Die blinde Zeugin - Volker Dützer - E-Book
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Die blinde Zeugin E-Book

Volker Dützer

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Beschreibung

Wie weit werden sie gehen, um ihre Geheimnisse zu wahren?
Der spannende Krimi um einen Privatdetektiven und die Suche nach der Wahrheit

Als die junge Trickdiebin Samantha Baring Zeugin eines Mordes wird, ist auch ihr eigenes Leben in Gefahr. Bei der Polizei kann sie keine Hilfe suchen, denn ihre Gegner sind mächtige Männer, die selbst die Gesetzeshüter in der Hand haben. Deshalb wendet sie sich an abgebrannten Privatdetektiv Jan Stettner, der ebenfalls schon Erfahrung mit Korruption in den Reihen der Mordkommission gesammelt hat. Stettner nimmt den Fall zunächst nur widerwillig an, doch schon bald stößt er auf mehr als nur eine Leiche und das geballte Schweigen einer eingeschworenen Dorfgemeinschaft. Können er und Sammy die dunklen Geheimnisse lüften, bevor sie noch mehr Opfer fordern?

Erste Leser:innenstimmen
„Hervorragender Krimi rund um Macht, Geld und Korruption.“
„Fesselt sofort an die Seiten und lässt nicht mehr los – wie ich es von Volker Dützer gewohnt bin!“
„Extrem spannender und rasanter Kriminalroman, großes Lob für den Schreibstil!“
„Hier wird mitreißende Ermittlungsarbeit und eine gut durchdachte Story mit einigen Wendungen geboten.“

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Seitenzahl: 553

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Über dieses E-Book

Als die junge Trickdiebin Samantha Baring Zeugin eines Mordes wird, ist auch ihr eigenes Leben in Gefahr. Bei der Polizei kann sie keine Hilfe suchen, denn ihre Gegner sind mächtige Männer, die selbst die Gesetzeshüter in der Hand haben. Deshalb wendet sie sich an abgebrannten Privatdetektiv Jan Stettner, der ebenfalls schon Erfahrung mit Korruption in den Reihen der Mordkommission gesammelt hat. Stettner nimmt den Fall zunächst nur widerwillig an, doch schon bald stößt er auf mehr als nur eine Leiche und das geballte Schweigen einer eingeschworenen Dorfgemeinschaft. Können er und Sammy die dunklen Geheimnisse lüften, bevor sie noch mehr Opfer fordern?

Impressum

Überarbeitete Neuausgabe September 2022

Copyright © 2024 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-98637-653-6 Taschenbuch-ISBN: 978-3-98637-782-3

Copyright © 2015, at Bookshouse Ltd. Dies ist eine überarbeitete Neuausgabe des bereits 2015 bei at Bookshouse Ltd. erschienenen Titels Treibsand (ISBN: 978-9-96352-727-4).

Covergestaltung: Buchgewand unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com: © Alexey Seleznev stock.adobe.com: © peangdao, © Nejron Photo Korrektorat: Birgit Förster

E-Book-Version 25.03.2024, 09:47:41.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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Die blinde Zeugin

1

Dienstag, 20. August

Was für ein riesiger Haufen Geld. Sauber gestapelte Bündel mit bunten Scheinen, Euro, Dollar, sogar Yen waren dabei. Daneben glänzten in Folie eingeschweißte Krügerrand-Goldmünzen, angelaufene Silbertaler und winzige Barren aus einem weiß schimmernden Metall. War das etwa Platin? In den mit Samt ausgelegten Mahagonikästen und Stahlkassetten lockten weitere erlesene Kostbarkeiten: Colliers, Ringe und Rohdiamanten in flauschigen Stoffbeuteln.

Volltreffer! Mann, das war ein absoluter Volltreffer. Puh! Die Vorstellung, in den knisternden Scheinchen zu wühlen und bis zum Hals im Geld zu baden, war besser, als auf ihrer Kawasaki die Haarnadelkurven im Lahntal entlangzurasen. Sie war entschieden besser als Champagnertröpfchen, die kitzelnd am Gaumen zerplatzten, sogar besser als Sex. Samantha Baring, in Gaunerkreisen kurz Sammy genannt, brauchte nur die Hände auszustrecken, um sich die Taschen vollzustopfen. Sie war reich! Reich! So reich, dass für diesen Zustand noch kein Wort erfunden worden war. Wie sie das Kurhotel verlassen konnte, ohne die argwöhnischen Blicke des Personals auf sich zu ziehen, hatte sie bereits ausgekundschaftet. Der Rest war ein Kinderspiel.

Blieben nur noch zwei Probleme zu lösen: Ihre Hände waren mit einem zähen Klebeband an das Rohrgestell eines Bürodrehstuhls gefesselt, und in ihrem Mund steckte ein Knebel, der sie zu ersticken drohte. Wütend starrte sie auf den geöffneten Hoteltresor und die beiden Männer, die sich die Rosinen aus dem Millionenkuchen herauspickten, den Sammy angeschnitten hatte. Methodisch füllten sie einen stabilen Samsonitekoffer bis zum Rand mit gebündelten Banknoten, handlichen Goldbarren und Edelsteinen.

Der riesenhafte Mann mit dem gespaltenen Kinn gehörte wie sein drahtiger rothaariger Kumpel zur Truppe professioneller Wachmänner, die die Hotelleitung zum Schutz der illustren Gäste angeheuert hatte. Seit zwei Tagen fanden in der Kurstadt die Bad Emser Mineralientage statt; eine Veranstaltung, die Edelsteinhändler und Schmuckdesigner ebenso anlockte wie Esoteriker, die nach Kristallschädeln und ähnlichem teuren Plunder Ausschau hielten. Die Hotellobbys waren überfüllt mit den oberen Zehntausend der Republik und ihren in verschwenderischen Reichtum gehüllten Begleiterinnen. Allerdings suchten auch gewitzte Diebe und Trickbetrüger die Stadt an der Lahn heim, unter ihnen zwei Männer in anthrazitfarbenen Maßanzügen, die sich mit gefälschten Ausweisen als Angestellte einer Securityfirma ausgaben.

Wütend zerrte Sammy an ihren Fesseln. Warum nur war sie das hohe Risiko eingegangen? Bisher hatte sie sich mit ihrer speziellen Masche auf Partys, Empfänge und Volksfeste beschränkt. Die Beute, die sie ergaunern konnte, war stets gering genug, um keinen allzu heftigen Lärm zu entfachen; aber trotzdem groß genug, um damit über die Runden zu kommen.

Der Verlockung, an einem einzigen Abend den Jackpot zu knacken, hatte sie nicht widerstehen können. Aber erst jetzt wurde ihr schmerzlich bewusst, dass dieser Diebeszug eine Nummer zu groß für sie gewesen war.

Der Mann mit dem gespaltenen Kinn klappte den Koffer zu und redete gestikulierend auf seinen Kumpel ein. Sammy verstand kein Wort, es klang wie Russisch oder Polnisch. In ihrem Bauch breitete sich Panik aus wie ein Hornissenschwarm. Sie glaubte noch immer daran, dass ihr cleverer Plan funktioniert hätte. Dass sie im Tresorraum des Kurhotels der Russenmafia über den Weg lief, war mehr als ein böser Zufall und glich einer schallenden Ohrfeige des Schicksals.

Der Rothaarige mit der Statur eines Wiesels ließ die Safetür zuschnappen, lief an Sammy vorbei und steckte die Nase durch den Türspalt an der Rückwand des Raumes. Offenbar war sie nicht die Einzige, die sich mit dem Grundriss des Hotels neben dem Spielcasino vertraut gemacht hatte. Sammys Hoffnung, dass die Diebe mit ihrer Beute verschwanden und sie als Bauernopfer zurückließen, erfüllte sich nicht. Mit einem Springmesser zerschnitt der Kleine ihre Fesseln. Sein Kumpel zerrte sie hoch und umwickelte ihre Handgelenke mit einem zähen Gewebeband. Das Wiesel schnappte sich den Koffer; dann hakten sie Sammy unter und schleiften sie in den Korridor hinter dem Tresorraum. Von dort führte eine Treppe in die Kellerräume. Zielsicher sperrten sie eine Feuerschutztür auf und stießen Sammy in den nach Schimmel und Moder stinkenden Keller. Eine verdreckte Glühbirne tauchte den Raum in trübes Licht und riss verstaubte Aktenschränke aus dem Dunkel.

Das Wiesel drückte sie auf einen Hocker, dann wuchteten die Diebe schwitzend eine rostige Eisenplatte von einer Öffnung im Boden. In dem trüben Licht schillerte übel riechendes Wasser an den Wänden eines Schachtes, Steigeisen führten in die Tiefe. Das war also der Abwasserkanal, durch den sie sich hatte aus dem Staub machen wollen. Eine wirklich tolle Idee. Herzlichen Glückwunsch, Sammy! Sie verfluchte ihre Gier und schwor sich, endlich einem ehrlichen Job nachzugehen, wenn sie dieses eine Mal noch davonkam.

Der Riese riss den Klebestreifen von ihrem Mund und befreite sie von dem Knebel. Hier unten hörte ohnehin niemand ihre Hilferufe.

Das Wiesel setzte sich auf einen umgedrehten Papierkorb und grinste sie an. „Wir haben dich den ganzen Abend beobachtet. Und wir wissen immer noch nicht, wie du das angestellt hast.“

Sammy legte den Kopf schief und pustete eine vorwitzige Locke aus der Stirn. „Was denn angestellt?“

Der Russe riss sie an den Haaren zurück und presste seine Hand um ihre Kehle. „Verarsch uns nicht. Zehn Minuten nachdem du hast angemacht den Direktor von Hotel, du hast geöffnet Safe ohne Problem. Woher weißt du Kombination?“

Sammys Gedanken rasten. Die Kerle hatten sie die ganze Zeit beobachtet. Wahrscheinlich verstanden sie nicht genug Deutsch, um ihren Trick zu durchschauen. Ihre Methode, mit der sie einem potenziellen Opfer in kurzer Zeit die Geheimzahlen seiner Kreditkarten entlocken konnte, war für die beiden Verbrecher von allergrößtem Wert.

