Die Buchbinderin von Oxford - Pip Williams - E-Book

Die Buchbinderin von Oxford E-Book

Pip Williams

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Beschreibung

England, 1914: Als die Männer in den Krieg ziehen, halten die Frauen die Nation am Laufen. Zwei von ihnen sind die Zwillingsschwestern Peggy und Maude, die in der Buchbinderei der Oxford University Press im Arbeiterviertel Jericho arbeiten und auf einem Hausboot voller Bücher leben. Peggy träumt davon, eines Tages an der Universität zu studieren. Doch ihr wird gesagt: „Dein Job ist es, die Bücher zu binden und nicht zu lesen!“. Maude ist ein ganz besonderes, verletzliches Mädchen, und Peggy fühlt sich nach dem Tod ihrer Mutter für ihre Schwester verantwortlich. Mit der Ankunft von belgischen Flüchtlingen in Oxford und der Unterstützung neuer Freunde rücken Peggys Träume ganz unerwartet in greifbare Nähe. Und sie beschließt, eine andere Zukunft für sich zu erschaffen – eine, in der sie nicht nur ihre Hände, sondern auch ihren Verstand einsetzen kann.

  • Ein emanzipatorischer Roman, der Licht wirft auf die unsichtbare Arbeit von Frauen und das alte Handwerk des Buchbindens
  • Der Nr.-1-Bestseller aus Australien: Ein historischer Schmöker für Buchliebhaber*innen zum Eintauchen und Entspannen
  • »(Williams) Charaktere sind so überzeugend, so voller Leben, dass sie eher entdeckt als erfunden wirken.« (The Sydney Morning Herald)

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Seitenzahl: 590

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DASBUCH:

Im Jahr 1914, als die Männer Großbritanniens in den Krieg ziehen, sind es die Frauen, die die Nation am Laufen halten. Zwei dieser Frauen sind die Zwillingsschwestern Peggy und Maude, die in der Buchbinderei der Oxford University Press in Jericho arbeiten. Peggy ist intelligent, ehrgeizig und träumt davon, an der Universität zu studieren. Doch ihr wird gesagt: »Dein Job ist es, die Bücher zu binden und nicht zu lesen!«. Maude hingegen ist stiller, verletzlicher und anders als die Mädchen in ihrem Alter. Nach dem Tod ihrer Mutter fühlt Peggy sich für sie verantwortlich. So wie viele Nachbarsfamilien leben auch die Schwestern auf einem Hausboot, das an einem der vielen Kanäle Oxfords vertäut ist. Erst die Ankunft von Flüchtlingen aus den zerstörten Städten Belgiens verändert diese kleine Gemeinschaft und Peggy beginnt, die Möglichkeit einer anderen Zukunft zu sehen, in der sie nicht nur ihre Hände, sondern auch ihren Verstand gebrauchen kann.

»Williams Charaktere sind so überzeugend, so voller Leben, dass sie eher entdeckt als erfunden wirken.«   THESYDNEYMORNINGHERALD

DIEAUTORIN:

Pip Williams, geboren in London, aufgewachsen in Sydney, lebt mit ihrer Familie in Südaustralien. Sie ist Sozialwissenschaftlerin und neben ihrer Forschung leidenschaftliche Autorin eines Reisememoirs, von Artikeln, Buchrezensionen, Flash Fiction und Gedichten. Ihre Faszination für Sprache und ihre Recherchen in den Archiven des Oxford English Dictionary inspirierten ihren ersten Roman »Die Sammlerin der verlorenen Wörter«, der ein Nr.-1-Sensationserfolg in Pips australischer Heimat wurde. Mehrfach preisgekrönt, stand dieser Roman auf der Shortlist für den Walter Scott Prize for Historical Fiction. Auch »Die Buchbinderin von Oxford« wurde zum Nr.-1-Bestseller in Australien.

PIP WILLIAMS

DIE BUCHBINDERIN VON OXFORD

Aus dem Englischen von Christiane Burkhardt

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel THEBOOKBINDEROFJERICHO bei Affirm Press, Melbourne.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2023 by Pip Williams

First published by Affirm Press

This edition arranged with Kaplan/

DeFiore Rights through Paul & Peter Fritz AG

Copyright © 2023 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Antje Steinhäuser

Herstellung: Udo Brenner

Umschlaggestaltung: t.mutzenbach design, München

Unter Verwendung von Shutterstock.com

(Africa Studio, BitterHeart, pics five, WR7, SimoneN)

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN: 978-3-641-31524-5

www.heyne.de

Now goddess, child of Zeus, tell the old story for our modern times. Find the beginning.

Homer, The Odyssey, übersetzt von Emily Wilson – die erste Frau, die die gesamte Odyssee ins Englische übertragen hat.

Erzähle auch uns davon Tochter des Zeus – und fang einfach irgendwo an!

Homer, Die Odyssee, übersetzt von Christoph Martin

TEIL I

Shakespeares England

Juli bis Oktober 1914

1

Bruchstücke: Das war alles, was ich hatte. Fragmente, die ohne die Wörter davor oder dahinter keinerlei Sinn ergaben.

