wies uns unfreundlich in einen langen, verwohnten Gang mit vielen Türen. Die erste führte in Borbes Zimmer. Darin standen nicht mehr als Bett und Stuhl. Die Sachen des Mannes hingen, über die Wand verteilt, an mehreren Nägeln. In der Dachschräge befand sich ein kleines Fenster.

Es mag dem Mann peinlich gewesen sein, seine Not so vor dem »feinen Kind« ausgebreitet zu sehen. Er lag im Bett, als wir kamen. Immer erlebte ich ihn im Bett liegend, das war sein Sonntag. Er ließ Gerda auf seiner Liegestätte, mich auf dem Stuhl Platz nehmen, streichelte seiner Tochter mit schwerer Hand übers Haar, fragte: Na Jerdachen, is was?

Da schüttelte sie meist den Kopf, womöglich weil ich dabei war, sagte schließlich: Ich hab nicht viel Zeit, Papa. Du musst frische Wäsche anziehen!

Sie holte ein in Ölpapier verpacktes Paket unterm Bett hervor, entnahm ihm Hemd und Unterhose. Sie half dem Vater aus einem vergrauten Barchenthemd, und ich sah mit Staunen, dass der Mann am Körper eine weiße, kindlich wirkende Haut besaß, während Hals, Kopf und Hände, grau und faltig, jemand anderem zu gehören schienen.

Dann rekelte Gustav Borbe sich hoch, um sich fein zu machen, den Rest des Sonntags verbrachte er in einer Kneipe. Seine Hose hatte er unterm Laken glattgelegen, ein Oberhemd befand sich unterm Kopfkissen. So saß er bald fertig angezogen vor uns und griff nun selbst unter sein Bett.

Das war mein Augenblick. In der zugedeckten Schüssel, die er hochholte, befand sich ein großer Wurstkringel »Pommersche«.

Gustav Borbe fingerte ein Taschenmesser aus der Hosentasche, ließ die Klinge herausspringen, wischte sie kurz an seiner Hose oder dem Jackenärmel ab und schnitt nun die Wurst in daumenlange Stücke, die er uns abwechselnd zusteckte.

Obwohl ich mich sonst so zickig hatte, rasch vor etwas ekelte, nahm ich fast gierig die Wurststücke aus den alten, knotigen Händen des Mannes. Ich bedachte nicht, dass es ein Teil von Gerdas Anteil war. So viel Wurst bekamen wir die ganze Woche nicht zu sehen, geschweige denn zu essen.

In meinem Elternhaus wurde damals am Essen geknausert. Nun waren zwar die Lebensmittel rationiert, schließlich war Krieg,dass wir aber so nicht hätten sparen müssen, bewiesen die vollen Platten, die bei Gesellschaften aufgetischt wurden.

Ich erinnere mich, dass ich mittags oft noch gern etwas mehr Soße oder Fleisch gegessen hätte. Wie mag es da erst Gerda ergangen sein? Die Verteilung wurde nach der Bedeutsamkeit der Personen abgestuft. Das Beste bekam mein Vater, der kleinste Teil fiel an Jerdachen.

Unsere abendlichen Brote, die wir meist auf dem Küchenbüfett für uns gerichtet vorfanden, sahen sich zwar ähnlich, wiesen aber merkliche Unterschiede auf. Mit dem Argument, ich sei noch im Wachsen, schmierte man meine Stullen mit Butter, während für Gerda Margarine reichte. Als Belag gab es vor allem Marmelade oder Quark. Während man für mich die »Glumse«, wie der Quark bei uns hieß, mit Kräutern zubereitete, wurde er Gerda einfach aus dem Papier gelöst und aufs Brot geschmiert. Salz konnte die Marjell ja selber drüberstreuen!

Von den verschiedenen Stufen der Ungerechtigkeit, die meine Eltern an Gerda begingen, scheint mir diese am wenigsten entschuldbar. Wie konnte man nur so etwas fertigbringen?

Wenn ich dagegen an die Fütterung bei Gustav Borbe denke ...

Manchmal, wenn wir eigentlich schon gehen wollten, weil die Pommersche verschlungen war, bat Borbe: Jerdachen, du musst mir man noch bisschen die Strümpfe zusammenprudeln!

