Die Blutlüge - Ludwig Tessnow - Christiane Gref - E-Book

Die Blutlüge - Ludwig Tessnow E-Book

Christiane Gref

4,9

Beschreibung

»Es ist Beize«, erklärt der Tischlergeselle Ludwig Tessnow im Jahre 1898 die dunklen Flecken auf seinem Sonntagsanzug und wird von der Polizei auf freien Fuß gesetzt. Die Anklage lautet auf zweifachen Kindsmord, eine grausige Tat, die niemanden unberührt lässt. Ludwig Tessnow zieht um, mordet abermals und wird verhaftet. Doch dieses Mal ist alles anders. Der Wissenschaftler Paul Uhlenhuth tritt überraschend auf den Plan und stellt der Polizei seine neue Methode zur Bluterkennung, den Präzipitin-Test, vor.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 326

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,9 (18 Bewertungen)
16
2
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Christiane Gref

Die Blutlüge – Ludwig Tessnow

Biografischer Kriminalroman

Impressum

Personen und Handlung sind zu Teilen fiktional.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2016 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2016

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © ullstein bild – Süddeutsche Zeitung Photo / Scherl

ISBN 978-3-8392-5136-2

Widmung

Für Urmeline, die von Anfang an dabei war

Kapitel 1

Greifswald, 4. Juli 1902.

Kurz nachdem der Richter das Todesurteil verkündet hatte, erlitt der Angeklagte, Ludwig Tessnow, einen Anfall.

Am Abend berichtete der Geschworene Weber seiner Frau, was sich an jenem Tag im Gerichtssaal ereignet hatte. »Du kannst es dir nicht ausmalen. So vorhersehbar. Da ging es dem Kindsmörder noch gut, doch schon einen Moment später, als der ehrenwerte Richter das Urteil verlas, kippte der Tessnow nach hinten um und lag alsdann zuckend am Boden. Er ist ein Simulant, das steht für mich fest.«

»Warum hat sich niemand erbarmt und dem Leiden gleich ein Ende bereitet?«, warf Elisabeth ein. »Dass solche Verbrecher einen Prozess erhalten … da müsste mal jemand was machen!« Allein die Vorstellung, ihre Jungs wären dem Schlächter über den Weg gelaufen, trieb ihr das Grausen in die Glieder. Stolz erfüllte sie, dass ihr Gatte mithalf, den armen Grawerts Satisfaktion zu geben.

Zwar belebte dies die beiden Söhne der Fuhrmannsleute auch nicht wieder, doch zumindest konnte der Galgenvogel nie wieder morden. Elisabeth räumte den Tisch ab.

»Können Sie mich hören?«, fragte Doktor Beumer. Er befand sich in der Gefängniszelle und schwenkte eine Kerze vor Tessnows Augen hin und her. Dessen Pupillen reagierten kaum. Beumer fühlte dem Angeklagten den Puls, der unregelmäßig war. Die Haut am Handgelenk war eiskalt. »Wärter«, rief er. Und als der Gerufene die Klappe öffnete, fügte Beumer hinzu: »Der Gefangene ist unterkühlt. Wir brauchen eine warme Decke und Suppe.« Er wusste, die Gefangenen waren hier nichts als lästiges Übel. Man sorgte dafür, dass sie nicht verhungerten. Wenn sie krank wurden, verlegte man sie kurzerhand in die Hospitäler. Das sparte Geld und Mühe. Nach 20 Minuten erschien die Wache tatsächlich mit einer Schale Suppe und einer Decke, die zwar nach Schimmel roch, doch dicht gewebt war. Beumer lagerte Tessnow mit dem Oberkörper erhöht, indem er die reguläre Gefängnisdecke zusammenrollte und ihm unter den Rücken schob. Dann flößte er dem Gefangenen die Suppe ein. »Besser?«, wollte er wissen. Tessnow nickte schwach und schluckte brav Löffel um Löffel. Zufrieden stellte Beumer fest, dass das Gesicht seines Patienten ein wenig an Farbe gewann. Er wagte einen Vorstoß, obgleich er sich bewusst war, dass es womöglich zu früh war. »Was ist im Gerichtssaal heute Nachmittag geschehen?«

Tessnow runzelte die hellen Augenbrauen. »Gerichtssaal«, wiederholte er. »Ich kann mich nicht erinnern.«

