Die Braut - Anita Terpstra - E-Book
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Die Braut E-Book

Anita Terpstra

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Beschreibung

»Vier Frauen werden vermisst. Mein Mann weiß, wo sie sind.«

Als Mackenzie Walker und Matt Ayers heiraten, reagiert ihr Umfeld mit Unverständnis. Warum geht eine junge Frau die Ehe mit einem Mann ein, der angeklagt ist, mehrere Frauen entführt und festgehalten zu haben – und deshalb in der Todeszelle sitzt? Mackenzie wird öffentlich beleidigt und sogar bedroht, doch sie versucht unbeirrt, Matts Unschuld zu beweisen und damit sein Leben zu retten. Als ihr das nicht gelingt, beschließt sie, ihm bei der Flucht aus dem Hochsicherheitsgefängnis zu helfen. Denn für sie steht viel mehr auf dem Spiel als irgendjemand ahnt – und mit dem Tod von Matt Ayers wäre für Mackenzie alles verloren …

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Seitenzahl: 458

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Als Mackenzie Walker und Matt Ayers heiraten, reagiert ihr Umfeld mit Unverständnis. Warum geht eine junge Frau die Ehe mit einem Mann ein, der angeklagt ist, mehrere Frauen entführt und festgehalten zu haben – und deshalb in der Todeszelle sitzt? Mackenzie wird öffentlich beleidigt und sogar bedroht, doch sie versucht unbeirrt, Matts Unschuld zu beweisen und damit sein Leben zu retten. Als ihr das nicht gelingt, beschließt sie, ihm bei der Flucht aus dem Hochsicherheitsgefängnis zu helfen. Denn für sie steht viel mehr auf dem Spiel, als irgendjemand ahnt – und mit dem Tod von Matt Ayers wäre für Mackenzie alles verloren …

Autorin

Die niederländische Schriftstellerin Anita Terpstra, geboren 1975, studierte Journalismus und Kunstgeschichte und arbeitete danach als freie Journalistin für einige Zeitschriften. Nach Anders ist Die Braut ihr zweiter Roman bei Blanvalet.

Besuchen Sie uns auch auf www.facebook.com/blanvalet und

www.twitter.com/BlanvaletVerlag

ANITA TERPSTRA

DIE BRAUT

Thriller

Deutsch von Simone Schroth

Die Originalausgabe erschien 2016

unter dem Titel »Samen« bei Cargo, een imprint van Uitgeverij De Bezige Bij, Amsterdam.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

1. Auflage

Copyright © der Originalausgabe 2016 by Anita Terpstra

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018 by Blanvalet Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Redaktion: René Stein

Umschlaggestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von REHvolution.de/photocase.de und Antonov Roman/Shutterstock.com

LH ∙ Herstellung: sam

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-21638-2V001

www.blanvalet.de

1

Rosie

Wilde Nächte mit Freunden und viel Alkohol, daran erinnere ich mich gut. Wie alt war ich da wohl? Fünfzehn, sechzehn? Noch zu jung, um ausgehen oder trinken zu dürfen. Aber weil es in dem Kaff, in dem ich aufgewachsen bin, sonst nichts zu tun gab, taten wir es heimlich doch. Wir trafen uns am Fluss. »Wir«, das waren immer die, die sich aus dem Haus schleichen konnten, ohne erwischt zu werden. Oder die, deren Eltern es egal war, was ihr Kind so trieb und mit wem. Ich gehörte zur ersten Kategorie.

Wir saßen am Wasser, oft ganz blau vor Kälte, denn ein Feuer wäre zu sehr aufgefallen. Wir versuchten, uns gegenseitig zu wärmen. Aber es waren vor allem die Fragen, die wir einander stellten, die mich aufwärmten, denn sie jagten mir von ganz tief drinnen Angst ein. Es waren gefährliche Fragen, das wusste ich instinktiv, weil sie für einige Menschen die schreckliche, bittere Wahrheit darstellten. Das sagte ich nicht zu den anderen, natürlich nicht. Ich machte mit, wollte dazugehören. Manchmal denke ich, dass ich damit mein Schicksal heraufbeschworen habe.

Würdest du lieber einen Arm oder ein Bein verlieren?

Was ist schlimmer, nicht mehr hören oder nicht mehr sprechen zu können?

Willst du lieber bei lebendigem Leibe verbrennen oder begraben werden?

Was ist schlimmer, vergewaltigt oder ermordet zu werden?

Was ist schlimmer, erschossen oder erstochen zu werden?

Was fändest du schlimmer, wenn dein Vater stirbt oder deine Mutter?

Was ist schlimmer, ermordet zu werden oder entführt?

Ich kann mich noch selbst hören: ermordet! Wenn man entführt wird, lebt man wenigstens noch. Ich kann mich erinnern, dass ein anderes Mädchen sagte, dann wäre sie lieber tot. Um nicht leiden zu müssen. Ich konnte nicht nachvollziehen, was sie meinte, und wir gerieten fast darüber in Streit. Jetzt begreife ich sie. Und wie gut ich sie begreife.

2

Mackenzie

Lieber Matt,

ich habe Sie diese Woche im Gefängnis gesehen (als ich Ihren Nachbarn Mitchell und seinen Hund besucht habe), und seitdem muss ich ständig an Sie denken. Oder genauer gesagt daran, was Sie zu mir gesagt haben – dass Sie unschuldig sind. Ich habe in der Zeitung über Sie gelesen, und ich würde gerne Ihre Version der Geschichte hören. Vielleicht fragen Sie nach dem Grund, doch die Antwort ist ganz einfach: Ich bin gegen die Todesstrafe. Ich habe in der Army gedient und war einige Male in Afghanistan stationiert. Beim letzten Mal musste ich ein Gefängnis bewachen. Dort habe ich aus nächster Nähe miterlebt, wie unschuldige Menschen bis an ihr Lebensende eingesperrt wurden, ohne dass ich etwas dagegen tun konnte. Ich bin kein Moralapostel; nach meiner Rückkehr bin ich nicht sofort auf die Barrikaden gegangen, aber als ich Sie sah … Sie haben einen verlorenen Eindruck auf mich gemacht, und das hat mich berührt. Vielleicht kann ich ja für Sie etwas tun. Ich hoffe natürlich, dass Ihnen das überhaupt recht ist.

Mackenzie Walker

Liebe Mackenzie,

vielen Dank für Ihren Brief – der ist ganz anders als die, die ich normalerweise bekomme. Sie glauben gar nicht, wie viele Frauen mir schreiben, die völlig gestört sind. Da steht dann, dass sie begreifen, dass ich diese Frauen entführt habe und dass sie mich heiraten wollen. Manche schicken mir auch Nacktfotos von sich. Ich weiß gar nicht, was ich damit soll. So ein Mann bin ich nicht.

Ich sage mir immer wieder, und den anderen sage ich das auch: Ich bin unschuldig. Weil es die Wahrheit ist, aber auch, weil ich befürchte, das eines Tages zu vergessen. Jeder behandelt mich, als wäre ich schuldig; die Leute hassen mich. Ich habe Angst, wenn ich nur oft genug höre, dass ich es getan habe, glaube ich es irgendwann selbst, verstehen Sie?

Sie schreiben, dass Sie in der Zeitung über mich gelesen haben, aber die Person, die da beschrieben wird, bin ich nicht. Diese Scheißjournalisten haben alles verdreht. Ich hatte nicht den Hauch einer Chance und war schon verurteilt, bevor mein Prozess überhaupt anfing. Zugegeben: Bevor ich hierhergekommen bin, war ich kein Heiliger. Ich habe früher einige wirklich schlimme Dinge getan, aber dafür habe ich meine Strafe erhalten.

In meinem Prozess ist es zu vielen Fehlern gekommen: Es gab nur wenige Beweise, und die, die vorgelegt wurden, sind keine echten. Ich weiß, wie die Sache gelaufen ist: Vicky hat mich als Täter identifiziert, und die Polizei hat bei mir zu Hause ihre Kette gefunden. Das mit der Kette stimmt: Vicky hatte sie in der Werkstatt verloren, wo ich damals arbeitete. Ich habe sie gefunden und mit nach Hause genommen – ich hatte ja keine Ahnung, dass sie Vicky gehörte. Und das Einzige, was Vicky beschreiben konnte, ist ein Mann mit einer Baseballkappe. Sie hat den Mann, der sie entführt hat, niemals zu Gesicht bekommen, nur gesprochen. Ich weiß nicht, warum sie mich identifiziert hat. Vielleicht, weil ich auch solche Kappen trage, auch an dem Tag in der Werkstatt, als sie ihr Auto abgeholt hat. Danach hatte sie unterwegs eine Panne. Der Staatsanwalt hat behauptet, ich hätte ihr Auto manipuliert.

