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Rhoda ist ein braves kleines Mädchen. Sehr wohlerzogen. Als geschickte Manipulatorin kann Rhoda Erwachsene leicht bezaubern und irreführen, während sie Angst und Abscheu bei anderen Kindern hervorruft. Die skrupellose Rhoda bekommt einfach alles, was sie
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Seitenzahl: 309
Veröffentlichungsjahr: 2025
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William March
Ein Klassiker des Psycho-Thrillers
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Martin Compart
Deutsch von Leni Sobez
Die böse Saat
NACHWORT Von Martin Compart
Anmerkungen
Eins
Im Spätsommer wusste Mrs. Penmark, dass der siebte Juni, der Tag des Schulausflugs, ihr letzter glücklicher Tag gewesen war. Aus dem Irrgarten, in den sie danach geriet, fand sie keinen Ausweg mehr.
Die hoch geachteten Schwestern Fern veranstalteten diesen Ausflug mit Picknick stets am ersten Samstag im Juni, denn Miss Octavia, die älteste der drei Schwestern, war davon überzeugt, dass an diesem Tag immer schönes Wetter herrschte. Ziel des Ausflugs war das Sommerhaus der Schwestern an der Pelikan-Bucht, wo sie geboren und aufgewachsen waren und wo sie als Kinder endlose Sommer verbracht hatten. Seit sie ihr Stadthaus aus wirtschaftlichen Gründen in eine Privatschule für die Kinder ihrer Freunde umgewandelt hatten, hingen sie mit noch größerer Liebe an diesem Sommerhaus als je zuvor.
«Wie herrlich waren diese Picknicks jedesmal!» schwärmte Miss Octavia den Kindern vor. «Alle unsere Freunde und Verwandten kamen und verbrachten einen wundervollen, harmonischen Tag unter den alten Eichen von Benedict. Streitereien gab es damals noch gar nicht. Diese Zeiten sind uns unvergesslich!»
Hier fiel dann stets Miss Burgess, die mittlere Schwester ein, welche die geschäftlichen Belange der Schule wahrnahm: «Damals, mit einem Haus voll Dienerschaft, war natürlich alles viel einfacher. Mutter fuhr immer ein paar Tage vorher mit einigen Hilfskräften nach Benedict, um alles vorzubereiten. Für die Küstenbewohner des Bezirks begann der Sommer erst richtig mit unserem Picknick.»
«Benedict ist ein entzückendes Fleckchen», steuerte Miss Claudia bei. «Auf unserem Besitz mündet der kleine Lost River in die Bucht.» Miss Claudia war die Kunsterzieherin der Schule und fügte daher automatisch hinzu: «Die Landschaft erinnert mich immer an die reizenden Flussbilder von Bombois.» Und da sie befürchtete, dass nicht sämtliche Schüler mit dem Werk von Bombois vertraut waren, fuhr sie fort: «Später werdet ihr diesen wundervollen Künstler noch selbst kennen lernen. Er ist so raffiniert in seiner vermeintlichen Kunstlosigkeit! Er zählt zu den französischen Primitiven. Sein Grün ist einmalig und bezaubernd.»
Am Tag des Picknicks lieferten die Eltern ihre Kinder persönlich an der Schule ab; für acht Uhr war der Omnibus bestellt. Christine Penmark, die sich keinesfalls verspäten wollte, stellte daher ihren Wecker auf sechs Uhr und prägte sich zusätzlich noch ein, dass sie unter allen Umständen um diese Zeit aufwachen müsse, falls der Wecker nicht läuten sollte. Selbstverständlich klingelte er, und es war ein wunderbarer Morgen. Entschlossen strich sie ihr hellblondes Haar zurück, sprang aus dem Bett und lief ins Bad. Dort stand sie vor dem Spiegel. Ihre Augen waren klar, grau und heiter, ihre Haut schimmerte gesund und leicht sonnengebräunt. Sie hielt die Zahnbürste in der Hand und lauschte den Geräuschen von draußen: Irgendwo in der Ferne fuhr ein Auto an, in den Eichen entlang der Straße lärmten die Spatzen, in der Nähe begann ein Kind zu weinen und wurde schnell beruhigt. Sie badete rasch, zog sich an und ging in die Küche, um das Frühstück zu bereiten.
Erst dann ging sie zum Zimmer ihrer Tochter, um sie aufzuwecken. Das Zimmer war leer und sauber aufgeräumt, das Bett gemacht, der Toilettentisch peinlich ordentlich. Auf einem Tisch neben dem Fenster lag ein halbfertiges Puzzle. Mrs. Penmark lächelte, denn es war eine der Lieblingsbeschäftigungen ihrer Tochter. Sie ging weiter und fand auch das Bad makellos aufgeräumt. Das Badetuch war zum Trocknen aufgehängt. Wie verdiene ich ein so wunderbares Kind, überlegte sie stolz. In dem Alter konnte ich noch keinen Handgriff selbst tun.
«Rhoda! Rhoda!» rief sie und betrat die Diele mit dem eingelegten Parkett. «Wo bist du denn, Liebling? Schon so früh fertig?»
«Hier bin ich, im Wohnzimmer», antwortete Rhoda langsam und mit so vorsichtiger Stimme, als seien gesprochene Worte gefährliche Dinge.
Wenn andere Leute von ihrer Tochter sprachen, gebrauchten sie Adjektive wie ‹geschickt›, ‹sittsam› oder ‹altmodisch›. Mrs. Penmark stand unter der Tür und pflichtete diesen Leuten lächelnd bei. Woher hatte das Kind nur diese Ruhe, diese Ordnungsliebe, diese Selbstgenügsamkeit?
«Konntest du wirklich deine Haare ganz allein kämmen?» fragte sie.
Das Kind drehte sich ein wenig um, damit die Mutter ihr Haar begutachten konnte. Mrs. Penmark war stolz darauf, dass sie nichts daran auszusetzen fand, und drückte einen Kuss auf die Stirn ihrer Tochter. «Das Frühstück ist gleich fertig», sagte sie. «Iss tüchtig, denn bei einem Ausflug mit Picknick weiß man nie, wann es Mittagessen gibt.»