„Ihr habt, was ihr wollt, also haut schon ab. Kümmert euch nicht um mich, ich komme schon klar“, sagte sie.

Der Riese tippte an ihre Stirn. „Bist schlaues Mädchen. Kopf ist mehr wert als Beute aus Safe. Warum hat Direktor dir verraten Code?“

„Ich hab keine Ahnung, wovon du redest.“

„Wird dir schnell wieder einfallen.“ Seine Lippen waren jetzt dicht an ihrem Ohr. „Sag mir, was will kleines blondes Mädchen mit so viel Geld?“

Sie bog ihren Kopf zur Seite, um seinem nach Knoblauch und Wodka stinkendem Atem zu entgehen. „Der Tresor stand offen, als ich das Zimmer betrat.“

Das Wiesel lachte meckernd und ließ die Klinge seines Stiletts aufschnappen. „Und ich passe hier auf, dass niemand was klaut. Für jede falsche Antwort verlierst du ab sofort einen Finger. Also überleg dir gut, was du uns als Nächstes erzählst.“

Sammy geriet in Panik. Auf ehrliche Weise Geld zu verdienen, erschien ihr plötzlich überaus verlockend. Kellnern, Putzen oder Taxi fahren, das hatte sie sich eigentlich schon immer gewünscht.

Lieber Gott, wenn ich mit heiler Haut aus diesem Loch herauskomme, will ich brav sein. Ich verspreche es.

Der Riese hob sie hoch, als wöge sie nicht mehr als eine Barbiepuppe, zog eine Schublade aus einem Aktenschrank und klemmte blitzschnell ihren Arm ein. Unter seinem Jackett zeichnete sich ein gewaltiger Bizeps ab. Gegen seine rohe Kraft konnte Sammy nichts ausrichten.

„Zeig uns Trick. Sei liebes Mädchen. Mit Narben in Gesicht du wirst sehr hässlich aussehen!“

Auf dem Gang vor dem Keller näherten sich Schritte. Jemand hustete und kam die Treppe herunter. Der Russe drückte ihr seine schwielige Hand auf Mund und Nase. Sammy würgte angeekelt und wand sich unter seinem Griff.

Draußen rief jemand einen Namen, eine Stimme antwortete gelangweilt, Flaschen klirrten, und die Schritte entfernten sich wieder.

Der Kleine klappte sein Messer zu. „Wir nehmen sie mit. Ist zu gefährlich hier.“ Geschickt kletterte er an den Steigeisen nach unten.

Sein Kumpel reichte ihm den Geldkoffer, stieß Sammy in das Loch und folgte ihr dann. Der Schacht war knapp zwei Meter tief. Sammy landete im knietiefen, nach Fäulnis stinkenden Flusswasser.

Der Russe stieß sie in das Tonnengewölbe des Abwasserkanals, der nach etwa zwanzig Metern am Fuß der Stützmauer unterhalb der Straße ins Freie mündete. Die Natriumdampflampen auf der Uferpromenade warfen goldene Reflexe auf das schwarze Wasser der Lahn. Dicht über Sammys Kopf nahm das Nachtleben von Bad Ems seinen Lauf, unbeeindruckt von dem Drama, das sich wenige Meter entfernt abspielte. Spaziergänger flanierten scherzend die Promenade entlang, der Autoverkehr rollte zähflüssig am Kurhotel vorbei. Jemand hupte, ein Hund kläffte nervtötend. Irgendwo erklang das Lachen einer hellen Frauenstimme, so nah und doch unerreichbar für Sammy.

Die Männer zerrten sie ein Stück den schmalen Kiesstrand entlang. Das Wiesel hetzte eine Treppe hinauf, verschwand in der Dunkelheit und tauchte kurz darauf winkend wieder auf. Der Russe trieb sie die Steinstufen hinauf. Die Treppe endete gegenüber dem Casino, vor dessen Eingang sich eine Menschentraube gebildet hatte. Wer gute Geschäfte abgeschlossen hatte, gönnte sich in der warmen Sommernacht den Kitzel des Spiels. Auch Sammy spielte mit. Und sie riskierte den höchstmöglichen Einsatz: ihr Leben.

Die Entführer nutzten den Trubel aus, um Sammy an Bord eines rostigen Hausbootes zu schleppen, das an einem der Landestege lag. Der Russe brach die Tür zur Hauptkabine auf und polterte die Stiege hinab. Sein Kumpel stellte den Koffer ab, beobachtete misstrauisch die hell beleuchtete Uferpromenade und zog Sammy in die Schatten der Deckaufbauten. Ihre Arme waren noch immer mit dem verfluchten Klebeband auf dem Rücken gefesselt. Hektisch tasteten ihre Finger das Blech ab, bis sie auf eine scharfe Kante stieß. Sie musste sich etwas einfallen lassen, und zwar schnell. War sie erst unter Deck, gab es keine Rettung mehr.

Sie drückte sich eng an den Rothaarigen, bis ihre Lippen beinahe sein Kinn berührten. „Ein Koffer, randvoll mit Geld … für drei Leute“, flüsterte sie.

Irritiert drehte er den Kopf.

Sammy fuhr mit der Zunge über ihre Lippen und blinzelte ihm zu. „Soll ich dir verraten, wie ich den Hoteldirektor um den Finger gewickelt habe? Wir wären bestimmt ein gutes Team. Jemanden wie dich könnte ich gut gebrauchen. Aber drei sind einer zu viel. Was denkst du?“

In seinem Mundwinkel zuckte ein Nerv.

„Ich kann dir deine Zukunft vorhersagen.“

„Halt’s Maul.“

Nervös wanderten seine Blicke über das dunkle Deck und ruhten eine Spur zu lang auf dem Geldkoffer. Im Bauch des Bootes sprang hustend ein Dieselmotor an.

Fluchend wandte der Dieb sich um und drückte sein Stilett in die v-förmige Mulde zwischen Sammys Schlüsselbeinen. Ein einzelner Blutstropfen rann an ihrem Brustbein hinab.

„Denk nicht mal daran, abzuhauen. Und wenn du in der Hölle ein Loch gräbst, um dich zu verstecken, wir werden dich finden. Also verrate uns lieber gleich, wie du dem Fettsack die Kombination des Tresors aus dem Kreuz geleiert hast. Falls du es noch nicht begriffen hast, es ist deine einzige Chance, die Nacht zu überleben.“

Falsch! Ihr kleiner Trick war ihre Lebensversicherung, und sie würde ihn erst preisgeben, wenn sie ihre letzte Karte ausgespielt hatte. Andernfalls endete sie als Fischfutter.

Er grub seine Finger in Sammys Lockenmähne und stieß ihren Hinterkopf gegen die Schiffswand. Dann hetzte er zum Bug und löste rasch die Taue, mit denen das Boot an der Ufermauer befestigt war.

Vor ihren Augen tanzten bunte Sterne. So schnell sie konnte, scheuerte sie die Fesseln an ihren Handgelenken über das scharfe Blech.

Träge drehte sich das Boot in den Fluss und wurde von der Strömung erfasst. Das Wiesel kehrte wachsam zum Heck zurück.

„Bei der ersten Gelegenheit schmeißt er dich über Bord. Oder glaubst du wirklich, dass er teilen wird?“, sagte Sammy.

Das zähe Klebeband zerriss. Ihre Hände waren frei. Sie warf einen hastigen Blick auf die Verriegelung der Deckstür. Zwecklos, das Schloss war verbogen und unbrauchbar.

„Was treibt er wohl da unten? Du musst dich jetzt entscheiden, er wird jeden Moment wieder auftauchen.“

„Halt die Klappe. Du wickelst mich nicht ein wie die geilen alten Männer im Casino!“

Bevor Sammy antworten und ihre Show abziehen konnte, flog die Tür hinter ihr auf und der Stoppelkopf des Russen erschien in der Luke.

„Schaff den Koffer runter, und mach das Boot …“

Weiter kam er nicht. Vom Dach des Hausboots sprang ihn fauchend ein Wesen an, das nur einem Albtraum entwichen sein konnte.

Der Rothaarige kreischte, sein Kumpel stolperte über den Koffer, taumelte und stürzte über die Reling in den Fluss. Steuerlos trieb das Boot in der Strömung.

Auf dem Kasten an der Heckreling hockte der hässlichste Kater, den Sammy je gesehen hatte. Er riss sein schiefes Maul auf, fauchte wie ein Drache und drohte mit einem mörderisch scharfen Gebiss. Er war fett, bösartig wie ein Dachs und besaß nur ein Auge.

Aus der Dunkelheit jenseits der Bordwand schrillten die Hilferufe des Russen herauf, der offenbar nicht schwimmen konnte. Sein Partner wagte sich einen Schritt weit auf den an der Reling befestigten Rettungsring zu. Der Kater hieb mit seiner Pfote nach ihm und erwischte ihn am Handgelenk. Der Rothaarige geriet in Panik, weil er nicht gleichzeitig seinen Kumpel aus dem Fluss ziehen, Sammy bewachen und das Boot steuern konnte.

„Wir treiben auf das Wehr zu“, sagte Sammy.

„Was für ein Scheißwehr? Versuch bloß nicht, mich zu verarschen!“

Scheinbar gelassen zuckte Sammy mit den Schultern. „Wollt’s dir nur sagen.“

Er zog sein Jackett aus und schlug damit nach dem Kater. Der fauchte wütend, preschte zwischen Sammys Beinen hindurch und verschwand durch die offene Tür ins Innere des Bootes. Der alte Kahn zitterte, als sein Kiel den Kiesgrund des Flusses berührte. Der Wasserstand der Lahn war im Verlauf des trockenen heißen Sommers beständig gesunken. Wie ein schlafender Riese wälzte sich das Boot auf die Backbordseite, kam wieder frei und trieb auf das Wehr nördlich der Insel Silberau zu. Der Rothaarige torkelte und ruderte mit den Armen.