Ich sage nicht, dass Vicky eine Lügnerin ist, ich glaube wirklich, dass sie denkt, ich war es. Oder dass man ihr es bei der Polizei eingeredet hat oder weil sie ein Trauma erlitten hat oder so was, oder beides, ich weiß es nicht. Aber ich weiß nur zu gut, dass es die Polizei sehr eilig damit hatte, jemanden zu verhaften. Mein Anwalt sagt, sie wollten davon ablenken, dass sie jahrelang überhaupt nichts unternommen haben, um diese vermissten Frauen zu finden. Glauben Sie mir bitte. Schreiben Sie mir wieder. Wissen Sie, Sie hören sich an wie eine normale Frau, und so jemanden brauche ich. Das Leben hier in der Todeszelle ist nicht gerade normal. Meine Mitgefangenen sind völlig gestört, und der größte Teil der Wärter auch. In dieser engen, bedrückenden und stinkenden Zelle vergisst man manchmal leicht, dass es außerhalb dieser Gefängnismauern so etwas wie ein normales Leben gibt. Irgendwann werde ich das wiederbekommen, hoffe ich. Mein Anwalt tut jedenfalls, was er nur kann. Er glaubt wirklich an mich, wissen Sie. Er nimmt kein Geld von mir, aber ich weiß nicht, ob er noch lange so weitermachen kann. Er muss schließlich auch irgendwie seine Hypothek bezahlen und seine Familie ernähren.

Ich möchte gern mehr über Sie wissen, Mackenzie. Sie sind nicht mehr in der Army, oder? Warum nicht? Und könnten Sie mir mit Ihrem nächsten Brief ein Foto schicken? Sie sind eine attraktive Frau. Ich habe hier nicht viel Schönes zum Anschauen und würde das Foto gerne in meiner Zelle aufhängen. Ich hoffe, meine Bitte schreckt Sie nicht ab.

Matt Ayers

Lieber Matt,

Sie schrecken mich nicht ab, im Gegenteil. Es macht mich ganz verlegen, dass Sie mich attraktiv finden. Das hat noch nie jemand zu mir gesagt!

Was Sie da über Ihren Prozess schreiben … Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Matt. Ich wünschte, ich könnte etwas für Sie tun. Aber ich kann Ihnen nur einen Brief zurückschreiben, wie Sie es sich gewünscht haben. Also tue ich das.

Ich bin einunddreißig Jahre alt und wohne seit Kurzem in Atmore, wo ich als Serviererin in einem kleinen Diner arbeite. Das Restaurant gehört Joe, und Joe ist der Ehemann von Taylor Marr; sie organisiert das Dog Rescue Prison Program. Ich verdanke Taylor mein Leben. Die Details erzähle ich Ihnen gleich.

Ich bin in Denver geboren und als Kind oft umgezogen. Mein Vater hat sich davongemacht, als ich noch klein war, und meine Mutter hat danach noch mal geheiratet. Kurz nach der Geburt meiner Schwester hat uns auch dieser Mann verlassen. Meine Mutter konnte sich nicht um uns kümmern, sie war eine Trinkerin und kam nicht davon los. Wir lebten häufiger in Pflegefamilien als bei ihr.

Mit siebzehn bin ich zur Army gegangen. Dafür brauchte ich die Zustimmung meiner Mutter, aber der war es sowieso egal. Sie unterstellte mir, ich würde es da keine vier Wochen lang aushalten, denn sie war immer der Meinung, ich könnte mich schlecht anderen Autoritäten unterordnen. Aber ich war fest entschlossen, ihr zu beweisen, dass sie unrecht hatte. Letzten Endes hat sie aber doch recht behalten: Ich bin unehrenvoll entlassen worden. Während eines Urlaubs hatte ich mich mit ein paar Freunden aus der Army in einer Kneipe betrunken. Wir gerieten mit anderen Gästen in Streit, und das Ganze ist in eine Schlägerei ausgeartet. Ich hatte schon einige Verwarnungen wegen Ungehorsams bekommen, und nach dieser einen Prügelei hat man beschlossen, mich zu entlassen. Okay, jetzt bin ich nicht ganz ehrlich. Bei der Army wollten sie, dass ich eine Therapie mache, um zu lernen, mit meinen Wutausbrüchen umzugehen, aber ich war nicht der Ansicht, dass ich ein Problem habe, deswegen habe ich mich geweigert. Man könnte also sagen, dass ich wieder ein Zuhause verloren habe, aber diesmal war es meine eigene Schuld. Ich war so dumm.

Es ist mir nicht gelungen, einen Job zu finden, und ich hatte nur noch mein Auto und ein ganz kleines bisschen Geld auf dem Konto. Also war ich eine Zeit lang obdachlos. Ich habe noch eine Obdachlose adoptiert, meine Hündin Misty. Ich liebe Misty heiß und innig. Ich wüsste nicht, was ich ohne sie machen würde. Für sie stehe ich morgens auf, so voller Energie und so anhänglich ist sie. Und sie bringt mich immer schrecklich zum Lachen, denn sie ist ganz schön frech. Aber auch auf eine andere Weise hat sie mich gerettet. Eines Tages habe ich in dem Diner einen Hamburger gegessen und mit Taylor ein Gespräch über Misty angefangen. Sie hat mir vom Dog Rescue Prison Program erzählt, und ich habe gesagt, ich würde gern mithelfen. Als ich ihr auch noch erzählte, dass ich auf Jobsuche war, meinte sie, ihrem Mann Joe gehöre das Restaurant, und er brauche eine Kellnerin.

Jetzt verdiene ich wieder genug Geld, um mir ein Dach über dem Kopf leisten zu können. Na ja, Taylor hilft mir, was das betrifft. Das Haus steht auf ihrem Grundstück, und sie verlangt nur eine niedrige Miete. Als Gegenleistung renoviere ich das Haus und helfe ihr mit bei dem Hundeprogramm.

Ansonsten ist mein Leben nicht so ereignisreich. Ich arbeite und gehe dann nach Hause, da erledige ich Handwerkliches oder helfe Taylor mit den Hunden. Ich bin es nicht so gewohnt, von mir selbst zu erzählen. Jetzt sind Sie dran.

Mackenzie

Liebe Mackenzie,

was Sie da schreiben, kommt mir sehr bekannt vor – meine Eltern waren auch nie für mich da. Ich will wirklich nicht meine Erziehung für die ganze Scheiße verantwortlich machen, die ich gebaut habe, aber von den Gefangenen hier hat keiner eine besonders idyllische Kindheit gehabt. Das gibt einem zu denken, finden Sie nicht? Meine Mutter hat jeden Mann gevögelt, den sie kriegen konnte (die Psychologen und Psychiater meinen, dass ich deswegen alle Frauen hasse – was für Idioten), und mein Vater hat einfach tatenlos zugeschaut. Hin und wieder wurde es ihm dann zu viel, und er hat sie geschlagen. Oder uns, je nachdem, wer gerade das Pech hatte, in der Nähe zu sein. Ab und zu wurden wir von zu Hause weggeholt und mussten in einer Pflegefamilie leben, aber wir durften immer wieder zurück, und dann fing die ganze Scheiße wieder von vorne an.

Immer wieder bin ich abgehauen, aber das hat niemanden interessiert. Trotzdem bin ich immer zurückgegangen, wegen meiner jüngsten Schwester. Sie ist behindert und lebt in einem Heim. Manchmal denke ich, sie ist am glücklichsten von uns allen. Als sie geboren wurde, ist meine Mutter fast verblutet; man hat ihr damals die Gebärmutter herausgenommen. Zum Glück, sonst hätten meine Eltern noch mehr Kinder bekommen.

Wenn wir uns besonders gestritten haben, hat mein Vater mir ab und zu gesagt, ich wäre nicht sein Kind. Meine Mutter behauptet, er lügt, aber möglich ist es schon, wissen Sie. Meine älteste Schwester ist verschwunden, als sie sechzehn war. Ich glaube, sie ist einfach weggelaufen, aber jetzt denkt natürlich jeder, dass ihr etwas Schreckliches zugestoßen ist und ich dafür verantwortlich bin. Absoluter Bullshit. Meine Schwester war so stark, dass sie mir einfach eine geknallt hat, wenn ich etwas tat, was ihr nicht passte. Weil mein Vater immer wieder sehr lange arbeitslos war, wohnten wir in einem Drecksloch. Mit fünfzehn hatte ich keine Lust mehr auf die Schule, und weil ich Geld brauchte, habe ich Dinge gestohlen. Vor allem Autos. Es hat nicht lange gedauert, und ich wurde verhaftet und ins Jugendgefängnis gesteckt. Da konnte ich eine Ausbildung zum Automechaniker machen, und nach meiner Entlassung habe ich auch in diesem Beruf gearbeitet.