Rhoda setzte sich an den Tisch. Ihr Gesicht zeigte einen Ausdruck feierlicher Harmlosigkeit. Dann lächelte sie, und in ihrer linken Wange erschien ein flaches Grübchen. Ihr Lächeln war merkwürdig und ein wenig zögerlich und gab die kleine Spalte zwischen ihren beiden Vorderzähnen frei.
Erst am Tag zuvor hatte Mrs. Monica Breedlove, die im Stockwerk über ihnen wohnte, zu Mrs. Penmark gesagt: «Diese Spalte ist einfach süß. Wissen Sie, Rhoda ist ein geradezu hinreißend altmodisches Mädchen. Im Haus meiner Großmutter gab es kolorierte Drucke, und ich erinnere mich noch heute an ein kleines Mädchens mit Schnürstiefeln, Ringelstrümpfen, offenem Haar und Pelzmuff, und dieses kleine Mädchen fällt mir immer wieder ein, wenn ich Rhoda sehe.»
Mrs. Breedlove war der Meinung, dass alles, was man sagte oder tat, unbedingt mit anderen Dingen zusammenhing und in einen großen Rahmen passte, selbst wenn die Zusammenhänge nicht ohne weiteres klar zu erkennen waren. Sie kam zu dem Schluss, dass sich die Bewunderung für diese Drucke auf Rhoda übertragen hatte, und diese Tatsache stand für sie fest. Doch dann erinnerte sie sich daran, dass ihr Bruder Emory, mit dem sie die Wohnung teilte, das Kind ebenso bewunderte wie sie. Aber Emorys Zuneigung war sicher nicht auf eine Vorliebe für alte Lithographien zurückzuführen, denn er war neun Jahre jünger als sie und hatte die Drucke wahrscheinlich nie gesehen. Großmutters Besitz wurde nämlich nach ihrem Tod – sie starb zwei Jahre vor Emorys Geburt – unter den Erben aufgeteilt. Es gab also keinen Grund … Sie wartete, ob ihr Assoziationssystem so zuverlässig arbeitete, wie sie angenommen hatte, und ihre Brauen zuckten etwas verwirrt.
Am Tage zuvor hatte sie diese Gedanken ausgesprochen, als sie mit Mrs. Penmark und deren Tochter gemütlich von den Schulschlussfeiern nach Hause ging. Es waren die üblichen Gedichte aufgesagt worden, die kleinen Rezitatoren waren wie üblich steckengeblieben, und auch die üblichen Tränen waren geflossen, die von den besorgten Eltern mit weißen Taschentüchern getrocknet wurden. Miss Burgess Fern, die mittlere der Schwestern, hatte die erwartete Ansprache gehalten, die das gewohnte Thema – Ehre und fair play – zum Gegenstand hatte. Dann folgte ein Harfensolo von Miss Claudia Fern, die einmal in Rom studiert hatte.
Nachdem auch noch der Kinderchor die Schulhymne gesungen hatte, wurden die Preise für die besten Leistungen verteilt. Ganz zum Schluss kam der in den Augen der Schüler wichtigste Preis an die Reihe, die goldene Medaille für jenes Schulkind, das im abgelaufenen Jahr die größten Fortschritte gemacht hatte. Ausschlaggebend war dabei die sprachliche Ausdrucksfähigkeit im Aufsatz. Miss Octavia sagte oft: «Die Klarheit, Eleganz und Feinheit des schriftlichen Ausdrucks zeigt den wahren Charakter und den Hintergrund einer Persönlichkeit.»
Diese Medaille hatte Rhoda von Anfang an erringen wollen, und sie war fest davon überzeugt, sie auch zu bekommen. Sie hatte fleißig geübt, mit entschlossener Hand den Füller umklammert und ihre Zunge zwischen die Zähne geschoben. Aber dann ging die Medaille nicht an sie, sondern an einen dünnen, schwächlichen Jungen namens Claude Daigle, der im gleichen Alter und in derselben Klasse war wie sie.
Als die Darbietungen vorüber waren und die Schüler mit ihren Eltern unter den Eichen über den Rasen schlenderten, kam Miss Claudia heran und legte Rhoda eine Hand auf die Schulter. «Du darfst nicht betrübt sein, weil du die Medaille nicht gewonnen hast», sagte sie. «Ich weiß, wie wichtig solche Dinge in deinem Alter sind – aber, weißt du, in diesem Jahr war es ein extrem knappes Rennen.» Nun wandte sie sich an Mrs. Breedlove.
«Rhoda war unendlich fleißig, und sie hat unermüdlich geübt, um ihren Stil zu verbessern. Wir alle wissen, wie sehr sie sich diese Medaille gewünscht hat, und ich war eigentlich sicher, dass Rhoda sie auch gewinnen würde. Aber dann haben unsere Preisrichter, die wirklich unparteiisch sind und nicht einmal die Namen jener Kinder kennen, deren Arbeiten sie prüfen, dem kleinen Daigle den Preis zuerkannt, obwohl er nicht Rhodas saubere Handschrift hat. Sie waren eben der Meinung, Claude habe die größten Fortschritte gemacht, und für die Fortschritte wird die Medaille ja schließlich verliehen.»
Christine wusste genau, wie enttäuscht Rhoda gewesen war, und versuchte nun, sie aufzuheitern. «Es wird sicher ein wunderschöner Tag werden», meinte sie fröhlich. «Wenn du selbst einmal ein kleines Mädchen hast, das zu einem Schulpicknick geht, wirst du dich mit Vergnügen an dein eigenes erinnern.»
Rhoda nippte an ihrem Orangensaft und dachte über die Worte ihrer Mutter nach. «Ich verstehe nicht, weshalb Claude Daigle die Medaille bekommen hat», antwortete sie unbewegt, als wiederholte sie etwas, das sie nicht berührte. «Sie stand mir zu. Jeder wusste, dass ich sie hätte bekommen müssen.»