Beumer tastete seine Manteltaschen ab, doch bedauerlicherweise hatte er sein Notizbuch vergessen. Das Buch, das Abbildungen der verstümmelten Kinder enthielt. Jedes Mal, wenn er mit Tessnow zu tun hatte, kamen ihm die grausamen Details der Morde in den Sinn. Es war schwierig, ihn nicht als Bestie, sondern als Patienten zu betrachten. Beumer räusperte sich. »Können Sie sich daran erinnern, wie Sie den heutigen Tag begannen?«

Wieder dauerte es eine Weile, bis Tessnow schleppend zu sprechen begann: »Ja, das weiß ich wohl noch.«

»Und?«

»Ich kämmte mich und kratzte mir die Wanzenbisse blutig, damit sie nicht jucken, wenn ich den feinen Leuten gegenübersitze. Und dann gab es Essen.«

Beumer dachte nach. Zwischen dem Frühstück und dem Prozessbeginn lagen gut und gerne zwei Stunden.

»Was taten Sie nach dem Essen?«, wandte er sich erneut an Tessnow.

»Ich kann mich nicht erinnern. Es ist alles durcheinander. Als hätte mir einer im Kopfe herumgerührt.«

Beumer nahm sich vor, den Direktor sofort nach diesem Gespräch um ein Blatt Papier und einen Stift zu bitten. Nicht was der Tessnow sagte, erregte seine Aufmerksamkeit, sondern wie er sich verhielt. Die Augenlider fielen ihm zu, er kratzte sich unkoordiniert, wobei er zusammenzuckte, als er eine Stelle über seinem linken Auge erwischte. Er lallte wie trunken und machte lange Pausen zwischen den einzelnen Wörtern.

»Schlafen Sie sich erst einmal aus. Ich komme morgen wieder«, sagte Beumer und erhob sich. Er musste sich dringend mit seinen Kollegen besprechen. Hatte er sich geirrt, indem er Ludwig Tessnow als Simulanten dargestellt hatte?

Kapitel 2

Stettin, Februar 1872.

Die Wehen waren fürchterlich und dauerten schon viel zu lange. Immer wieder verschwamm die Welt vor ihren Augen. Die Hebamme, eine ältere Frau, die streng aus dem Mund roch, sprach ihr gut zu. Emma hörte nicht hin, viel zu sehr war sie mit ihrem eigenen Leid beschäftigt. Fast war sie sicher, kein Menschenkind, sondern eine Schimäre zu gebären. Recht geschah ihr. Was hatte sie geleistet in ihrem Dasein? Strafte Gott sie nicht immerzu mit Kopfschmerzen und Ohnmachten? Und dann diese Schatten, die sie heimsuchten. Alles eine Prüfung. Aber warum sie? Früher hatte sie geglaubt, dass der Teufel und der Herrgott einen Streit um ihre Seele ausfochten. Da hatte sie sich wichtig gefühlt, ja, einzigartig. Heute sah sie die Dinge anders. Sie war gewöhnlich, mehr noch, sie löste sich nach und nach auf. Ihre Stimme wurde immer leiser, ihr Mann und ihr Schwiegervater immer lauter, ihre Haut immer blasser, während die Adern auf den Nasen der Männer rot und lila wurden. Ihr Stiefsohn, Bernhard, tat jetzt schon, was er wollte. Ihr Wort galt überhaupt nichts. Erst die Schläge des Vaters brachten Gehorsam in das Kind. Emma wurde nicht oft geschlagen. Was habe er schon davon, eine schwache, gestörte Person zu züchtigen? Wenn er so sprach, kam sie sich noch kleiner vor.

»Und jetzt, pressen. Feste pressen.« Die Hebamme atmete ihr schwer ins Gesicht. Ein Schwall übler Gerüche drang Emma in die Nase. Der Schmerz schien sie in der Mitte zerreißen zu wollen. Sie hielt die Luft an.

»Atmen«, rief die Hebamme. »Immer schön weiter atmen.«

Emma schwanden die Sinne, das Gesicht der Hebamme zerfaserte vor ihren Augen, der Schmerz war zwar immer noch da, doch er wurde ihr egal. Schwarze Schlieren schoben sich in ihr Gesichtsfeld.

Ein Anfall. Bitte, lieber Herrgott, nicht jetzt!, flehte sie still. Plötzlich erscholl ein Quäken, das sie nur am Rande wahrnahm. Ein kühler Windzug strich über ihren verschwitzten Arm und die Halsbeuge. Da erst wurde Emma bewusst, dass die Hebamme von ihrer Seite gewichen war. Emma blinzelte mehrmals.