Mit einem wütenden Schrei stieß Sammy sich von den Aufbauten ab und stürzte sich auf den Koffer. Sie war ausdauernd und schnell. Auch wenn das Gewicht sie behindern sollte, konnte sie sich in der schwachen Strömung lang genug über Wasser halten, um ans Ufer zu gelangen. Sie begrub den Koffer unter sich und wirbelte herum. Zischend zerteilte eine Messerklinge die Luft vor ihrer Nase, und eine blonde Locke schwebte wie eine Feder zu Boden. Schützend hielt Sammy den Koffer vor die Brust und keilte wie ein Wildesel mit den Beinen aus. Befriedigt hörte sie den Angreifer aufstöhnen.

Sammy schob den Koffer vor sich her und kroch auf allen vieren über das Deck. Sie konnte es immer noch schaffen. Der rettende Fluss war nur noch Zentimeter entfernt. Sie schwang ein Bein über die Reling und suchte mit hektischen Blicken die nachtschwarze Lahn ab. Wie viel Tiefgang besaß so ein Hausboot? War der Fluss bei Niedrigwasser tief genug für einen Sprung aus dieser Höhe, oder würde sie sich den Hals brechen? Silbernes Mondlicht spiegelte sich glitzernd auf den Wellen, die schräg gegen den Rumpf anliefen. Geld, Kies, Kohle, mehr, als sie je zuvor besessen hatte. Mehr, als sie je würde ausgeben können. Wag es einfach, Sammy! Tu es!

Als sich ihre Hand von der Reling löste, legte sich ein eiserner Reif um ihre Kehle. Der wütende Kerl bemühte sich nach Kräften, sie auf das Boot zurückzuziehen. Das Messer! Wo war das Messer? Hatte er das Stilett verloren, als sie ihn zwischen den Beinen getroffen hatte?

Sammy spannte die Muskeln an und wartete auf den scharfen Schmerz zwischen ihren Rippen. Sie strampelte wie eine Wildkatze, krümmte sich und biss ihn in den Unterarm. Angewidert schmeckte sie warmes Blut zwischen ihren Lippen und spuckte Hautfetzen aus. Das Wiesel schrie vor Schmerz auf und lockerte für eine Sekunde seinen Griff. Krachend lief das alte Hausboot auf Grund und legte sich ruckartig auf die Backbordseite.

Sammy fiel. Das Wasser der Lahn schlug klatschend über ihr zusammen. Luftblasen wirbelten vor ihren Augen, alles drehte sich, es gab kein Oben und kein Unten. Ihre Finger schlossen sich krampfhaft um den Griff des Samsonitekoffers. Auch wenn sie wie eine Katze im Fluss ersaufen musste, niemals würde sie den verdammten Koffer loslassen. Sammy ruderte mit den Beinen, spürte aber keinen Grund. Die Fahrrinne der Lahn war tiefer, als sie vermutet hatte. Außerdem hatte sie das Gewicht des Koffers unterschätzt. Der Schatz, den sie gehoben hatte, zog sie unerbittlich nach unten. Noch ahnte sie nicht, dass ihre Gier sie in noch größere Tiefen hinabziehen würde. Tiefer, als sie sich vorstellen konnte.

2

Freitag, 23. August

„Irgendwann erwischt es mich. Ich könnte wetten, dass es heute passiert.“

Victor Sawinski tupfte sich mit einem fleckigen Taschentuch den Schweiß aus dem Nacken.

Jan Stettner konnte die Angst seines Partners so deutlich riechen wie den fauligen Gestank, der in der Sommerhitze aus den Kanaldeckeln kroch. Sie fuhren in ihrem weißen Zivilstreifenwagen durch die verlassenen Vorortstraßen von Bad Ems. Die meisten Bewohner der Kurstadt an der Lahn hatten sich an einen schattigen Ort zurückgezogen oder streckten die Füße in die kühle Strömung des Flusses.

Ein großes, kaltes Bier wäre nicht schlecht, dachte Stettner. Oder den Kopf in einen Eimer voll Eiswasser stecken … dann müsste er sich auch nicht mehr Sawinskis unheilvolles Gequatsche anhören.

„Du wirst dir eines Tages selbst ins Bein schießen müssen, um deine Prophezeiungen zu erfüllen“, sagte er. „Seit einer Woche erzählst du mir jedes Mal, wenn du in den Streifenwagen steigst, dass du heute todsicher ins Gras beißt. Was ist los mit dir? Streifenkoller?“

„Die Hitze macht mich fertig.“ Sawinski schaltete die Lüftung auf die höchste Stufe, ohne dass es dadurch merklich kühler im Wagen wurde. „Als ob die Stadt in der Hölle versinkt.“

Stettner presste verdrossen die Hände um das Lenkrad. Tarp ließ sie in der alten Karre ohne Klimaanlage endlos Streife fahren. Wahrscheinlich saß er zur selben Zeit im klimatisierten Büro eines einflussreichen Gönners und schmierte seine Karriere. Vielleicht hatte Sawinski ja recht, und sie waren schon längst in der Hölle gelandet, ohne es zu merken. Dort drehten sie nun für den Rest der Ewigkeit ihre sinnlosen Runden - zwei Skelette in einem rostigen Geisterford.

„Ingrid hat vorhin auf meinem Handy angerufen, als du in der Dönerbude warst“, sagte Sawinski.

„Was wollte sie?“ Stettner zog misstrauisch die Brauen zusammen.

„Weiß ich nicht. Du sollst zurückrufen. Sag mal, warum nennt dich deine Frau eigentlich beim Nachnamen?“

Stettner zuckte mit den Schultern. „Alle machen das. War schon als Kind so.“

Sawinski schüttelte den Kopf und schwieg eine Weile. „Ich hänge diesen beschissenen Job an den Nagel“, sagte er schließlich. „Ich mach was anderes, Kaufhausdetektiv oder Hausmeister, einen harmlosen, normalen Job, bei dem mir kein durchgeknallter Junkie eine Magnum an die Schläfe hält, so wie der Irre vor fünf Nächten.“

Stettner steuerte den Wagen um einen Verkehrskreisel und begann, ihre Routinerunde erneut abzufahren. Er hatte sich also nicht getäuscht, Sawinski kaute noch immer an dem verpatzten Einsatz bei der Tankstelle. Zugegeben … sie waren fast draufgegangen in jener Nacht.

„Wenn du ein Problem hast, sollte ich das wissen.“

„Probleme!“ Sawinski spie das Wort aus wie ein fauliges Stück Fleisch. „Das Problem heißt Rainer Tarp.“

Stettner brummte zustimmend. „Sehe ich genauso. In Koblenz stellen sie eine neue Soko für Gewaltverbrechen auf die Beine. Ich habe mich um den Posten des Teamleiters beworben.“

Überrascht fuhr Sawinski herum. „Mann, das hat Tarp auch getan. Er reißt dir den Kopf ab, wenn er davon erfährt, dass du dich mit ihm um den Job balgst.“

Stettner grinste. „Nicht, wenn ich das Rennen mache.“

Das Funkgerät rauschte und knatterte.

„Wenn man vom Teufel spricht“, sagte Sawinski.

„Wo zur Hölle stecken Sie, Stettner?“ Tarps spröde Stimme schien sogar über Funk den Gestank von kaltem Zigarettenrauch zu verbreiten.

„Ich bin immer wieder erfreut, mit Ihnen zu plaudern, Tarp. Wir fahren uns am Südkreisel die Reifen ab. Womit kann ich Ihr Herz erfreuen?“

„In zehn Minuten will ich Sie in Gräbersberg bei Billinger haben. Und bringen Sie diese Flasche Sawinski mit!“

Rasch überschlug Stettner in Gedanken die Strecke. Gräbersberg war ein verschlafenes Nest zwischen den Hügeln nördlich von Bad Ems. Selbst wenn er raste wie ein Selbstmordkandidat, dauerte die Fahrt mindestens zwanzig Minuten.

„Warum schicken Sie keine Streife, die näher dran ist als wir?“

„In Billingers Steinbruch hat sich ein Verrückter verschanzt, er hat zwei Geiseln in seiner Gewalt. Soll Bender vielleicht mit ihm verhandeln? Ich will, dass Sie das übernehmen.“

„Wir sind unterwegs. Fordern Sie inzwischen in Koblenz ein SEK an.“

„Erklären Sie mir nicht, wie ich meinen Job zu erledigen habe. Soll ich etwa Ihre Hand halten, weil Sie mit diesem Bauernpack nicht allein fertigwerden? Ich gebe Ihnen zehn Minuten.“ Das Funkgerät knackte.

Stettner knallte das Magnetblaulicht auf das Wagendach. Tarp war arrogant und korrupt, aber zugleich ein fähiger Polizist. Sicher hatte er einen guten Grund für seine Nervosität.

„Ich hab’s dir gesagt. Ich spür’s in den Knochen.“

Sawinski drückte sich in den Beifahrersitz, auf seiner Oberlippe perlten Schweißtropfen. Nachdenklich runzelte Stettner die Stirn. Konnte er sich auf seinen Partner noch verlassen?

„Hör schon mit der Unkerei auf.“ Er trat das Gaspedal durch, überquerte am Nordende der Stadt den Fluss und trieb den altersschwachen Ford den Berg hinauf. „Wer ist dieser Billinger?“

Sawinski rief Informationen über sein Smartphone ab. „Tarp meint das Basaltwerk in Gräbersberg. Billinger ist der größte Arbeitgeber im Umkreis. Ohne ihn wäre dieses Nest schon längst eine Geisterstadt.“

„Hört sich nach einem echten Wohltäter an.“

„Freu dich nicht zu früh. Billinger ist einer von Tarps speziellen Freunden.“

Was Sawinski mit einem speziellen Freund meinte, verstand Stettner vierzehn Minuten später. Der Motor des Fords rasselte wie ein Asthmakranker im letzten Stadium, als der Wagen das Ortsschild von Gräbersberg passierte. Billingers Firma lag am westlichen Ende der Ortschaft. Die alten Verwaltungsgebäude aus dunklem Basaltgestein schienen aus einem anderen Jahrhundert zu stammen. Stettner fühlte sich in eine archaische Welt zurückversetzt; als hätte sich der Ford in eine Zeitmaschine verwandelt und sie ins 19. Jahrhundert zurückkatapultiert. Eine Gestalt im blauen Arbeitsdrillich winkte sie aufgeregt durch einen Torweg. Dahinter klaffte die riesige Schüssel des Steinbruchs wie eine Narbe in der üppigen Natur.