Christine strich mit zärtlichen Fingern über die Wange ihres Kindes. «Solche Dinge kommen immer wieder vor. Und wenn sie geschehen, hat man sie zu akzeptieren. Ich würde an deiner Stelle die ganze Sache vergessen.»
Sie zog ihre Tochter an sich, und diese überließ sich der Zärtlichkeit ihrer Mutter mit der Geduld eines Haustiers, das niemals völlig gezähmt werden kann; dann zog sie sich von ihr zurück und strich ihre Stirnfransen glatt. Vermutlich war ihr allerdings bewusst, dass dies eine verletzende Geste war, und so zeigte sie rasch ihr versöhnlich stimmendes Lächeln.
Christine lachte leise. «Ja, ich weiß», sagte sie dazu, «wie wenig du es magst, wenn man dich berührt. Entschuldige bitte.»
«Die Medaille hätte mir gehört», wiederholte Rhoda dickköpfig. Ihre großen hellbraunen Augen leuchteten unnachgiebig. «Es war meine Medaille.»
Christine seufzte und ging ins Wohnzimmer. Auf dem Fensterbrett kniend hakte sie die schweren, altmodischen Laden aus und legte sie zurück, damit die weiche Morgensonne den Raum fluten konnte. Es war jetzt fast sieben Uhr, und die Straße wachte allmählich auf. Der alte Mr. Middleton kam auf seine Vorderveranda heraus, gähnte, kratzte sich am Bauch und ging schwerfällig in die Knie, um die Morgenzeitung aufzuheben. Die Köchinnen der Familien Truby und Kunkel kamen aus entgegengesetzten Richtungen, nickten und grüßten einander und verschwanden in ihre Häuser. Ein halbwüchsiges Mädchen mit dünnen, formlosen Beinen rannte mit ungeschickten, ungraziösen Sprüngen zur Bushaltestelle.
Mrs. Penmark lächelte über diese vertrauten Dinge und begann, das Wohnzimmer aufzuräumen. Als der Beruf ihres Mannes sie in diese Stadt verschlagen hatte, wünschten sie sich ein eigenes Haus, denn sie hatten bisher immer nur zur Miete gewohnt. Da sie nicht gleich etwas fanden, das ihren Wünschen entsprach, nahmen sie wieder eine Wohnung und beschlossen, sich später selbst ein Häuschen zu bauen.
Ihre Wohnung lag in einem roten Ziegelhaus von viktorianischer Eleganz; die Türmchen, Erker und eindrucksvollen Wasserspeier ergänzten einander zu einer imposanten architektonischen Verrücktheit. Das Haus stand auf einem kleinen Hügel inmitten von Büschen und wurde von einem wohlgepflegten Rasen eingerahmt. Als es gebaut wurde, kaufte man das hinten anschließende Grundstück für Kinder hinzu, die eines Tages einmal darin wohnen würden. Dort war inzwischen ein von einer hohen Ziegelmauer eingefasster Park entstanden. Es war der Spielplatz, der die Penmarks besonders angezogen hatte, nicht die allzu große und unpraktische Wohnung.
Die Türglocke schlug an, und Christine ging, um zu öffnen. Es war Mrs. Monica Breedlove vom oberen Stock. «Ich wollte mich nur überzeugen, dass man an einem so wichtigen Tag hier nicht verschlafen hat», rief sie fröhlich. «Ich dachte, mein Bruder Emory würde auch mitkommen, aber er schläft noch. Nichts auf der Welt kann ihn vor acht Uhr aus dem Bett holen, aber er machte wenigstens einmal ein Auge auf und bot mir an, wir könnten seinen Wagen benutzen, der vor dem Haus steht. Ich werde also, wenn Sie wollen, Sie und Rhoda zur Schule fahren. Sie können sich die Mühe sparen, Ihren eigenen Wagen aus der Garage zu holen. Und für dich», wandte sie sich an Rhoda, «habe ich auch etwas, mein Kind. Das eine Geschenk ist von Emory. Es ist eine Sonnenbrille mit einer Verzierung aus Strass-Steinen, damit die Sonne dir nicht in die hübschen braunen Augen scheint.»
Rasch lief das Kind auf Mrs. Breedlove zu, mit einem Gesichtsausdruck, den Christine «Rhodas gierige Augen» nannte. Gehorsam blieb sie stehen, während ihr Mrs. Breedlove die Brille aufsetzte, und wandte sich dann zum Spiegel um. Monica trat einen Schritt zurück und klatschte begeistert in die Hände. «Nun schaut euch doch einmal diese bildhübsche Hollywood-Diva an! Ist das wirklich die kleine Rhoda Penmark, die mit ihren wundervollen Eltern im Erdgeschoss meines Hauses wohnt? Ist es möglich, dass dieses entzückende, kluge Persönchen die kleine Rhoda Penmark ist, die von allen so geliebt und bewundert wird?»
Sie machte eine kleine, eindrucksvolle Kunstpause und fuhr in einer etwas gemäßigteren Tonart fort: «Und nun das zweite Geschenk. Es ist von mir.»
Sie nahm aus ihrer Tasche ein goldenes Herz, das an einer hübsch gearbeiteten Kette hing. Dazu erklärte sie, dass sie selbst dieses Herz bekommen habe, als sie acht Jahre alt gewesen war; es habe die ganze lange Zeit in ihrem Schmuckkästchen nur auf diesen Tag gewartet. Sie hatte es zum Geburtstag bekommen; es war auf der einen Seite mit einem Granat, ihrem Geburtsstein, besetzt. Den wollte sie aber gegen Rhodas Geburtsstein, einen Türkis, austauschen und auch den Verschluss reparieren lassen, da er nicht mehr richtig zu funktionieren schien. Kein Wunder, denn sie besaß das Schmuckstück schließlich seit mehr als fünfzig Jahren.
«Kann ich beide Steine bekommen?» fragte Rhoda. «Auch den kleinen Granat?»
Christine lächelte und schüttelte abwehrend den Kopf. «Rhoda! Wie kannst du nur so etwas sagen!»