In der Werkstatt lief es wirklich gut, wissen Sie. Manche Leute schauen auf meinen Beruf herab, das ist mir schon klar, aber ich nahm meine Arbeit sehr ernst. Ich habe dafür gesorgt, dass die Autos der Kunden tadellos in Schuss waren, dass es keine Unfälle wegen verschlissener Reifen oder kaputter Bremsen gab. Ich fühlte mich verantwortlich dafür. Die Verkäufer bekamen immer viel mehr Geld als wir, die Mechaniker – das begreife ich bis heute nicht. Ich habe auch eine Zeit lang als Verkäufer gearbeitet, aber das liegt mir nicht. Ich kann die Leute nicht anlügen.

Trotzdem denke ich nicht so viel über die Vergangenheit nach – das war mein Leben vor der Todeszelle. Mein Anwalt versucht zu erreichen, dass mein Prozess wieder aufgenommen wird, aber manchmal habe ich Angst. Was, wenn ihm das gelingt? Es wird immer Menschen geben, die von meiner Schuld überzeugt sind. Die Sache wird mich für den Rest meines Lebens verfolgen. Und wo soll ich denn hin? Was soll ich tun? Wird mich jemals wieder jemand beschäftigen wollen? Werde ich jemals eine Frau finden, die mich liebt, die mir vertraut? Darüber grüble ich in meinen schlaflosen Nächten oft nach.

Matt

PS: Das Foto, das Sie mir geschickt haben, ist wunderschön. Sie sehen sehr hübsch aus. Glücklich sehen Sie aus. Strahlend wie die Sonne. Ich würde Sie gerne mal ans Meer mitnehmen.

Lieber Matt,

entschuldigen Sie, dass mein Brief diesmal so kurz ausfällt, aber ich muss Doppelschichten schieben und bin schrecklich müde. Sobald ich nach Hause komme, will ich nur noch ins Bett. Das nächste Mal schreibe ich Ihnen wieder länger, versprochen! Oder soll ich Sie mal im Gefängnis besuchen? Ich würde mich freuen, Sie zu treffen.

Mackenzie

Liebe Mackenzie,

ich war schrecklich enttäuscht, als ich so einen kurzen Brief bekam, das will ich ganz offen bekennen. Aber bitte seien Sie deswegen nicht böse auf mich. Ich freue mich immer sehr auf Ihre Briefe, weil sie mich fröhlich machen. Ich würde es fantastisch finden, Sie zu sehen! Ich bekomme nie Besuch, außer von meinem Anwalt.

Matt

3

Ich unterzog mein Brautkleid einer letzten Inspektion. Im Kopf hörte ich die Stimme meiner Mutter: Frauen tun der Liebe wegen dumme Dinge. Wie oft hatte ich sie das nicht seufzen hören? Ich hatte dann angenommen, dass sie damit die Dinge meinte, die sie für meinen Vater getan hatte. Sie hat immer behauptet, er sei der einzige Mann gewesen, den sie jemals geliebt habe. Er hatte ihr das Herz gebrochen.

Die warme Luft hüllte meinen ganzen Körper ein. Der Ventilator an der Decke war nur dazu gedacht, Eindruck zu schinden; er funktionierte nicht. Es gelang mir einfach nicht, mich an die Hitze zu gewöhnen, die Alabama jeden Sommer in einem klebrigen Würgegriff hielt.

Nur in BH und Slip, stellte ich mich vor den Spiegel und betrachtete mich kritisch. Misty, die am Fußende des Bettes auf dem Boden lag, hob kurz den Kopf und legte ihn dann seufzend wieder auf den Vorderpfoten ab, als frage sie sich, was ich da trieb. Das fragte ich mich auch. Ich ließ beide Hände über die Unterwäsche gleiten, die wenig der Fantasie überließ. Ich stylte mich nicht gerne so auf, aber ich tat es für Matt. Ob ich ihm so gefallen würde? Wahrscheinlich machte ich mir ganz grundlos Sorgen. Matt hatte seit Ewigkeiten keine Frau mehr angefasst, er würde mich wohl so schnell wie möglich aus den Klamotten schälen wollen. Wieder überkamen mich Zweifel. War das nicht eine unnötige, zu teure Ausgabe gewesen? Das ganze Geld, das ich verdiente, brauchten wir unbedingt. Ich übernahm sehr oft doppelte Schichten in Joe’s Diner – reich wurde ich davon trotzdem nicht.

Ärgerlich wandte ich mich von meinem Spiegelbild ab und nahm mein Hochzeitskleid vom Haken. Ich hatte es gebraucht gekauft, aber es sah aus, als hätten es schon zehn Bräute vor mir getragen. In Anbetracht des Preises hätte mich das nicht einmal überrascht. Ich hatte das Kleid bei meinem Pfandleiher gefunden und fünfzig Dollar dafür bezahlt. Ein kurzes, ärmelloses Kleid aus weißem Satin, das mir gerade bis über die Knie ging. Ich hätte gern gewusst, warum seine Vorbesitzerin es verkauft hatte.

Die Schuhe hatte ich umsonst dazubekommen. Einer der Absätze war schon mal geleimt worden, und das nicht einmal sorgfältig. Aber solange er nicht während der Zeremonie nachgab, war mir das herzlich egal.

Vorsichtig zog ich mir das Kleid über den Kopf. Noch immer ging ein leicht seltsamer Geruch davon aus. Am liebsten hätte ich das Kleid in die Reinigung gegeben, aber die zusätzliche Ausgabe wäre dann wirklich schade ums Geld gewesen. Stattdessen hatte ich es eine Nacht lang in der Badewanne eingeweicht und dann draußen aufgehängt – in der Hoffnung, die frische Luft würde Wunder wirken.

Um den Reißverschluss zuzubekommen, musste ich die wildesten Verrenkungen machen. Ich schaute noch einmal in den Spiegel. Das musste so gehen. Sollte ich mir eine Hochsteckfrisur machen? Nein, Matt würde die Haarnadeln doch sofort wieder herausziehen. Beim Gedanken daran kroch mir ein kalter Schauer über den Rücken.

Misty folgte mir ins Wohnzimmer. Auf dem Küchentisch lag der Brief, den ich heute Morgen von Matt bekommen hatte.

Meine allerliebste Mackenzie,

ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich mich darüber freue, dass du meine Frau werden willst. Deine Liebe zu mir macht mich stark. Jedes Mal, wenn ich es nicht mehr aushalte, schaue ich mir dein Foto an, lese deinen Brief noch einmal, versuche mich an den Klang deiner Stimme zu erinnern, an dein Lächeln. Du bist mein Licht in diesen dunklen Tagen. Ohne dich hätte ich schon längst aufgegeben. Ich weiß nicht, womit ich dich verdient habe, aber ich bin unsäglich dankbar dafür. Ich weiß, was du meinetwegen alles durchstehen musst, was du aufs Spiel setzt. Du bist die schönste, liebste und mutigste Frau, die ich kenne. Ich will nichts anderes, als dich für den Rest deines Lebens glücklich machen.

Für immer der deine, Matt

Ich stopfte den Brief in meine Tasche und ging zur Tür. Misty lief mir nach, aber ich schickte sie in ihren Korb.

»Nein, tut mir leid, du kannst nicht mit. In ein paar Stunden bin ich wieder da.« Wie immer gehorchte sie sofort. Ich dachte an all die Male, die meine Schwester und ich meine Mutter vergeblich um einen Hund angebettelt hatten. Ich hatte Misty bei einer Tankstelle gefunden, wo man sie ausgesetzt hatte. Ich fragte mich immer noch, wie ihre ehemaligen Besitzer so etwas übers Herz gebracht hatten. Dem Tierarzt zufolge war sie eine Retriever-Cockerspaniel-Mischung und ungefähr vier Jahre alt.

Draußen herrschte eine noch größere Hitze als drinnen. Einfach unerträglich. Die Sonne brannte unbarmherzig vom Himmel herab. Das Thermometer zeigte beinahe vierzig Grad.