Im Schatten eines baufälligen Schuppens parkte Tarps dunkelgrauer BMW. Der ausgezehrte kleine Mann lief nervös auf und ab und rauchte die unvermeidliche Zigarette.

Als Stettner und Sawinski aus dem Wagen stiegen, trat er hastig die halb gerauchte Kippe aus.

„Endlich. Kommen Sie mit.“

Tarp umrundete den Schuppen und deutete auf ein Gewirr aus Förderbändern, monströsen Baggern und Abbaumaschinen. „Er hat sich im obersten Stock der Verladestation verbarrikadiert. Sehen Sie den quadratischen Turm?“

Stettner orientierte sich rasch auf dem fremden Terrain. Eine Schienenspur führte über die Talsohle und endete unter zwei rostigen Silos. Dahinter ragte ein verschachtelter, turmartiger Bau in die Höhe.

„Hat er Forderungen gestellt?“

„Wir sollen ihm seinen Boss auf einem Silbertablett servieren.“

„Was will er von Billinger?“

„Ihn in die Hölle schicken, schätze ich.“

„Hat er gesagt, wie? Ist er bewaffnet?“

„Woher soll ich das wissen? Wozu habe ich Sie denn angefordert?“

Damit ich meinen Hintern für dich riskiere und du die Lorbeeren kassierst, dachte Stettner.

„Wir brauchen ein SEK.“ Sawinski wischte sich den Schweiß von der Stirn.

„Halten Sie die Klappe“, erwiderte Tarp, „ich bestimme, was hier passiert. Ich lasse mich nicht von einem gehörnten Ehemann vorführen.“

Stettner blickte sich nervös um. Kein Streifenwagen weit und breit, der Parkplatz vor dem Firmengelände war leer, und der Steinbruch glühte verlassen in der Sommerhitze. Hatte Tarp den Verstand verloren? Offenbar wusste bisher außer ihnen niemand von der Geiselnahme.

„Victor hat recht.“ Er rieb sich das unrasierte Kinn. „Das Gelände ist zu unübersichtlich. Der Steinbruch gleicht einem Irrgarten.“

„Seit wann sind Sie denn so ein Hasenfuß, Stettner? Hat Sawinski Sie mit seiner Schwarzseherei angesteckt?“

Stettners Partner presste die Lippen zusammen und starrte wie hypnotisiert auf die Verladestation.

„Zu dritt und ohne Schutzwesten da reinzugehen, ist keine gute Idee“, sagte Stettner kopfschüttelnd.

Tarp grinste. „Wer redet von drei Männern? Zwei Verrückte reichen völlig.“

Ein Lichtreflex ließ Stettner herumfahren. Hinter einem der Fenster des Verwaltungsgebäudes stand eine massige Gestalt mit leuchtend rotem Stoppelhaar und beobachtete sie durch Fernglas. Billinger?

„Wir müssen wissen, was in dem Turm vor sich geht. Wie viel Geiseln befinden sich dort oben? Was will der Mann? Wie tickt er?“, überlegte Stettner.

„Er behauptet, zwei Angestellte in seiner Gewalt zu haben. Das scheint zu stimmen. Billinger hat die Anwesenheitsliste der betrieblichen Zeiterfassung kontrolliert. Außer einem Vorarbeiter und einem Lehrling haben alle zum Feierabend abgestempelt. Drei Leute sind im Urlaub, einer hat sich krankgemeldet.“

Stettner schirmte die Augen mit der Hand ab und beobachtete den Steinbruch. Unter dem glasigen, fahlblauen Himmel staute sich die Hitze wie in einem Kessel, der kurz vor der Explosion stand. Er hielt den Atem an und lauschte. Es war totenstill, kein Vogel sang, kein Windhauch regte sich. Auf einem der windschiefen Strommasten hockten drei Raben wie Figuren aus schwarzem Glas und starrten ihn regungslos an.

„Wir können das nicht allein durchziehen.“

Tarp steckte sich eine neue Zigarette in den Mundwinkel. „Hans-Peter Billinger feiert morgen seinen fünfzigsten Geburtstag. Eine Menge Prominenz aus Bad Ems wird erwartet, darunter wichtige Investoren, die einen Haufen Geld in das marode Basaltwerk stecken wollen. Nichts von dieser hässlichen Geschichte darf nach außen dringen, ist das klar? Der Landrat und sein Gefolge werden sich kaum amüsieren wollen, nachdem die Polizei ein Blutbad veranstaltet hat. Fast jeder in Gräbersberg und den umliegenden Dörfern arbeitet bei Billinger. Wenn der Laden dichtmacht, hat das politische Konsequenzen. Also werden wir hier keinen Staub aufwirbeln, ist das klar? Ich kann Sie nicht ausstehen, Stettner, aber Sie sind nun mal der beste Mann für solche kitzligen Angelegenheiten.“

Und der Idiot, der den Kopf hinhalten darf, wenn es schiefgeht. „Was wissen wir über den Täter?“

„Der Mann heißt Ulrich Dreyer. Er hat bis vergangenen Monat im Steinbruch gearbeitet. Billinger hat ihn rausgeworfen. Angeblich hat er ihn beim Saufen erwischt.“

„Und wie lautet der wahre Grund für die Kündigung?“

„Es ist kein Geheimnis, dass Billinger sich systematisch durch die Ehebetten von Gräbersberg vögelt. Ich schätze, sein jüngstes erotisches Abenteuer war ein verhängnisvoller Fehler.“

„Steck dir die Kippe an, damit du nicht so viel redest, Rainer. Und dann holt diesen Idioten aus der Verladestation. Jede Minute Stillstand kostet mich ein verdammtes Vermögen.“

Überrascht fuhren Stettner und Sawinski herum.

Billingers roter Haarkranz leuchtete wie ein brennender Heiligenschein in der tief stehenden Abendsonne. Trotz seiner Leibesfülle hatte er sich ihnen lautlos wie eine Raubkatze genähert. Rasch schätzte Stettner den Unternehmer ein. Er litt unter der bleiernen Hitze, sein Gesicht war fleckig und gerötet. Früher mochte er ein gut aussehender Mann gewesen sein, doch ein ausschweifender Lebenswandel hatte seine Züge entstellt. Stettner spürte ein warnendes Prickeln im Nacken. Dieser Mann wird eines Tages einen Mord begehen, schoss es ihm durch den Kopf.

„Ist das deine ganze Armee?“, fragte Billinger.

„Du willst kein Aufsehen erregen, und daran halte ich mich“, antwortete Tarp hastig. „Stimmt die Geschichte mit Dreyers Frau?“

„Das geht dich nichts an. Hol diesen Irren aus der Verladestation, oder du stolperst über eine angesägte Sprosse in deiner Karriereleiter.“

Neugierig verfolgte Stettner den Streit der beiden Männer. Niemals zuvor hatte er Tarp kleinlaut erlebt, Billinger musste wichtig für ihn sein.

„Sie sollten mit Dreyer reden“, sagte Sawinski.

„Wer hat Sie nach Ihrer Meinung gefragt?“, giftete Tarp.

„Wie viele Zugänge hat der Turm?“, wandte sich Stettner an Billinger.

„Der Haupteingang liegt im Erdgeschoss, direkt neben den Gleisen. Es gibt einen zweiten Zugang auf der Westseite. Aber das Treppenhaus ist so marode, dass der Trakt gesperrt ist. Dann wären da noch drei Förderbandtunnel. Aber die sind nur für Wartungsarbeiten zugänglich. Da passt kaum ein erwachsener Mann durch.“

„Gibt es einen Grundriss der einzelnen Stockwerke?“, fragte Sawinski.

Billinger lachte kollernd. „An den Anlagen haben Generationen von Ingenieuren und Maurern gearbeitet. Der ganze Steinbruch ist so oft umgebaut und erweitert worden, dass kein Mensch alle Gänge und Räume kennt. Hier kann man sich wochenlang verstecken, ohne dass es jemand merkt.“

„Wir brauchen eine Hundertschaft, um das Gelände zu sichern“, sagte Stettner.

Tarp trat seine Kippe im sandigen Boden aus. „Halten Sie die Klappe.“ Er schirmte die Augen mit der Hand ab und starrte auf die in der Sommerhitze flimmernde Grube. „Wer zum Teufel ist das, Hans? Hast du nicht gesagt, alle deine Leute wären längst nach Hause gegangen?“

Stettner wagte sich aus dem Schatten des Schuppens und starrte angestrengt durch die Maschen des Drahtzauns, der die jäh abfallende Steilkante des Steinbruchs sicherte. Eine schlanke Gestalt schlüpfte aus einer Wartungsöffnung des Förderbandtunnels und hetzte gebückt den Schienenstrang entlang. Geschickt nutzte sie die Eisenbahnwaggons als Deckung.

„Das ist der neue Lehrling.“ Billinger steckte die Finger in den Mund und pfiff durchdringend. Die flüchtende Gestalt hielt inne, blickte kurz auf und lief auf die Stahltreppe zu, die von der Talsohle heraufführte. Der Junge war etwa siebzehn Jahre alt. Sein Haar und die blaue Latzhose waren grau vom Steinstaub. Atemlos gelangte er am oberen Ende der Treppe an.

„Dreyer … er ist oben bei der Steinmühle … hat … Oehlinger gefesselt … und … und …“

„Wer ist noch dort?“, schnitt ihm Tarp das Wort ab.

