Die blauen Flügel - Jef Aerts - E-Book

Die blauen Flügel E-Book

Jef Aerts

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Beschreibung

Der elfjährige Josh und sein großer Bruder Dadran finden einen jungen, verwundeten Kranich, der nicht mit den anderen Vögeln in den Süden fliegen konnte. Als Jadran erfährt, dass er wegen seines Handicaps bald in einem Heim wohnen soll, gibt es für ihn nur eins: Er muss weg! Und was läge näher, als den Kranich in den Süden zu bringen? Eine abenteuerliche Flucht beginnt. Zwei Jungs und ein Kranich auf einem Traktor sind nicht gerade unauffällig: Ein nervenaufreibendes Versteckspiel beginnt. Und was führt ihre Stiefschwester Yasmin im Schild, die per Handy Kontakt zu ihnen hält? Will sie ihnen helfen oder sie in eine Falle locken? In diesem fesselnden, preisgekrönten "Roadmovie" schildert Jef Aerts auf berührende Weise, wie tief wahre Freundschaft gehen kann.

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Jef Aerts

Die blauen Flügel

Mit Illustrationen von Martijn van der Linden

Aus dem Flämischen von Eva Schweikart

Für alle Riesen, groß oder klein

Inhalt

Tirie

Deltaflieger

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Sendemast

Wir werden immer …

Der blaue Engel

Dank

Der Autor

Tirie

Es war der erste Tag der Herbstferien, und wir wollten nur noch schöne Dinge zusammen unternehmen. Wie zum Beispiel Kraniche beobachten.

Mein Bruder Jadran und ich liefen um die Wette den Waldweg zum See entlang. Er rannte in seinen Gummistiefeln vor mir her. Ich ließ ihn gewinnen. Alle ließen Jadran gewinnen. Auch wenn er stark war wie ein junger Wolf, sein großer, schwerfälliger Körper war langsam.

Und er konnte es nicht ertragen zu verlieren.

»Pass auf, Riese! Ich hol dich ein!«, rief ich, um ihn aufzustacheln.

Und Jadran ließ sich gern aufstacheln. Er rannte schwankend über die Steine bis zum sumpfigen Ufer. Wie meist hing sein Kopf leicht nach vorn, und sein Rücken war gekrümmt.

»Ich will sie als Erster sehen, Josh!«, keuchte er. »Ich seh immer alles als Erster, oder?«

Hinter dem Schilf erklangen trompetenartige Laute.

Krrru krrru krrru!

Jadran drehte sich um und winkte Mama und Murad zu, die Arm in Arm angeschlendert kamen. Yasmin trottete hinter ihnen her und gab sich alle Mühe, keine Kraniche zu sehen. Sie hatte ihren Schal weit hochgezogen, bis knapp unter die Brille.

»Ich hör sie schon!«, rief Jadran. »Das zählt auch, Mama, oder?«

Mama und Murad hoben gleichzeitig den Daumen. Und darüber mussten sie beide lachen, auch wieder gleichzeitig.

Murad und seine Tochter waren erst vorige Woche bei uns eingezogen. Das war nicht reibungslos abgelaufen. Es hatte eine Ewigkeit gedauert, bis Jadran überhaupt mit Murad sprechen wollte. Am Abend vor dem Umzug hatte er die Wohnungstür mit einem Schrank verbarrikadiert. Was die Situation schließlich rettete, war das Versprechen, dass er künftig bei mir im Zimmer schlafen durfte – wir beide auf zwei Matratzen dicht nebeneinander.

Jadran folgte den Rufen der Kraniche, mit seinem staksigen Gang, das Kinn vorgeschoben und die großen Hände neben dem Körper baumelnd.

»Josh, pass bitte auf, dass er nicht zu weit geht!«, rief Mama gegen den Wind an. »Er darf nicht bis in den Sumpf!«

Ich sprintete hinter Jadran her. Er war sechzehn und konnte mich an einem Arm in die Luft heben. Aber obwohl fast fünf Jahre älter als ich, war er für Mama mein kleiner Bruder.

Jadran ahmte die Laute der Kraniche nach, während er auf das Schilf zustapfte. Bei jedem Schritt versanken seine Füße tiefer im weichen Untergrund.

Krrru krrru krrru.

Zwischen den Schilfrispen hindurch sahen wir die großen Vögel nach Futter picken. Es waren Dutzende, mit langen Beinen und buschigen Schwanzfedern. Am Kopf hatten sie rote Flecken, und ihre schwarz-weißen Hälse ruckten hin und her.