Nicht einmal die hohen Bäume hinter dem Haus – einer umgebauten Scheune – konnten mir die gewünschte Abkühlung bieten. Vor langer Zeit hatte es hier eine Baumwollplantage gegeben, hatte Taylor mir erzählt. Ein paar Hundert Yards entfernt stand die Farm von Taylor und Joe. Weil das Dog Rescue PrisonProgram viel Geld verschlang, hatte Taylor beschlossen, dieses Haus zu vermieten. Aber erst musste es renoviert werden. In einer fernen Vergangenheit hatte es einen babyblauen Anstrich gehabt. An der Vorderseite hatte man eine Veranda angebaut, die größtenteils in sich zusammengesackt war und schief stand. Aus dem Haus ließ sich aber durchaus etwas machen, denn die kleinen Fenster und das Holz verliehen ihm etwas Malerisches. Und die Hollywoodschaukel, die auf der Veranda stand, strahlte etwas sehr Einladendes aus, vor allem an schwülen Abenden.

Vielleicht hätte ich lieber in einer kurzen Hose und einem T-Shirt losfahren und mich auf dem Parkplatz der Kilby Correctional Facility umziehen sollen, überlegte ich. Jetzt würde ich bestimmt verschwitzt dort ankommen. Mein altes Auto war zwar mit einer Klimaanlage ausgestattet, aber die war schon Ewigkeiten kaputt. Doch jetzt blieb mir keine Zeit mehr, noch einmal die Kleidung zu wechseln. Das Auto schaffte nicht mehr als etwas über sechzig Meilen pro Stunde. Außerdem würde ich ohne Hilfe nicht mehr aus diesem Kleid herauskommen.

Auf der Veranda wartete ich auf Taylor. Von hier aus konnte ich die Farm gut sehen. Taylor war ganz entschieden gegen unsere Heirat, hatte aber trotzdem zugesagt, meine Trauzeugin zu werden. Sie arbeitete in einem Supermarkt und hatte sich heute extra freigenommen. Nach einigen Minuten des Wartens wurde ich ungeduldig und auch ein wenig misstrauisch. Sie hatte ihre Meinung doch wohl nicht geändert?

4

Ich war gerade im Begriff, zur Farm zu laufen, als sich dort die Haustür öffnete und Taylor erschien. Sie stieg in ihren Pick-up und fuhr auf mich zu. Erleichtert holte ich Luft.

Taylor war eine kleine, zarte Frau mit kurzen grauen Haaren. Die vielen Falten in ihrem Gesicht hatte sie all dem Mist zu verdanken, den sie im Leben hatte durchmachen müssen. Ihr erster Ehemann hatte sie misshandelt, und als er eines Tages seinen Hund auf sie hetzte, war für sie das Maß voll gewesen. Weil sie sich weigerte, sich den Rest ihres Lebens vor Hunden (oder vor ihrem Ex, fügte sie oft hinzu) zu fürchten, hatte sie sich intensiv mit dem Verhalten von Hunden auseinandergesetzt. Sie sagte, diese aggressiven Hunde und ihr Exmann ähnelten sich auf frappierende Weise. Sie war zu dem Schluss gekommen, dass es an ihr selbst gelegen hatte. Weil sie nicht genug Selbstvertrauen besaß, hatte sie zugelassen, dass andere sie unterdrückten. Sie schaffte sich einen Hund an und absolvierte einen Kurs mit ihm. Als sie Poppy eines Tages ausführte, rannte eine aggressive Töle auf sie zu. Taylor wich allerdings nicht zurück, und der Hund gehorchte ihren Anweisungen. Ein wenig später lernte sie den Besitzer des Hundes kennen. Er schlug das Tier, und sie begriff, warum es sich so verhalten hatte. Als sie eines Tages einen Neffen besuchte, der in Kilby einsaß und ihr erzählte, dass ihm sein Hund so fehlte, entstand die Idee für das Dog Rescue PrisonProgram. Seither steckte sie ihre ganze Zeit, ihre gesamte Energie und all ihr Geld in das Projekt. Taylor rettete vernachlässigte, gefährliche und misshandelte Hunde aus dem Tierheim und bewahrte sie so vor der Einschläferung, weil niemand sie haben wollte. Oft waren es ausgesetzte Hunde, man fand sie auf der Straße oder holte sie von Leuten weg, die die Tiere misshandelten; oder sie wurden hier abgegeben, weil sie ihren Besitzern zufolge nicht zu erziehen und aggressiv waren. Taylor vertrat die Überzeugung, dass die Schuld niemals bei den Hunden, sondern immer bei ihren Besitzern lag und dass die Möglichkeit bestand, die Hunde erneut zu sozialisieren. Und um dieses Ziel zu erreichen, kamen die Insassen der Kilby Correctional Facility ins Spiel. Etwa fünfzig Gefangenen wurde jeweils ein Hund zugeteilt, den sie ganz von vorn erziehen mussten. Wenn das gelang, kehrten die Hunde zurück in Taylors privates Tierheim und konnten dann adoptiert werden.

Alle hatten Taylor für verrückt erklärt, aber sie konnte Erfolge vorweisen. Die Sträflinge, die sich an dem Programm beteiligten, legten im Gefängnis ein positiveres Verhalten an den Tag, waren motivierter, wenn es darum ging, an Erziehungsprogrammen teilzunehmen, landeten weniger häufig in der Isolierzelle, gerieten seltener in Schlägereien, und nach ihrer Entlassung bestand eine geringere Wahrscheinlichkeit, dass sie in alte Muster zurückfielen.

Ich war die einzige ehrenamtliche Mitarbeiterin beim Dog Rescue PrisonProgram, denn in den Augen vieler anderer verdienten die Insassen keine einzige Erleichterung ihrer harten Existenz.

Ich hob die Hand zum Gruß, als Taylor vor meinem Haus anhielt.

»Ich dachte schon, du hättest es dir anders überlegt.«

»Bring mich bloß nicht auf dumme Gedanken«, erwiderte Taylor, aber sie lächelte dabei.

Ich setzte mich in meinen eigenen Wagen und verbrannte mir beinahe die Kniekehlen an dem Lederüberzug der Sitze. Die erdrückende Hitze ließ mich nach Luft ringen, und ich kurbelte schnell das Fenster herunter. Ausnahmsweise startete der Motor, ohne zu murren, und ich bog hinter Taylor auf die Straße ein. Zum Glück brauchte man von meinem Haus bis zum Gefängnis nur zwanzig Minuten.

Heute würde ich ihn zum ersten Mal berühren. Heute würde er mich zum ersten Mal berühren. Bei diesem Gedanken zog sich mir der Magen zusammen. Um meine Nervosität zu unterdrücken, stellte ich das Radio an. »Stand by your man«, sang Tammy Wynette voller Überzeugung. Es war, als schicke mir das Universum eine Nachricht, und bei diesem Gedanken musste ich lächeln.

Unterwegs dachte ich an meine allererste Begegnung mit Matt. Taylor hatte sehr viel zu tun gehabt, weil ein Gefangener Probleme mit seinem Hund hatte, und mich daher gebeten, in den Todestrakt zu gehen, zu Mitchell. Seine Zelle befand sich neben der von Matt.

Ich hatte ein bisschen Angst davor gehabt, allein den Todestrakt zu betreten, auch wenn mir Taylor sehr überzeugend versicherte, dass ich mir überhaupt keine Sorgen zu machen brauchte. Nicht dass mir diese beruhigenden Worte viel bedeutet hätten, denn Taylor hatte mittlerweile vor nichts und niemandem mehr Angst. Sie besaß ein großes Vertrauen in das Gute im Menschen. Und ein noch größeres in das Gute im Hund. Es gelang ihr, selbst die aggressivsten Tiere zu beruhigen. Sie konnten so viel bellen und beißen, wie sie nur wollten, letzten Endes trug immer Taylor den Sieg davon.

Der Todestrakt erwies sich als ein spezieller Zellenblock auf dem Gefängnisgelände; er bestand aus unterschiedlich langen Fluren, die untereinander und mit dem Hauptgebäude verbunden waren. Zu beiden Seiten dieser Flure gingen die Zellen ab. Ein Wärter – genau wie die anderen groß und breit gebaut, mit millimeterkurzen Haaren und einem durch nichts zu beeindruckenden Blick in den Augen – begleitete mich. Mitchell saß in seiner Zelle und streichelte dem Hund gedankenverloren über den Kopf, während er in der Bibel las.