»Ein Junge. Etwas dürr, weil er vor der Zeit gekommen ist, aber den kriegen wir schon hin.« Die Hebamme streckte ihr hilfsbereit einen Arm entgegen, an dem sich Emma in die Höhe zog. Und dann hielt Emma ihren Sohn im Arm, der sie angreinte und alsbald gierig nach ihrer Brustwarze schnappte.

Als der kleine Ludwig, denn so wollte sie ihn nennen, später in seiner Wiege lag, faltete Emma die Hände und dankte dem Himmel für den glimpflichen Ausgang der Geburt. In der Nacht begann der Kleine zu zittern. Emma packte ihn unter ihre Bettdecke, doch er fror weiter. Er verweigerte außerdem das Trinken. Kalter Schweiß kroch auf die Stirn des Kindes. Emma zitterte im Laufe der verrinnenden Stunden ebenso heftig wie der Säugling. Schließlich weckte sie ihren Mann.

»Hol’ die Hebamme. Sie muss nach Ludwig sehen. Ich glaub’, das Kind stirbt!«

Ausnahmsweise reagierte ihr Mann sofort.

Die Hebamme hielt die Lampe dicht über das Gesicht des Säuglings. Es wirkte ausgezehrt. Aus dem anfänglichen Geschrei war ein klägliches Wimmern geworden. »Es ist krank. Am besten holen wir den Pfarrer, dass er’s tauft.«

Da begann Emma Tessnow bitterlich zu schluchzen. Sie wusste, was eine Nottaufe bedeutete.

Als sich Emma, Friedrich, Bernhard und der Pfarrer am Morgen um das Taufbecken versammelten, lag der kleine Ludwig apathisch in Emmas Armen. Sein Atem ging stoßweise. »So ein kleines Wesen«, sagte der Pfarrer und blickte Emma bedauernd an. Emma hielt das Kind über das Becken. In dem Moment, als der Pfarrer ihm das geweihte Wasser über das Köpfchen goss, umklammerte der kleine Ludwig fest Emmas Zeigefinger.

Kapitel 3

Es war ein heißer Sommer im Jahr 1875. Emma Tessnow hatte einen guten Frühling ohne jedwede Anfälle verlebt. Sie hatte sich als Küchenhilfe verdingt, ein paar einfache Näharbeiten für den ansässigen Schneider ausgeführt und war dieses Mal so schlau gewesen, die Münzen vor ihrem Liebhaber Tebesius zu verstecken, der sich als schäbiger Säufer entpuppt hatte. So wie alle ihre Männer. Für einen Moment presste sie grimmig die Lippen aufeinander, konnte an diesem schönen Tag allerdings nicht im Groll schwelgen.

Vermutlich wurde sie durch das Sonnenlicht und das müßige Brummen der Insekten betäubt. Sie ging zum offenen Fenster und sah ihrem Sohn beim Spielen zu. Eine zeitlang hatte er einen Kreisel über die Straße getrieben. Doch jetzt hatte er offenbar etwas Interessanteres entdeckt. Emma ahnte auch, was das war. Hatte sie doch selbst am Morgen einen großen Schritt darüber gemacht. Ludwig ging in die Hocke und betrachtete die, von einer Kutsche, überrollte Taube im Rinnstein. Neugierig bohrte er mit seinem Zeigefinger in der offenen Bauchhöhle des toten Vogels herum. »Ludwig, lass das!«, rief Emma und hieb die Faust auf das Fensterbrett.

Langsam, als koste es ihn unendliche Kraft, den Blick von dem Tierkadaver abzuwenden, hob Ludwig den Kopf und sah Emma mit seinen hellen Augen an. Ohne die geringste Gefühlsregung. Emma wurde unruhig, aber sie zwang sich, den Blick nicht abzuwenden und seiner stummen Missbilligung mit mütterlicher Härte zu begegnen. Nach einer gefühlten Ewigkeit senkte Ludwig den Kopf und gleichsam seinen Zeigefinger erneut in die Innereien der Taube. Emma schloss das Fenster und wandte sich seufzend ab.