»Da sind sie!«, schrie Jadran viel zu laut. Er warf die Arme in die Luft und machte einen Satz in Richtung der Vögel. Kaltes Wasser spritzte in die Höhe. Jadran stand jetzt bis zu den Waden im Morast.

»Sei still, Riese«, flüsterte ich noch, aber es war schon zu spät. Sie hatten uns bemerkt.

Der Kranichalarm ging los.

Kaa kru-ie! Kaa kru-ie!

Hoch aufgerichtet und mit vorgereckten Köpfen standen die Vögel wie versteinert da. Nur ihre Schnäbel bewegten sich noch beim Ausstoßen der schaurigen Rufe.

»Du hast sie erschreckt!«, zischte ich.

»Ich mach doch nichts, oder?« Jadran bahnte sich weiter einen Weg durch das Schilf. »Keine Angst, Freunde. Ich komm jetzt.«

»Bleib stehen, Jadran!«, rief Mama vom Ufer aus.

Das bedeutete so viel wie: Halt ihn auf, Josh!

Ich zog meine Jackenärmel über die Hände, um mich nicht an den scharfen Blatträndern zu schneiden. Mein Bruder schlug wild mit den Armen und trat die Schilfstängel platt. Die Kraniche spreizten die Flügel und riefen immer lauter.

Kaa kru-ie! Kaa kru-ie!

»Nun warte doch, Riese!«, rief ich.

Jadran legte die Hände wie einen Trichter an den Mund. »Ich tu euch nichts! Ich tu keinem was!«

Und dann flogen sie auf, alle zugleich.

Es war ein Höllenlärm, ein wahres Federgewitter. Die Kraniche stießen aneinander und flatterten dann knapp über den Tannen möglichst schnell davon.

Erschrocken wich Jadran zurück und versank knietief in einem Schlammloch.

»Ganz ruhig«, beschwichtigte ich. »Tief einatmen.«

Mama und Murad eilten den befestigten Weg entlang auf uns zu. Yasmin hatte ihr Telefon hervorgeholt und filmte alles, einfach zum Spaß.

»Sie sollen hierbleiben!«, rief Jadran.

»Ist nicht schlimm«, sagte ich. »Sie kommen bald wieder.«

Jadran schlug mit den flachen Händen aufs Wasser. »Sie fliegen ganz fort, oder? Im Winter wohnen sie in Spanien, das hast du selber gesagt!« Die Entengrütze schwappte bis an seinen Po.

Inzwischen hatten die Kraniche gedreht und flogen in zwei Reihen so niedrig über den See hinweg, dass man ihre Flügel rauschen hörte.

Ich nahm Jadran bei der Hand und zog ihn aus dem Schlammloch, ehe seine Stiefel sich ganz festsaugen konnten.

»Schau mal, sie wollen noch was zum Abschied sagen.« Ich deutete zu den Vögeln, während ich meinen Bruder zurück ans Ufer lotste. »Kraniche schreiben Buchstaben an den Himmel, hast du das gewusst?«

Jadran schüttelte den Kopf, sah sich aber dennoch nach den Vögeln um, die nun höher aufstiegen.

»W!«, rief er.

»So können sie sich miteinander verständigen, von Finnland bis zum Mittelmeer.«

Jadran nickte und deutete hierhin und dorthin. »Da – ein I! Und dort – das ist bestimmt ein R, oder?«

Ich brachte Jadran zu dem Holzsteg, wo im Sommer die Boote dicht an dicht lagen. Am Rand stand Yasmin und filmte sich selbst mit den Kranichen im Hintergrund.

»Komm, komm, komm«, versuchte Jadran sie zurückzulocken.

Krrru krrru krrru-ie!

»Sie rufen mir was zu, oder?«

Yasmin stoppte unwillig die Aufnahme. »Sei nicht blöd!«

»Jadran ist nicht blöd!«, sagte ich.

Er drückte meine Hand immer fester. »Es ist meine Schuld.«

»Schscht«, machte ich.

»Alles ist immer meine Schuld, oder?«

Sein Arm zitterte. Meine Finger knackten.

»Nicht alles, Riese.«

»Wie viel denn?«

»Höchstens die Hälfte.«

Die Kraniche flogen noch einen letzten Bogen um den See, dann verschwanden sie in den Fetzenwolken. Ein Flugzeug zog einen Streifen über den Himmel, wo kurz zuvor noch ihre Buchstaben zu sehen gewesen waren.