Sobald er mich sah, setzte er sich ordentlich hin. »Guten Tag.«

Taylor hatte mir nicht gesagt, wegen welchen Verbrechens Mitchell hier einsaß, weil sie das nicht wusste. Sie wollte es von keinem einzigen der Gefangenen wissen. »Wenn ich weiß, dass sie ein Mädchen vergewaltigt und ermordet haben, kann ich ihnen nicht helfen«, hatte sie mir einmal erklärt.

Mitchell sah jung aus, ein bisschen lausbubenhaft; er hatte blonde Locken und einen mickrigen Schnurrbart. Seine Arme und Finger waren mit Tätowierungen übersät.

»Wie geht es Ihnen und …?«

»Wilson.« Ein breites Grinsen breitete sich auf Mitchells Gesicht aus. Ihm fehlten ein paar Zähne. Ich verspürte ein nervöses Prickeln im Nacken – drohte mir Gefahr, waren alle Gefangenen auch wirklich in ihren Zellen eingeschlossen? Ich unterdrückte den Zwang, mich umzusehen, ob der Wärter noch an derselben Stelle stand wie zuvor. Wilson erfasste meine Stimmung sofort und legte die Ohren an. Mitchell dagegen schien nichts zu bemerken. Er erzählte enthusiastisch weiter, und ich zwang mich zur Konzentration.

»Wir sind die allerbesten Freunde geworden, was, Wilson?«

Wir unterhielten uns eine Weile über den Hund und über den Resozialisierungsprozess. Ich beantwortete Mitchells Fragen, so gut ich konnte, außerdem lobte ich ihn für sein Engagement, genau wie ich es Taylor bei anderen Gefangenen hatte tun sehen. »Es ist wichtig, dass sie merken, dass wir mitbekommen, was sie alles erreichen. Sie sollen sich nützlich fühlen«, hatte sie gesagt.

Ich schaute auf die Uhr. Es war an der Zeit zu gehen. »Haben Sie noch Fragen?«

»Ich habe gehört, es gibt Pläne für öffentliche Zusammenkünfte im Rahmen des Hundeprogramms im Gefängnis?«

Ich nickte. »Das Interesse an den Hunden ist sehr groß, und es kostet sehr viel Zeit, bei jedem von Ihnen einzeln vorbeizuschauen. Auf diese Weise können wir mehr Leuten gleichzeitig helfen.«

»Dürfen wir auch dabei sein?«

»Sie und Wilson, meinen Sie?«

»Wir aus dem Todestrakt.«

»Oh. Ich habe keine Ahnung.«

»Könnten Sie vielleicht ein gutes Wort für Wilson und mich einlegen? Ich wäre sehr gern dabei. Ich möchte Wilson so gut wie möglich helfen«, erklärte er.

»Ich kann Ihnen nichts versprechen.«

Mitchell lachte und zeigte dabei ein paar seiner Zähne. »Auch wenn Sie es mir versprechen würden, würde ich Ihnen deswegen noch nicht glauben. Versprechen sind hier drin nichts wert. Und draußen übrigens auch nicht.«

Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. »Dann vielleicht bis demnächst«, verabschiedete ich mich stattdessen.

Hinter den Gittern der Nachbarzelle stand ein Mann. Matt. Mit zusammengekniffenen Augen und vor der Brust verschränkten Armen schaute er mich an.

Er hatte eine blasse Haut, lockiges Haar, volle Lippen und grüne Augen. Er war ganz unbestreitbar ein attraktiver Mann.

»Er hat Sie angelogen«, sagte er leise.

»Sorry?«

»Mitchell. Er will nur an den öffentlichen Zusammenkünften teilnehmen, weil sein Freund dabei ist. Der hat auch einen Hund.«

»Oh.«

»Schauen Sie doch nicht so schockiert.«

»Ich schaue gar nicht schockiert. Ich bin nicht schockiert«, korrigierte ich mich selbst. Aber stimmte das auch? Die Frage, ob Männer hier ganz offen ihre Homosexualität zeigen konnten, hatte ich mir schon kurz gestellt, und darüber, dass es wohl auch wirklich passierte, war ich ziemlich erstaunt.

»Mitchell hat seine Eltern umgebracht – sie haben ihn nicht akzeptiert, weil er schwul ist. Mitchells Freund weiß, dass er in Sicherheit ist, solange er zu Mitchell gehört. Hier gibt es einige Männer, die auf diese Art und Weise Schutz suchen.«

»Sie auch?« Es war mir herausgerutscht, bevor ich überhaupt nachdenken konnte.

»Was sollte mir das bringen? Ich sterbe hier sowieso«, meinte er abfällig. »Außerdem finde ich nur Frauen anziehend.«

»Ja, und die entführst und vergewaltigst du dann«, ertönte die barsche Stimme des Wärters.

»Ich bin unschuldig«, gab Matt zurück. Aber er richtete es nicht an den Wärter, sondern an mich.

Ich weiß nicht mehr warum, aber ich fragte: »Wollen Sie keinen Hund betreuen?«

»Warum sollte ich? Ich bin kein Monster wie er. Ich kenne den Unterschied zwischen Gut und Böse. Ich …«

»Ja, ja, du bist unschuldig«, vervollständigte der Wärter den Satz. Er postierte sich zwischen Matt und mir und berührte mich kurz, damit ich mich in Bewegung setzte. Ohne mich umzuschauen, ging ich mit ihm zusammen weiter. Erst als die Zwischentür wieder ins Schloss fiel, spürte ich, wie angespannt ich gewesen war. Mit einem zischenden Geräusch ließ ich meinen Atem entweichen.

»Alles in Ordnung?«, erkundigte sich der Wärter.

»Alles klar«, sagte ich, weil ich mir um keinen Preis etwas anmerken lassen wollte.

»Wenn man nicht aufpasst, kommen sie einem ganz schön nahe.«

Der Mann hatte offensichtlich das Bedürfnis, sich ein wenig zu unterhalten. Oder er war der Ansicht, ich könnte einen guten Rat gebrauchen.

»Diese Typen sitzen nicht umsonst in Einzelhaft«, fuhr er fort, als ich keine Antwort gab.

Nun war meine Neugierde geweckt. »Wie meinen Sie das?«

»Es ist nicht nur, weil sie ein so schweres Verbrechen begangen haben, dass sie härter bestraft werden müssen und darum hier sind. Was das angeht, ist es egal, ob wir sie hier einsperren oder in einer anderen Abteilung. Leicht hat man es hier nirgendwo. Es geht darum, dass sie Probleme machen. Sie sind schlau, sie schleichen sich einem ins Gehirn. Sie können andere wahnsinnig machen. Darum werden sie von den anderen getrennt.« Er schüttelte den Kopf. »Und Typen wie die haben eine große Anziehungskraft auf seltsame Leute. Sie glauben ja gar nicht, was die von hier aus erreichen können. Und von der Post, die sie bekommen, will ich gar nicht erst anfangen. Matt, der Kerl, der Sie da gerade angesprochen hat, bekommt jede Woche Post von Frauen. Ich kapier’s nicht.«

Auf dem anschließenden Rückweg hatte Taylor mich gefragt, was mit mir los sei. »Du sagst gar nichts.«

»Es ist bloß … Ich weiß nicht. Du hattest mir ja gesagt, wo die Hunde landen würden, ich meine, bei wem, aber jetzt, wo ich sie zum ersten Mal wirklich gesehen habe …«

»Ich weiß schon, Mädchen. Ich weiß«, sagte Taylor und klopfte mir tröstend aufs Knie. »Mir geht es jedes Mal wieder so. Ich stehe da und unterhalte mich mit einem Gefangenen, als wären wir einfach zwei Hundebesitzer, und dann wird mir plötzlich bewusst, dass er nicht nur ein Hundebesitzer ist, sondern auch ein Verbrecher. Ich habe mich zwar dafür entschieden, nichts über sie wissen zu wollen, aber ich frage mich wirklich jedes Mal, wenn ich mit ihnen spreche, was genau der Grund dafür ist, dass sie im Gefängnis sitzen. Spreche ich gerade mit einem Mörder, einem Vergewaltiger, einem Dieb? Und macht das überhaupt etwas aus?«

»Und?«

»Für mich zählen die Hunde, sonst nichts. Wenn die Kerle nur gut zu den Hunden sind. Mehr verlange ich nicht von ihnen. Alles andere ist eine Zugabe.«

»Aber irgendwann nehmen wir ihnen den Hund wieder weg. Ist das nicht … grausam?«

»Auf lange Sicht kann sich in einem Gefängnis kein Hund wohlfühlen. Hunde brauchen Auslauf, müssen draußen spielen und so weiter. Wenn die Leute ein Tier wollen, sollen sie sich eine Katze oder ein Meerschweinchen holen.«

Während der restlichen Rückfahrt hatte ich die Begegnung mit Matt noch einmal Revue passieren lassen. Sein Aussehen, was er gesagt hatte. Immer wieder.