Aber Mrs. Breedlove lachte nur erfreut. «Aber natürlich, Kindchen! Du bekommst selbstverständlich beide Steine, Liebling!» Sie setzte sich auf einen Stuhl. «Oh, wie wundervoll ist es doch, wenn ein kleines Mädchen so absolut natürlich ist. Als ich diesen Anhänger von meinem Onkel Thomas Lightfoot bekam, stand ich steif und stumm im Salon, klammerte mich an mein Faltenröckchen und war die personifizierte Angst und Verlegenheit.»
Das Kind ging zu ihr, legte ihr die Arme um den Hals und küsste sie mit einer geradezu pedantischen Intensität. Rhoda lachte leise und rieb ihre Wange an jener der entzückten Frau. «Tante Monica», sagte sie mit leiser, fast scheuer Stimme, als könne sie so viel Liebe und Glück gar nicht ertragen. «Oh, Tante Monica!»
Halb amüsiert, halb besorgt wandte sich Christine ab und ging in das Speisezimmer hinüber. Welch eine Schauspielerin Rhoda doch ist, dachte sie. Wie genau sie weiß, wie sie Menschen behandeln muss, wenn sie einen Vorteil wittert.
Als sie in das Wohnzimmer zurückkehrte, begutachtete Mrs. Breedlove gerade das Kleid des Kindes. «Du siehst aus, als gingest du zu einem eleganten Tee und nicht zu einem Picknick am Strand», meinte sie fröhlich. «Ich weiß ja, dass ich hoffnungslos rückständig bin, aber ich dachte, zu einem Picknick zieht man heute Latzhosen an. Liebes, in diesem weißen, rotgepunkteten Kleidchen siehst du wie eine Prinzessin aus. Hast du denn keine Angst, du könntest es schmutzig machen? Hast du denn keine Angst um deine hübschen neuen Schühchen?»
«Sie wird weder das Kleid schmutzig machen noch die Schuhe verderben», erklärte Christine und wartete, ehe sie fortfuhr, einen Augenblick, als debattiere sie mit sich selbst. «Rhoda macht sich nie schmutzig. Wie sie das schafft, verstehe ich selbst nicht. Wissen Sie, ich hätte sie gern so angezogen, wie die anderen Kinder sich kleiden, aber sie weiß sehr genau, was sie will. Ich dachte mir deshalb, wenn sie eines ihrer besten Kleidchen anziehen will, so soll sie es eben tun.»
«Latzhosen mag ich nicht», sagte Rhoda ernst und ein wenig zögernd. «Sie sind nicht …» Sie wartete, als wolle sie den Satz unvollendet lassen, und Mrs. Breedlove fiel lachend und bereitwillig ein: «Sie sind nicht sehr damenhaft, wolltest du doch sicher sagen, nicht wahr, mein Liebes? Oh, mein süßes, kleines, altmodisches Herzchen! Du bist wirklich entzückend!»
Als sie mit allen Vorbereitungen fertig waren, ging Rhoda in ihr Schlafzimmer, um das Medaillon wegzuräumen. Auf dem harten Parkettboden machten ihre Absätze scharfe Stakkatogeräusche. «Sag mal, Liebes, was hast du mit deinen Schuhen gemacht?» erkundigte sich Mrs. Breedlove. «Das klingt ja, als wärest du Fred Astaire. Ist das etwas Neues, von dem ich noch nichts gehört habe?»
Rhoda kehrte um, legte eine Hand auf Monicas Schulter, um sich festzuhalten, und zeigte ihre Schuhe her. Sie waren schwerer als gewöhnliche Kinderschuhe und hatten dicke Lederabsätze, die mit halbmondförmigen Metallbeschlägen verstärkt waren. «Ich trete nämlich meine Absätze ganz schrecklich ab», erklärte sie dazu, «und da ließ mir Mutter auf dieses Paar solche Eisenbeschläge machen, damit sie länger halten. War das nicht eine gute Idee?»
«Es war Rhodas Vorschlag, nicht meiner», ergänzte Christine. «Ich fürchte, so gute Ideen habe ich nie. Sie wissen doch, wie schrecklich unpraktisch ich bin. Das ist Rhoda eingefallen.»
«Sie sind, glaube ich, sehr schön», meinte Rhoda ernst. «Man spart Geld damit.»
«Oh, bist du ein kluges, süßes, sparsames Herzchen», schwärmte Monica. «Ein richtiges praktisches Hausmütterchen.» Sie umarmte das Kind voller Begeisterung. «Und was werden wir einmal mit ihr anfangen, Christine? Sagen Sie mir doch, was man mit einem so bemerkenswert klugen Kind tun kann!»
Als sie das Haus verließen, blieben sie auf den Marmorstufen stehen, denn Leroy Jessup, der Hausmeister, spritzte den Fußweg, der zur Straße führte. Er tat seine Arbeit mit einer kummervollen Beharrlichkeit, die den Himmel zum Zeugen für die Ungerechtigkeit anzurufen schien, die man ihm mit so trivialen Aufgaben antat. Seine Lippen bewegten sich im Takt seiner Hände, um seine verdrießlichen Gedanken zu formen, die gleichzeitig sein Vergnügen waren, denn sein Geist beschäftigte sich unablässig mit den Ungerechtigkeiten, die man ihm aufzwang, die er schweigend ertragen musste, denn er gehörte zu den Unterprivilegierten dieser Erde. Unglücklicher Sohn eines unglücklichen kleinen Farmers, der seine Pacht mit einem Teil seiner Ernte bezahlte, jammervolles Opfer eines Systems der Unterdrückung, die, wie jeder freimütig zugab, schon allzu lange gedauert hatte.
Natürlich wusste er, dass die beiden Frauen mit dem kleinen Mädchen auf den Stufen standen, aber er gab vor, sie nicht zu sehen, und ließ den Schlauch dort, wo er war, so dass sie nicht vorbeigehen konnten. Schließlich leitete er den Wasserstrom so weit dem Haus entgegen, dass die Gruppe sofort wieder die Verandastufen hinaufsteigen musste. Das gefiel ihm so gut, dass er die Hand vor den Mund legte, um sein hämisches Grinsen zu verdecken.