Jadrans Hosenbeine tropften und waren voller Entengrütze. Im Gesicht hatte er Schlammspritzer.

»Mann, ihr seht vielleicht aus«, sagte Murad, und es klang fast wie ein Kompliment. Er selbst trug, wie immer, eine Hose mit Bügelfalten und blank geputzte Schuhe.

Mama nahm ein Papiertuch aus ihrer Tasche und fing an, Jadrans Wangen zu säubern. Er stand still wie ein kleines Kind, obwohl er sie um eineinhalb Köpfe überragte.

»Ab jetzt bleibst du bei uns und gehst nicht mehr einfach ins Wasser«, sagte Mama.

Ie-ju!, klang es plötzlich aus einem Gebüsch ein Stück weiter. Jadran stieß Mamas Hand weg. Das Taschentuch fiel auf den Boden und wurde ins Schilf geweht.

»Was ist das?«, fragte er.

Ie ie ie-ju!

Yasmin ging als Erste den piepsenden Lauten nach. Dabei hob sie die Füße weit hoch, damit ihre Sneakers nicht schmutzig wurden. Und wir ließen sie natürlich nicht allein gehen.

Mama rief: »Gerade eben sage ich noch, du sollst bei uns bleiben, Riese!«

Aber da waren wir schon losgerannt.

Die schrillen Laute kamen aus einem Haselstrauch. Ich schob die Zweige auseinander, damit wir näher herankamen, ohne uns die Kleider zu zerreißen. Im Laub wurde ein Vogel mit schmalem Körper und aufgesperrtem Schnabel sichtbar. Es war ein junger Kranich. Sein Gefieder war noch bräunlich und der Hals nicht so schön schwarz-weiß gestreift wie bei den älteren Tieren.

»Er hat Angst«, flüsterte ich.

Jadrans Oberkörper bebte vor Aufregung. »Sie haben ihn vergessen!«

»Schaut mal, er kann nicht weg«, sagte Yasmin.

Ich ging neben dem Vogel in die Hocke. Er trat nach mir, traf aber nicht. Ein Flügel hatte sich in einer Angelschnur verfangen.

»Er blutet!«, rief Jadran.

»Ach je«, sagte Yasmin.

Murad kam uns zu Hilfe. Er zeigte mir, wie ich den Kranich festhalten musste. Dann packte er mit der einen Hand dessen Beine und löste mit der anderen die Schnur. Unter dem linken Flügel war der Flaum blutverschmiert.

»Da steckt ein Angelhaken drin«, stellte Murad fest.

Ich hob mit der Hand den Flügel hoch, damit Murad den Haken aus der Wunde ziehen konnte. Blitzschnell pickte der junge Vogel nach mir.

»Au!« Yasmin zuckte zurück, als hätte er ihre Hand erwischt. Murad wickelte die Schnur auf und steckte sie zusammen mit dem Haken in seine Jackentasche. An seiner feinen Stoffhose klebte Blut und an den Schuhen Moos.

Einen Moment verharrte der Kranich still. Dann rappelte er sich auf und hüpfte aus dem Gebüsch. Mit einem Mal wirkte er riesengroß. Aufrecht stehend, reichte er mir bis zum Kinn. Leicht verdutzt trippelte er am Ufer entlang. Aber es waren keine anderen Kraniche mehr zu sehen. Da fing er so laut zu kreischen an, dass es in den Ohren wehtat.

Jadran machte eine ernste Miene. »Er ruft nach seiner Familie, oder?«

»Sie kommen bestimmt wieder und suchen nach ihm«, meinte Murad. »Tiere lassen ihre Jungen nicht einfach im Stich.«

Eine halbe Stunde standen wir da und schauten. Es begann schon zu dämmern, und der See erglühte im rostfarbenen Abendlicht. Aber die Kraniche kamen nicht wieder.

Jadran ahmte die Hüpfer des jungen Kranichs nach. Und wenn dieser die Flügel zu heben versuchte, machte Jadran auch das nach: Er streckte einen Arm aus und ließ den anderen schlaff hängen.

Trrrrrie!, machte der Vogel, als hätte er die Trillerpfeife eines Schiedsrichters verschluckt. Tri ri ri rie!