Eine Woche später schrieb ich ihm einen Brief.

5

Der Wind, der durch das offene Fenster nach drinnen wirbelte, war warm und feucht und schenkte deshalb kaum Abkühlung. Der Asphalt schien zu brennen. Ein Schweißtropfen glitt quälend langsam zwischen meinen Brüsten nach unten. Wenn ich nur keine Schweißflecke unter den Achseln bekam.

Zehn Minuten bevor die Zeremonie beginnen sollte, parkte ich mein Auto vor dem Gefängnis. Der Gebäudekomplex erinnerte mich an farblose Bauklötze, die in horizontaler Anordnung auf den Boden gefallen waren. Er bestand aus einigen niedrigen weißen Gebäuden mit kleinen Fenstern. Umgeben war er von kahlen, trockenen Flächen und markiert durch einen hohen Stacheldrahtzaun. Am Eingang stand ein hoher Aussichtsturm. Das spärliche gelbe Gras wirkte verdorrt.

Das Gefängnis bot Platz für maximal neunhundertachtundneunzig Gefangene: Es gab sechshundertdreißig gewöhnliche Zellen, zweihundert Einzelzellen und hundertachtundsechzig Zellen im Todestrakt. Sämtliche Hinrichtungen im Staat Alabama wurden hier durchgeführt.

Ich löste meinen Gurt und betrachtete mich im Rückspiegel. Kniff mir in die Wangen, um etwas Farbe ins Gesicht zu bekommen. Trotz der Hitze war ich leichenblass. Ich hatte einen trockenen Mund und trank mit zitternden Händen ein paar Schluck Wasser aus der Flasche in meiner Tasche.

Taylor kam und stellte sich neben mich. Wegen des grellen Sonnenlichts kniff sie die Augen zusammen. »Es tut mir leid, Mackenzie, aber ich muss dich einfach fragen: Bist du dir auch ganz sicher?«

Ich konnte mir ein Lachen nicht verkneifen. »Ist es dafür nicht ein bisschen spät?«

»Zu spät ist es nie«, antwortete Taylor. »Bei meinem ersten Mann hatte ich Zweifel. Ich wünschte, mich hätte damals jemand gefragt, mir hätte jemand angeboten, heimlich durch die Hintertür zu verschwinden.«

»Ich habe keine Zweifel.«

»Das Ganze geht so schnell.« Sie zögerte kurz. »Wie oft habt ihr euch denn gesehen? Insgesamt vielleicht dreißigmal? Und dann jeweils für eine Stunde?«

»Vergiss die vielen Briefe nicht, die wir uns geschrieben haben«, versuchte ich ihre Bedenken mit einem Witz abzutun.

»Er sitzt der Todeszelle, Mackenzie, und zwar nicht, weil er ein paar junge Katzen ertränkt hat.«

»Taylor, ich weiß deine Besorgnis wirklich zu schätzen, aber ich kann ganz ausgezeichnet auf mich selbst aufpassen.«

Ich wurde von einem großen, verstaubten Pick-up abgelenkt, der auf den Parkplatz fuhr und neben meinem Wagen hielt. Ein Mann in einem dunkelblauen Anzug stieg aus. Er war hochgewachsen, und trotzdem schlotterte ihm der Anzug erkennbar um den Körper.

»Sie müssen Mackenzie Walker sein. Ich bin Russell Newton, Matts Anwalt und sein Trauzeuge.«

Ich schüttelte seine ausgestreckte Hand und stellte ihm Taylor vor. Russell wirkte auf mich wie eine ältere, etwas dickere und kahlere Version von Matthew McConaughey. Das lag sicher daran, dass er in dem Film ATime to Kill einen Rechtsanwalt gespielt hatte, der immer mit diesem schleppenden Südstaatenakzent redete. Den hatte hier jeder, Russell also auch.

Von Matt wusste ich das eine oder andere über Russell. Nach seinem Uniabschluss als Jahrgangsbester hatte sich eine große Anwaltskanzlei seine Dienste gesichert, und vor ihm lag eine erfolgreiche Karriere als Strafverteidiger. Und tatsächlich, mit Erfolgen in ein paar umstrittenen Fällen hatte er sich rasch einen Namen gemacht und war schnell berühmt geworden. Alles änderte sich, als sein Sohn Everett beinahe am plötzlichen Kindstod starb. Seiner Frau war es gelungen, den Kleinen wiederzubeleben, aber durch den Sauerstoffmangel hatte er einen Hirnschaden davongetragen. Nach diesem Drama waren sie nach Alabama gezogen, wo ihre Wurzeln lagen.

Jetzt kümmerte sich Russell um all die Anliegen, für die man in einem Städtchen wie Atmore einen Anwalt benötigte, von Scheidungen und Erbschaftsfragen bis hin zu Schadensersatzforderungen. Es waren kleine Fälle, und er verdiente lange nicht mehr so viel wie früher. Weil er außerdem der einzige Rechtsanwalt in ganz Atmore war, landete auch Matts Fall auf seinem Schreibtisch.

»Was für eine Hitze.« Russell fächelte sich Luft zu. »Lassen Sie uns schnell reingehen. Sind Sie bereit?«

»Endlich ist es so weit«, erklärte ich.

»Sie sehen wunderbar aus«, bemerkte er.

»Vielen Dank.« Ich wusste, dass das nicht stimmte, aber es war nett von ihm.

Schweigend setzten wir uns in Bewegung. Taylors Blick entging mir nicht, aber ich kümmerte mich nicht weiter darum. Das Tor öffnete sich automatisch, und die neugierigen Blicke der Gefangenen, die sich draußen herumtrieben, bohrten sich mir in die Haut. Einige Männer pfiffen durch die Zähne, andere jubelten laut.

»Wer ist denn der Glückliche?«, rief einer, während er eindeutige Hüftbewegungen machte.

Ich richtete den Blick starr nach vorn und ging weiter, aber ich bemerkte trotzdem, dass mich die Wärter missbilligend anschauten. Ich schämte mich für nichts, fühlte mich jedoch wegen dieser Reaktion trotzdem unbehaglich. Schnell durchliefen wir die üblichen Sicherheitsvorkehrungen und wurden in den Innenraum gebracht, in dem Gefängnisdirektor Springs die Trauung vollziehen würde.

Mit jedem Schritt, den ich machte, wurde mein Herzschlag heftiger. Ein Teil meiner Nervosität schien sich auf Russell zu übertragen, denn er ballte immer wieder die Fäuste, um sie dann kurz zu entspannen und erneut zu ballen.

Hier drinnen war es noch heißer als bei mir zu Hause. Matt hatte mir erzählt, dass das Geld für eine Klimaanlage fehlte. Der Gebäudekomplex wurde mehr schlecht als recht gekühlt, indem man große Industrieventilatoren einsetzte, die aber einen unerträglichen Lärm verursachten.

Der Direktor erwartete uns bereits in dem kahlen grauen Raum, in dem nur ein Bett stand, das mit großen Metallschrauben an Wänden und Boden befestigt war. Die Schamröte stieg mir ins Gesicht, und ich wandte den Blick ab. Der Raum maß keine zehn mal zehn Fuß in der Fläche, und die Anwesenheit des Direktors schien ihn sogar noch kleiner werden zu lassen. Springs war ein hochgewachsener, dünner Mann, und ich musste fast den Kopf in den Nacken legen, um ihn anschauen zu können.

»Sind Sie bereit?«, erkundigte er sich, nachdem er mir eine überraschend kühle Hand gereicht hatte.

Vor einigen Jahren kämpfte das Gefängnis noch mit der höchsten Totenstatistik aller Gefängnisse in den Vereinigten Staaten, was zum größten Teil an der chaotischen Leitung lag. Seit Springs seine Stelle angetreten hatte, gehörten diese Schwierigkeiten der Vergangenheit an. Er regierte mit eiserner Hand, und unter seinem Regiment wurden korrupte Mitglieder des Personals entlassen. Die Gefangenen verfügten über ein hohes Maß an kreativer Energie, und Gewalt lauerte immer und überall, aber man konnte die Einrichtung inzwischen als ziemlich sicher bezeichnen (obwohl sie noch immer den Ruf hatte, dass es hier ziemlich gewalttätig zuging). Nicht umsonst lauteten Kilbys blutrünstige Spitznamen »Das Schlachthaus«, »Schlacht- und Zuchthaus des Südens« oder »Haus des Schmerzes«.