«Leroy, wollen Sie bitte diesen Schlauch wegnehmen?» sagte Mrs. Breedlove geduldig. «Wir müssen zum Wagen meines Bruders. Wir haben es eilig.»
Er gab vor, nichts gehört zu haben, denn er wollte diese Szene solange wie möglich auskosten. Aber nun verlor Monica doch die Geduld. «Leroy, sagen Sie, sind Sie wahnsinnig geworden?»
Er sah sie unverschämt an, als könne er sich nicht entscheiden, was er tun solle; doch dann verlegte er den Schlauch, so dass das Wasser auf den Rasen lief. «Ich muss doch arbeiten», murmelte er. «Sie scheinen das nicht zu wissen. Ich kann mir's nicht leisten, mit dem Bus zu fahren und zum Picknick zu gehen. Hab' zu viel Arbeit.»
Er stemmte die Hände in die Hüften und dachte darüber nach, wie schamlos man ihn ausnutzte. Er wohnte ja schließlich nicht in einem eleganten Haus mit riesigen Wohnungen, und er hatte auch keine Dienerschaft, die ihm aufwartete. Auch ein Automobil besaß er nicht, sondern nur ein Wrack von einem Vehikel, das nicht einmal der Schrotthändler geschenkt haben wollte. Schöne Kleider besaß er auch nicht, und als Kind schickte man ihn nicht in eine sündhaft teure Privatschule, in der man Picknicks veranstaltete und wo es auch sonst allerhand Schnickschnack gab. Nein, Sir, er hatte bei jedem Wetter zu Fuß und meistens dazu noch barfuß zur Schule marschieren müssen. Aber trotzdem war er ein gutes Stück heller als diese Dummköpfe, denen die ungerechte Welt alle Vorteile bot; er konnte, wann immer er wollte, aus diesen Dummköpfen Geld herausholen …
Er tat sich selbst unendlich leid. Er war jetzt ein armer Teufel und war schon damals, als er in Rhodas Alter war, ein armer Teufel gewesen. Er war davon überzeugt, dass sich die Welt gegen ihn verbündet hatte und ihn um das betrog, was ihm zustand. Er sah den Frauen und dem kleinen Mädchen nach, die auf Zehenspitzen über den überschwemmten Fußweg gingen. Als sie dann den Gehsteig erreicht hatten, bewegte er den Schlauch so abrupt, dass das Wasser über die Füße der Leute spülte, die er so abgrundtief verachtete.
Mrs. Breedloves Hand, die auf der Wagentür lag, zitterte heftig, und eine Blutwelle schoss ihr ins Gesicht. Sie zählte ganz ruhig bis zehn, um erst dann mit beherrschter Stimme Leroys emotionale Verfassung zu analysieren: Früher hatte sie geglaubt, er sei in der Gefühlswelt eines Kindes stehengeblieben, werde von unvernünftiger Wut beherrscht und sei von der Konstitution her eine Art Psychopath; jetzt, nach dieser eben erlebten Demonstration überlegte sie, ob ihre Diagnose nicht zu mild gewesen war. Jetzt war sie von seiner schizophrenen Veranlagung überzeugt, die deutlich paranoide Züge aufwies. Und allmählich, dachte sie, habe sie seine Unhöflichkeit und Verdrießlichkeit satt. Die anderen Mieter des Hauses seien einer Meinung mit ihr. Er wisse es zwar nicht, aber es sei eindeutig ihr zu verdanken, dass er seine Stellung noch habe, denn die anderen Mieter hatten ebenso wie ihr Bruder Emory seine Entlassung verlangt. Sie habe immer sein rüdes Benehmen damit entschuldigt, dass er ja nichts für seine Grobheit könne, doch jetzt sei das Maß endgültig voll.
Christine legte eine beruhigende Hand auf Mrs. Breedloves Ärmel. «Er wollte uns doch nicht anspritzen», sagte sie. «Es war sicher nur Zufall. Davon bin ich überzeugt.»
«Es war Absicht», erklärte Rhoda bestimmt. «Ich kenne Leroy gut.»
«Nein, liebe Christine, es war kein Zufall», unterstrich sie Rhodas Bemerkung. «Ganz bestimmt nicht.» Aber ihr Zorn ebbte schon wieder ab. «Es war Absicht und die boshafte Tat eines neurotischen Kindes.»
«Es war Absicht», wiederholte Rhoda mit kalter, nachdenklicher Stimme, und sie sah Leroy mit ihren runden, berechnenden Augen an, als wolle sie in seinen Geist eindringen. Dann wandte sie sich direkt an den Mann: «Das haben Sie sich ausgedacht, als wir auf den Stufen standen. Ich habe Sie angesehen, als Sie beschlossen, uns anzuspritzen.»
Leroy erkannte nun, dass er diesmal zu weit gegangen war, dass er sich von seinen Rachegelüsten und dem Gefühl, benachteiligt zu werden, zu einer Tat hatte hinreißen lassen, die sein Verstand nicht ganz gutgeheißen hatte. Er wurde sehr demütig, entschuldigte sich, kniete auf dem nassen Pflaster nieder, nahm sein Taschentuch heraus und wischte zum Zeichen der Unterwürfigkeit und seiner Reue die Schuhe von Mrs. Breedlove und ihrer Gäste trocken.
Verlegen zog sich Mrs. Penmark zurück. «Oh, bitte! Nein, bitte!» wehrte sie ab.
Monica öffnete die Wagentür. Jetzt war ihr Ärger ganz verflogen und sie schämte sich ihrer vorigen Unbeherrschtheit. «Na schön», seufzte sie. «Aber Sie dürften sich wirklich allmählich darüber klar sein, dass meine Geduld Grenzen hat.»