Der Junge schüttelte erschöpft den Kopf. „Niemand. Nur Dreyer … und Oehlinger. Ich hab den Strick durchgescheuert, mit dem er mich gefesselt hatte … und dann … konnte ich abhauen, als er … er hat …“ Er stützte die Hände auf den Knien ab und übergab sich.

Stettner blickte zum Turm der Verladestation. Im obersten Stockwerk, direkt unter dem Blechdach, musste es heiß wie in der Vorhölle sein. „Bringen Sie ihn in den Schatten. Und sorgen Sie dafür, dass er ausreichend zu trinken bekommt. Rufen Sie einen Krankenwagen.“

Billingers Kopf nahm die Farbe einer Aubergine an. „Weiß dein Hilfspolizist überhaupt, mit wem er redet? Ich …“

„Mach, was er sagt“, sagte Tarp gereizt. „Überlass uns den Rest.“

Der Junge versuchte es noch einmal. „Dreyer hat …“

„Ist er bewaffnet?“, unterbrach ihn Tarp.

„Nein. Aber …“

„Mehr will ich nicht wissen. Bring den Jungen in Sicherheit.“

Billinger legte dem Lehrling die Hand auf die Schulter. „Du hast nichts gesehen und nichts gehört, klar?“

„Sawinski nimmt die Treppe. Sie gehen durch den Förderbandtunnel, Stettner.“

„Du bleibst hier, Victor. Er kann dich nicht zwingen.“

„Was soll das, Stettner? Proben Sie den Aufstand? Es wird mir eine Freude sein, Sie zu suspendieren.“

„Die Aktion ist gefährlicher Leichtsinn. Ich werde nicht meinen Kopf riskieren, weil Ihr Gönner Ihnen droht, Steine in den Weg zu legen.“

„Es reicht, Stettner.“

„Ich werde gehen.“ Sawinski zog seine Waffe aus dem Schulterholster und hetzte die Treppe hinunter.

„Victor! Warte!“

„Na los, Stettner. Passen Sie auf, dass sich Ihr Freund nicht die Eier abschießt.“

Stettner achtete nicht auf Tarp. Er folgte Sawinski, zog seine Dienstwaffe und näherte sich im Schutz des Güterzuges der Verladestation. Zwischen zwei Waggons holte er Sawinski ein. „Spiel nicht den Helden, Victor. Du musst ihm nichts beweisen. Er hat kein Recht, uns einer solchen Gefahr auszusetzen.“

Sawinski war leichenblass, seine Augen flackerten fiebrig.

„Ich gehe da jetzt rein, oder ich kann nie wieder eine Uniform anziehen. Ich habe dir nie erzählt, was bei der Tankstelle wirklich passiert ist. Während du im Kassenhaus warst, bin ich im Wagen eingeschlafen. Ich wurde erst wach, als der verdammte Junkie mir die Magnum an die Schläfe hielt. Ich hab geglaubt, es ist aus. Peng! Und der Irre drückt einfach ab. Jede Nacht träume ich von seinen Augen. Der war total durchgeknallt. Wenn ich jetzt kneife, schmeiß ich meinen Job hin. Ich muss da reingehen, verstehst du das?“

Stettner biss sich auf die Lippe. Für ein solches Geständnis gab es kaum einen unpassenderen Augenblick, aber er würde Sawinski nicht im Stich lassen. Abhalten konnte er ihn von diesem Wahnsinn ohnehin nicht. Was hatte Tarp gesagt? Passen Sie auf, dass der Idiot sich nicht die Eier abschießt. Genau das würde er jetzt tun müssen.

„Ich nehme den Förderbandtunnel. Versuch, Dreyer hinzuhalten. Sag ihm, Billinger sei unterwegs. Aber geh nicht allein zu ihm rein.“

Sawinski wankte wie ein Grashalm in einem Sommersturm. Er zog seine Jacke aus und warf sie Tarp zu, dann wischte er sich die schweißnassen Hände an der Hosennaht ab und spurtete geduckt auf den Eingang zu.

Stettner suchte die Wartungsklappe, die der Junge benutzt hatte, und zwängte sich in den engen Schacht.

***

Tarp zündete sich eine Zigarette an und beobachtete durch ein Fernglas die staubigen Fenster der Verladestation.

„Mach dir keine Sorgen wegen der Party morgen. Wir haben alles unter Kontrolle. Niemand wird von dem kleinen Zwischenfall erfahren.“

„Ich hoffe für dich, du weißt, was du tust.“

„Ja, das weiß ich. Sag mal, welche Funktion hatte Dreyer im Betrieb inne?“, fragte Tarp.

„Er war unser Sprengmeister, wieso? Ist das wichtig?“

Der Lehrling kehrte aus dem Hauptgebäude zurück und reichte Tarp eine Wasserflasche.

„Ich muss Ihnen noch was sagen.“

„Mach, dass du nach Hause kommst“, knurrte Billinger. „Und zu niemandem ein Wort, sonst kannst du dir deine Papiere abholen.“

Der Junge beachtete ihn nicht. „Dreyer hat alles vermint. Er hockt da oben auf zwölf Kisten TNT. Ein Funke reicht aus, und der ganze Steinbruch geht hoch!“

Tarp fuhr herum. “Warum hast du das nicht gleich gesagt, du Idiot?“

„Sie haben mir ja nicht zugehört“, schrie der Junge. „Hier fliegt gleich alles in die Luft!“

Der Förderbandtunnel glich einem Schlauch aus Blech, der in steilem Winkel nach oben führte. Neben dem Transportband, das Basaltgestein in die Steinmühle im oberen Stockwerk der Verladestation beförderte, verlief ein schmaler Gitterroststreifen, auf dem Stettner sich nach oben vorarbeitete. Der Wartungsgang war so niedrig, dass er nur gebückt gehen konnte. Zehn Meter vor dem oberen Ende des Tunnels musste er schweißüberströmt eine Pause einlegen.

Aus dem Maschinenraum über ihm drang eine heisere Stimme zu ihm herunter. Jemand schrie immer wieder Billingers Namen. Dreyer war offenbar stockbetrunken. Er fluchte über Billingers unersättliche Sexgier, nannte ihn ein Schwein und einen Tyrannen, der Gräbersberg seinen dreckigen Fuß in den Nacken stellte.

Stettner presste sich flach auf den heißen Gitterrost und robbte lautlos weiter, bis er das Ende des Tunnels erreicht hatte. Bevor er einen Blick riskieren konnte, flog die Tür des Treppenhauses auf.

Sawinski stürmte mit vorgehaltener Waffe in den Maschinenraum. „Fallen lassen! Auf den Boden runter! Los, auf den Boden!“ Seine Stimme überschlug sich und ging in Dreyers irrem Lachen unter.

Stettner zog seine Waffe und streckte vorsichtig den Kopf aus dem Tunnel. Sein aufgeheiztes Blut verwandelte sich in Eiswasser. Die Steinmühle bestand aus zwei tonnenschweren Stahlwalzen, die um eine zentrale Achse liefen. An die vordere Walze war ein glatzköpfiger Mann gefesselt. Er war leichenblass und schien kaum bei Bewusstsein.

Dreyer saß auf einem Stapel Dynamitkisten. In einer Hand hielt er eine Stange TNT, in der anderen ein brennendes Benzinfeuerzeug. Ein Funke reichte aus, um sie alle auf der Stelle zu töten.

„Lassen Sie den Sprengstoff fallen“, schrie Sawinski.

Dreyer lachte kreischend und bückte sich ruckartig nach der Schnapsflasche, die vor ihm auf dem Boden stand. Sawinski drückte überhastet ab, aber aus der geringen Distanz konnte er nicht danebenschießen. Die Kugel drang in Dreyers Gehirn und tötete ihn augenblicklich. Das Feuerzeug flog in einem eleganten Bogen durch die Luft und landete in einer offenen Dynamitkiste.

Stettner wirbelte in den Förderbandtunnel zurück. Die Detonation war so gewaltig, dass er sekundenlang keine Luft bekam. Das Holzdach des Turms hob ab wie eine Silvesterrakete, die Verankerungen des Förderbandtunnels rissen aus dem Beton, und der Blechtunnel knickte ein wie ein Kartenhaus. Träge neigte sich die Stahlkonstruktion zur Seite und kippte. Stettner rutschte den Gitterroststeg hinunter und stürzte in einen der offenen Güterwaggons. Über ihm brach der Tunnel zusammen. Eine riesige Blechverkleidung krachte donnernd auf den Waggon, verkeilte sich und rettete ihm das Leben. Basaltbrocken, Mauerteile und Stahlträger prasselten auf das dicke Blech.

Irgendwann drang das Geheul eines Martinshorns durch das Pfeifen in seinen Ohren. Stettner kletterte aus dem Waggon und wankte durch ein Trümmerfeld. Die Explosion hatte weniger Schaden angerichtet, als er angenommen hatte. Außer dem Fachwerkturm der Verladestation schien der Steinbruch intakt. Blaulicht fetzte durch die einsetzende Dämmerung, mehrere Polizeifahrzeuge und ein Notarztwagen näherten sich über die Zufahrt.

Tarp sprang um den tobenden Billinger herum wie ein grauhaariges Rumpelstilzchen. Sein BMW war staubbedeckt und mit Beulen übersät, als wäre er durch einen Hagelschauer gerast.

Stettner schüttelte den Kopf, um das Pfeifen und Klingeln in seinen Ohren zu vertreiben. Wo war Sawinski? Hatten Dreyer und die Geisel die Explosion überlebt? Das war mehr als unwahrscheinlich.

Tarp fuhr herum und glotzte ihn an wie den einzigen Überlebenden eines Atombombenangriffs. „Verdammt, Stettner! Sie besitzen mehr Leben als eine Katze.“

Stettner versuchte, zu antworten, hörte aber kaum seine eigene Stimme. Ausgepumpt ließ er sich auf der Motorhaube des BMW nieder.