Am Abend polterte Friedrich in die Wohnung, stolperte über die Schwelle, fluchte und riss beim Versuch sich abzufangen den Krug vom Tisch. Den einzigen, den Emma Tessnow besessen hatte. Fassungslos schaute sie auf die Scherben. Friedrich indessen polterte weiter, riss die Tür zum Zimmer der Buben auf und holte die schlafenden Kinder aus dem Bett. Sie konnte Friedrich nicht abgewöhnen, immer noch bei ihr aufzutauchen, obgleich sie jetzt mit dem wahren Vater von Ludwig zusammenlebte. Leider erhielt sie keinerlei Unterstützung, weder von ihrem Vater noch von Tebesius, der die Anwesenheit Friedrichs als leidiges Übel betrachtete.

»Friedrich, was tust du?«, sprach Emma den trunkenen Mann ruhig an.

»Es wird Zeit, dass die beiden das Leben sehen, wie’s halt ist.«

Emma konnte sich keinen Reim darauf machen, was Friedrich damit meinte. »Es ist spät. Nimm sie doch morgen zur Arbeit mit.«

»Was weißt du denn schon«, raunzte Friedrich und starrte die Kinder mit glasigen Augen an. »Zieht euch an, wir gehen raus«, wandte er sich nun an die beiden, die sich schlaftrunken die Augen rieben. Bernhard fasste sich als Erster und griff nach seiner Hose, die über dem Schemel lag. Ludwig allerdings verweilte in seinem Träumerland, wie Emma insgeheim jenen Ort nannte, an den sich Ludwig auch zuweilen tagsüber zurückzog. Friedrich bohrte mit dem Zeigefingernagel zwischen seinen Vorderzähnen. »Wenn du mitwillst, Bankert, dann zieh dir Hose und Hemd an. Ansonsten kannst du mir gestohlen bleiben.« Emma sah, wie die Ader auf Friedrichs Stirn zu pochen begann. Eilig half sie ihrem Jüngsten beim Ankleiden, der noch immer mit abwesendem Blick durch das Zimmer starrte. Friedrich schob die Kinder zur Tür hinaus. Die Geräusche der Kinderfüße waren neben Friedrichs Getrampel kaum zu hören. Emma setzte sich an den Tisch neben dem Herd, bedeckte die Augen mit den Handflächen und fühlte den Schmerz hinter den Augenhöhlen herantosen.

Rufen und penetrantes Klopfen an der Wohnungstür weckten Emma auf. Ihr Kopf war in der Nacht irgendwann vor Erschöpfung auf den Tisch gesunken. Es war kalt, und Emmas Genick schmerzte, als sie sich aufrichtete. In ihren Ohren rauschte das Blut. Steif humpelte sie zur Tür. Davor stand ein Mann in einem durchschwitzten, derben Hemd. Er trug den kleinen Ludwig auf seinen ausgestreckten Armen. Emma biss sich beim Anblick des bleichen Kindes auf die Fingerknöchel. Bernhard lehnte mit rotgeweinten Augen an der Seite des Mannes. Sein Hemd war blutbesudelt. Auch Ludwigs Kleidung zeigte große bräunlich-rote Flecken. »Was, um Gottes willen, ist geschehen?«, stieß Emma hervor.

»Mein Name ist August Wachter. Ich kenne Friedrich von der Arbeit. Wir hatten für die Werft Innenteile zu fertigen. Friedrich wurde von der Polizei geholt.«

»Kommen Sie rein«, bat Emma. Sie wollte nicht, dass Herr Wachter die unselige Geschichte im Treppenhaus erzählte, die Nachbarn waren sowieso zu neugierig. Gemeinsam mit Wachter, brachte Emma die Kinder zu Bett. Sie schliefen sofort ein.

In der Küche stellte sie ein kleines Glas vor den Gast und füllte vom Selbstgebrannten ein. Dankbar nickte Herr Wachter und trank in einem Zug den Schnaps aus. Dann wischte er sich mit der Hand über den Mund und sah Emma ernst an. »Der Friedrich steht im Verdacht, einen Mann ermordet zu haben.«

Ein Beben ergriff von Emma Besitz. Es begann merkwürdigerweise im Kinn und setzte sich über den Oberkörper, den Bauch und schließlich die Beine fort. Ihre Kopfhaut prickelte. »Und die Kinder haben das gesehen?«

Herr Wachter zuckte mit den Schultern. »Ja, scheint so.«

Schweigend saßen sie noch eine Weile, dann stand Wachter auf und verabschiedete sich. Emma blieb wie festgenagelt auf ihrem Stuhl sitzen. Ihre Beine waren taub, ihr Herz klopfte schwer und langsam. Die Finger zitterten. Das erste Mal seit Jahren trank sie Schnaps, obwohl sie wusste, dass sie für die paar Schlucke teuer würde bezahlen müssen. Vielleicht wollte sie ja genau das. Sie hatte versagt, hatte als Mutter ihre Kinder nicht vor dem Bösen schützen können.