Wir falzten die gesammelten Werke von William Shakespeare und ich hatte die erste Seite mit dem Herausgebervorwort bestimmt schon hundert Mal überflogen. Deren letzte Zeile ging mir einfach nicht mehr aus dem Kopf, ich wollte dringend wissen, wie es weiterging. Ich habe mir erlaubt, nur dort abzuweichen, wo ich den Eindruck hatte, dass …

Mir erlaubt abzuweichen. Sobald ich einen Bogen falzte, blieb mein Blick an diesem Satz hängen.

Wo ich den Eindruck hatte, dass …

Dass was?, fragte ich mich. Um mit einem weiteren Bogen zu beginnen.

Erster Falz: The Complete Works ofWilliam Shakespeare. Zweiter Falz: Herausgegeben von WJ Craig. Dritter Falz: mir erlaubt, nur dort abzuweichen … Himmel Herrgott!

Meine Hand verharrte, während ich die letzte Zeile las und mich bemühte, sie zu ergänzen.

WJ Craig hat Shakespeare umformuliert!, dachte ich. Wo er den Eindruck hatte, dass …

Ich wollte unbedingt mehr wissen.

Verstohlen schaute ich mich in der Buchbinderei um. Mein Blick fiel auf den Arbeitstisch, auf dem sich die noch ungefalzten Bögen und bereits gefalzten Lagen türmten. Ich sah zu Maude hinüber.

Sie interessierte sich kein bisschen für die Wörter auf den Seiten. Ich konnte hören, wie sie leise vor sich hin summte, wobei jeder Falzvorgang den Takt vorgab wie ein Metronom. Falzen war ihre Lieblingsbeschäftigung, und das machte ihr so schnell niemand nach. Was sie allerdings nicht davon abhielt, Fehler zu machen – Fehlfalze, wie Ma das immer so schön nannte. Selbst ausgedachte Falze. Dann nahm ich aus den Augenwinkeln wahr, wie sich ihr Rhythmus änderte. Es genügte, ihre Hand zu packen, dann begriff sie. Sie war nicht geistig zurückgeblieben – egal, was die Leute behaupteten. Und wenn ich solche Anzeichen übersah? Nun, dann war eine Lage ruiniert. Das konnte jeder von uns passieren, wenn ein Falzbein ausrutschte. Aber wir bemerkten es wenigstens und sortierten die fehlerhafte Lage aus. Nicht so meine Schwester. Und deshalb blieb mir nichts anderes übrig als …

… sie im Auge zu behalten.

… auf sie aufzupassen.

… tief einzuatmen.

Ach, Maude! Ich liebe dich, ich liebe dich wirklich. Aber manchmal … So viel zu meinen Gedanken.

Schon jetzt sah ich eine gefalzte Lage, die nicht bündig auf dem Stapel links von Maude, also zu meiner Rechten, lag. Ich würde sie später zurechtrücken, ohne dass sie etwas davon mitbekam. Genauso wenig wie Mrs. Hogg. Damit sie nicht verwarnt wurde.

Die Einzige, die hier noch Chaos stiften konnte, war ich. Wenn ich nicht bald herausfand, warum WJ Craig Shakespeare umformuliert hatte, würde ich noch laut schreien. Ich hob die Hand.

»Ja, Miss Jones?«

»Ich müsste austreten, Mrs. Hogg.«

Sie nickte.

Ich beendete meinen letzten Falzvorgang und wartete, bis sich Mrs. Hogg entfernt hatte, diese hässliche Kröte! Maude hatte das mal laut ausgesprochen, was mir bis heute nicht verziehen wurde. Denn für Mrs. Hogg waren wir so was wie ein und dieselbe Person.

»Bin gleich wieder da, Maudie.«

»Gleich wieder da«, wiederholte sie.

Lou falzte die zweite Lage. Als ich hinter ihrem Stuhl vorbeiging, blieb ich kurz stehen und beugte mich über sie. »Kannst du kurz innehalten?«, fragte ich.

»Ich dachte, du musst dringend austreten.«

»Natürlich nicht. Ich möchte bloß unbedingt wissen, wie es weitergeht.«

Sie wartete, bis ich den Satz zu Ende gelesen hatte. Ich rief ihn mir im Ganzen ins Gedächtnis und flüsterte leise: »Ich habe mir erlaubt, nur dort abzuweichen, wo ich den Eindruck hatte, dass die Nachlässigkeit eines Kopisten oder Druckers ein Wort oder einen Satz völlig sinnentleert hat.«

»Darf ich jetzt weiterfalzen, Peggy?«, fragte Lou.

»Ja, Louise«, sagte Mrs. Hogg.

Lou errötete und warf mir einen vielsagenden Blick zu.

»Miss Jones …«

Mrs. Hogg war mit Ma zur Schule gegangen und kannte mich und Maude bereits von Geburt an. Trotzdem: Miss Jones. Mit Betonung auf Mas Mädchennamen, nur für den Fall, jemand in der Buchbinderei könnte diese Schmach inzwischen vergessen haben.

