Abadeya - Christiane Gref - E-Book

Abadeya E-Book

Christiane Gref

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Beschreibung

Abadeya – Für Paul, einen knapp dreizehnjährigen Jungen, geht alles schief. Seine Versetzung in die nächste Schulklasse ist gefährdet, seine beiden besten Freunde können sich nicht ausstehen und dann zerstört Paul auch noch aus Frust eine alte Mauer im Park von Schloss Philippsruhe. Die Folgen seines Wutausbruchs sind fatal. Unwissentlich entfesselt Paul eine Urgewalt, die tödlich für die Menschheit sein kann. Gemeinsam mit seinen Freunden versucht er, seinen Fehler wieder gut zu machen. Doch die Zeit wird knapp.

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Seitenzahl: 341

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Christiane Gref

Impressum

CharlesVerlag, Mathias Müller & Marcel Dax GbR, Frankfurt am Main, alle Rechte vorbehalten, eine Veröffentlichung, auch in Auszügen, ist nur mit Genehmigung des CharlesVerlag gestattet. www.charlesverlag.de

Druck: Booksfactory

Lektorat: Sonja Rudorf

Umschlaggestaltung: Marcel Dax

ISBN 978-3-940387-96-7

1. Auflage 2018

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet unter http://dnb.dbb.de abrufbar

Die Autorin

Vorwort

»Mama, Abadeya.«

»Was heißt das?«

»Abadeya«.

»Was meinst du damit?«

»Abadeya«.

Kapitel 1

22. Juni 2017

Es gab Momente, da hasste Paul sein Leben aus tiefstem Herzen. Heute war so ein Tag. Paul saß schon eine geraume Weile vornübergebeugt auf einer Parkbank und sah den Ameisen zu, die fleißig Stücke seines weggeworfenen Brötchens in ihren Bau schleppten.

Die haben keine Sorgen, dachte er traurig.

Dort, wo die Sonne auf seinen Rücken schien, war das T-Shirt unangenehm feucht. Paul bewegte ein wenig die Schultern, doch das T-Shirt klebte weiterhin auf seiner Haut. Verdammtes schwüles Wetter. Ein Flugzeug donnerte über seinen Kopf hinweg. Er fand es ziemlich daneben, dass die Flugsicherung keine Rücksicht auf die Bewohner nahm. Die legten einfach ihre Flugschneisen tiefer und quer über die Stadt. Zack. Völlig egal, dass der Schlosspark oder Wilhelmsbad nun lärmverseucht waren. In Pauls Umgebung gab es gleich drei Einflugschneisen, und alle drei nervten. Beim Thema Nerven fiel ihm prompt seine Fünf in Deutsch ein. In Gedanken sah er Frau Ehrlich, seine Lehrerin, wieder vor sich stehen und ihm kommentarlos seine Arbeit zurückgeben. Ihr Gesicht hatte ausgesehen, als hätte sie in eine Zitrone gebissen und zusätzlich einen zappelnden halben Wurm darin gefunden.

Berta hatte natürlich wie immer gestrahlt und stolz ihr Heft herumgezeigt. Eine Eins. Klar. Was Paul am meisten stank, war, dass Berta noch nicht einmal lernte. Sie schnappte irgendwo was auf und speicherte es ab.

Warum hatte sie so viel Glück und er war immer der Depp? Sie war seine Cousine, da müssten sie doch zumindest ein paar Gene teilen. Wütend kickte Paul das Brötchen in die Wiese. Die Ameisen waren kurz irritiert und rannten durcheinander, entschieden dann aber, neue Wege zu beschreiten. Es dauerte nicht lange und eine geordnete Ameisenstraße führte über die Mülleimerwand nach oben. Offenbar störten sie dabei einige Wespen, die sich schon am Inhalt des Mülleimers bedient hatten. Eine surrte besonders zornig, zumindest kam es Paul so vor. Tatsächlich machte sich das Tier daran, direkt neben Paul äußert aggressiv das Holz der Parkbank zu attackieren. Paul wedelte mit der Hand. Die Wespe hob ab, beschrieb einen kleinen Bogen und ließ sich an exakt der gleichen Stelle wieder nieder. Diesmal schlug Paul nach ihr, erwischte sie mit dem Handrücken und spürte einen stechenden Schmerz. Er brüllte und schüttelte wild seine Hand. Die Wespe wurde ein Stück weggeschleudert. Sie taumelte durch die Luft, als sei sie betrunken. Das Mistvieh hatte heftig zugestochen. Paul wurde sauer. Richtig sauer. Er hieb in die Luft, verfolgte das sichtlich angeschlagene Insekt über eine Wiese bis zu einer brusthohen Steinmauer. Sie war etwa 30 Meter lang und trennte ein naturbelassenes Beet mit viel Farn, Efeu und alten Bäumen von der Wiese ab. Paul fluchte. Das Tier war in einer Mauerritze verschwunden.

»Dich kriege ich«, schimpfte er. Er sah sich um. Unter einem Baum entdeckte er etliche Äste. Er überwand die Mauer, holte sich einen Zweig, der ungefähr fingerdick war und kehrte zum Schlupfloch des Insekts zurück. Dort stach er in die Fuge nach der Wespe. Immer und immer wieder. Seine heiße Wut war kalt geworden, eiskalt. Durch das Stochern mit dem Ast löste sich der bröselige Mörtel im Mauerwerk. Ein Stein fiel aus dem Verbund und landete vor Pauls Füßen. Ein Surren zeigte ihm, dass er der Wespe noch immer auf der Spur war. Er stieß unverdrossen den Stock in den Zwischenraum, innerlich triumphierte er bereits. Doch plötzlich hielt er die Luft an. Der Stock versank in der Mauer, so tief, dass es gar nicht sein konnte. Denn die Mauer war nur etwa zwanzig Zentimeter dick und Paul hätte mit dem Stock, der gut und gerne einen Meter lang war, die Mauer locker durchstoßen müssen. Aber so war es nicht, denn ein Blick zeigte ihm, dass das Ende nicht auf der Seite des Beetes herausgekommen war. Vielleicht war der Stock abgebrochen? Doch als er ihn komplett aus dem Mauerloch herausgezogen hatte, sah er, dass nichts fehlte. Irritiert holte er einen weiteren Stein aus der Mauer, dann noch einen. Die Wespe war ihm mittlerweile egal. Seine Hand verschwand in dem Loch, dann sein Arm. Es fühlte sich nicht kalt oder warm an. Genau genommen fühlte er gar nichts. Als hätte er die Verbindung zu seiner Hand verloren. Er zog sie heraus und betrachtete sie, dann sah er sich die Haut seines Armes an. Alles wie gehabt.