Leroy knüllte das beschmutzte Taschentuch zusammen und warf es auf die Straße. Allmählich verstärkte sich in ihm wieder das Gefühl, die Situation zu beherrschen und jeden Vorfall nach seinem Belieben drehen zu können. Diese hübsche Mrs. Penmark, diese gedankenlose Blondine, war ja viel zu dumm, als dass sie begriffen hätte, weshalb er sich an ihr rächen musste. Sie war eine von diesen weichen, leicht umzustimmenden Weibern, denen jeder Mensch leidtat. Sie ließ sich von ihrer Freundlichkeit auffressen. Bei der konnte man jeden schmutzigen Trick ausspielen, ohne dass man Angst zu haben brauchte, sie würde zurückschlagen oder wenigstens vor Hass sprühen; nein, sie fühlte sich eher noch schuldig und war überzeugt, alles sei nur ihr Fehler. Er spuckte auf den Rasen und war wieder ebenso selbstsicher wie vorher.
Und diese alte Hexe Breedlove, die immer so große Reden führte, war auch im Unrecht, wenn auch aus anderen Gründen. Sie glaubte, sie sei so überaus klug, wisse alles und kenne jeden Trick, aber auch sie fühlte sich schuldbewusst, weil sie so eingebildet war. Wie konnten gewöhnliche Leute ihr auch das Wasser reichen oder so klug und vornehm sein wie sie? Sie sollte ruhig ihre Gewissensbisse haben, denn dann schickte sie ihr Dienstmädchen mit einem Zehner zu ihm hinunter, um ihn für die Beleidigung, die sie ihm zugefügt hatte, zu entschädigen. Das war schon etwas!
Er hob den Schlauch wieder auf. Der Sieg gehörte auch diesmal ihm, so wie früher immer. Bei solchen Dummköpfen brauchte man nur abzuwarten; abzuwarten, mehr war nicht nötig. Aber dann hatte diese Rhoda gesagt, er habe es absichtlich getan.
Auf dem Gesicht des Kindes war kein Ausdruck von Bosheit, nicht einmal der Missbilligung zu erkennen gewesen, nur eine unbeirrbare Abschätzung seines Charakters, die ihn verblüfft hatte. In diesem Moment hatte er verstanden, dass dieses Mädchen ihn begriffen hatte. Verwirrt hatte er sich abgewandt, um nicht das Wissen in ihren Augen zu lesen, dass seine Waffen bei ihr versagen mussten. Als deshalb das Auto mit Mrs. Breedloves beringten Händen am Steuer auf die Straße hinausfuhr, murmelte er leise vor sich hin: «Dieses ekelhafte kleine Luder! An der kann man sich nicht vorbeischwindeln. Die würde einem kaltblütig ein Messer zwischen die Rippen stoßen und noch zusehen, wie das Blut herausspritzt!»
Er meinte damit nicht Mrs. Breedlove, sondern Rhoda Penmark.
«Manchmal», erzählte Rhoda den beiden Frauen, «wenn Leroy recht schlechter Laune ist, dann behauptet er, dass er den Schlüssel zum Parktor verlegt habe. Er sperrt dann einfach nicht auf, und wir können nicht spielen. Er will nur, dass wir betteln, er solle aufsperren. Ich glaube, Leroy ist ein sehr gemeiner Mensch.»
Mrs. Breedloves Laune besserte sich zusehends. «Oh, Rhodas Akzent ist einfach bezaubernd!» schwärmte sie und zupfte liebevoll am Ohrläppchen des Mädchens. «Er ist faszinierend, mein Kind. Schade, dass er sich nicht lernen lässt.»
Christine lachte leise. «Mein Mittelwestendialekt und Kenneths Neuenglandakzent ließen dem armen Kind ja gar keine andere Wahl.»
Leroy schraubte den Schlauch ab und rollte ihn auf, um ihn im Keller zu verstauen. Niemand kann Rhoda etwas in die Schuhe schieben, dachte er dabei, mir aber auch nicht. Ich glaube, Rhoda und ich – wir sind einander sehr ähnlich.
Dass er damit nicht recht hatte, werden wir noch feststellen, denn Rhoda war fähig, das in die Tat umzusetzen, was seine Phantasie sich allenfalls auszudenken vermochte.
Zwei
Mrs. Penmark hatte ihre Tochter im August des Vorjahres in der Fern-Schule angemeldet. Miss Burgess nahm die Anmeldung entgegen. «Sie dürfen nicht glauben», warnte sie vorsichtig, «dass unsere Anstalt eine sogenannte progressive Schule ist. Wir lehren die Feinheiten, auch ein wenig die Eleganz des anspruchsvolleren Lebens, aber wir vermitteln unseren Schülern auch eine gute praktische Wissensgrundlage. Wir lehren sie eine recht ordentliche Rechtschreibung und ein fließendes Lesen, nach Möglichkeit auch mit einigem Ausdruck. Die Kinder lernen Rechnen, nicht in der Sandkiste oder mit Muscheln und Blumenblättern, sondern nach Rechenbüchern und an der Schultafel.»
«Oh, das weiß ich», antwortete Christine. «Mein Mann und ich haben darüber ausführlich mit einer Wohnungsnachbarin gesprochen, einer Mrs. Breedlove, und aus dem, was wir von ihr hörten, konnten wir schließen, dass Ihre Schule für ein Kind vom Temperament unserer Rhoda ideal sein müsste.» In diesem Augenblick kam Miss Claudia hinzu, und Mrs. Penmark fuhr ein wenig unsicher fort: «Sie kennen doch sicher Mrs. Breedlove?»
Die beiden Schwestern sahen einander kurz an, als seien sie über eine solche Frage erstaunt. «Monica Breedlove?» fragte Miss Burgess. «Ja, natürlich. Monica kennt doch jeder in der Stadt. Sie ist eine der aktivsten Bürgerinnen. Vor einigen Jahren gewann sie die Medaille der Bürgervereinigung für ihre besonderen Verdienste.»
Auch Miss Octavia kam dazu und setzte sich an ihren Schreibtisch. «Ich fürchte», meinte sie lächelnd, «der Name Penmark ist mir unbekannt. Sind Sie schon lange hier?»
«Nein, mein Mann wurde erst vor einer Woche von Baltimore zur hiesigen Niederlassung der Callendar Steamshipversetzt. Wir kennen hier kaum einen Menschen.» Miss Fern seufzte, als stehe ihr eine unangenehme Aufgabe bevor. Christine schien es zu ahnen. «Die Familie meines Mannes stammt aus Neuengland», fuhr sie fort. «Dort ist, wie mir gesagt wurde, der Name Penmark besser bekannt.»