»Ihre Aufgabe besteht darin, Bücher zu binden, nicht sie zu lesen …«

Sie war noch nicht fertig, aber ich hörte ihr längst nicht mehr zu. Ich hatte mir schon unzählige Male anhören müssen: Die Bögen seien dazu da, gefalzt, nicht gelesen zu werden. Die Lagen gelte es zusammenzutragen und zu heften, nicht zu lesen. Und unzählige Male hatte ich gedacht, dass es das Lesen der Seiten war, was die Arbeit überhaupt erst erträglich machte. »Ich habe mir erlaubt, nur dort abzuweichen, wo ich den Eindruck hatte, dass die Nachlässigkeit eines Kopisten oder Druckers ein Wort oder einen Satz völlig sinnentleert hat.«

Mrs. Hogg hob den Finger, und ich fragte mich, welche Antwort ich ihr wohl schuldig geblieben war. Wie immer lief sie knallrot an. Da mischte sich unsere Vorarbeiterin ein.

»Peggy, wo Sie schon mal stehen: Können Sie mir etwas holen?«

Mrs. Stoddard wandte sich mit einem Lächeln an die Aufseherin. »Sie können sie doch sicherlich für zehn Minuten entbehren, Mrs. Hogg?«

Die hässliche Kröte nickte und fuhr damit fort, die Reihe der jungen Frauen abzuschreiten, ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen. Ich sah zu meiner Schwester.

»Maude kommt schon zurecht«, sagte Mrs. Stoddard.

Wir liefen ans Ende der Buchbinderei. Hin und wieder blieb Mrs. Stoddard stehen, um eine der jüngeren Frauen zu ermutigen oder ihre Haltung zu korrigieren, wenn diese einen allzu krummen Buckel machten. In ihrem Büro griff sie zu einem neu gebundenen Buch. Darauf prangten goldene Lettern, die dermaßen glänzten, dass sie wie nass wirkten.

The Oxford Book of English Verse: 1250 – 1900. Eine Lyrikanthologie, die wir fast jedes Jahr nachdruckten.

»Hat denn seit 1900 niemand mehr Gedichte geschrieben?«, fragte ich.

Mrs. Stoddard unterdrückte ein Lächeln. »Der Oberaufseher möchte wissen, wie die neueste Auflage geworden ist.« Sie reichte mir das Buch. »Ein kleiner Spaziergang zu seinem Büro dürfte Ihnen eine willkommene Abwechslung sein.«

Ich führte das Buch an die Nase. Leder, dazu kam ein schwacher Duft nach Druckerschwärze und Leim. Ich konnte gar nicht genug davon bekommen. Das war ein Duft, der nach neuen Ideen roch, nach einer spannenden alten Sage, nach einem aufregenden Reim. Ich wusste, dass er nach einem Monat verfliegen würde, deshalb atmete ich tief ein, als könnte ich so auch aufsaugen, was auf diesen Seiten stand.

Zwischen zwei langen Arbeitstischreihen, auf denen sich planierte bedruckte Bögen und Lagen türmten, trat ich den Rückweg an. Frauen und Mädchen waren damit beschäftigt, das eine in das andere zu verwandeln, doch mir hatte man eine kurze Verschnaufpause gewährt. Ich wollte das Buch gerade aufschlagen, als eine warzige Hand die meine packte und das Buch zuknallte.

»Ich werde nicht zulassen, dass der Buchrücken einen Knick bekommt«, sagte Mrs. Hogg. »Schon gar nicht durch jemanden wie Sie, Miss Jones.«

***

Ich ließ mir Zeit, während ich durch die Flure der Clarendon Press lief.

Mr. Hart hatte gerade Besuch: Die Worte der Frau waren auch für mich zu verstehen. Sie war jung und drückte sich gewählt, mit einem leichten Midland-Akzent aus. Ich dämpfte meine Schritte, damit sie nicht verstummte.

»Und was sagt Ihr Vater dazu?«, fragte Mr. Hart.

Kurz vor seiner halb offen stehenden Bürotür machte ich halt. Ich konnte ihre modischen Schuhe und schmalen Fesseln unter dem gerade geschnittenen lila Rock erkennen. Darüber trug sie ein passendes Jackett.

»Er war zunächst gar nicht begeistert, hat sich dann aber umstimmen lassen.«

»Er ist Geschäftsmann, ein Pragmatiker. Er musste nicht studieren, um die Papiermühle zu betreiben. Vermutlich versteht er nicht, welchen Sinn das für eine Frau haben sollte.«

»Ja, ganz genau«, sagte sie, und ich spürte ihre Verbitterung. »Deshalb muss ich ihm beweisen, dass es sehr wohl einen Sinn hat.«

»Und wann wollen Sie nach Oxford kommen?«

»Im September. Kurz vor Michaeli, zum Herbsttrimester. Ich gehe nach Somerville, wir werden also Nachbarn sein.«

Somerville. Jeden Morgen stellte ich mir vor, Maude vor dem Verlagsgebäude stehen zu lassen, die Straße zu überqueren und Somerville College zu betreten. Ich stellte mir den Campus und die Bibliothek, einen Schreibtisch in einem der Räume mit Blick auf die Walton Street vor. Ich stellte mir vor, meine Zeit mit dem Lesen von Büchern zu verbringen, statt damit sie zu binden. Kurz stellte ich mir auch vor, ich wäre nicht gezwungen, Geld zu verdienen und Maude könnte für sich selbst sorgen.

»Und was wollen Sie studieren?«

Die Antwort lag mir auf der Zunge, aber die junge Frau kam mir zuvor.