Bernhard gebärdete sich seitdem wie toll. Eines Morgens, es war etwa eine Woche vergangen, kam er heulend in die Küche. In seinen Händen hielt er Emma etwas entgegen.

»Er ist tot. Tot!«, schrie er aufgebracht.

Sie legte den Kochlöffel beiseite und beugte sich zu Bernhard herunter. Emma brauchte eine Weile, um in den rosigen Fetzen, an denen Fell hing, den Stallhasen Piet zu erkennen, Bernhards Liebling.

»Meine Güte, wer war das?«

»Er hat mich so komisch angeschaut«, stieß Bernhard hervor. Dann rannte er aus der Küche. Emma sah ihm nach und entdeckte Ludwig, der still an der Tür gestanden und alles mitbekommen hatte. Mehr erschreckte sie jedoch sein versonnenes Lächeln.

Kapitel 4

Es war Ende Januar des Jahres 1876, als ein schweres Wintergewitter Stettin heimsuchte. Die Straßen standen unter Wasser, Vorräte wurden aus vollgelaufenen Kellern geborgen. Alte Bäume lagen kreuz und quer. Der Wind hatte sie geknickt wie Kienspäne. Seit drei Stunden tobte das Unwetter bereits. Viele Leute waren aus ihren Häusern gekommen, um die Eingänge mit Sandsäcken gegen das einbrechende Wasser abzudichten. Auch Emma und Tebesius schleppten Säcke. Bernhard war nirgendwo zu sehen, Ludwig harrte im trockenen Eingangsbereich aus und spähte auf die Straße.

Die Luft roch nach Regen und legte sich wie ein kühler Mantel auf das Gesicht. Manchmal verirrte sich ein Spritzer zu Ludwig. Er hauchte in seine eiskalten Hände. Ein weiterer Blitz zerriss den Himmel, der Donner folgte fast augenblicklich. Plötzlich rasten zwei glühende Punkte auf Ludwig zu. Er schrie und warf sich zur Seite. Er fühlte Fell unter sich, das einen modrigen Geruch ausströmte. In das Fell kam Bewegung, ein qualvolles Bläken quoll dumpf unter Ludwigs Leib hervor. Dann fuhren mit einem Mal Messer aus dem Fellball und der Teufel zerschnitt ihm das Gesicht. Ludwig fuhr hoch, Kratzen auf Fliesen war zu hören, eine huschende Bewegung, nur zu erahnen. Ludwig schrie nach seiner Mutter. Die Straße lag menschenleer da. Was, wenn das Gewitter sie alle aufgefressen und dafür diese teuflischen Kreaturen auf die Erde gespuckt hatte? Ludwig jammerte unartikuliert und drückte seine Hände auf die brennenden Wunden in seinem Gesicht.

Jemand zog ihm die Hände fort. Ludwig strampelte, schrie und boxte um sich. Eine schallende Ohrfeige war die Reaktion.

»Was ist denn hier los? Kann man dich nicht mal fünf Minuten allein lassen? Wie sieht überhaupt dein Gesicht aus?«

Ludwig antwortete nicht. Er schlang die Arme um seine Mutter, barg sein Gesicht in ihrer Halskuhle und weinte bitterlich. Seit diesem Tag hasste er Katzen, denn er hatte ihr wahres Wesen erkannt.

Stettin, 1878. Ludwig drehte seinen Schuh so, dass sich das Sonnenlicht am frisch polierten Leder brach. Es fühlte sich ungewohnt an, festes Schuhwerk zu tragen. Seine Mutter hatte die dunkelbraunen Schuhe durch Zufall günstig erstanden und sich alle Mühe gegeben, sie so aussehen zu lassen, als wären sie gerade erst vom Schuster gefertigt worden. Auch wusste er, dass sie für den großen Tag in den vergangenen Nächten heimlich Äpfel kandiert und Rumrosinen hergestellt hatte. Aber das sagte er ihr nicht, weil er ihr nicht die Überraschung verderben wollte. Dann würde sie wieder so traurig schauen. Auch, dass Bernhard schon wieder die halbe Nacht durch Stettins Straßen gestromert war, verschwieg er ihr lieber. »Ludwig, kommst du?«