«Wissen Sie, unsere Schule ist nicht gerade preiswert», erklärte Miss Burgess. «Unser Unterricht hat ein hohes Niveau, und das ist darauf zurückzuführen, dass wir unsere Schüler sehr genau aussuchen. Wir weisen im Allgemeinen weit mehr ab, als wir aufnehmen.»
«Bei uns gibt es keinen falschen Stolz und keinen Snobismus», erwähnte Miss Octavia mit einigem Nachdruck. «Wir befassen uns gründlich mit den Problemen der Kinder und kennen keine Vorurteile. Wir glauben aber, es liegt absolut nicht im Interesse unserer Schüler, wenn wir die Wichtigkeit ihrer Abkunft leugnen und das herunterspielen, was ihre Vorfahren erreicht und geschaffen haben, ob es sich nun um Ruhm oder Vermögen handelt. Mit anderen Worten, wir folgen dem demokratischen Ideal, sind dazu aber nur dann in der Lage, wenn alle Mitglieder einer bestimmten Gruppe den gleichen Gesellschaftsschichten entstammen, in diesem Fall also den oberen Schichten.»
Mrs. Penmark dachte kurz über diese bemerkenswerten Worte nach. «Ich glaube», erwiderte sie dann, «Sie werden unsere Familie akzeptieren können.» Sie erzählte noch, dass sie im Mittelwesten geboren sei, an der Universität von Minnesota studiert und mit recht gutem Erfolg graduiert habe. Dann sah sie ein wenig verlegen auf ihre Hände hinunter. «Mein Vater, den ich sehr geliebt habe, kam bei einem Flugzeugunglück ums Leben. Er hieß Richard Bravo und hatte sich als Kolumnist und Kriegsberichterstatter einen recht guten Namen gemacht.»
«Oh, natürlich!» rief Miss Octavia. «Ich kenne seine Arbeiten. Er hatte ungemein viel Vorstellungskraft und einen blendenden Prosastil.» Die Schwestern nickten dazu. «Er war ein Mann, der in die Tiefe ging und sehr viel Verständnis bewies. Sein Tod war ein großer Verlust.»
«In der Bibliothek steht ein Buch von ihm, eine Sammlung seiner besten Artikel», erklärte Miss Burgess eifrig, aber Miss Octavia wehrte ab, denn sie hielt die Angelegenheit für abgeschlossen, da Mrs. Penmark die Eignung ihrer Tochter hinreichend bewiesen hatte. «Sie wissen vielleicht», sagte sie stattdessen, «dass wir nur eine begrenzte Schülerzahl aufnehmen können. An sich sind wir auch schon völlig ausgebucht; aber für die Enkelin von Richard Bravo werden wir schon noch ein Plätzchen finden.» Sie stand auf, neigte leicht den Kopf und verließ den Raum.
Miss Claudia hatte das gefunden, was sie in den Akten gesucht hatte. «Monica Breedlove ist also Ihre Wohnungsnachbarin? Ich erinnere mich noch sehr gut, dass sie auf meinem allerersten Ball auf die Schleppe meines Kleides trat und sie abriss. Oh, war ich betrübt! Ich ging nach Hause und wagte nicht, nochmal zurückzukommen.»
«Monica war auch die erste Frau hier, die sich die Haare kurzschneiden ließ», steuerte Miss Burgess bei, «und die erste angesehene Frau, die in aller Öffentlichkeit rauchte.»
Miss Claudia lächelte. «Sagen Sie ihr, dass ich damals glaubte, sie sei mir nur deshalb auf die Schleppe getreten, weil Colonel Glass an jenem Abend dreimal mit mir, aber nicht ein einziges Mal mit ihr getanzt hatte.»
Christine nickte und versprach es, doch vergaß sie dieses Detail, und es fiel ihr erst am Morgen des Picknicks ein, als sie Miss Claudia einen Sack mit Papier über den Rasen ziehen sah. Sie erzählte also Mrs. Breedlove die Geschichte, und diese lachte herzlich darüber.
Sie erinnerte sich noch ganz genau an jenen Kostümball der Pegasus-Gesellschaft. Als Claudia lachend am Arm von Colonel Glass an ihr vorbeitanzte, hatte sie nur ihre Schuhspitze auf Claudias Schleppe gesetzt, worauf diese natürlich abriss – eine Szene wie aus einem alten Film der Marx-Brothers. Die drei Fern-Schwestern besaßen damals einen gemeinsamen Kleiderschrank, und alles, was sie hatten, tauschten sie untereinander aus, um immer wieder neue Kombinationen vorweisen zu können. Natürlich waren alle Kleider nicht besonders solide genäht, sondern meistens nur in Eile geheftet, um sie am nächsten Tag wieder aufzutrennen und in anderer Zusammenstellung zu verarbeiten. Mrs. Breedlove gab auch unumwunden zu, sie sei absichtlich auf die Schleppe getreten, aber nicht wegen dieses pompösen und geschraubten Colonel Glass, sondern weil sich Claudia so an ihren Bruder Emory heranmachte, und sie wollte diese Kuh Claudia Fern unter gar keinen Umständen in der Familie haben!
Die zwei Busse für den Ausflug standen schon bereit. Einige Kinder hatten ihre Plätze bereits eingenommen. Mrs. Breedlove rief nach Rhoda, die sofort gehorchte. «Wo ist denn dieser Daigle-Junge, der die Medaille bekommen hat?» fragte sie. «Ist er schon da? Ich habe ihn noch nicht gesehen.»
«Dort drüben steht er», antwortete Rhoda, «am Tor.»