»So geht es aber net, Freundchen«, hörte er eine Stimme hinter sich sagen. Paul drehte sich um. Da stand eine ältere Dame, die sich eine zusammengeklappte Brille vor das Gesicht hielt. Ihre Handtasche stand offen. Neben ihr saß ein weißer Hund, der hechelte. »Das ist eine alte Mauer. Die kannst du nicht einfach demolieren.« Anklagend zeigte sie auf die Steine zu Pauls Füßen.

»Entschuldigung«, murmelte Paul.

Die Frau und er standen sich noch eine Weile gegenüber. Keiner der beiden sagte etwas. Offenbar wartete die Frau, dass Paul ging, und Paul wollte nichts lieber, als dass ihn die Alte endlich in Ruhe ließ. Die Frau gewann. Paul nestelte irgendwie die Steine zurück in das Loch, wandte sich mit hängenden Schultern ab, schnallte sich seinen Rucksack um und trottete Richtung Ausgang. Er würde wieder kommen. Heute Nacht, wenn niemand sonst im Park war.

Zuhause angekommen warf er seinen Rucksack auf die Treppe und ging nach oben.

»Hallo Schatz«, hörte er seine Mutter rufen.

»Hey«, gab Paul lahm zurück. Seine Mutter war die Letzte, die er jetzt gebrauchen konnte.

»Fang.« Sie warf etwas nach ihm.

Es war eine Schürze. »Och nö!«

»Du hast es versprochen.«

Er verdrehte die Augen und fragte matt: »Wie viele?«

»Nur drei Tabletts, dann bist du in Gnaden entlassen. Aber ich schaffe das nicht allein. Elisa ist beim Zahnarzt.«

»Meine liebe Tante hat wie immer ein prima Timing«, sagte Paul sarkastisch und band sich die Schürze um. »Warum kann Berta nicht helfen?«

»Schach AG.«

Paul knurrte einen Fluch. Er folgte seiner Mutter in den Keller, in dem sie ihren Catering-Service eingerichtet hatte.

Eine Plastikwanne, die zu einem Drittel mit Brötchen gefüllt war, stand auf dem »Schmiertisch«. Ebenfalls standen dort Packungen mit Butter, Mayonnaise- und Ketchuptuben sowie Teller mit Wurst- und Käsescheiben. Paul konnte sich an die Anfangszeit des Catering nicht erinnern. Klar, da war er drei Jahre alt gewesen. Tante Elisa hatte ihm einmal erzählt, dass Pauls Vater die Familie im Stich gelassen hatte. Er hatte sich schon eine ganze Weile darüber beschwert, dass ihn das Familienleben nerve. Eines Tages war er aus dem Haus gegangen und nicht mehr zurückgekehrt. Seine Mutter hatte lange gebraucht, um damit fertig zu werden. Sie sprach auch heute noch nicht gerne davon. Elisa hatte ihr damals geholfen, sich selbständig zu machen und war als Teilhaberin ins Unternehmen eingestiegen. Auch sie war von ihrem Mann getrennt, wusste aber zumindest, wo er sich aufhielt.

Auch nicht besser, dachte Paul, wenn er sich Berta gegenüber wie der letzte Arsch benahm. Dabei könnte er so stolz auf sie sein.

Als hätte seine Mutter seine Gedanken aufgefangen, sagte sie: »Georg hat schon wieder keinen Unterhalt für Berta überwiesen, dabei schwimmt dieser Mann in Geld.«

»Er ist ein Vollpfosten«, stimmte Paul zu, griff nach den beiden Brötchenhälften und belegte sie. »Wann klagt Tante Elisa endlich? Die wollte das doch schon lange machen, oder?«

Seine Mutter seufzte. »Ach, weißt du, es ist nicht so einfach. Sie will halt keinen Keil zwischen Berta und Georg treiben.«

Paul schnaubte verächtlich. »Da gibt es nichts, in was sie einen Keil treiben könnte. Berta hasst Onkel Georg.«

Mittlerweile hatte Paul sich mit seiner Mutter gut eingespielt. Wenn es darum ging, Brötchenhälften zu belegen und sie anschließend mit Minigurken und anderem Zeug zu dekorieren, waren sie ein perfektes Team.

»Sag mal, wie lange helfe ich dir eigentlich schon mit dem Catering?«, wollte Paul wissen, während er ein von ihr geschmiertes Brötchen entgegennahm und zwei Scheiben Wurst darauflegte.

Seine Mutter legte die Stirn in Falten und dachte laut vor sich hin, dann sagte sie: »Du warst ein paar Wochen in der fünften Klasse. Als ich merkte, dass du in der Schule gut mitkommst, habe ich dir kleinere Arbeiten übertragen.«

»Na ja, ‚klein‘ ist relativ. Erinnerst du dich an die Zeit, wo wir wie die Blöden bis tief in die Nacht geschuftet haben?«

»Stimmt, ich hätte das alleine nicht gepackt. Aber du hast wenigstens Geld dafür bekommen und ich habe dir Entschuldigungen für die Schule geschrieben, damit du morgens ausschlafen kannst.«

»Weiß ich«, sagte Paul. »Das waren noch Zeiten!«

»Apropos Schule, habt ihr Deutsch zurück?«

»Was?« Paul ließ beinahe sein Brötchen fallen.

»Ob ihr Deutsch zurückhabt?«

»Mmm.«

Sie ließ das Messer sinken und sah Paul traurig an. »Lass mich raten, eine Vier?«

Paul verzog den Mund zu einem schmalen Strich.

»Schlechter?«

Paul nickte und pappte ein Petersiliensträusschen auf die Wurstbrötchenhälfte. »Eine Fünf?«, flüsterte sie betrübt.

Lieblos warf Paul das Brötchen auf das Tablett. »Die blöde Ehrlich hasst mich halt.«

»Mensch, Paul, das bedeutet doch, dass du sitzen bleibst. Scheiße!« Sie wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn.

»Mama!«

Seine Mutter fluchte normalerweise nie. Sie war da altmodisch.