Ludwig zog den Fuß vom Fensterbrett, griff nach der Schiefertafel, die nur ein klitzekleines bisschen am Holzrahmen gesplittert war, und lief in den Flur. Seine Mutter trug ihr gutes Sonntagskleid, das etwas um ihre Leibesmitte schlotterte. »Du passt gut auf und meldest dich, wenn du etwas zu sagen hast. Und höre immer auf das, was der Lehrer sagt, ja? Und benimm dich anständig. Nicht so wie dein Bruder.«

»Ja, Mutter«, sagte er gottergeben. Seine Mutter seufzte. »Ach, was bist du so schnell groß geworden. Kaum konntest du laufen, kommst du schon in die Schule. Es ist unglaublich, wie schnell die Zeit vergeht.«

»Ja, Mutter.«

»Viel sprichst du zwar immer noch nicht, aber ich bin dem Arzt von damals sehr dankbar, dass er dich nach Rügen verschickt hat, ohne dass es uns einen Taler gekostet hätte.«

»Ich kann mich nicht daran erinnern.«

»Nun ja, du warst erst drei. Die Hauptsache ist doch, du bist wieder gesund geworden.« Ludwig hasste es, wenn seine Mutter ihm durch die Haare fuhr. Unwillig trat er beiseite. »Was ist eigentlich mit Bernhard?«

»Der schläft noch.«

»Aber er muss doch auch zur Schule!« Seine Mutter stieß mit geschlossenen Augen die Luft aus. »Wie auch immer. Wir müssen uns eilen«, sagte sie gepresst. Gemeinsam verließen sie die Wohnung. Ohne Bernhard.

Vor der Schule sammelten sich die Eltern mit ihren Sprösslingen. Ludwig kannte ein paar der Kinder flüchtig. Seine Mutter hielt sich abseits. Er wusste, sie hasste Menschenmengen. So wie er auch. Die Nähe zu anderen erstickte ihn. Jetzt stand er gehorsam neben seiner Mutter, den Lärm der aufgeregten Kinder schied er von sich ab wie den Rahm von der Milch und merkte erst auf, als seine Mutter ihn an der Schulter rüttelte. »Ludwig«, sagte sie. »Wo warst du denn mit deinen Gedanken?«

Ludwig zuckte mit den Schultern. »Der Direktor ruft die Kinder zu sich und teilt sie in die Klassen ein.«

Tatsächlich. Vorne stand ein rundlicher Mann, um die 50 Jahre mochte er wohl zählen, und rief Namen auf, die er von einer Liste ablas. »Tessnow, Ludwig, hier herüber.« Er deutete auf eine durcheinanderredende Schar Jungen, die sich neben einem hageren Lehrer zusammendrängte. Ludwig musterte die Kinder. Einerlei. Gesichter waren unwichtig. Er stellte sich an den Rand und überhörte die Fragen nach seinem Namen, wo er wohne, wie alt er sei. Die Fragen hörten irgendwann auf, und er konnte in Ruhe den Rest der Aufteilung verfolgen. Die Gruppen, es gab insgesamt drei Klassen mit neuen Sprösslingen, setzten sich im Gänsemarsch in Bewegung. Vor Rührung weinende Mütter und Väter mit grimmig zusammengepressten Kiefern oder letzten Ermahnungen auf den Lippen blieben zurück. Seine Mutter sah ihm still nach. Keine Träne verließ ihren Augenwinkel. Keine Regung, kein Winken. Ludwig drehte sich um und blickte nach vorne. Dem Eingang des Schulgebäudes entgegen, der imposant von zwei Säulen flankiert war.