Tarp grinste mit der Kippe zwischen den Zähnen, als wäre das alles ein großer Spaß. „Sie sind draußen, Stettner. Endlich. Diese Aktion bricht Ihnen das Genick.“

„Das war Ihre Aktion! Sie hatten den Oberbefehl. Sie haben Victor auf dem Gewissen!“

„Ach, tatsächlich? Sie waren es doch, der Sawinski zu diesem Selbstmordkommando angestachelt hat. Sie konnten ja das Eintreffen des SEK nicht abwarten. Tja, sieht schlecht für Sie aus. Ich hatte Sie Sawinski als Partner zugeteilt, weil Sie älter und erfahrener sind. Und was tun Sie? Sie lassen zu, dass er sich vor Ihren Augen in die Luft jagt.“

„Sie verdammter Lügner!“

„Passen Sie auf, was Sie sagen. Billinger hat bereits zu Protokoll gegeben, dass Sie eigenmächtig und entgegen meiner ausdrücklichen Anweisung die Verladestation gestürmt haben. Wenn ich um Ihre Waffe und den Dienstausweis bitten darf? Und zerkratzen Sie mir nicht den Lack, der andere Trottel hat bereits Schaden genug angerichtet.“

Was Stettner nun tat, war unvermeidlich. Irgendwann musste es passieren, und der Augenblick war da. Er schnellte vor und ließ seine Faust auf Tarps Nase krachen. Durch die Wucht des Schlages stolperte der Kommissar zurück und fiel in den Staub. Er presste die Hand auf die zerschlagene Nase, um den Blutschwall zu stoppen.

„Das war’s, Stettner“, sagte Tarp. „Sie hätten mir keinen größeren Gefallen tun können. Sie sind erledigt.“

Stettner achtete nicht mehr auf ihn. Aus den Augenwinkeln nahm er verschwommen wahr, wie zwei Sanitäter mit einer aufblasbaren Trage auf den Notarztwagen zuliefen. Auf der Bahre schaukelte ein blutiges Bündel, in dem er mit Mühe Sawinski erkennen konnte. Offenbar glomm noch ein schwacher Lebensfunke in ihm.

Stettner wankte zu dem verbeulten weißen Ford und fuhr los, um Sawinskis Frau zu erklären, warum ihr Mann heute nicht nach Hause kommen würde. Anschließend musste er sich einen neuen Job suchen.

3

Hätte Sammy ihre Show vor vierhundert Jahren auf einem Jahrmarkt abgezogen, wäre sie auf dem Scheiterhaufen gelandet. In diesem abgeschiedenen Nest zwischen den schroffen Hügeln des Westerwalds sah ihr nicht einmal der pensionierte Dorfpolizist auf die Finger. Die Polizeistation in der Ortsmitte existierte seit einem Jahr nicht mehr, inzwischen bot ein Friseur in dem Backsteingebäude seine Dienste an. Was die Beschaffung und Weitergabe von Informationen anbelangte, so arbeitete er ungemein effizienter als die Polizei.

Sammy mischte sich aus einem einzigen Grund unter die geladenen Gäste. Sie hatte den widerspenstigen Koffer im Fluss verloren. Vermutlich hatte die Strömung ihn bereits flussabwärts gespült – wenn das Wiesel die Beute nicht geborgen hatte. Sie musste davon ausgehen, dass sein Kumpel das Bad in der Lahn überlebt hatte und die beiden Diebe ihr längst auf den Fersen waren. Sie wussten jetzt, dass Sammys kleiner Trick wertvoller war als die aufgeweichten Scheine, die dem Rhein entgegentrieben. Sie brauchte Geld, eine Menge Geld, und das möglichst schnell. Die Welt war groß und bunt, und der Boden in Bad Ems wurde ihr entschieden zu heiß unter den Füßen.

Ihr erstes Opfer an diesem Abend war kein großer Fang, eher eine Fingerübung, um sich einzustimmen und die Sinne zu schärfen. Sie warf einen Blick hinauf zu der Villa mit dem überdachten Vorbau aus Basaltsäulen. Hans-Peter Billinger, Chef des einzigen Betriebes von Bedeutung in der Umgebung von Gräbersberg, feierte seinen fünfzigsten Geburtstag. Er bewirtete im Hof großzügig seine Belegschaft, deren Angehörige und alle Bewohner des Dorfes, die Lust verspürten, mit ihm zu feiern. So gut wie alle Einwohner des Ortes waren gekommen. Im Umkreis lebte niemand, der nicht in irgendeiner Form von Billinger abhängig war. Niemand wagte es, sich seinen Unmut zuzuziehen, zumal sich der ungekrönte König von Gräbersberg heute überaus freigebig zeigte.

Brot und Spiele, dachte Sammy amüsiert. Das Brot verteilte Billinger in Form von Bier und Grillkoteletts an das arbeitende Volk, während die Spiele den lokalen Größen aus Politik und Wirtschaft vorbehalten blieben. Die Tische bogen sich unter der Last von Fleischplatten, Salatschüsseln und Suppenkesseln.

Hinter dem Cateringstand führte eine Nebeneingangstür zum Wellnessbereich im Kellergeschoss der Villa. In dem großen, beheizten Pool schwammen die wirklich dicken Fische. Angespannt wartete Sammy auf eine Gelegenheit, in die dekadente Welt jenseits der Säulen eintauchen zu können.

Kurz entschlossen hatte sie den Job als Aushilfskellnerin angenommen. Weniger, um ihr Versprechen einzulösen, einer ehrlichen Arbeit nachzugehen, sondern weil sie auf diese Weise ausreichend Gelegenheit für neue Diebeszüge erhielt.

Sie stellte das Tablett mit den leeren Schnapsgläsern ab und griff nach der Hand des Ortsbürgermeisters, dem die sanfte Berührung nach acht Gläsern Bier vermutlich ein unverhofftes Kribbeln durch den Unterleib jagte. Sammy ließ sich neben Jakob Gonsbach auf der Holzbank nieder und achtete darauf, dass ihr Schenkel seine Hüfte streifte. Bevor sie ihn ansprach, spulte sie die Informationen ab, die sie über Gonsbach zusammengetragen hatte. Ende fünfzig, geschieden, zwei erwachsene Kinder, ein Drittes war mit einer Überdosis Heroin in den Venen vom Dach eines Parkhauses gesprungen. Er war Zigarrenraucher, Liebhaber alter Traktoren und jeden Samstagabend sternhagelvoll. Mit gespieltem Interesse studierte sie die tief eingegrabenen Linien in seiner Handfläche.

„Was wird das? Wollen Sie kontrollieren, ob ich mir vor dem Essen die Finger gewaschen habe?“, fragte er scherzend.

Sammy ignorierte das Gelächter ringsum.

„Einer Umfrage zufolge glaubt jeder Zweite an das Übersinnliche – Kartenlegen, Wahrsagen und Horoskope.“ Leicht besorgt runzelte sie die Stirn, als hätte sie in seiner Hand ein bedrohliches Schicksal entdeckt. „Es kann nie schaden, wenn man weiß, was auf einen zukommt. Finden Sie nicht auch?“

„Wir stehen in Gräbersberg fest auf dem Boden der Tatsachen“, antwortete Gonsbach.

Mehrere Gäste nickten heftig und prosteten ihm mit ihren Bierkrügen zu.

Sammy pustete eine vorwitzige blonde Locke aus der Stirn. „Wir werden sehen. Meine Großmutter war ein bekanntes Medium.“

„Is nich’ lang her, da ham wir hier noch Hexen verbrannt. Ein paar heiße Kohlen liegen bestimmt noch auf’m Grill“, lallte ein Mann, dessen Adamsapfel beim Sprechen wie ein Tennisball auf und ab hüpfte.

Gelächter auf den Bänken.

„Mach schon, Jakob! Oder hast du Angst, sie findet was raus, das wir nich’ hören soll’n?“

Sie achtete nicht auf die gaffenden Männer und umfasste mit beiden Händen Gonsbachs Rechte.

„Konzentrieren Sie sich. Denken Sie sich eine zweistellige gerade Zahl zwischen fünfzig und hundert. Die beiden Ziffern dürfen nicht identisch sein – also keine achtundachtzig.“ Sie zwinkerte ihm zu. „Ich wette, ich kann Ihre Wahl vorhersagen.“

Gonsbach griff mit der freien Hand nach seinem Bierglas. „In Ordnung. Schieß los.“

Sammy blinzelte, schloss die Augen und streckte Gonsbach ihre halb geöffneten Lippen entgegen. Der zarte Vanilleduft ihres Parfums und ihre verlockende Nähe verfehlten ihre Wirkung nicht. Sie hob die Lider einen Spalt und studierte blitzschnell die verräterischen Einzelheiten an seiner Haltung, der Kleidung, seine Gesten und kleinste Veränderungen in seinem Mienenspiel. „Achtundsechzig“, sagte sie leise in sein Ohr.

Gonsbach verschluckte sich an seinem Bier, prustete und riss überrascht die Augen auf. „Das gibt’s doch nicht. Wie hast du das gemacht?“

Sie lächelte zufrieden und zeichnete spielerisch mit dem Finger die Linien in seiner Handfläche nach. „Wollen Sie noch mehr erfahren? Ich sage Ihnen doch, ich kann sehen, was die Zukunft bringt.“

Aufgeregt wischte sich Gonsbach den Bierschaum von den Lippen und schenkte ihr seine ganze Aufmerksamkeit. Sammy verkniff sich ein Grinsen. Es war so leicht, die Leute hinters Licht zu führen. Vor allem, wenn man über eine angeborene Intuition verfügte, die im entscheidenden Moment wie ein Laserscanner funktionierte, der die innere Welt ihres Opfers abtastete wie einen Strichcode.

Der Mann mit dem hüpfenden Adamsapfel schlug sich krachend auf die Schenkel. „Pass bloß auf, Jakob! Die verrät uns noch, in welchem Puff du gestern Nacht wieder rumgehurt hast.“

Diesmal machte das einsetzende Gelächter Gonsbach sichtlich nervös. Er wirkte verwirrt und ein wenig ängstlich, aber gleichzeitig wissbegierig, ob Sammy tatsächlich etwas über seine Zukunft herausfinden konnte. Kurz, er zappelte wie ein Karpfen an der Angel; nicht so fett wie die Fische in Billingers Pool, aber dennoch eine lohnende Beute.