»Nix Mama. Ich meine, was soll ich denn noch alles machen? Ich hab dir doch Nachhilfe geben lassen.« In ihren Augenwinkeln schimmerten Tränen. Paul tat, als wäre er ganz in die schwierige Aufgabe versunken, Käse auf ein Brötchen zu legen. Er dachte an Manuel, seinen Nachhilfelehrer, der die ganze Zeit auf Pauls PC Minecraft gezockt hatte, anstatt mit ihm Diktate zu üben. Paul war das recht gewesen. Aber jetzt gab es kein Zurück und ein bisschen bereute er seine Faulheit. Er würde die Ehrenrunde drehen müssen und, wenn er Pech hatte, die Ehrlich als Klassenlehrerin bekommen.

»Wie sieht es denn in den anderen Fächern aus?«, riss ihn seine Mutter aus den trüben Gedanken.

»Kein Ausgleich. Hab überall Dreien.«

»Okay, letzter Versuch. Ich werde mich ein wenig aufhübschen und eurem Direx einen Besuch abstatten.«

Paul verdrehte die Augen. Oh man, seine Mutter war so oberpeinlich. Allerdings wollte er keinen Stress mehr mit ihr. Also grinste er schief und sagte »Mach das.«

Schweigend beendeten sie ihre Schmieraktion. Paul zog Alufolie über die Teller mit Wurst und Käse und verstaute sie im Riesenkühlschrank. Das Teil war immer wieder beeindruckend. Zwei Meter hoch und fast einen Meter breit. Da passte echt viel rein. Tante Elisa nutzte vorwiegend die oberen Fächer, an die sie mit ihren 1,83 Metern locker herankam. Seine Mutter war nicht so groß. Genau gesagt maß sie ganze acht Zentimeter weniger als Elisa. Paul fragte sich, wie groß er werden würde. Momentan war er bei 1,74 m, Berta schon bei 1,75 m. Er neidete ihr den Zentimeter.

Paul stieß die angelehnte Tür seines Zimmers auf und ließ sich aufs Bett fallen. Er hob die von der Wespe malträtierte Hand vor die Augen. Dann setzte er sich mit einem Ruck auf. Er drehte die Hand, spreizte die Finger weit, hielt sie mehr ins Licht. Das konnte nicht sein. Der Stich war verschwunden. Als hätte ihn das Vieh nie erwischt. Vielleicht besaß diese Mauer im Inneren ja heilende Kräfte, so wie diese merkwürdigen Salzgrotten für Nebenhöhlenentzündungen. Paul schaltete seinen PC an. Er wollte gerade aus Gewohnheit auf das Minecraft Icon drücken, als das Skype-Fenster aufging und einen eingehenden Anruf vermeldete. Paul nahm ihn an und Andys rundes Gesicht erschien. »Hey, Paul. Wollte nur mal wissen, warum du die letzten beiden Stunden geschwänzt hast.«

»Ich hab mich wegen der Ehrlich aufgeregt. Du hättest die sehen müssen, wie die sich einen abgegrinst hat, als sie mir die Deutscharbeit wiedergegeben hat.«

»Äh, ich saß neben dir. Ich hab’s gesehen.«

Paul winkte ab. »Sag mal, Andy, was hältst du von einem Ausflug heute Nacht?«

Andy strich sich über die Stirn und blies die Backen auf. »Kommt drauf an, wohin.«

»Heute nach der Scheiß Deutschstunde bin ich in den Schlosspark gegangen und hab was Unglaubliches erlebt.«

Die Geschichte sprudelte nur so aus Paul heraus. Er sah, dass Andys Gesicht immer näher zur Kamera kam, seine Augen waren weit geöffnet, ebenso sein Mund.

»Lass das, das sieht eklig aus. Bevor dir die Kinnlade endgültig auf den Tisch knallt, was sagst du?«

»Krass!«

»Kommst du mit oder nicht?«

»Klar komm ich mit. Was denkst du denn? Hast du Enno Bescheid gesagt?« Für Paul klang es wie »hoffentlich nicht«. »Nee, mache ich aber gleich. Ich muss ihm sowieso noch seine Knieschoner vorbei bringen.« Andys Gesicht verfinsterte sich. Paul tat so, als hätte er es nicht gesehen. »Dann treffen wir uns am besten heute Abend um neun an dem Teich im Schlosspark. Bring eine Taschenlampe und ein Seil mit.«

»Ich hab kein Seil. Tut’s auch der Gürtel von meinem Bademantel?«

»Wie lang ist der?«

»Na ja, geht so.«

»Siehst du. Besorg dir lieber noch eins bis heute Abend.«

Sie beendeten ihre Konferenz. Paul überlegte, was er noch zu erledigen hatte. Er fühlte, dass er etwas ganz Großem auf der Spur war. Größer als Godzilla. Und wenn etwas so gewaltig wichtig war, musste die Suche danach verdammt gut eingefädelt werden. Wie er Enno und Andy zur Zusammenarbeit bewegen sollte, wusste er noch nicht, aber angesichts der Größe ihrer Unternehmung mussten die beiden ausnahmsweise einmal zusammenarbeiten. Paul konnte sich die Aktion mit nur einem seiner Freunde partout nicht vorstellen.

Kapitel 2

Enno strich sich elegant über seinen schmalen Nasenrücken. So wie die Geste wirkte alles an Enno nobel.

»Und ihr glaubt, das funktioniert?«

»Hast du eine bessere Idee?«, konterte Paul.

Enno spähte zum wiederholten Male in das Loch. Auch dieses Mal wurde der Kegel seines Taschenlampenlichts von der Schwärze nach nur wenigen Zentimetern geschluckt. Andy stand ein Stück entfernt, mit dem Rücken zu ihnen, Schmiere und überblickte das Parkgelände, während sich Enno und Paul über das Loch in der Mauer beugten, das sie auf Beindicke vergrößert hatten. Das Licht des Abends senkte sich rot über den Park. Spaziergänger genossen das warme Sommerwetter. Je mehr die Helligkeit der Nacht wich, desto hungriger machten sich die Mücken über sie her.

»Das ist unmöglich. So etwas darf es nicht geben«, stieß Enno verblüfft hervor und zog Stück für Stück den Metallstab aus dem Loch. Für sein Experiment hatte er mehrere Antennen für funkgesteuerte Autos zusammengelötet. Sie ließen sich immer noch teleskopartig zusammenschieben, komplett ausgezogen kamen sie auf die stolze Länge von 2,5 Metern. Die zur Gänze im Loch verschwunden waren.