Der Junge war sehr blass und mager, hatte ein langes, keilförmiges Gesicht und eine volle, rosa Unterlippe, die ununterbrochen gefühlvoll zuckte. Seine Mutter hatte vorquellende Augen und stand selbstbewusst neben ihm, zupfte an ihm herum, rückte seine Mütze zurecht, glättete seine Krawatte oder betupfte sein Gesicht mit ihrem Taschentuch. Die Medaille war an seiner Hemdtasche befestigt, und seine Mutter, die zu fühlen schien, dass über die Medaille gesprochen wurde, legte einen schützenden Arm um seine Schulter und fingerte an dem Preis herum, als habe sie ihn gewonnen und nicht ihr Sohn.
«Meinst du nicht auch, es wäre eine nette Geste, wenn du ihm zu der Auszeichnung gratulieren würdest?» schlug Mrs. Breedlove vor. Sie nahm Rhodas Hand, wie um sie zum Tor zu führen, und fuhr fort: «Du könntest sagen, du fändest es reizend, dass er die Medaille gewonnen habe, wenn du sie schon nicht bekommen hast.»
Aber Rhoda riss sich von Mrs. Breedloves Hand los. «Nein, nein!» rief sie und schüttelte energisch den Kopf. «Ich finde es nicht reizend, dass er sie bekommen hat. Die Medaille stand mir zu.»
Mrs. Breedlove war verblüfft über den heftigen Ausbruch des Kindes, doch dann lachte sie. «Ich wollte, meine Reaktionen und Instinkte wären so natürlich wie die deinen, mein Liebes. Wissen Sie», wandte sie sich an Christine, «Kinder sind von einer so wundervollen Unschuld. Arglist und Betrug liegen ihnen so fern.» Aber Mrs. Penmark war schon auf Miss Octavia zugegangen, die ihr zugewinkt hatte.
Sie standen neben der schmalen Seitenveranda unter dem Sternjasminbusch. «Meine Schwestern und ich sind so enttäuscht», erklärte Miss Octavia, «dass Mr. Penmark heute nicht hier sein kann. Wir hätten ihn so gerne einmal kennen gelernt, denn wir haben viel Gutes über ihn gehört. Jeder sagt, er sei ein ungemein tüchtiger junger Mann. Wir hofften ihn gestern bei den Abschlussfeiern zu sehen, aber vermutlich ist er zu beschäftigt.»
Christine erzählte, dass ihr Mann sich derzeit in Südamerika aufhalte, um die Westküste nach Möglichkeiten zur Anlage neuer Häfen zu untersuchen. Er sei erst vor einer Woche abgereist, habe aber die Reise mit Rücksicht auf seine Karriere nicht hinausschieben können. Natürlich vermisse sie ihn sehr, umso mehr als sie wisse, dass er den ganzen Sommer hindurch nicht nach Hause kommen könne. Er habe aber selbst oft genug den Wunsch geäußert, die Schwestern Fern kennen zu lernen, von denen er so viel Rühmliches gehört habe.
Sie setzten sich in die Schaukelstühle auf der Veranda, und nach einiger Zeit nahm Miss Octavia die meistgestellte Elternfrage vorweg: «Möchten Sie erfahren, was wir von Rhoda halten und was sie erreicht hat, seit sie bei uns ist?»
Mrs. Penmark bat darum, denn, so fügte sie hinzu, das Kind sei ihrem Mann und ihr fast von Geburt an ein Rätsel gewesen. Es sei ungemein schwierig, irgendeine bestimmte Einzelheit näher zu beschreiben oder auch nur zu nennen, aber im Charakter des Kindes zeichne sich eine ganz merkwürdige Reife ab, die sie störend fänden. Sie sei daher mit ihrem Mann einer Meinung, dass eine Schule wie diese, die sehr viel Wert auf altmodische Tugenden und eine bestimmte Disziplin lege, die für Rhoda ideale Schule sei und vielleicht einige störende Faktoren ihres Temperaments ausmerzen oder wenigstens abschwächen könne.
Miss Octavia nickte einer anderen Mutter zu und legte eine Hand auf die Stirn, als wolle sie ihre Gedanken ordnen. Sie erklärte, Rhoda sei eine der besten Schülerinnen, die je die Schule besucht hätten, habe nicht einen Tag gefehlt, sich niemals verspätet und überall die höchsten Punktzahlen erreicht. Das sei ein bemerkenswerter Rekord, und das wisse sie besonders zu schätzen, da so viele Kinder im Laufe der Jahre durch ihre Schule gegangen seien. Dann setzte sie ihren schon ein wenig ramponierten Strohhut auf, um sich gegen die kräftige Vormittagssonne zu schützen, die durch die Zweige der Kampferbäume fiel. «Rhoda ist ein konservatives, sparsames Kind», fuhr sie fort, «und vielleicht das reinlichste kleine Mädchen, das mir je begegnet ist.»
Darüber lachte Christine. «Rhoda ist wirklich sehr ordentlich. Mein Mann sagt immer, er wisse gar nicht, woher sie das habe. Ganz bestimmt nicht von uns beiden.»
Miss Burgess war inzwischen dazugekommen und schaltete sich jetzt in das Gespräch ein. «Ich glaube, das Geheimnis von Rhodas Charakter liegt in der Tatsache, dass sie keine anderen Menschen braucht, so wie wir sie brauchen. Sie ist ein absolut selbstgenügsames kleines Mädchen. Ich habe noch niemals ein Kind gesehen, das so aus einem Guss war wie sie.»
Mrs. Penmark seufzte und hob ihre Hände zu einer Geste fast humorvoller Verzweiflung. «Manchmal wünsche ich wirklich, sie wäre etwas abhängiger von anderen Menschen. Und manchmal wäre es mir wesentlich lieber, sie dächte etwas weniger praktisch und dafür mehr mit dem Herzen.»
«Sie können sie aber nicht ändern», wandte Miss Octavia aus ihrer Erfahrung mit Kindern ein. «Das Kind hat seine eigene Welt, und es ist weder die Ihre noch die unsere.»
«Wenn ein Mädchen im Alter von acht Jahren so unabhängig ist», warf Miss Burgess ein, «dann ist das absolut ungewöhnlich; auch in jedem anderen Alter wäre es ungewöhnlich. Aber Rhoda hat einige recht bemerkenswerte Qualitäten. Ihr Mut