Ich hütete mich, meine Ungeduld zu zeigen, wenn Gerda stopfte oder nähte, denn danach gab es noch einen zweiten großen Moment.

Zum Abschied kramte der alte Mann sein Portemonnaie aus der Hosentasche - vielleicht das »Geldgehtaberauchportemonnaie« von Frau Bley, betrachtete kurzsichtig das eine oder andere Geldstück, sicher überschlug er, wie viel für die kommende Woche blieb, und legte dann Jerdachen und mir je eine Münze in den Handteller. Dass es bei Gerda ein Markstück, bei mir ein Fünfziger war, nahm ich als ganz gerecht. Schließlich war er ihr Vater, und ich durfte als Kind sowieso noch nicht über viel Geld verfügen.

Anschließend verführte ich Gerda redegewandt dazu, mit mir den Rummel zu besuchen. Zwar war Rummel auch für sie noch ein Spaß, aber sicher hätte sie das Geld für andere, ersehnte Dinge nötiger gebraucht. Jedenfalls hatten wir, wenn wir abends nach Hause kamen, meist alles verjuxt.

Schwierig war es, meiner Mutter zu erklären, woher ich Luftballons oder anderes rummelbunte Zeug hatte.

Dass du dich mit einem Dienstmädchen so pannibratsch machen musst! rügte sie. Wie entsetzt wäre sie wohl gewesen, hätte sie erfahren, wie ihr gut erzogenes Kind dieses Dienstmädchen immer wieder bettelte, sie doch sonntags zu ihrem Papa mitzunehmen.

Mittlerweile lockerte sich die strenge Ordnung in unserm Haushalt etwas.

Meine Mutter begann zu kränkeln. Ärzte, Heilpraktiker, Kuren bestimmten zunehmend das Interesse der Eltern, sodass Gerda und ich wiederum aus ihrem Blickfeld gerieten. Oft waren wir Monate mit meinem Vater allein, lebten den Sommer über an der Ostsee, und Jerdachen »schmiss« die Wirtschaft ziemlich allein.

Die Befehle des Hausherrn mussten zwar ausgeführt werden, aber beide ersannen wir Taktiken, um allzu unbequeme Gebote zu umgehen. Oft entwickelte sich eine unausgesprochene Einigkeit zwischen uns, die aber sofort zersplittern konnte, stieß einer gegen die Interessen des anderen.

Wir waren älter geworden. Ich kam in eine neue Schule, fand andere Freundinnen, erwachsenere Spiele, versuchte Alleinsein mit Fantasie zu bewältigen. Gerda gehörte so zum Hausstand, dass ich mir wenig Gedanken darüber machte, wie sie lebte, dachte, womöglich träumte.

Sie war nicht sehr gewachsen, aber sie hatte fraulichere Formen bekommen, die sie jedoch zu genieren schienen.

Ich glaube, dass sie sich in jener Zeit - so ihr Zeit blieb - Lebensersatz aus den schon erwähnten Liebesromanen holte. Man ertappte sie oft neben einer Arbeit schmökernd, und manchmal, wenn ich nachts aufwachte, sah ich’s hinterm Fenster flackern.

Die Praxis der Liebe aber bekam Gerda von ihrer Schwester Dora mitgeteilt. Sie »ging« mit Soldaten. Meine Mutter sprach von Rumtreiben.

Überhaupt hatte Dora die »ollen Weiber mit ihr Herummäkeln« satt gekriegt und gekündigt. Sie begann in einer Munitionsfabrik zu arbeiten, die lag südlich von Königsberg in einem Wald versteckt und hieß Powaien. Dora wohnte dort in einem Barackenlager, in dem es nach ihrer Aussage immer »funds« zuging.