»Das wird nicht mehr anders. Auch wenn du deine Antennen noch zehnmal da rein schiebst«, motzte Andy. »Lass uns endlich gucken, was in der Mauer ist.«

»Warte mal«, sagte Paul, an Andy gerichtet. »Das Krasseste habe ich euch noch gar nicht erzählt.« Andy und Enno sahen ihn gespannt an. »Da, wo mich die Wespe gestochen hat, ist überhaupt nichts mehr, obwohl die Stelle total angeschwollen war und gebrannt hat wie die Hölle.«

Enno sagte: »Manche Menschen…«

»Halt die Klappe, Klugscheißer!«, wurde er von Andy gebremst.

»Manche Menschen absorbieren Gift. Ohne irgendwelche Reaktionen, du Dünnbrettbohrer«, sagte er zu Andy.

»Ich kann dir gleich mal ein dünnes Brett…«

»Hört auf«, ging Paul dazwischen. »Lasst uns lieber weitermachen.«

Enno zückte voller Stolz einen orangefarbenen Kasten, der halb so groß wie ein Laptop war. Andy riss ihm ihn aus der Hand und betrachtete ihn spöttisch. »Was soll denn das sein?«

»Ein Messgerät. Man verwendet es, um Räume auszumessen. Das geht mit Laser. Mein Vater benutzt das ständig für seine Arbeit.«

»Aha«, machte Andy.

Paul runzelte die Stirn. »Keine schlechte Idee. Das heißt, du willst den Laserstrahl da reinschicken, um zu wissen, wie groß das Dahinter ist?«

»Ja, im Großen und Ganzen stimmt das so.« Enno nahm das Gerät an sich und schaltete es an. Dann positionierte er sich vor dem Loch und hielt das Gerät waagerecht vor die Öffnung. Nach gut einer Minute sagte er: »Das gibt es doch nicht.«

»Was?«, fragten Andy und Paul unisono.

»Der Laserstrahl ist immer noch unterwegs.«

»Hä?«, machte Andy.

Enno stöhnte gequält auf. »Das heißt, die Dimension, oder was immer das auch ist, hat keine Wände, du Depp.«

»Selber Depp«, fauchte Andy.

»Zeig«, sagte Paul. Er warf einen Blick auf das Display. »Was soll das denn sein?« Er deutete auf das Symbol, das aussah wie eine Acht, die auf dem Bauch lag.

»Das ist das Zeichen für Unendlichkeit«, sagte Enno leichthin.

»Stimmt«. Paul rieb sich über die Stirn. »Das Gerät sagt uns, diese Dimension ist unendlich groß?«

»Der Apparat hat sicherlich auch seine Grenzen. Aber ich fürchte, die Wände sind mindestens 80 bis 100 Kilometer weit weg, wenn sie überhaupt existieren.«

Als Andy, der die Gegend im Auge behalten sollte, Entwarnung gab, trugen Paul und Enno die Steine der Mauer soweit ab, dass ein Loch mit einer Breite von etwa sechzig Zentimeter darin klaffte. Die untere Kante schloss bündig mit dem Grasbewuchs am Fuß der Mauer ab. Ehrfürchtig setzten sich die drei im Schneidersitz davor und sahen in die Finsternis, hinter der buchstäblich alles sein konnte. Die Andacht währte leider nicht lange. Schritte näherten sich und die drei hörten schon bald laute Stimmen. »Ey, Alder. Gib mir mal Handy.«

Um die Ecke bogen zwei Jugendliche. Paul schätzte sie auf 16 Jahre. Der Linke hielt ein Smartphone in der Hand. Offenbar sahen sie sich ein Video an. Ganz vertieft in das, was über den Bildschirm flimmerte, stießen sie beim Laufen ständig zusammen. Enno, Andy und Paul standen auf. Paul hoffte, dass ihre Körper das Loch einigermaßen verdeckten. Die beiden Jugendlichen sahen auf.

»Ey, was macht ihr da? Tut ihr heimlich kiffen oder was?«, wandte sich der Rechte an Andy. Dieser schüttelte nur den Kopf.

»Was ist los mit euch? Könnt ihr net reden oder was?«, meldete sich der Handyträger zu Wort. Auf seinem Kopf saß eine abgenutzte Kappe, die das Logo eines Sportstudios zierte. Die Kappe war zu klein. Der Typ sah so bescheuert aus.

»Doch«, sagte Paul. »Wir haben nur nichts zu erzählen.« Er konnte seinen Blick nicht von der Kappe lösen, unter der eine fettige Haarlocke hervorquoll.

»Was glotzt du so?«, kam prompt die Reaktion.

Paul sah weg, musste aber grinsen.

Der Große legte die Hand auf den Arm seines Freundes. «Ey man, lass die Spacken doch. Gehn wir jetz‘.«

Paul hielt die Luft an. Er rechnete nicht damit, dass Minikappe so einfach aufgab. Doch anscheinend war es den beiden Typen wichtig, pünktlich zu sein. Wo immer sie auch hin wollten.

Sie gingen, aber nicht, ohne Andy kräftig anzurempeln. Schweigend blickten die Drei den Jugendlichen hinterher. Und etwas anderes fiel ihnen auf. Die Nacht hatte sich nun endgültig über den Park von Schloss Philippsruhe gesenkt. »Wenn meine Eltern rauskriegen, dass ich abgehauen bin, kriege ich Hausarrest bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag«, sagte Enno.

Paul räusperte sich. Er sah erst Andy an, dann Enno. »Meine lieben besten Freunde. Wir sind im Begriff, etwas Obersupermegawichtiges zu entdecken, nämlich eine andere Dimension oder so was Ähnliches. Ich stelle mir das wie in den Comics vor, warum soll es so was dann nicht in echt geben? Versprecht mir, mit niemandem darüber zu reden. Wenn wir was erzählen wollen, müssen alle dafür sein.«

»Versprochen«, sagten Enno und Andy einstimmig.

Paul holte tief Luft, tastete ein letztes Mal über die Taschen seiner Cargohose. Die kleine Digitalkamera seiner Tante, die Ersatztaschenlampe und das Funkgerät waren noch da.