Vor Sammys Augen liefen im Zeitraffer die gesammelten Eindrücke ab; die schlecht gebügelte braune Hose, die beiden Knöpfe an seinem karierten Hemd, die nicht zueinanderpassten, der überraschte Blick, als sie sein Handgelenk berührt hatte, in dem Verlangen und eine versteckte Traurigkeit gelegen hatten. Nun musste sie ihr Wissen nur noch in allgemeingültige Sätze formen; Aussagen, wie sie in den Horoskopen der Tageszeitungen zu finden waren und in denen sich jeder in irgendeiner Form wiederfand.

„Mach es nicht so spannend“, rief der hüpfende Adamsapfel.

Sammy lächelte geheimnisvoll und beugte sich vor, bis ihre Nasenspitze beinahe Gonsbachs Wange berührte.

„Du hast jemanden verloren, der dir nahestand, sehr nahe“, sagte sie leise, „aber deine Einsamkeit wird bald vergehen. Da gibt es eine Frau, die ein Amt bekleidet wie du, ein wichtiges Amt, das sie ernsthaft und mit Freude ausfüllt. Sie wird deine Zuneigung erwidern, wenn du die richtigen Worte findest. Du wirst sie leicht erobern, denn ihr seid Seelenverwandte. Es gibt noch mehr, was ich dir verraten könnte, aber manchmal ist es nicht gut, zu viel über die eigene Zukunft zu wissen. Du weißt genug, um deinen Weg zu gehen.“

Rasch zog sie sich zurück und wartete auf seine Reaktion. Manchmal irrte sie sich in der Einschätzung eines Menschen, aber das kam selten vor. Trotzdem blieb der Augenblick des Wartens jedes Mal ein Nervenkitzel.

„Was hat sie dir ins Ohr geflüstert, Jakob? Du bist ja ganz rot geworden.“

Die meisten Männer im Umkreis waren bereits angetrunken und hätten nur allzu gern mit Gonsbach getauscht.

„Halt die Klappe, Ferger.“ Gonsbach drehte sich zu ihr um. „Geht das auch konkreter?“

Sie legte den Kopf schief. „Mal sehen. Wie wär’s mit etwas Zahlenmagie?“

Gonsbach angelte den Bierkrug vom Tisch und trank ihn in einem Zug aus. „Von dir lasse ich mich jederzeit verzaubern.“

Innerhalb weniger Minuten kannte Sammy seine Lieblingszahlen, sein Geburtsdatum sowie das seiner geschiedenen Frau. Außerdem eine Reihe vielversprechender Informationen, wie das Datum seines Hochzeitstages, seine Schuhgröße und die Ziffern auf dem Nummernschild seines Wagens. Sie bat ihn, drei vierstellige Zahlenfolgen zu nennen, die er für bedeutsam in seinem Leben hielt. So filterte sie die Zahlen heraus, die in Gonsbachs Leben eine Rolle spielten. Ohne es zu ahnen, hatte er ihr mit hoher Wahrscheinlichkeit die Geheimzahlen seiner Kreditkarten und die PIN-Nummer seines Mobiltelefons verraten.

Sie besaß ein gut trainiertes Erinnerungsvermögen und legte die Zahlenkombinationen in einem Winkel ihres Gedächtnisses ab wie im Speicher eines Computers. Um die Kreditkarten würde sie sich später kümmern. Sie gehörten zum zweiten Teil ihrer Masche. Im Augenblick wusste sie genug über ihn, um ihm nun von einer Zukunft zu berichten, nach der er sich sehnte. Dabei genoss sie das berauschende Gefühl, ihn mit einem Fingerschnippen dirigieren zu können wie einen folgsamen Hund.

Das Klirren zerbrechender Biergläser zerstörte die Magie des Augenblicks.

„Samantha! Ich unterbreche deinen Plausch nur ungern, aber wäre es möglich, dass du zur Abwechslung mal arbeitest?“

Sammy zwinkerte dem paralysierten Bürgermeister zu. „Tut mir leid. Wir müssen ein anderes Mal weitermachen.“ Sie schnappte sich das Tablett mit den leeren Gläsern und eilte zum Cateringstand hinüber.

Sylvie kehrte bereits die Scherben zusammen. Ihre weiße Schürze war am Rand eingerissen, in ihrem feuerroten Gesicht spiegelten sich Zorn und Empörung.

Margot, Sammys Chefin, stellte ein neues Tablett mit Champagnergläsern und einer Auswahl an Longdrinks zusammen.

Sylvie warf einen ängstlichen Blick auf das Tablett. „Ich geh da nicht wieder rein.“

„Was ist passiert?“, fragte Sammy.

„Stell dich nicht so an. So viel Trinkgeld an einem Abend kannst du den ganzen Sommer lang nicht mehr kassieren“, schimpfte Margot.

Sylvie knallte die Schaufel auf den Holztisch. „Ich lass mich nicht begrapschen wie eine Nutte.“

Vorsichtig nahm Sammy das Tablett mit den Drinks auf. „Ist schon okay. Ich gehe. Mir macht das nichts aus.“

Endlich bekam sie Gelegenheit, sich das Treiben im Pool der Villa anzuschauen. Bevor Margot sie zum Spülen abkommandieren konnte, war Sammy durch den Nebeneingang ins Haus geschlüpft. Es war kurz vor halb zwölf, nicht mehr lange bis Mitternacht. Während sich der Hof von Billingers Villa allmählich leerte, begann im Kellergeschoss hinter verschlossenen Türen die eigentliche Party.

Sammy stieß die Milchglastür auf und balancierte das Tablett in den Wellnessbereich. Ihr stockte der Atem. Über die Agentur, die das Fest für Billingers Geschäftsfreunde ausrichtete, kursierten wilde Gerüchte, die sie für Aufschneidereien gehalten hatte. Die Wirklichkeit war jedoch weitaus beeindruckender als das Geschwätz der Leute. Das glitzernde Wasser im Pool erstreckte sich über eine Länge von fünfundzwanzig Metern und wurde vom Feuerschein Dutzender Fackeln erleuchtet. Auf den seichten Wellen tanzten Rosenblüten und Seerosen. Die Organisatoren hatten den Poolbereich in die Kopie eines römischen Festsaals verwandelt. Entlang des Schwimmbeckens reihten sich Säulenattrappen aneinander. An den Wänden standen Ruheliegen und täuschend echte Nachbildungen römischer Statuen, die ausschließlich erotische Motive darstellten. Der gekachelte Boden war mit exotischen Tierfellen ausgelegt. Durch geschickte Aufteilung hatte man eine Reihe von Separees geschaffen, die mit roten Seidenvorhängen vom Poolbereich abgetrennt waren. Aus einem dieser Separees trat in diesem Augenblick eine der schönsten Frauen, die Sammy je gesehen hatte. Sie war nur mit einem durchsichtigen Schleier bekleidet, der keinen Platz mehr für Fantasie ließ.

„Was glotzt du so?“

Sammy fuhr herum.

Der Mann mit dem eisgrauen Haar hatte sich unbemerkt angeschlichen. Er war von kleiner, ausgezehrter Statur und paffte nervös eine Zigarette. Sie spürte sofort, dass sie ihn mit ihren Hellsehertricks nicht beeindrucken konnte.

„Stell das Tablett ab. Dann sie zu, dass du rauskommst“, schnauzte er sie an.

Fieberhaft suchte Sammy nach einer Möglichkeit, an Billinger heranzukommen. Aus dem Separee hinter ihr drangen Geräusche, die sie an das Grunzen eines Wildschweins erinnerten. Jemand schrie ängstlich auf. Eine klatschende Ohrfeige ließ die helle Frauenstimme verstummen.

Bevor Sammy das Tablett abstellen konnte, riss ein untersetzter Mann mit feuerrotem Haar den Vorhang zur Seite. Grob zerrte er ein Mädchen von knapp zwanzig Jahren hinter sich her und stieß es in den Swimmingpool. Sie schluckte Wasser und paddelte ungeschickt auf den Beckenrand zu. Der Dicke torkelte grinsend an den Pool heran und trat nach der Hand des Mädchens, das sich Halt suchend an die rutschigen Kacheln klammerte.

„Ungeschicktes Luder“, lallte er.

Sie ging unter und tauchte nach Luft ringend wieder auf. Der Dicke hob seinen Fuß und versuchte torkelnd, den Kopf des Mädchens zu treffen.

Sammy schaltete blitzschnell.

„Möchten Sie einen Drink? Piña colada, Tequila oder einen Manhattan?“

Erregt drehte er sich um und prallte mit Sammy zusammen. Die Gläser fielen klirrend auf die Bodenfliesen, das Tablett landete im Pool.

„Was will die hier?“, fragte er und schnaufte.

„Bedienung“, antwortete der Grauhaarige.

Achtlos warf er seine Kippe auf den Boden und trat sie mit der Schuhspitze aus. „Hol neue Getränke, und stell dich beim nächsten Mal nicht so dämlich an.“

Sammy achtete nicht auf ihn. Der Dicke musste Billinger sein – er hatte das Kommando, bezahlte die Party und führte sich auf wie ein Schwein, weil er es sich leisten konnte. Wie die meisten männlichen Gäste trug er eine alberne venezianische Maske, die die Augenpartie bedeckte und nur die wulstigen Lippen frei ließ. Von seinem Hinterkopf standen die roten Haare ab wie die Stacheln eines Igels.

„Ich biete mehr Service als abgestandene Drinks“, sagte Sammy herausfordernd.

Der Grauhaarige streckte die Hand aus und packte sie an der Schulter. „Ich schmeiß sie raus.“

„Nein, warte.“

Der Mann, von dem Sammy vermutete, dass es sich um Billinger handelte, zog die Lippen in die Breite und zeigte blendend weiße Zähne, die künstlich aufgehellt waren – ein sicheres Zeichen von Geld, viel Geld.