»Englisch. Ich möchte Schriftstellerin werden.«

»Nun, vielleicht haben wir eines Tages die Ehre, Ihr Werk zu binden.«

»Ja, vielleicht, Mr. Hart. Ich freue mich schon darauf, meinen Namen zwischen Ihren Erstausgaben zu entdecken.«

Es wurde geflüstert, aber es war kein unangenehmes Flüstern. Ich wusste, dass sie einen Blick auf das Regal des Oberaufsehers warfen, auf all die Erstausgaben mit ihren makellosen Lederrücken und Blattgoldlettern. Da spürte ich auch wieder das Buch in meiner Hand. Fast hätte ich vergessen, warum ich hier war.

»Grüßen Sie Ihren Vater von mir, Miss Brittain.«

»Gern, Mr. Hart.«

Die Tür flog auf, und mir blieb keine Zeit mehr zurückzuweichen, sodass wir uns eine Sekunde lang direkt gegenüberstanden. Miss Brittain war vielleicht neunzehn, zwanzig Jahre alt, ungefähr so alt wie ich. Sie hatte meine Größe und war genauso schlank. Sie war auch hübsch, trotz ihres mausfarbenen Haars. Lila stand ihr gut, und ich fragte mich, wie sie mich wohl wahrnahm. Zweifellos auch als hübsch, denn das sagten alle, mit Haaren, so dunkel wie der Kanal bei Nacht und den dazu passenden Augen, die ich von Ma geerbt hatte. Aber meine Nase war anders, sie war ein wenig zu groß geraten. Normalweise wäre mir das gar nicht so bewusst gewesen, hätte ich sie nicht ständig im Profil gesehen, wenn ich zu Maude hinüberschaute.

Es war nur ein winziger Moment, aber manchmal braucht es gar nicht mehr: Ich sah, dass Miss Brittains Züge etwas Entschlussfreudiges hatten. Wir könnten Freundinnen sein, dachte ich.

Doch sie schien es besser zu wissen. Sie war zwar nicht unhöflich, aber es gab ungeschriebene Gesetze. Sie sah die Schürze einer Buchbinderin über einem schlichten braunen Rock aus Drillich, die verwaschene, abgetragene Bluse mit bis zum Ellbogen aufgerollten Ärmeln. Sie lächelte und nickte mir zu, um dann den Flur hinunterzuschreiten.

Ich klopfte an die offen stehende Tür, und Mr. Hart sah von seinem Schreibtisch auf. Ich arbeitete schon seit sieben Jahren bei Clarendon Press und hatte ihn nie lächeln sehen. Aber jetzt kräuselten sich seine Mundwinkel. Als er merkte, dass mitnichten Miss Brittain zurückgekehrt war, glätteten sie sich wieder. Er winkte mich näher, widmete sich aber erneut dem Geschäftsbuch auf seinem Schreibtisch.

Meine zehn Minuten waren um, aber es stand mir nicht zu, ihn zu unterbrechen. Ich schaute an Mr. Hart vorbei aus dem Fenster. Da war Miss Brittain auch schon, sie überquerte die Walton Street. Und blieb auf dem Bürgersteig stehen, um zu den Fenstern von Somerville College emporzuschauen. Eine ganze Weile verharrte sie so, die Leute waren gezwungen, einen Bogen um sie zu machen. Ich konnte ihre Aufregung spüren. Sie fragte sich, welches dieser Fenster wohl das ihre sein würde. Sie malte sich aus, wie sie von ihrem Schreibtisch auf die Straße schauen und welche Bücher sie lesen würde.

Mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Ein vertrautes Gefühl. Vielleicht hatte Mrs. Hogg ja recht, und es schickte sich nicht, dass ich die Bücher las, die ich band. Dass ich meinen Platz woanders als in Jericho sah oder mir einbildete, ein Leben ohne Maude führen zu können. Das Buch wog schwer in meiner Hand, und ich staunte, dass man es mir überhaupt anvertraut hatte.

Dann wurde ich wütend.

Ich schlug The Oxford Book of English Verse auf, bis sein Rücken knackte. Ich blätterte darin – John Barbour, Geoffrey Chaucer, Robert Henryson, William Dunbar, Anonym. Anonym? Konnten sich dahinter auch eine Anna, eine Mary, eine Lucy oder eine Peg verbergen? Ich schaute auf und merkte, wie mich der Oberaufseher anstarrte.

Kurz befürchtete ich, er würde sagen, was ich mir da überhaupt einbildete! Aber er streckte einfach bloß die Hand nach dem Buch aus. Ich zögerte, und er zog die Brauen hoch. Das genügte. Ich übergab ihm das Buch. Er nickte und starrte wieder in sein Geschäftsbuch.

Ohne ein einziges Wort wurde ich fortgeschickt.

2

Die Zeitungsjungen verkündeten die Nachricht lauthals überall in Jericho; den ganzen Arbeitsweg über war ihr Geschrei zu hören. »Verteidigt die belgische Neutralität«, wiederholte Maude. »Unterstützt Frankreich.« Wie die Zeitungsjungen wiederholte sie es immer wieder.

Als wir vor Turner’s, dem Zeitschriftenladen, stehen blieben, um unsere Post abzuholen, drängten sich dort die Leute und kauften Zeitungen.