Ob sich hinter dem Loch eine andere Dimension verbarg, wusste Paul natürlich nicht. Schließlich war er ja noch nie dort gewesen, aber es hörte sich wichtig an. Nun, gegen eine Zeitreise hätte er auch nichts einzuwenden. Denn so könnte er vielleicht seine Deutsch-Fünf rückgängig machen. Enno hielt das Seilende mit dem Karabinerhaken hoch. »Da du diese Entdeckung gemacht hast, darfst du auch zuerst rein.« Paul nickte stolz. Enno bog eine Schlaufe, Paul stieg hinein und zog das Seil bis zur Brust. Dann zurrte er den Karabiner fest, während Enno und Andy das andere Ende an der Bank befestigten. »Hier, deine Lampe.« Andy reichte ihm seine Maglite. »Ruf, wenn du Hilfe brauchst.« Er hielt das Gegenstück zu Pauls Funkgerät in die Höhe.

Pauls Herz begann zu rasen. Er war ein Pionier. »Okay, dann kann es also losgehen«, sagte er ergriffen.

Er atmete tief durch und schob die Füße in das Loch. Ihn beunruhigte, dass er nicht sagen konnte, in welche Richtung sie wiesen. Die Schwerkraft müsste an ihm zerren, da er die Füße baumeln ließ, obwohl, tat er das überhaupt? Er spürte es nicht. Versuchsweise hob er sein Hinterteil an und schob sich vom Loch weg. Seine Beine kamen unversehrt zum Vorschein. »Was ist?«, fragte Andy alarmiert. »Nichts, ich wollte nur wissen, ob meine Füße noch da sind.« Er lachte gequält.

»Wieso, tun sie dir weh?«, fragte Enno. »Wollen wir das hier lieber abbrechen?«

»Nein, ist schon okay.« Nachdem er eine solche Welle gemacht hatte, gab es kein Zurück. Sein Magen rumorte gewaltig. Stück für Stück robbte er wieder auf das Loch zu, schließlich verschwanden seine Beine bis zur Hüfte, dann die Hüfte, gefolgt von der Taille. Paul hatte sich die Maglite zwischen die Zähne geklemmt, um seine Hände frei zu haben. Dann verschwand der Oberkörper, und als auch der Kopf in die Schwärze eintauchte, schrie er. Die Taschenlampe fiel aus seinem Mund, viel zu schnell, als dass er noch einen Lichtschein hätte ausmachen können. Zum Glück hatte er noch eine kleine Lampe mitgenommen. Sie maß zwar gerade mal die Länge eines Fingers, aber die LEDs waren hell. Paul knipste sie behutsam an. Wenn auch sie verschwände, säße er komplett im Dunkeln. Zuerst versuchte er, sich einen Überblick zu verschaffen. Das Seil über seinem Kopf schien einfach aufzuhören. Paul wusste nicht, ob er fiel oder schwebte, oder ob er überhaupt noch Teil dieser Welt war. Hatten seine Freunde sein Geschrei nicht gehört? Warum zogen sie ihn nicht hoch? Er schloss die Augen und zwang sich, ruhig durchzuatmen. Immerhin gab es hier genügend Sauerstoff. Dass er sich noch im Schlosspark befand, war unwahrscheinlich. Es war tatsächlich eine andere Dimension. Er musste unbedingt seine Gedanken mit seinen Freunden teilen. Er griff nach dem Funkgerät und betätigte die Sprechtaste. »Hallo? Enno? Andy? Hört ihr mich?« Keine Antwort. Nicht einmal ein statisches Rauschen war zu vernehmen. Dann ging die Taschenlampe aus, obwohl die Batterien neu gewesen waren. Paul biss die Zähne zusammen. Er fühlte sich so verlassen wie noch nie in seinem Leben. Ihm war, als müsste er für immer und ewig in der Schwärze ausharren. »Los, Paul. Beweg dich«, zischte er zwischen zusammengepressten Zähnen hindurch, »tu irgendwas!« Der Rüffel an sich selbst schien zu wirken.

Und dann wurde der Druck des Seiles um seine Brust weniger. Er setzte versuchsweise seine Füße auf. Er stellte sich vor, dass da ein Boden war. Aber seine Füße spürte er nicht. Das Laufen war eher Kopfsache. Paul beschloss, es zu wagen. Er zog die Seilschlinge auf und ließ die einzige Verbindung nach oben los.

Kapitel 3

Paul starrte in das Grau und versuchte, zumindest Nuancen auszumachen. Seine eigene Hand vor Augen bewahrte ihn davor durchzudrehen. Er konnte sie sehen. Auch sonst schien er keine Gliedmaßen eingebüßt zu haben. Er sah auf sein Handgelenk. Zu dumm, die Leuchtzeiger seiner Armbanduhr bewegten sich nicht mehr. Er zückte die Digitalkamera, um ein Foto von der grauen Öde zu machen, aber das Display blieb schwarz. Ein halbherziger Versuch galt erneut dem Funkgerät. Nichts. Irgendwann, er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, kam Bewegung in das Grau. Es floss. Anders konnte Paul das nicht beschreiben. Er hatte sich vorgenommen, sich alles zu merken, was ihm auffiel. Das Grau floss, war jedoch nicht flüssig. Es wogte wie eine Welle auf ihn zu, hüllte ihn ein. Paul ahnte es eher, denn er fühlte weder einen Temperaturunterschied noch änderte sich etwas an der Luftzufuhr. Es schien wie ein Schatten, den er aus dem Augenwinkel heraus wahrnahm. Ein ziemlich langweiliger, grauer Schatten.

»Oh man, hier gibt’s ja mal nix! Das ist mit Abstand das langweiligste Universum, das man sich vorstellen kann«, rief Paul, nur, um irgendwas zu tun. »War ja klar, dass ich so was entdecke. Berta hätte eine geile Welt voller Action und Aliens entdeckt. Kacke auch. Wohnt hier wenigstens jemand?«

Erneut rollte eine graue Welle heran. Paul duckte sich, konnte aber ein weiteres kurzes Flackern vor seinen Augen nicht verhindern. »Toll, ich bin echt beeindruckt. Eine Lebensform aus Grau, die graue Wellen machen kann. Super.«

Was bist du?, hörte Paul plötzlich ein Wispern in seinem Kopf. Sogar das Grau schien gespannt innezuhalten. »Hallo?« Paul drehte sich im Kreis - glaubte er zumindest. »Hab ich das jetzt echt gehört?« Wispern war nie gut. Das wusste er aus zahlreichen Computerspielen. Wer wisperte, war ein Feind.