Kapitel 5

Als der Kastanienbaum im Schulhof ein paar Wochen später begann, seine stachelige Fracht abzuwerfen und die Kinder begeistert die braunglänzenden Kastanien sammelten, kam kein Kind mehr zu ihm und wollte seinen Namen wissen. Ludwig stand meist am Zaun, mit dem Rücken zur Straße, und betrachtete das Geschehen rings um sich. Ein Junge geriet eben in Streit mit Bernhard. Es sah ernst aus. Sein Bruder wurde gegen den Hals geboxt, fiel um wie ein nasser Sack und blieb japsend liegen. Der andere setzte sich rittlings auf ihn und hieb ihm die Faust ins Gesicht. Ludwig eilte los, schubste unterwegs Kinder zur Seite, erreichte schließlich die Kämpfenden. Der andere bemerkte ihn nicht. Ludwigs Sichtfeld engte sich ein, das Licht verblasste. Bernhards Blut, das von der geballten Faust des Angreifers tropfte, war fast schwarz. Ein Spritzer flog weg und zerplatzte im Sand des Hofes. Ludwig war selten so konzentriert gewesen wie in diesem Augenblick. Er holte weit mit dem rechten Bein aus und trat dem Peiniger seines Bruders so fest er konnte gegen den Hinterkopf. Es knackte, als die Schuhsohle mit dem Schädelknochen kollidierte. Der Tritt katapultierte den Jungen von Bernhard herunter. Er überschlug sich und blieb reglos liegen. Blut floss aus einer Wunde am Kopf. Die Zuschauer, die einen Kreis um die Raufbolde gebildet und sowohl Bernhard als auch den anderen Jungen angefeuert hatten, verstummten plötzlich. Sein Bruder rappelte sich hoch und klopfte Ludwig anerkennend auf die Schulter. »Du hast echt Mumm. Das hätte ich von dir nicht gedacht.« Dann besah er sich den wie tot Daliegenden. »Aber ganz so arg hättest du nicht zutreten dürfen.«

»Hab ich auch nicht«, sagte Ludwig leise, drängte sich durch die Gaffer und nahm seinen angestammten Platz am Zaun wieder ein. Nur wenige Minuten später wurde er zum Direktor gerufen. Der dicke Mann war mit einem Mal gar nicht mehr so gemütlich. Er musterte Ludwig mit wütender Miene durch ein Monokel. »Tessnow, ich weiß, dass du deinem Bruder helfen wolltest. Aber findest du es nicht unsportlich, ja geradezu infam, dich hinterrücks anzuschleichen und zuzutreten?«

Ludwig senkte den Blick und schwieg.

»Ich finde das sehr bedenklich und kann es mir nur dadurch erklären, dass du einem Familienmitglied beistehen wolltest und dir der Konsequenzen nicht bewusst warst. Du hast großes Glück, dass du noch nie als Krawallmacher aufgefallen bist. Die Lehrer sagen, du seist ein stilles und friedliebendes Kind. Daher belasse ich es bei einer satten Strafarbeit und werde auf einen Schulverweis verzichten. Sollte so etwas jedoch noch einmal vorkommen, werde ich dich umgehend vom Unterricht suspendieren. Hast du mich verstanden, Tessnow?«

Ludwig nickte.

»Gut, du kannst gehen.«

Als Ludwig nach Hause kam, war Bernhard ausnahmsweise zu Hause. »Und, was gab’s beim Direktor?«

»Hab eine Strafarbeit bekommen.«

»Karl liegt im Krankenhaus. Du hast ihm wohl den Schädelknochen kaputt getreten.« Bernhard konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

»Wo ist Mutter?«, wollte Ludwig wissen.

»Na in der Schule, du Blödmann.«

»Warum denn?«

»Ich fliege von der Schule.« Ludwig erschrak. Bernhard erweckte allerdings nicht den Eindruck, als würde ihm die Suspendierung allzu viel ausmachen.

»Du hast doch gar nichts gemacht, der hat dich doch verhauen!«

»Es war eben eine Rauferei zu viel. Dem Direktor hat es gereicht. Der konnte mich eh noch nie leiden. Ist mir egal. Ich suche mir halt irgendeine Arbeit.«

»Du bist aber erst zehn.«

»Na und?«

Ludwig wusste, dass es sinnlos war, seinem Bruder zu widersprechen. Beide warteten still auf die Rückkehr der Mutter.

Kapitel 6

Es war ein milder Wintertag. Die Sonne schien, und Ludwig öffnete das Fenster, um den Geruch des Holzofens herauszulassen. Die Sonne spiegelte sich in der Fensterscheibe. Es war amüsant, er bewegte die Scheibe hin und her, ließ den Sonnenstrahl immer schneller aufblitzen. Plötzlich spürte er, wie es ihm im Kopf ganz leicht zumute wurde. Dann mischte sich eine diffuse Angst hinzu, und dann verlor er die Kontrolle über seinen Körper. Es fühlte sich an, als kröchen Schlangen unter seiner Haut. Er kippte nach hinten, spürte, wie er sich den Hinterkopf an der Tischkante anschlug – und dann nichts mehr.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!