»Heute ist nichts für Sie gekommen, Miss Jones«, meinte Mr. Turner, als ich endlich an der Reihe war. Ich griff nach einer Daily Mail und gab ihm einen Halfpenny. Mr. Turner runzelte die Stirn. Bis dato hatte ich noch nie eine Zeitung gekauft. Reine Geldverschwendung, wie Ma zu sagen pflegte.

Während wir die Walton Street entlangliefen, überflog Maude die Titelseite. »Erklärt Großbritannien Deutschland den Krieg?« Das war eine Schlagzeile, aber auch eine Frage. Maude staunte über die freudige Erregung der jungen Männer, über die von Sorgen zerfurchten Stirnen ihrer Mütter. Aber wollte sie auch wissen, was dieser Krieg für England oder für uns bedeutete?

»Uns wird nichts passieren, Maudie.« Ich drückte ihre Hand. »Aber es wird sich einiges verändern.« Ich hoffte darauf und bekam sofort ein schlechtes Gewissen. Wenn auch nicht zu sehr. Maudes Augen huschten weiterhin über den Text.

»Praktische Kopfbedeckungen zu günstigen Preisen«, sagte sie. Das war so eine Angewohnheit von ihr, seit sie Lesen gelernt hatte. Eine hart erarbeitete Fähigkeit. Und obwohl sie keine Lust auf Bücherlesen hatte, liebte sie Schlagzeilen und Bildergeschichten – Wörter, leicht konsumierbare Worte.

Wir gesellten uns zu den vielen Frauen und Männern, Jungen und Mädchen, die durch den steinernen Torbogen der Clarendon Press strömten. Wir liefen um den Campus mit seinem großen Teich und der alten Esche, betraten dann das Gebäude, bei dem bald nichts mehr auf eine Universität hinwies. Stattdessen nahm man die Geräusche und Gerüche einer Fabrik wahr. Wir erreichten die Buchbinderei und verstauten unsere Taschen und Hüte an der Garderobe. Wir nahmen saubere Schürzen vom Haken und machten uns auf den Weg in die Frauenabteilung, wo sich auf Arbeitstischen Buchblöcke stapelten, die schon darauf warteten, geheftet zu werden. Wir liefen an dem Arbeitstisch vorbei, auf dem die Lagen bereits zum Kollationieren in zwei Reihen vorsortiert waren.

Die Arbeitstische, an denen gefalzt wurde, bildeten drei lange Reihen mit Platz für je zwölf Frauen. Sie schauten auf hohe nackte Fenster, das Morgenlicht fiel auf die flachen, bedruckten Bögen sowie auf die Stapel mit bereits gefalzten Lagen vom Vortag. Lou und Aggie hatten ihre Plätze am Ende des Arbeitstisches, direkt beim Fenster, schon eingenommen. Maude und ich saßen in ihrer Mitte.

»Was haben sie uns heute gegeben?«, fragte ich Aggie.

»Was Altes«, meinte sie. Ihr war der Inhalt egal.

»Du hast Teile von Shakespeare’s England«, sagte Lou. »Fahnen. Dafür brauchst du fünf Minuten. Dann wären da noch Shakespeares gesammelte Werke, die dich für den Rest des Tages beschäftigen dürften.«

»Immer noch die Craig-Ausgabe?«

Sie nickte.

»Davon dürfte inzwischen jeder Engländer eine besitzen.«

Ich zog die erste Fahne zu mir her und griff zu Mas Falzbein. Niemand sonst mochte es, Fahnen zu falzen – es waren immer zu wenige, um richtig in den Rhythmus zu kommen, aber ich liebte es. Vor allem liebte ich es, wenn sie wieder zu mir zurückkehrten. Dann hielt ich nach Textänderungen Ausschau und gratulierte mir, wenn ich sie vorhergesehen hatte. Ein kleiner Triumph, der die Monotonie unterbrach, mich davor bewahrte, verrückt zu werden. Mrs. Stoddard sorgte dafür, dass ich die Fahnen bekam, und alle waren dankbar.

Ich überflog die Abzüge von Shakespeare’s England. Lauter verschiedene Kapitel und bestimmt noch voller Fehler. Eines hatte ich schon mal gehabt, darin ging es um Buchhändler, Drucker und Papierhändler. Ich war beim Lesen ertappt worden – »Ihre Aufgabe, Miss Jones, besteht darin …« – aber das war es wert gewesen. Es ging nämlich um uns, um das, was wir hier im Verlag taten, und dass es zu Shakespeares Zeiten gefährlich gewesen war, ein Buch zu drucken, das der Queen oder dem Erzbischof von Canterbury missfiel. Gut möglich, dass man geköpft wurde. Die anderen Fahnen waren neu: Balladen und Broschüren, Shakespeares Bühnen. Shakespeares Heimat. Es waren weniger Seiten als geplant. Das Buch sollte zum dreihundertsten Todestag des Dichters vorliegen, und dafür hätten eigentlich sämtliche Fahnen da sein müssen.