Ja, du hast es gehört.

Paul fuhr herum. Die Stimme war eindeutig von hinten gekommen. Doch da war nichts. Nur das allgegenwärtige Grau, das wieder zu wogen begonnen hatte.

»Wo bist du?«

Überall.

»Und wie siehst du aus?«

So, wie du mich siehst.

»Wenn du das Graue bist, bist du dann ein Geist?«

Ich weiß nicht, was ein Geist ist. Vielleicht.

»Oh man, das ist echt schwierig mit dir. Bist du ein Junge oder ein Mädchen?«

Das weiß ich nicht.

»Äh, so was weiß man doch. Und wie kommst du überhaupt in meinen Kopf?«, wunderte sich Paul. Dann seufzte er. »Ich brauche Enno, der weiß, wie er dir die Würmer aus der Nase ziehen kann.«

Das Grau schwieg.

»Wie komme ich hier raus?«

Raus aus was?

Paul stöhnte auf. »Na, raus aus dem Grau. Ich bin durch die Mauer gestiegen und durch ein Stück Dunkelheit und dann hier gelandet.«

Du kommst von der anderen Seite? Die Stimme klang jetzt aufgeregt, nicht mehr monoton wie die ganze Zeit über.

»Jahaaaa.«

Das Wogen wurde wilder. Paul musste stellenweise die Augen schließen, weil er das Gefühl hatte, verrückt zu werden, wenn er länger hinsah.

Wir haben uns beraten. Du darfst bleiben. Die Stimme klang stolz.

»Danke. Ich komme auch gerne darauf zurück. Allerdings muss ich jetzt erst einmal weg, meinen Kumpel holen. Mit dem könnt ihr euch dann über alles Mögliche austauschen. Der ist sehr intelligent.«

Du darfst bleiben, wiederholte die Stimme. Erzähle uns, wie du funktionierst.

»Wie ich ... was? Keine Ahnung, woher soll ich das wissen?«

Das Wispern in seinem Kopf wurde vielstimmig und echt anstrengend. Wie funktioniert dein Denken?, setzte sich eine Stimme durch.

»Ich hole Enno, okay«, presste Paul mit letzter Geduld zwischen den Zähnen hervor. Die waren ja sowas von nervig.

Du darfst bleiben.

»Arrghhhh!«

Nachdem Paul auf die nächsten Fragen, die wieder auf seine Körperfunktionen abzielten, nicht geantwortet hatte, ließen die Grauen von ihm ab. Die Stille war beinahe noch schlimmer als das Gewisper.

Paul hatte entsetzlichen Durst.

»Wäre einer von euch so gut, mir den Ausgang zu zeigen?«

Dieses Mal erhielt er keine Antwort. Paul starrte ins Grau, doch da wogte nichts. Er leckte sich über die ausgetrockneten Lippen. Dann wandte er sich in irgendeine Richtung. Er konnte nicht sagen, ob er nach rechts oder links lief. Was erschwerend hinzukam, war, dass er auch kein Zeitgefühl besaß. Er lief und zählte dabei bis dreihundert. Als er keinen Widerstand in Form einer Wand oder Ähnliches fühlte, drehte er um und lief zurück, dabei zählte er abermals bis dreihundert. Dann streckte er beide Arme zur Seite aus und drehte sich in Richtung der rechten Seite. Und wieder zählte er. Dies wiederholte er in der Richtung, die er für die entgegengesetzte hielt. Leider ohne Ergebnis. Sein Durst war mittlerweile unerträglich. Hinzu kamen stechende Kopfschmerzen. Er hatte das Gefühl, sein Schädel müsse jeden Moment bersten.

»Hey!«, rief er. Sein Ruf verkam zu einem Krächzen. »Wenn ich nicht bald etwas zu trinken bekomme, muss ich sterben.«

Was ist sterben?, hallte eine Stimme in seinem Kopf. »Ah, endlich.« Paul rieb sich müde über die Augen. »Sterben ist, wenn das Herz aufhört zu schlagen.«

Warum benötigt ihr ein Herz?

»Es pumpt Blut durch unseren Körper, da ist Sauerstoff drin. Wenn das Blut nicht mehr durch unsere Adern kreist, dann kommt kein Sauerstoff in den Zellen an. Besonders das Gehirn braucht dringend welchen, sonst sterben die Nervenzellen ab.«

Die folgende Stille wirkte, als würde das Wesen nachdenken.

Was, wenn etwas anderes die Aufgabe des Herzens übernimmt?

»Das gibt es in Krankenhäusern. Da werden Leute, die einen Unfall hatten an Maschinen angeschlossen, die dafür sorgen, dass diese Menschen weiter atmen und das Herz schlägt.«

Was ist ein Krankenhaus?

»Ein Ort, zu dem ich bald muss, wenn ihr mir nicht bald den Ausgang zeigt!«

Das Grau wallte und wogte nun ganz gewaltig. Die Stimmen begannen abermals, wild durcheinander zu wispern. Paul presste sich die Handballen an die Ohren. Er glaubte, vor Schmerzen ohnmächtig zu werden. Trotzdem er seine Ohren fest zudrückte, konnte er die Stimmen nicht abstellen. »Das ist total ätzend, was ihr macht!«, rief er. Die Stimmen ließen sich davon nicht beirren. Sie wurden sogar immer lauter. Paul schrie schmerzerfüllt auf. Er rannte los, dachte nicht nach, in welche Richtung. Er wollte nur noch weg von dem hektischen Wogen und den durcheinander flüsternden Stimmen.

Bildete er es sich nur ein, oder wurde das Grau etwas dunkler, das Wogen weniger? Er hielt darauf zu. Tatsächlich. Dieses Mal machte die Dunkelheit ihm keine Angst. In seinem Kopf erklang enttäuschtes Zischen. Paul beeilte sich. Was, wenn die grauen Wesen nicht länger körperlos blieben? Was, wenn sie zu unsagbar brutalen Dingen in der Lage waren, wenn sie sauer wurden? Die Grauen. So würde er sie fortan nennen. Er musste sie abhängen. Paul sah auf den Boden. Das Seil musste irgendwo hier sein. Hektisch fuhr er mit den Fußspitzen in die Dunkelheit. Plötzlich stolperte er über ein Hindernis. Paul ging auf alle viere und tastete um sich. Da, die Maglite. Wunderbar. Er betätigte den Knopf. Doch leider blieb das Licht aus. Das musste an dieser Welt liegen. Nichts funktionierte hier. Hoffentlich war das nicht wie in der Geschichte, die er neulich gelesen hatte. Es war um ein Mädchen gegangen, das im Urlaub in Irland zu einer Insel im Badesee geschwommen war. Die Insel war Teil des Elfenreiches gewesen. Das Mädchen hatte dort einen schönen Tag verbracht, und als es abends wieder zurückgeschwommen war, waren in der Menschenwelt vierhundert Jahre vergangen.