»Tirie!«, gluckste Jadran. »Tirie! So heißt er!«

Mama biss sich auf die Lippe. Wer Jadran kannte, wusste, was es bedeutete, wenn er etwas einen Namen gegeben hatte: Dieses Etwas hatte von da an einen festen Platz in seinem Kopf, und war es erst einmal drin, ging es nie wieder heraus. Jadran hüpfte hin und her und flatterte mit einem Arm. »Sein Flügel ist kaputt, oder?«

»Wir müssen einen Förster anrufen«, sagte ich schnell. »Der weiß bestimmt, was zu tun ist.«

Murad wischte mit einem Taschentuch von Mama an seinen Schuhen herum.

»Das scheint mir auch das Beste zu sein«, sagte er. »Schließlich ist es ja ein Wildtier.«

Jadran hatte keine Angst vor Wildtieren. Noch ehe jemand etwas sagen konnte, tanzte er mit großen Schritten auf Tirie zu.

Mama verlor ihren letzten Rest Munterkeit. Jadran hatte uns die vergangenen Wochen schon genug Sorgen bereitet.

»Ich kümmere mich um ihn!«, rief Jadran und begann, wie ein Hund hinter dem Vogel herzuschleichen.

»Lass ihn!«, rief ich.

Aber Jadran hatte schon die Arme ausgebreitet und trieb Tirie in die Enge, auf den Steg zu. Mit dem Fuß blockierte er den Fluchtweg und packte den Vogel dann von hinten. Der wiederum ließ sich einfach fangen.

Jadran fasste unter seinen Bauch und hob ihn hoch. Er streichelte den Vogelrücken, ordnete die Federn und knickte behutsam die Beine ein.

»Ganz ruhig, Tirie«, flüsterte er. »Ich nehm dich mit nach Hause.«

Der Wind hatte aufgefrischt. Er fuhr in die Haselsträucher und trieb über den Bäumen dunkle Wolken zusammen.

Mama und Murad berieten sich noch, was zu tun sei.

»Ich geh jetzt.« Yasmin sagte es halb zu ihrem Telefon, halb zu uns und steuerte auf den Waldweg zu.

Jadran drückte Tirie an seine Brust.

»Nicht so fest, Riese, sonst erstickt er«, sagte Mama.

»Er bleibt bei mir!«, rief Jadran. Eine Sekunde lang trafen sich unsere Blicke. Tief genug, um mir klarzumachen, dass wir den Vogel nicht einfach hierlassen konnten.

»Im Dunkeln dauert es nicht lange, bis ein Fuchs ihn schnappt«, sagte ich.

»Eine Bekannte von Murad ist Tierärztin«, sagte Mama. »Da bringen wir ihn hin.«

Murad nickte ermutigend.

Das also war der Plan.

Aber Jadran passte in keinen Plan. Er rührte sich nicht mehr von der Stelle. Seine Lippen wurden schmal. Und seine Brust hob und senkte sich heftig.

»Nicht!« Ich hielt mir die Ohren zu.

Jadran riss den Mund weit auf und kniff die Augen zu. Als er loslegte, duckte Tirie sich zusammen. Mama schaute rasch nach links und rechts. Aber zum Glück war sonst niemand am Ufer.

»Na gut, nimm ihn mit«, sagte sie rasch.

Jadran machte ein Auge auf. Und brüllte nur noch halb so laut.

»Aber morgen früh …«

Jadran wischte sich mit dem Ärmel Rotz vom Gesicht. Er streichelte Tirie, wiegte ihn wie ein Riesenbaby und ging dann an Yasmin vorbei in den Wald.

Schon nach wenigen Metern hatte er vergessen, dass gerade eben um ein Haar die Welt untergegangen wäre.

Ein junger Kranich passt nicht in einen Wäschekorb. Und auch nicht in den größten Umzugskarton. Mama wollte Tirie nicht im Bad oder auf dem Flur haben. Zu fünft war es in unserer Wohnung ohnehin schon eng genug.

Also musste Tirie auf den Balkon.

Wir breiteten Zeitungspapier auf dem Boden aus. Murad nahm unsere Socken vom Wäscheständer, klappte ihn zusammen und stellte ihn auf die Brüstung, wo er ihn mit einem Stück Wäscheleine festband. So bildete er eine Art Gitter, damit Tirie nicht vom siebten Stock herunterfallen konnte.

Jadran suchte nach etwas zu fressen für den Vogel, während wir uns um seine Verletzung kümmerten. Murad hob den Flügel hoch, ich schob den Flaum auseinander, und Mama besprühte die Stelle, wo der Angelhaken gesteckt hatte, mit Desinfektionslösung. Die Wunde blutete nicht mehr, und Murad meinte, sie sei nicht so schlimm, dass sie genäht werden müsste.