Der letzte bedruckte Bogen war der erste richtige Entwurf eines Vorworts. Suchend schaute ich mich nach Mrs. Hogg um. Sie stand dort, wo die einzelnen Lagen kollationiert wurden, achtete darauf, dass dies in der richtigen Reihenfolge geschah. Ich legte das Vorwort ganz oben auf den Stapel und las nur wenige Zeilen: All jene, die wissen wollen, was Shakespeare denkt, sollten das, was seine Narren sagen, nicht vernachlässigen.

Das genügte, um meine Neugier zu wecken. Ich nahm die rechte untere Ecke des Bogens und bewegte sie nach links, bis die Passmarken übereinstimmten, dann glättete ich mit Mas Falzbein den Knick.

Erster Falz. Folio.

Ich drehte den Bogen. Nahm die rechte Ecke und faltete sie nach links. Jetzt war das Blatt doppelt so dick und leistete mehr Widerstand. Entsprechend passte ich den Druck auf Mas Falzbein an – ganz instinktiv. Und strich den Falz glatt.

Zweiter Falz. Quart.

Mas Falzbein, so nannte ich es noch immer, obwohl es schon seit drei Jahren mir gehörte. Es war nicht mehr als ein abgeflachter Rinderknochen, an einem Ende stumpf, am anderen spitz. Aber es war von der jahrzehntelangen Benutzung geschmeidig geworden und trug noch immer die Spuren ihrer Hand. Kaum merklich, aber so wie Holzlöffel oder Axtgriffe nehmen auch Falzbeine die Persönlichkeit ihrer Benutzer an. Ich hatte mir Mas Falzbein gesichert, bevor Maude es tun konnte. Ich kämpfte damit, auch damit, wie es sich in meiner Hand anfühlte. So wie ich auch mit Mas Abwesenheit kämpfte. Unermüdlich. Ich weigerte mich einfach, klein beizugeben.

Irgendwann hörte ich auf zu versuchen, es auf meine Art zu halten und ließ es so in der Hand liegen, wie es in Mas gelegen hatte. Ich spürte die sanfte Krümmung des Knochens, die Stellen, wo ihre Finger gewesen waren. Und schluchzte.

Mrs. Stoddard läutete die Glocke und riss mich aus meinen Erinnerungen.

»Es gibt einen Umzug«, sagte sie. »Einen festlichen Abschied für unsere Männer bei den Landesstreitkräften und für diejenigen, die sich seit der Erklärung freiwillig gemeldet haben.«

Seit der Erklärung. Sie schaffte es nicht, das Wort Krieg in den Mund zu nehmen, noch nicht.

Wir waren mehr als fünfzig Buchbinderinnen – die jüngsten zwölf, die Älteste über sechzig, und alle folgten Mrs. Stoddard durch die Flure des Verlages wie Schulmädchen auf einem Ausflug. Als unser Geschnatter zu laut wurde, blieb unsere Vorarbeiterin stehen und drehte sich um, hielt den Finger an die Lippen. Und wie Schulmädchen gehorchten wir. Erst in diesem Moment verstand ich, was dieser Krieg für uns bedeutete: In der Druckerei herrschte vollkommene Stille. Die Druckmaschinen waren angehalten worden. So eine Stille hatte ich noch nie erlebt, und auf einmal wurde ich nervös. Wir alle dürften dasselbe gespürt haben, denn auch als wir den Innenhof erreichten, nahmen wir unsere Gespräche nicht wieder auf. Dort hatten sich bereits sechshundert Männer und Burschen versammelt. Mrs. Stoddard schickte uns vor, und ich sah, dass fast jede Familie aus Jericho hier vertreten war.

Da waren die Drucker und Setzer, die Lettergießer, Mechaniker und Korrektoren. Lehrlinge, Gesellen, aber auch Vorarbeiter. Sie hatten sich nach Berufsgruppen versammelt, zu welcher sie gehörten, war am Zustand ihrer Schürzen und Hände leicht zu erkennen. Sie nahmen die gesamte Fläche um den Teich und zwischen den Beeten ein, ja, sie standen bis zu dem Haus, in dem Mr. und Mrs. Hart lebten. Eine so große Versammlung hatte es noch nie gegeben, und ich staunte über die vielen Menschen. Da wurde mir auch bewusst, dass bestimmt die Hälfte aller Männer im kampffähigen Alter war, und die anderen würden es bald werden. Ich musterte die Menge.

Die älteren Männer unterhielten sich leise, während die jüngeren lebhafter waren. Manche gratulierten sich, andere sagten großspurig, der Kaiser habe keine Chance.

»Das dürfte über ein Jahr dauern«, hörte ich einen Burschen sagen.

»Na, hoffentlich«, meinte sein Freund.

Sie waren knapp sechzehn.

Zwei Vorarbeiter, jetzt in der Uniform der Landesstreitkräfte statt in Druckerschürzen, versuchten die jüngeren Rekruten zur Räson zu bringen. Aber die Burschen platzten nur so vor Mitteilungsdrang und wollten loswerden, was sie am Vorabend erlebt hatten. Die, die vor dem Buckingham-Palast gestanden hatten, hielten regelrecht Hof. Sie erzählten von den Massen und der Begeisterung, davon, wie man die Minuten bis Mitternacht heruntergezählt hatte. Sie erzählten von dem Jubel, der aufgebrandet war, als feststand, dass sich der deutsche Kaiser nicht aus Belgien zurückziehen und England in den Krieg eintreten würde. »Es ist unsere Pflicht, Belgien zu verteidigen«, sagte einer. »Und deshalb haben wir aus Leibeskräften God Save the King gesungen.«

»Möge uns Gott alle schützen«, sagte eine heisere Stimme hinter mir. Ich drehte mich um und sah, wie der alte Ned den Kopf schüttelte. Er nahm seine Mütze ab und hielt sie vor die Brust, seine krummen, von Druckerschwärze befleckten Finger spielten mit dem Stoff. Als er den Kopf senkte, glaubte ich, ihn ein Gebet murmeln zu hören.