Wo willst du hin?

Paul zuckte zusammen. Die Stimme in seinem Kopf war so klar und deutlich, als stünde der Betreffende neben ihm.

»Raus will ich. Das ist ja wohl keine Überraschung.«

Warum?

»Weil ich sonst verrecke, du Schwachmat.« Paul fuhrwerkte mit den Händen in der Luft herum. Und da, endlich, ertasteten seine Finger das Seil. Er griff danach, schlüpfte eilig in die Schlaufe und zog. Er hoffte inständig, dass nicht vierhundert Jahre vergangen waren und seine Freunde ihn hochziehen würden. Eine Weile geschah nichts.

Du sollst uns nicht verlassen. Du bist willkommen!

Irrte er sich, oder hatte die Stimme traurig geklungen?

»Ich muss aber, denn ich habe Durst. Außerdem kann Enno euch eure Fragen viel besser beantworten.«

Enttäuschtes Aufheulen.

Ein Ruck ging durch das Seil. Paul spürte zwar nicht, wie er den Boden unter den Füßen verlor, aber der Druck des Seils um seine Brust zeigte ihm, dass es wohl nach oben ging. Die Stimmen wurden leiser und leiser. Dann wurde es vollends still. Paul seufzte erleichtert auf.

Als Andy und Enno ihn aus dem Loch zerrten, blieb Paul eine Weile liegen. Andys und Ennos besorgte Gesichter tauchten im Licht einer Taschenlampe auf. »Ist alles in Ordnung?«, fragte Enno.

»Ich bin so froh, hier zu sein. Und ich habe Durst.«

Andy reichte ihm eine Flasche Mineralwasser, die Paul ohne abzusetzen beinahe komplett austrank. Er rülpste inbrünstig und gab Andy die Flasche zurück.

»Jetzt erzähl schon«, drängte Enno. »Was hast du gefunden?«

»Lass ihn doch erst mal durchatmen«, fauchte Andy.

»Ich bin auch dafür, wir hauen ab und suchen uns einen Platz, wo wir ungestört reden können«, pflichtete Paul bei. Er warf misstrauische Blicke zum Einstieg. Während sie zusammenpackten und lose die Steine aufeinander schichteten, um das Loch zu tarnen, erfuhr Paul, dass er gute drei Stunden weggewesen war. Es war halb zwei Uhr nachts, um kurz vor halb elf war er in das Loch gestiegen. Nicht auszudenken, wenn seine Mutter merkte, dass er ausgebüchst war.

Sie saßen im Holzhaus des Spielplatzes in der Dresdner Straße. Auf dem kleinen Tisch in der Mitte stapelten sich Salzstangen, Chips und mehrere Dosen Cola. Paul hätte sich lieber in sein Bett gelegt. Er war müde, und er hatte immer noch Kopfschmerzen. Es war zu viel Aufregung für einen Tag gewesen.

»Das ist eine Sensation!«, jubelte Enno. »Die NASA versucht schon seit Jahrzehnten, Kontakt zu Außerirdischen aufzunehmen, und du stolperst zufällig darüber.«

»Ich find’s falsch, wenn wir das an die große Glocke hängen«, wandte Andy ein. »Klar ist das eine Wahnsinnsentdeckung, aber trotzdem haben wir eine Verantwortung. Stellt euch vor, das Militär erforscht die grauen Viecher.«

»Ja und?« Enno fischte mit spitzen Fingern eine Salzstange aus der Packung.

»Ganz ehrlich - ich kann mir auch nicht vorstellen, dass die Grauen mit dem Militär klar kommen«, sagte Paul.

Enno verdrehte die Augen. »Es geht doch nicht nur um das Militär. Die kommen doch immer nur zum Schutz mit. Aber Wissenschaftler aus der ganzen Welt werden anreisen, um das Phänomen zu ergründen. Paul, du wirst berühmt.«

»Leute, nehmt es mir nicht übel, aber ich muss ins Bett«, sagte Paul und gähnte.

»Wir treffen uns heute Abend wieder im Schlosspark, okay?«

Enno hob den Zeigefinger. »Zuerst einmal treffen wir uns in fünf Stunden in der Schule.«

»Klugscheißer«, sagten Andy und Paul gleichzeitig.

Es war ruhig im Hause Täther. Paul schlich auf Zehenspitzen in den Flur und schloss leise die Tür. Dann tastete er sich Schritt für Schritt die Treppe hinauf, dabei lauschte er immer wieder in die Dunkelheit. Alles blieb ruhig. Besondere Vorsicht ließ er vor der Schlafzimmertür seiner Mutter walten. Seine Mutter hörte nämlich die Mücken husten, wie sie selbst oft scherzhaft betonte. Paul hatte Glück. Unbemerkt erreichte er sein Zimmer und ließ sich erschöpft ins Bett fallen. Er schaffte es gerade noch, seine Schuhe auszuziehen, dann fielen ihm schon die Augen zu.

Kapitel 4

23. Juni 2017

»Du bist ja schon angezogen«, wurde er von der Stimme seiner Mutter geweckt.

Paul hob seine Augenlider, die bleischwer auf seine Augäpfel drückten. Verdammt, er fühlte sich wie ausgespuckt. Mühsam rappelte er sich auf. Alle Knochen schmerzten. Er griff nach seinem Schulranzen und schlappte in die Küche. Seine Mutter stellte ihm ein Glas Saft hin und musterte ihn kritisch. »Sag mal, du hast doch die gleichen Sachen an wie gestern.«

War da Misstrauen in ihrer Miene? Nein, sie sah arglos aus. Der Trick mit der zusammengerollten Fleecedecke und dem Ball unter seiner Bettdecke als schlafender Dummy hatte offenbar funktioniert. »Ja, und?«, fragte er extra patzig, damit sie auch jetzt keinen Verdacht schöpfte.