Jadran hatte die Kruste von einem Fischstäbchen gepult und schnitt es in kleine Stücke. Er füllte eine Plastikschüssel mit Wasser und trug alles auf den Balkon.

Wir ließen Tirie los.

Erst rannte er wie wild gegen die Brüstung an, um sich danach auf der Decke, die wir in einer Ecke bereitgelegt hatten, zusammenzukauern.

Eine ganze Weile standen wir am Fenster und beobachteten ihn. Mama und Murad viel zu eng aneinandergeschmiegt.

Jadran nahm meine Hand und drückte sie jedes Mal, wenn Tirie auch nur die kleinste Bewegung machte.

»Morgen hat er alles zugeschissen«, nörgelte Yasmin. »Und mit dem Wäscheständer vor der Nase ist es wie im Gefängnis.«

Dann verschwand sie in Jadrans Zimmer, das seit dem Umzug ihres war, und machte die Tür hinter sich zu. Sie musste dringend sein Poster mit den sieben Zwergen abhängen.

Die Straßen leerten sich. Bei den Geschäften wurden die Rollläden heruntergelassen, und langsam döste die Stadt ein. »Du musst etwas essen«, flüsterte Jadran. Er hatte die Balkontür ein Stück geöffnet und schob den Teller mit Fischhäppchen näher an den Vogel heran. »Mach schon. Ich hab für dich gekocht.«

Tirie schaute nicht einmal auf.

»Er ist böse auf mich.« Jadran trat gegen die Tür.

»Warum sollte er?«, fragte ich. »Du hast den Angelhaken doch nicht dort herumliegen lassen.«

Jadran schlug mit der Stirn an die Scheibe. »Ich hab seine Familie verjagt. Und jetzt ist er ganz allein!«

»Nicht ganz.«

Ich strich meinem Bruder über den Rücken.

Er bückte sich, nahm ein Stück Fischstäbchen und steckte es in den Mund.

Wir schliefen jetzt direkt nebeneinander. In mein Zimmer passten genau zwei Matratzen, ein Stuhl, über den wir unsere Kleider legen konnten, ein schmales Regal für meine Schulbücher und ein Schrank. Wenn Jadran im Schlaf mit dem Arm schlug, traf er mich ins Gesicht. Und er gab seltsame Geräusche von sich, eine Art Keuchen und Knurren. Wahrscheinlich träumte er lebhaft.

Trotzdem fand ich es schön, dass er bei mir war. Wenn ich allein schlief, bekam ich manchmal Albträume. Dann träumte mir, ich würde morgens aufstehen und alle Menschen wären von der Erde verschwunden.

»Du bist Jadrans Schutzengel«, hatte Mama zu mir gesagt, da war ich gerade acht. Ich machte damals meine erste Buchbesprechung für die Schule, und Jadran quälte sich noch mit seinen ungelenken Blockbuchstaben herum. »Wenn dein Bruder mal nicht zurechtkommt, musst du ihm helfen.«

»Jadran ist ein Riese«, sagte ich. »Wie kann ich ihm helfen?«

»Du bist auch ein Riese, Josh. Ein kleiner Riese, und zwar innerlich.«

»Jadran ist der Stärkste in der ganzen Gegend, er schlägt jeden beim Armdrücken, und ich …«

Da lächelte Mama nur und meinte, ich solle gut auf ihn aufpassen.

Ich rutschte noch näher zu Jadran und legte meinen Kopf auf seinen Bauch. Er sagte nichts, aber ich wusste, dass er wach war.

Wir machten eine Atembrücke. Wie jeden Abend, weil Jadran sonst nicht schlafen konnte. Erst gab ich das Tempo vor. Ich atmete tief ein, und er machte es nach.

Ein und aus. Brust und Bauch.

Pffff.

Sein Atem strich über mein Kinn.

Eigentlich war das Atemspiel Mamas Idee. Sie und Jadran hatten es schon gemacht, als ich noch ein Baby war. Ich lag zwischen ihnen im großen Bett. Sie versuchten, genauso schnell oder schmatzend oder seufzend zu atmen wie ich.

Zusammen atmen schafft eine Verbindung, sagte Mama, eine Verbindung, die weit über den einen Moment hinausgeht.

»Jetzt du, Riese.«

Jadran atmete stoßweise und zittrig. Und ich zitterte mit. Er ließ die Luft zwischen seinen Lippen brausen. Und ich brauste genauso laut. Aber schon bald wurde er viel zu schnell.