Eines Tages sang sie uns eine Art Gemeinschaftslied vor, dessen zweideutiger Inhalt mich wohl zum Grübeln gebracht haben mochte, denn ich könnte es heute noch singen. »Maria putzt das Fensterlein/ Tante Anna/ Maria putzt es hübsch und fein/ Tante Anna/ Maria putzt es wunderschön/ Tante Anna/ die Scheuerbürste war zu sehn/ Tante Anna.«

Im Refrain hieß es dann: »Ja wenn in Powaien die Musik spielt/ wird alles wieder gut/ verliere nie den Mut ...«

Ich hörte, wie Dora ihre Schwester aufstachelte, auch dort hinzukommen. Da kriegste viel mehr Penunse. Und wenn du deine Stunden runter hast, kannst’ dich molchen ... Mensch, Marjell, wie kann man bloß so dammlich sein!

Wahrscheinlich war Jerdachen in diesem Fall nicht dammlich, weil sie dammlich war und uns die von ihrer Mutter angekündigte Treue hielt ...

Sie verzichtete darauf, vielleicht an der vom Führer angekündigten Wunderwaffe mitzubauen, die Deutschland immer dringender herbeizusehnen begann.

Die heranrollende Front war Monate früher in diesem Powaien, ehe Königsberg eingenommen wurde. Bis zu unserer Trennung, neunzehnhunderteinundfünfzig, hörte Gerda nichts mehr von der Schwester. Um den vermissten Bruder hatten beide noch dreiundvierzig trauern können.

Was aus Gustav Borbe wurde, als Gerda mit uns Königsberg verließ, habe ich mich damals nicht gefragt. Sie hatte also mit dem vorläufigen (?) Verlust ihrer drei wichtigsten Menschen leben müssen. Nie habe ich sie darüber reden hören.

Als es für uns so weit war, die »Pungel« zu schnüren, lag meine Mutter krank im Bett und ordnete von dort aus an, was Gerda und ich einpacken sollten, während mein Vater zum Bahnhof eilte, um sich nach Zugmöglichkeiten zu erkundigen.

Nachdem die vorhandenen Koffer gefüllt waren, warfen wir weitere Kleidungsstücke in eine Decke, umschnürten sie mit Stricken. Die Pacheidels sind fertig! meldete Gerda.

Wir zogen, was wir konnten, an Kleidern übereinander und luden das Gepäck auf meinen Schlitten.

Einer der letzten Züge, die nach Pillau fuhren, nahm uns endlich mit. Da wurde Gerda krank, das Fieberthermometer zeigte vierzig Grad, sie war schon eine Zeit lang erkältet gewesen.

O Gott, was machen wir mit ihr, wenn das Lungenentzündung wird, barmte meine Mutter.

Draußen schwankte die Temperatur zwischen fünfundzwanzig und dreißig Kältegraden. Die Straßen waren vereist und von Flüchtlingstrecks verstopft.

Es war Gerdas Glück, dass der Zug, der für die fünfzig Kilometer Fahrstrecke dreieinhalb Tage brauchte, ein Lazarettzug war. Sie wurde mit Medikamenten versorgt, die sonst Soldaten bekamen, die ja rasch wieder »kampffähig« sein mussten ... Schon in Pillau wusste sie wieder, was sie ihren Herrschaften »schuldig« war, und behauptete, gesund zu sein.

Drei weitere Tage und Nächte brachten wir in der Hafenstadt damit zu, irgendwie auf ein Schiff zu gelangen. Wenn kein Schiff anlegte oder nachts saßen wir in der zugigen Veranda einer Hafenkneipe. Drei Stühle hatten wir nach und nach ergattern können, zwei belegten meine Eltern, um den dritten stritten sich Gerda und ich, bis mein Vater entschied, dass wir uns abwechseln sollten, auf dem Stuhl oder Koffern zu hocken.

Es war Gerda anzumerken, dass es ihr noch nicht gut ging. Trotzdem hielt sie sich an die von meinem Vater angeordneten Pflichten, die nun jeden der Familie betrafen, außer meine Mutter. Mal stellte sich Gerda nach Essen an, mal ich, dann mein Vater.

Immer wieder stießen und schubsten wir uns durch eine hysterische Menschenmenge in Richtung eines gerade anlegenden Schiffes.

Als wir, meine Eltern und ich, es endlich geschafft hatten, eine Landebrücke zu erklimmen, hatte Jerdachen irgendwo vor einem LKW nach Brot angestanden. Sie kam, als die Brücke hochgezogen wurde.