Dann ertönte eine helle, vertraute Stimme. Maude sang God Save the King so laut sie konnte.

»Ganz genau, Miss Maude«, rief Jack Rowntree.

Jack war unser Nachbar am Kanal, ein Setzer in Ausbildung. Wenn alles gut ging, würde er in drei Jahren Geselle sein. Er stand in der Mitte des Hofs bei all den anderen, die sich in den letzten Monaten freiwillig gemeldet hatten und es nun kaum erwarten konnten. Ich dachte an das Picknick, das wir erst vor wenigen Tagen gemacht hatten. Zu seinem achtzehnten Geburtstag hatten wir Torte gegessen und Charade gespielt.

»Ermuntere sie nicht noch, Jack«, rief ich. Aber ganz so, als hätte er keine andere Wahl, hob er die Hände und begann zu dirigieren. Maude sang weiter, und die Buschen stimmten mit ein. Die selbstsichere Stimme eine Tenors erklang, dann die eines Baritons. Schon bald fielen die übrigen Verlagsmitarbeiter mit ein, und der Innenhof wurde zum Konzertsaal. Die Vorarbeiter gaben es auf, die Rekruten zu bändigen. Sie verschränkten die Arme, bis die Nationalhymne zu Ende gesungen war. Die letzten Noten hingen noch eine ganze Minute in der kühlen Luft.

Dann brüllte einer der Vorarbeiter, die Männer sollten zwei Reihen bilden. Seine Stimme hatte mehr Gewicht, und die Männer gehorchten. Aber nicht wie richtige Soldaten. Sie schubsten sich gegenseitig und zappelten, ein paar Burschen tauschten ihre Plätze, um bei ihren Kumpels sein zu können. Bevor Ruhe einkehrte, schob Mrs. Stoddard uns Buchbinderinnen noch weiter nach vorn. »Wenn sie von hier losmarschieren, wollen sie hübsche Gesichter sehen«, sagte sie. »Also lächelt bitte.«

Lou schluchzte als Erste. Andere Mädchen suchten nach ihren Beaus und warfen ihnen Küsse zu. Wieder andere zückten Taschentücher, um damit zu winken oder sich über die Augen zu wischen. Die Lehrlinge nahmen Haltung an. Ein paar sahen plötzlich sehr blass aus. Jack fing meinen Blick auf, und ich rechnete mit einem Spruch, der jedoch ausblieb. Er nickte nur und lächelte verzagt. Um dann wieder nach vorn zu schauen.

Ich zählte fünfundsechzig Rekruten. Manche hatten bereits graue Schläfen, ihre Gesichter waren vom Leben gezeichnet. Aber die meisten waren jung und viel zu viele kaum mehr als Kinder. Mr. Hart schritt mit Professor Cannan, Verlagsleiter und unser aller Meister, quer durch den Hof. Wir sahen ihn nur selten inmitten von Papier, Druckerschwärze und Maschinen, aber hier war er und musterte die Reihen der Männer, überschlug vermutlich, was der Krieg den Verlag alles kosten würde. Er entdeckte einen Mann, den er kannte, und gab ihm die Hand.

»Sein Assistent«, flüsterte Aggie. »Von nun an wird er seine Briefe selber schreiben müssen.«

Cannan trat zurück, als Mr. Hart einen seiner Vorarbeiter ansprach. Zwei blutjunge Burschen wurden aus den Reihen entfernt. Sie protestierten, aber es war sinnlos. Welches Abenteuer glaubten sie da zu verpassen? Dann stellte sich der Oberaufseher auf eine Kiste und sagte treffende Worte – welche das waren, weiß ich nicht mehr genau. In der Nacht hatte es geregnet, und Blätter und Pflastersteine glänzten noch nass. Die Feuchtigkeit hatte den Kies unter unseren Füßen ganz dunkel werden lassen. Wer würde uns jetzt zum Lachen bringen, wenn Jack weg war? Wer würde unser Wasser schleppen, unsere Lecks abdichten? Und wer würde ihn in der Setzerei ablösen? Wenn all diese Männer fortgingen, würde Shakespeare’s England niemals rechtzeitig fertig.

Die Morgensonne spiegelte sich in einer Pfütze. Ein alter Stiefel ließ sie aufspritzen. Ich sah, wie die Männer durch den steinernen Torbogen hinaus auf die Walton Street marschierten. Alles klatschte und rief ihnen nach.

»Komm heil wieder nach Hause, Angus McDonald!«, schrie eine junge Buchbinderin, das Gesicht tränennass.