»So verlierst du mich noch«, flüsterte ich, »und dann ist die ganze Brücke kaputt.«

Jadran gab sich größte Mühe, wieder in einen gemeinsamen Rhythmus zu finden.

»Ein«, keuchte er. »Ein-ein-ein!«

Ich saugte so viel Luft in meine Lunge, dass sie fast platzte. Und dann klappte es endlich wieder. Mein Kopf wippte auf Jadrans Bauch auf und ab.

Fort war das kleine Zimmer, fort der Wohnblock und das nächtliche Gemurmel der Stadt. Es gab nur noch meinen Bruder und mich in dem herrlich großen Bett.

In der Nacht stand Jadran zweimal auf, um nachzusehen, ob Tirie noch da war. Er presste das Gesicht an die Balkontür und hauchte Atemwolken aufs Glas. Ich hatte ziemliche Mühe, ihn wieder ins Bett zu bekommen.

Am Morgen aß er seine Cornflakes auf dem Balkon. Dort sah es verheerend aus. Das Zeitungspapier war zerfetzt. Tirie hatte die Trinkschüssel umgestoßen, und an der Wand klebte meterhoch die Vogelkacke. Aber das alles störte Jadran nicht. Er kniete an der Tür, seine Frühstücksschale und den Löffel vor sich auf dem Boden. Der Kranich stand zitternd an der Brüstung.

»Lass ihn doch«, sagte ich. »Er hat Angst.«

»Er muss essen, sonst stirbt er.« Jadran schnippte mit dem Löffel ein Cornflake zu dem Vogel hin.

Tirie nahm es nicht. Aber er schaute zu uns her. Und das war immerhin ein Anfang.

Den ganzen Vormittag blieb Jadran auf dem Balkon. Mama versuchte gar nicht erst, ihn davon zu überzeugen, dass wir Tirie wegbringen müssten. So stand Jadran ihr wenigstens nicht im Weg herum.

»Na gut«, sagte sie und schlüpfte in ihren Mantel. »Der Kranich kann noch eine Nacht bleiben.« Sie fasste Murad unter, und die beiden zogen los, um Bettwäsche zu kaufen.

Ich schaute für Jadran im Internet nach: Kraniche sind Allesfresser. Wenn sie brüten, fressen sie vor allem Insekten, Würmer und Frösche, aber selten Fisch. Und beim Vogelzug scharren sie auf abgeernteten Feldern nach Resten von Weizen und Mais.

»Cornflakes sind Mais.« Jadran grinste. »Jetzt noch Würmer.« Wir zogen unsere Schuhe an. Jadran nahm einen Kochlöffel, und ich holte ein leeres Marmeladenglas aus dem Schrank.

Ich rannte durchs Treppenhaus nach unten. Jadran fuhr mit dem Lift. Was er eigentlich von Mama aus nicht allein durfte. Schon gar nicht, wenn wir wetteten, wer am schnellsten war. Aber weil sie nicht zu Hause war, machten wir es einfach. Ich schwang mich aufs Treppengeländer und rutschte das letzte Stück hinunter.

Jadran stand bereits im Eingangsflur und wartete auf mich, stolz wie ein Pfau.

Vor unserem Haus war ein Beet mit Kamelien. Sofort fing Jadran an, mit dem Kochlöffel darin zu graben. Erdklumpen flogen herum. Wir klaubten Asseln, Tausendfüßer und Regenwürmer aus dem welken Laub. Unter einer losen Gehwegplatte entdeckte Jadran jede Menge Käfer. Schon bald wimmelte es in unserem Glas von Tierchen.

Aber als wir wieder ins Haus wollten, war die Tür zu, und wir hatten keinen Schlüssel mitgenommen.

Jadran klingelte Sturm.

»Ja?«, knarzte es aus der Gegensprechanlage.

Über den Klingelknöpfen befand sich nicht nur ein Lautsprecher, sondern auch eine Kamera. So konnte Yasmin oben in der Wohnung auf einem kleinen Bildschirm sehen, wer vor der Tür stand.

»Wir können nicht rein!«, rief ich.

Jadran drückte seine Nase an die Kamera.

»Geh mal ein Stück zurück, dann kann ich euch besser sehen«, sagte Yasmin.

»Tirie hat Hunger.«

»Ihr seid dreckig.« Es klang nicht freundlich, und das war es auch nicht.

»Mach auf!« Ich versteckte meine schwarzen Finger hinter dem Rücken.