»Zieh dir wenigstens ein frisches T-Shirt an. Das hier schreit nach der Waschmaschine.«

Paul sah an sich herab und musste seiner Mutter ausnahmsweise recht geben. Sein T-Shirt sah wirklich verboten aus. Er schlurfte nach oben, wobei er bei jeder Treppenstufe das Gefühl hatte, in der Mitte auseinanderzubrechen. Er zog sich sein Minecraft-Bedwars-Shirt an und verließ kurz später das Haus.

Die Schule gestaltete sich wie erwartet. Die Ehrlich machte sarkastische Bemerkungen wegen der Fünf. Berta spielte mit ihrer Freundin heimlich Stadt-Land-Fluss und wurde nicht ein Mal erwischt. Paul fand es so unfair, dass seine Cousine sich alles rausnehmen konnte und nie Ärger bekam. Plötzlich traf ihn ein zusammengeknülltes Papier am Ohr. Er bückte sich, hob es auf, entfaltete es und las: Nicht vergessen, Park um 21.00.

Ennos Schrift. Paul drehte sich um und grinste seinen Freund an. Unglaublich, dass Enno lebenslangen Hausarrest riskierte. Das sah dem besonnenen Freund nicht ähnlich. »…nicht dauernd um andere Sachen kümmern würde, könnte der Herr Täther uns jetzt eine Antwort geben.«

Pauls Magen rumorte. »Um was geht es?«, fragte er betont forsch.

»Das könntest du dir selbst beantworten, wenn du aufgepasst hättest. Aber mir scheint, du bist mit allem Möglichen beschäftigt, nur nicht mit dem, was dienlich ist.« Beim letzten Wort traf ein Speichelspritzer Paul an der Wange. Er hasste es, wenn die Ehrlich zur Schlange mutierte und zu zischen begann. Als sie an seinem Tisch vorbeigezogen war, verdrehte er die Augen und sah zum wiederholten Mal auf die runde Wanduhr, die über der Tafel hing. Ihm kam es vor, als würden sich die Zeiger überhaupt nicht weiterbewegen. Zum Glück war Freitag.

Als Paul nach Hause kam, fand er die Mikrowellenschüssel auf dem Tisch vor. Daneben lag ein Zettel. Jede Menge Risotto, musst es dir nur warm machen. Bin gegen 18.00 Uhr zurück. Dicker Kuss, Mama.

Paul schaufelte die Hälfte des Reisgerichts in eine Plastikschale, stellte diese verschlossen in den Kühlschrank und wärmte sich die andere Hälfte in der Mikrowelle auf. Die Menge reichte völlig, um satt zu werden. Das restliche Risotto würde er auf die abendliche Expedition mitnehmen. Das konnte man auch gut kalt essen. Nach seiner Mahlzeit legte er sich auf die Couch und zappte durch die Kanäle. Es dauerte nicht lange, und er schlief tief und fest.

Um 17 Uhr riss ihn die Klingel aus dem Schlaf. Paul tappte benommen zur Tür. Durch den Glaseinsatz sah er Enno und Andy. Paul öffnete.

»Gott, wie siehst du denn aus?«, stieß Enno hervor. Er selbst war, wie immer, adrett gekleidet, die Frisur saß, die Augen funkelten.

»Hab gerade geschlafen.«

»Wir ham uns gedacht, wir besuchen dich. Heute Nacht hatten wir ja nicht richtig Zeit, um zu reden«, sagte Andy. Er trug eine gut gefüllte Supermarkttüte.

»Was hast du da?«, wollte Paul wissen.

Andy hielt die Tüte hoch. »Das, was wir heute Nacht nicht gegessen haben und noch ein paar frische Sachen.« Er holte Äpfel hervor.

»Das ist gut«. Paul winkte seine Freunde herein.

Andy ließ sich schwer auf die Couch fallen, während Enno nonchalant an der Terrassentür lehnte. »Wir müssen abstimmen, ob wir das erzählen wollen oder nicht«, ergriff Paul das Wort.

»Ich bin für erzählen«, sagte Enno.

Andy war dagegen. »Ich möchte das auch erst mal geheim halten. Schon allein, weil ich erst mal wissen möchte, was die mit dir, Enno, alles besprechen. Ich konnte denen ja nicht wirklich weiterhelfen«, sagte Paul. »Somit steht es zwei zu eins. Hast du ein Problem damit, wenn wir die Entscheidung vertagen? Also abwarten, in Ruhe die Grauen selber erforschen und dann erst den Erwachsenen Bescheid geben?«, fragte er Enno.

»Nein, das geht in Ordnung.«

Die Freunde griffen nach den Controllern und erkundeten gemeinsam die Welt der quaderförmigen Bauelemente auf der Spielekonsole. Konzentrieren konnten sie sich allerdings nicht. Immer wieder kamen sie auf die Grauen zu sprechen. Als Pauls Mutter nach Hause kam, verabschiedeten sich die beiden Freunde.

»Ich hab leider gar keine Zeit, mich mit dir zu unterhalten. Wir frühstücken morgen zusammen, ja? Ich habe irrsinnig viel zu tun. Leider kannst du mir nicht helfen«, sagte Pauls Mutter atemlos und verschwand schon im Keller.

»Okay«, schickte Paul ihr lahm hinterher. Er war froh, dass sie beschäftigt war, denn so konnte er sich in Ruhe der abendlichen Expedition widmen.

Er skypte noch schnell seine Freunde an, damit jeder wusste, was er mitzubringen hatte. Paul war für den Verbandskasten und Desinfektionsmittel verantwortlich. Er packte seinen Rucksack sorgfältig und vergaß auch nicht, zwei Paar sterile Handschuhe einzupacken. Dadurch, dass seine Mutter mit Lebensmitteln hantierte, musste sie ständig alles desinfizieren. Gut für die Expedition, die perfekt ausgerüstet starten konnte. Dann drapierte er seine Bettdecke wie auch am Vorabend so, dass es aussah, als schliefe er schon. Zum Glück waren die Zeiten, in denen seine Mutter ihn immer noch mal extra zugedeckt hatte, vorbei. Sie warf nur noch einen kurzen Blick ins Zimmer. Paul hatte sich schon oft schlafend gestellt und war dann an den Computer zurück geschlichen.