„Ich bin sicher, die Dame ist eine Bereicherung für unser Fest. Besorg uns was zu trinken.“

Im Mundwinkel des Grauhaarigen zuckte ein Nerv. Einen Moment lang schien es, als wollte er sich widersetzen, aber dann eilte er wortlos auf den Ausgang zu.

„Das ist nur Tarp, unser Wachhund“, erklärte Billinger vergnügt. „Er macht sich gern wichtig.“ Grob riss er den Vorhang des Separees zur Seite. „Hau ab, du langweilst mich“, rief er einem Mädchen zu, das sich nackt auf einem Wasserbett rekelte.

Auch seine Schönheit verschlug Sammy den Atem. Wie konnte sich ein Mann mit einem solchen Spielzeug langweilen? Die Prostituierte streifte einen Bademantel aus blauer Seide über und verschwand wie ein Schatten in der Sonne.

Billinger begaffte Sammy geil. „Bist nicht so prüde wie deine Kollegin“, stellte er fest.

„Abwarten.“ Sie setzte sich probeweise auf das Wasserbett. Ihr Herz trommelte einen schnellen Wirbel gegen ihre Brust. Das gefährliche Spiel erregte sie und flößte ihr zugleich Angst ein.

Der Vorhang raschelte. Plötzlich stank es durchdringend nach kaltem Zigarettenrauch. Billinger nahm von dem Grauhaarigen ein Tablett mit Champagnerkelchen entgegen, stellte es auf eine niedrige Marmorsäule und reichte Sammy ein Glas. Seine Hand zitterte leicht. Champagner spritzte über den Rand des Kelches und perlte über seinen Handrücken.

„Ich hasse diese engen Separees, man bekommt kaum Luft.“ Er kicherte wie ein kleiner Junge. „Aber was soll ich machen? Meine Gäste legen Wert auf Privatsphäre.“

Er trank das Glas in einem Zug aus und stellte es auf das Tablett zurück. „Heute ist dein Glückstag. Du kannst in einer halben Stunde mehr verdienen als mit deinem Kellnerinnenjob in einem ganzen Monat.“ Gierig streckte er die Hand nach Sammys Oberschenkel aus. „Das Kapital dazu bringst du mit. Du bist so … lebendig. Nicht so kalt wie die Scheißnutten da draußen.“

Wie fette Schnecken krochen Billingers Finger über Sammys nackten Schenkel. Er schwitzte, sein Atem ging stoßweise und stank nach Fisch und Alkohol.

Sammy bezwang ihre aufsteigende Panik und schob seine Hand fort. „Nicht so hastig. Lass uns erst ein Spiel spielen.“

Jemand zog den Vorhang zur Seite. Eine üppige Brünette streckte den Kopf in das Separee.

„Raus“, brüllte Billinger.

Sammy nutzte die Ablenkung, um von ihm wegzurücken. Die Magie des Augenblicks war zerstört. Schnaufend drehte er sich nach ihr um und stürzte ein zweites Glas Champagner hinunter.

Sie strich über seine Lippen und leckte sich den Finger ab. „Ich kann dir deine Zukunft vorhersagen.“

Er lachte dröhnend. „Mich interessiert eher die Gegenwart.“ Er streckte seine behaarte Hand nach ihrem blonden Lockenschopf aus und zog ihren Kopf zu sich heran. Sein Griff war eisenhart und fordernd. Durch die Öffnungen der Maske wirkten seine grauen Augen unnatürlich vergrößert. Sammy erschrak. In ihnen lauerte nicht nur Herrschsucht, sondern auch die unstillbare Leidenschaft für Grausamkeit und der zwanghafte Drang, Menschen zu quälen und ihnen Schmerzen zuzufügen.

Sie setzte ihren ganzen Charme ein. „Lass es mich versuchen. Das ist mein Preis.“

Unwillig zuckte er mit dem Mundwinkel. „Na schön.“

Sammy zog ihre Show ab.

Billinger wählte die Achtundsechzig und gab ein verblüfftes Grunzen von sich. Seine Neugier war geweckt. Sammy beging mehrere Fehler, weil ihre Gedanken sich bereits mit einem möglichen Fluchtweg beschäftigten. Dennoch hatte er ihr nach zehn Minuten vier Zahlenkombinationen verraten. Was sie tatsächlich wert waren, würde sich später erweisen.

Er stürzte einen Alligator hinunter, in den reichlich Curaçao gemixt war, und knöpfte sich das Hemd auf.

Es wurde Zeit für Sammy, das Spiel mit dem Feuer zu beenden. Doch bevor sie reagieren konnte, presste er sie auf das Wasserbett. Sie glaubte, zu ersticken, als sich der Hundert-Kilo-Koloss auf sie wälzte. Angewidert spürte sie seine verschwitzten Hände auf ihrer Haut.

„Schluss mit der Fragerei. Jetzt … zeige … ich dir ein Spiel.“

Umständlich nestelte er an seiner Hose herum.

Sie geriet in Panik und versuchte, sich unter ihm hervorzuwinden.

Billinger krallte seine Finger um ihren Hals und drückte sie auf das gluckernde Wasserbett. Panisch versuchte sie, sich an seinen schwachen Punkt zu erinnern. Er hatte deutlich verraten, wovor er sich fürchtete, aber sie konnte sich nicht konzentrieren. Er zerrte an ihrem Slip und trieb seine Fingernägel tief in ihr Fleisch. Wovor fürchtet sich dieser mächtige und rücksichtslose Mann? Denk nach! Ihr Kopf fühlte sich leer und taub an, vor ihren Augen tanzten bunte Flecken. Sie hatte gewusst, dass es irgendwann schiefgehen würde. Aber noch war der Tag nicht gekommen. Plötzlich sah sie Billingers größte Furcht klar vor sich.

„Wenn du deine Finger nicht von mir nimmst, werden sie dich in eine Zelle stecken und die Tür zumauern; in eine verdammt kleine Zelle, so klein, dass du dich nicht umdrehen kannst und ersticken wirst wie ein fetter Wal, den das Meer an den Strand gespült hat!“

Billinger gab ein ersticktes Kieksen von sich. Die venezianische Maske war verrutscht und entblößte einen Teil seiner Wangen. Er war plötzlich kreidebleich geworden. Kraftlos rutschte er vom Wasserbett und stieß im Fallen das Tablett um. Die Champagnerkelche zerbrachen klirrend.

„Verfluchte Hexe.“

Schwankend kam er auf die Beine, riss den Vorhang aus den Halterungen und stürmte nach Luft ringend hinaus.

Hastig notierte sie auf ihrem Bestellblock die Zahlenkombinationen, die er ihr verraten hatte. Als sie sich umdrehte, erschrak sie. Sie war nicht allein.

Eines der Callgirls blickte ihr über die Schulter. Sie war etwa so groß wie Sammy und von zierlichem Körperbau. In das glänzende pechschwarze Haar waren Dutzende Rastazöpfe geflochten, über der rechten Braue trug sie einen kleinen goldenen Piercingring. Neugierig blickte sie Sammy mit ihren leicht schräg stehenden Augen an. „Coole Nummer.“ Sie warf einen raschen Blick auf den Schreibblock in Sammys Hand. „Kann mir denken, was du damit vorhast.“

„Was willst du?“

„Ich hab euch belauscht. Bring mir bei, wie du das anstellst. Ich besorge uns ein paar Typen, die wir ausnehmen können. Davon gibt’s hier jede Menge.“ Ihre Lippen bewegten sich lautlos, als sie die Zahlen ablas. „Funktioniert das wirklich?“

„Ja.“

„Mach’s noch mal!“

„Warum sollte ich?“

„Weil ich Billinger sonst deinen kleinen Trick verrate.“

Sammy ließ ihre Blicke durch den Raum wandern. Irgendwie musste sie das Mädchen loswerden.

„Der da.“ Sie deutete mit dem Kinn auf einen untersetzten Mann um die fünfzig, der einen schlecht sitzenden Anzug trug und sich in eine Ecke drängte. Mit lüsternen Blicken begaffte er die halb nackten Prostituierten, die im Pool planschten. Er sah ganz so aus wie jemand, der gern einen Blick in die Zukunft werfen wollte.

4

„Seit einer Stunde starrst du die Villa an wie ein Straßenköter den Vollmond. Hast du Angst, dass Billinger mit der Portokasse durchbrennt? So wie Bergmann?“ Schwickert lachte und trank sein Bier in einem Zug aus. Außer dem Betriebsmeister kannte Pohlmann niemanden, der einen halben Liter Bier durch die Kehle laufen lassen konnte, ohne einmal schlucken zu müssen.

„Vielleicht ärgert er sich, weil er das Beste verpasst“, sagte Meinbach. „Aber so ist das. Wir am Ende der Nahrungskette tragen billiges Bier zur Pissrinne, und die da oben“, er deutete mit seinem Glas auf Billingers Villa, „die da oben saufen Champagner aus Damenschuhen.“ Zur Bestätigung rülpste er.

Mit einem neuen Pils in der Hand prostete Schwickert seinen Kollegen zu. „Lieber saufe ich Bier auf Billingers Kosten als Sekt aus den Latschen meiner Alten.“

Die Umstehenden am Bierrondell brachen in schallendes Gelächter aus.

Pohlmann wandte sich angewidert ab. Billinger verstand es, den Pöbel ruhigzustellen. Rollte jemand ein Bierfass über den Hof, stellten sie das Denken ein.

Meinhard tippte ihm auf die Schulter. „Wieso gehörst du nicht zum erlauchten Zirkel, Heiko? Immerhin bist du der zweite Mann im Betrieb.“

„Iss schlieessslich ver… verheiraded“, lallte Schengler.

Wütend drehte sich Pohlmann um. „Was glaubt ihr eigentlich, was dadrin läuft?“

Schwickert kicherte und machte eine eindeutige Handbewegung. Die anderen lachten grölend.