»Gut, dann wollen wir anfangen. Ich habe heute noch anderes zu tun«, erklärte der Direktor, und damit war offensichtlich, welche Atmosphäre er der Zeremonie verleihen wollte. Er hatte ganz eindeutig nicht vor, einen positiven Beitrag zu dem zu leisten, was der schönste Tag meines Lebens hätte werden sollen.

In diesem Moment schlurfte Matt herein. Wegen des besonderen Anlasses hatte man die Hand- und Fußfesseln entfernt, die normalerweise an einer Kette um seine Taille befestigt waren.

Ich war ihm noch nie so nahe gekommen, dass ich ihn hätte berühren können. Außer beim ersten Mal trennte uns während der allgemeinen Besuchszeiten eine Glasscheibe. Er schenkte mir ein breites Lächeln, das ich erwiderte, so gut ich konnte. Er trug seine übliche Gefängniskluft und hatte versucht, mit viel Gel seine Locken im Zaum zu halten. Genau über dem Kragen seines Hemdes war ein Schlangentattoo erkennbar: Das Tier wand sich ihm um den Hals. Die Tätowierungen auf seinen Unterarmen versteckte er nicht, und man konnte einen Drachen, einen Adler, einen Steinbock und eine nackte Frau erkennen.

»Ich lasse mir auch eins mit deinen Initialen machen«, hatte er mir einmal versprochen. Was mich betraf, war das nicht nötig. Ich mochte keine Tattoos. Und solche schon gar nicht. Sie gehörten zum Gefängnisleben und zeigten mir, was für ein Mann er geworden war. Mir ging es um den Mann aus der Zeit davor.

Ich betrachtete Matt. Er war mein Ein und Alles, meine Zukunft. Ich wusste, hätte ich noch Familie und Freunde gehabt, hätten sie mich für verrückt erklärt, weil ich so jemanden wie Matt heiratete, aber das hier war ganz allein meine Entscheidung, und ich traf sie im vollen Besitz meiner geistigen Kräfte.

Mit einer ungeduldigen Geste bedeutete uns der Direktor, vor ihn hinzutreten und uns nebeneinanderzustellen. Das lief nicht gerade so, wie ich mir meinen Hochzeitstag vorgestellt hatte. Nicht dass ich jemals genauer darüber nachgedacht hätte. Meine eigene Mutter ließ nach zwei gescheiterten Ehen keine Gelegenheit ungenutzt, mich davon überzeugen zu wollen, dass ich nie im Leben heiraten dürfe.

Matt nahm mich bei der Hand, kniff kurz hinein und zwinkerte mir zu. Ich lächelte zurück und tat mein Möglichstes, um mich auf die Worte des Direktors zu konzentrieren.

Die Zeremonie war ernüchternd kurz. Springs sagte ein paar Sätze über den Bund, den wir vor Gott eingingen. Danach gaben wir uns das Jawort, und Matt schob mir einen Ring auf den Finger. Er hatte mir gesagt, ich dürfe keine Ringe kaufen, und ich fragte mich, wie er wohl an dieses Exemplar gekommen war. Es war ein einfacher, dünner Goldring.

Mit dem traditionellen Kuss wurde unsere Ehe besiegelt. Matts Lippen waren weich und warm und schmeckten schwach nach Kaffee. Glückwünsche erhielten wir von Russell und Taylor, nicht jedoch vom Direktor, der sofort nach der Zeremonie den Raum verließ.

»Dann lassen wir euch mal allein«, erklärte Russell, und er und Taylor machten sich davon. Hinter ihnen schloss sich unter großem Lärm die Tür, und das Schloss rastete ein.

6

Voller Unbehagen schauten wir einander an.

»Mrs. Ayers«, sagte Matt und nahm meine beiden Hände in seine. Sie waren warm und klebrig, genau wie meine.

»Mr. Ayers«, sagte ich. Meine Wangen glühten wie im Fieber. Matt zog mich neben sich aufs Bett, schien jedoch keine Anstalten zu machen, mich berühren zu wollen. Darum beugte ich mich zu ihm hin, um ihn zu küssen, doch er hielt mich zurück.

»So gern ich auch möchte … Nicht hier.«

Verblüfft lehnte ich mich wieder zurück. »Ich dachte …« Prompt wurde mir noch wärmer. Hatte ich etwas falsch gemacht?

»Du verdienst etwas Besseres als das hier, Mackenzie. Falls ich hier rauskomme …«

»Wenn«, verbesserte ich ihn.

»Wenn ich wieder frei bin, fangen wir ganz von vorne an. Und wir machen es besser. Wir heiraten mit allem Drum und Dran. Mit deiner Familie und deinen Freunden und mit meinen. Wir machen eine Hochzeitsreise. Und dann bekommst du einen schöneren Ring von mir. Okay?«

Er machte es sich einfach, denn er verdrängte, dass seine Familie und Freunde sich von ihm abgewandt hatten. Auch ich hatte keine Verwandten, und meine wenigen Freunde hatte ich zurückgelassen, als ich nach Atmore gezogen war. »Aber warum haben wir dann geheiratet?«, fragte ich.

»Weil ich Angst hatte, dass dich mir sonst jemand anders wegschnappen würde«, erklärte Matt augenzwinkernd.

Ich lachte. Das war lieb gemeint, aber wir wussten beide, dass es nicht stimmte. Als Mann und Frau hatten wir mehr Rechte. Wir konnten einander sehen, ohne dass dieses dicke Stück fleckiges Glas zwischen uns stand. Und man ließ uns Privatsphäre, ohne Wärter, die alles mit ansahen und anhörten.

Da fiel mir ein, dass ich Matt ja nun endlich erzählen konnte, womit ich mich in den letzten Wochen ohne sein Wissen beschäftigt hatte. Ich holte tief Luft. »Ich habe eine Überraschung für dich, eine Art Hochzeitsgeschenk …«

Fragend schaute mich Matt an.

Es gab überhaupt keinen Grund dafür, aber ganz kurz durchfuhr mich der Gedanke, dass man uns hier vielleicht abhörte. »Ich werde dir helfen, von hier zu entkommen«, sagte ich deswegen leise. Ich wusste auch schon wie.

Matt fiel die Kinnlade herunter, und er riss die Augen weit auf. »Mackenzie, wovon redest du?«, fragte er, halb lachend.

Ich konnte an seinem Gesichtsausdruck ablesen, dass er nicht sicher war, ob er mich ernst nehmen sollte oder nicht.

»Du sagst doch immer, du weißt nicht, wie lange du es hier noch aushältst, dass du hier noch zugrunde gehst, weil es so schlimm ist, und …«

Die Tür wurde ohne Vorwarnung aufgerissen. Ein Wärter erschien, es war ein anderer als zuvor bei der Zeremonie. Mich durchfuhr ein Schock, als ich sah, wer da vor mir stand. Voller Panik fragte ich mich, ob das Wiedererkennen auf Gegenseitigkeit beruhte, aber sein Gesichtsausdruck blieb neutral. Verhalte dich jetzt ganz normal, Mackenzie, befahl mir eine Stimme in meinem Kopf. Er war in dieser Nacht sturzbesoffen, er kann sich bestimmt nicht mehr an dich erinnern. BB, so hieß er, das wusste ich noch.

»Die Zeit ist um.« BB baute sich breitbeinig vor uns auf und hatte die Daumen im Uniformkoppel eingehakt.

»Stimmt nicht«, gab Matt zurück. »Das waren doch noch nicht mal zehn Minuten. Uns steht eine Stunde zu.«

»Willst du etwa behaupten, ich kann die Uhr nicht lesen?«

»Wenn du Analphabet wärst, würde mich das nicht im Geringsten wundern«, erklärte Matt. »Du und der ganze Rest deiner Kollegen.«

»Und wenn ich du wäre, würde ich das Maul lieber nicht ganz so weit aufreißen. Außer deine Frau kann da draußen gut genug auf sich selbst aufpassen, während du hier drinnen schmorst.«

Matt stand auf. Er war mindestens zehn Zentimeter kleiner als BB, aber das schien ihm nichts auszumachen. »Was hast du da gerade gesagt?«

»Mach dir mal keine Sorgen. Wir werden schon gut auf sie aufpassen.« Er grinste mich lüstern an.

Mich durchfuhr ein Schauer des Abscheus. Bevor ich Matt zurückhalten konnte, holte er mit einem wütenden Grollen zum Schlag aus. Seine Faust traf BB voll auf die Nase. Blut spritzte in alle Richtungen, und ein Teil davon landete auf meinem Kleid. Als Allererstes dachte ich, dass ich die Flecken wohl nie herausbekommen und deshalb auf dem Kleid sitzen bleiben würde. Wie in Zeitlupe sah ich, dass Matt noch einmal ausholte. BB schwankte, fuhr mit beiden Armen durch die Luft und fiel dann gegen die Wand. Matt sprang auf ihn.

Ich schrie, er solle aufhören, aber die dumpfen, widerwärtig klingenden Schläge von Fleisch auf Fleisch hörten nicht auf. Fieberhaft dachte ich nach. Was sollte ich tun? Ich hatte genug Erfahrung mit Gewaltsituationen, auch wenn die schon einige Zeit zurücklagen. Aber ich ging davon aus, dass man so etwas nie verlernte, genau wie das Autofahren. Ich musste Matt ausschalten. Ja, das war das Sinnvollste. Ich musste ihn zurückhalten, zu seinem eigenen Besten.

Vom Flur her erklang Geschrei und das Geräusch von schweren, hallenden Schritten. Genau in dem Augenblick, als ich meinen neuen Ehemann am Arm packte, füllte sich der Raum mit uniformierten Männern. Der Lärm hatte die Kollegen von BB auf den Plan gerufen. Genau wie ich versuchten sie, Matt zu stoppen, doch den schien eine blinde Raserei befallen zu haben. Niemand achtete auf mich oder passte auf, was er tat, und in dem Gewirr aus Armen und Beinen stieß mir irgendjemand brutal mit dem Ellbogen ins Gesicht. Ein heftiger, brennender Schmerz schoss mir durch den Schädel. Ich taumelte und fiel aufs Bett. Als ich Blut schmeckte, fasste ich mir an die Stirn. An meinen Händen klebte ebenfalls etwas Blut.

Gegen Schwindel und Luftnot ankämpfend, saß ich da und schaute machtlos zu, wie Matt von den herbeigeeilten Wärtern auf grobe, brutale Weise zu Boden gedrückt wurde. Er schrie aus Leibeskräften, als BB ihm in den Bauch trat, um sich zu revanchieren.

Lieber Gott, sie brachten ihn um. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Gefangener während eines solchen Kampfes ums Leben kam. Voller Sorge schnellte ich hoch und versetzte BB einen harten Schlag gegen die Brust. »Was fällt Ihnen ein, er liegt doch hilflos auf dem Boden?«

BB lachte mir unbeeindruckt direkt ins Gesicht. »Dann weiß er auch mal, wie sich das anfühlt«, gab er kalt zurück. Sein eines Auge war zugeschwollen, und auf der Uniform und im Gesicht hatte er dunkelrote Streifen.

»Ich werde eine Beschwerde einreichen«, rief ich wütend, auch wenn ich keine Ahnung hatte, ob das möglich war.

»Nur zu, aber das ist so gut wie aussichtslos. Er hat angefangen.«

»Sie haben ihm gedroht, das habe ich selbst gehört.«

»Dann steht Ihr Wort gegen unseres, nicht wahr, Jungs?«

Seine Kollegen nickten einträchtig. Matt sagte etwas, aber ich konnte ihn nicht verstehen, weil er mit dem Gesicht zum Boden dalag und der Schuh eines Wärters in seinem Genick jede Bewegung verhinderte. Sie packten ihn an Armen und Beinen und schleppten ihn weg wie einen Kartoffelsack.

Entsetzt und verwirrt lehnte ich an der Wand. Ich wollte hier raus, aber BB blockierte den Ausgang.

»Wohin wird er jetzt gebracht?«

»Isolierzelle«, gab BB zurück.

»Aber er ist verletzt, er …«

»Mach du dir mal keine Sorgen um deinen frischgebackenen Ehemann. Du musst dich um ganz andere Dinge kümmern.«

Bei mir schrillten sämtliche Alarmglocken, und ich schaute ihn erschrocken an.

»Hast du deinem Mann denn schon von deinem kleinen Abenteuer mit Dave erzählt?«, fuhr er fort.

Fuck, er hatte mich also nicht vergessen. »Soll das eine Drohung sein?«

»Es braucht keine zu sein.«

Voller Misstrauen schaute ich ihn an.

Er trat ein paar Schritte auf mich zu. Kam mir zu nahe. »Eine Frau wie du ist doch sicher einsam. Du hast auch so deine Bedürfnisse, aber mit einem Mann im Gefängnis …« Er schnappte sich eine meiner Locken und wickelte sie sich um die Finger.

Ich wollte ihn wegstoßen, hielt mich aber noch zurück. Erst musste ich herausfinden, was er mir zu sagen hatte.

»Willst du, dass ich deinem Mann erzähle, was ich so alles über dich weiß? Ich habe gerade mal ein bisschen zurückgerechnet: Du hast Matt betrogen. Und das ausgerechnet mit dem Mann, der ihn verhaftet hat.«

»Das ist nicht wahr!«, rief ich wütend. Ich wollte ihm sagen, dass er keine Ahnung von dem hatte, was da vorgefallen war. Dass ich niemals irgendetwas beabsichtigt hatte, mich aber an diesem Abend so schrecklich allein fühlte. Ich hatte mich zwar selbst für eine Beziehung mit Matt entschieden, aber das bedeutete noch lange nicht, dass es einfach war, dass ich keine entsetzliche Einsamkeit empfand, nicht ab und zu von Zweifeln zerrissen wurde. »Damals hatte ich ihn erst ein paarmal im Gefängnis besucht, und …« Ich schwieg. Ich war diesem Mann keine Rechenschaft schuldig.

BB drückte mich gegen die kalte, unebene Mauer und klemmte mich so mit seinem massigen Körper fest, während er sein Gesicht viel zu dicht vor meines schob. Ich konnte seine Nasenhaare sehen – die mussten wirklich ganz dringend geschnitten werden. Voller Ekel wandte ich das Gesicht ab. Ich versuchte, mich loszuwinden, aber er war stark, und außerdem bemerkte ich, wie ich ihn mit meinem Verhalten erregte.

Er ließ seine Hand zwischen meine Beine gleiten und fing an mich zu streicheln. Den Schrei des Abscheus, den ich nicht zurückhalten konnte, interpretierte er absichtlich falsch. »Das gefällt dir, was? Das kriegst du viel zu selten. Du bist gar nicht so kühl, wie du immer tust. Du brauchst nur jemanden, der dir gewachsen ist.«

»Da überschätzt du dich aber«, brachte ich heraus.

Er lachte leise. »Ich kenne noch viel mehr Frauen wie dich.« Er streichelte mich immer weiter, der Druck seiner Finger wurde stärker, und ich spürte seinen heißen Atem in meinem Ohr. Er rückte mit dem Kopf noch dichter an mich heran, küsste mich jedoch nicht. Stattdessen steckte er mir die Zunge ins Ohr.

In meinem Mund schmeckte es nach Galle. Mit aller Macht versuchte ich, mich an die Techniken zu erinnern, die ich in der Kampfausbildung gelernt hatte, aber der Schlag auf den Kopf musste mich benommen gemacht haben. Es gelang mir nicht, richtig nachzudenken.

Okay, konzentrier dich, befahl ich mir selbst.

BB begann immer lauter zu stöhnen und hielt kurz im Streicheln inne, weil er sich meine Hand – seine war schweißnass – zwischen die Beine legen wollte.

Plötzlich fiel es mir wieder ein. Ich riss das Knie hoch und stieß es ihm kräftig zwischen die Beine. Vor Schmerzen wich er etwas zurück, und den Platz nutzte ich aus, indem ich ihm mit voller Wucht den Ellbogen unter das Kinn rammte. Er schwankte und fiel nach hinten. Ich glitt an ihm vorbei und rannte auf den schrecklich wackeligen Absätzen weg.

»Das war sehr, sehr dumm von dir, Mädchen. Ich kann dir das Leben ganz schön zur Hölle machen!«, hörte ich hinter mir.

Ich rannte weiter, ohne mich umzuschauen. Als ich in einiger Entfernung eine Gruppe einfacher Gefangener stehen sah, schoss mir durch den Kopf, dass das Ganze vielleicht alles andere als eine kluge Aktion von mir war. Aber die Insassen waren so überrascht, dass sie mir wie von selbst auswichen. Ich hörte erst auf zu rennen, als ich einen Wärter entdeckte.

7

Rosie