»Komm heil wieder nach Hause, Angus McDonald«, wiederholte Maude ausdruckslos. Er warf ihr einen Kuss zu, und Maude warf ihm einen zu. Seine Liebste sah meine Schwester böse an, dabei wäre das gar nicht nötig gewesen. Von nun an warf Maude allen Küsse zu.

Als der letzte Mann die Straße erreicht hatte, verstummten wir. Verlegen bildeten wir Grüppchen im Innenhof, ein oder zwei Vorarbeiter schauten auf ihre Taschenuhren und gingen von einem späten Feierabend aus. Der Oberaufseher und der Verlagsleiter unterhielten sich leise, beide runzelten die Stirn. Mr. Hart schaute zum Torbogen und schüttelte den Kopf.

Mrs. Stoddard rührte sich als Erste und klatschte in die Hände. »Zurück an die Arbeit, meine Damen«, sagte sie. Mrs. Hogg ging voran.

Die Vorarbeiter folgten, auch alle Männer kehrten an ihren Arbeitsplatz zurück: in den Druckmaschinenraum und in die Lettergießerei, in die Setzerei und ins Papierlager, ins Korrektorat, ins Lager und in die Männerabteilung der Buchbinderei. Es gab keinen Bereich, der nicht auf Fachkräfte verzichten musste.

Von nun an würde nur die Frauenabteilung der Buchbinderei voll besetzt sein. Ich ließ mich ein Stück zurückfallen, um neben Mrs. Stoddard herzugehen. »Wer wird all die Lücken füllen?«, fragte ich.

»Intelligente junge Frauen – zumindest wenn die Vorgesetzten und Gewerkschaften es erlauben.« Sie sah sich verstohlen um. »In der Verwaltung gibt es keine Hürden für Frauen, Peggy. Du könntest dich dort auf einen Posten bewerben.«

Ich schüttelte den Kopf.

»Warum denn nicht?«, fragte Mrs. Stoddard.

Ich sah zu Maude hinüber.

»Warum denn nicht?«, sagte Maude.

Weil du mich brauchst, dachte ich. »Weil du mich sonst vermissen wirst«, sagte ich.

Mrs. Stoddard blieb stehen und sah mir in die Augen. »So eine Gelegenheit gibt es nicht alle Tage, Peggy. Du solltest versuchen, sie zu nutzen, solange es noch geht.«

***

Das versuchte ich in meiner Mittagspause.

Die Druckmaschinen waren wieder angeworfen worden, aber je weiter ich lief, desto leiser wurde ihr Lärm. Auch der Geruch nach Maschinenöl und Petroleumlampen sowie der leicht fischelnde nach Leim wichen zunehmend dem nach Holzpolitur und Essig. Ich zog das Schreiben, das ich verfasst hatte, aus meiner Schürzentasche und las es noch einmal durch. Meine Schrift war ordentlich, mein Text fehlerfrei – eine überzeugende Bewerbung. Aber meine Hand zitterte, als ich an Professor Cannans Tür klopfte.

Eine junge Frau öffnete mir.

»Kann ich Ihnen helfen?«

Sie hatte dieselbe Nase wie ihr Vater, dieselbe kultivierte Aussprache. Soweit ich wusste, schrieb sie Gedichte. Sie hatte einen Papierstapel in der Hand, und ich merkte, dass sie hier die Assistentin war. Natürlich. Sie hatte die entsprechende Bildung und alle Zeit der Welt. Ich konnte das sehr gut verstehen.

»Ist das für meinen Vater?« Sie zeigte mit dem Kinn auf mein Bewerbungsschreiben.

Ich schüttelte nur den Kopf und trat den Rückweg an. »Ich hab mich in der Tür geirrt«, murmelte ich.

Dann riss ich meinen Brief entzwei und die beiden Hälften erneut, drehte sie und zerriss sie ein drittes Mal. Um in die leicht fischelnde Buchbinderei zurückzukehren.

3

Die feierliche Stimmung war immer noch spürbar, als wir durch die Straßen Jerichos nach Hause gingen.

»Gott schütze den König«, sagte jemand, der uns auf dem Treidelpfad begegnete.

»Gott schütze den König«, wiederholte Maude.

In Sichtweite des Glockenturms von St. Barnabas gab es nur zwei Kanalboote. Die Staying Put und die Calliope. Die Staying Put war knallbunt, mit Blumen, Burgen und allen möglichen Schnörkeln verziert. Rosie Rowntree hielt sie blitzsauber und schmückte sie im Frühling und im Sommer mit frischen Blumen. Auf dem Dach standen Töpfe mit Geranien, und sie hatte ein schmales Gärtchen mit Blumen und Gemüse angelegt. Er säumte den Treidelpfad und maß genau zwei Bootslängen – ein willkommener »Ankerplatz« für ihren Mann, Oberon, wenn er mit seinem Arbeitsboot eine Pause einlegen und eine Nacht bei ihr verbringen konnte.

»Gott schütze den König«, sagte Maude, als wir näher kamen.

»Schön, dass ihr wieder da seid«, meinte die alte Mrs. Rowntree, Rosies Schwiegermutter. Sie saß inmitten von Töpfen mit Salat und Duftwicke, den Oxford Chronicle im Schoß. Die Zeitungsseite zitterte, als sie sie umblätterte. »Heute Abend wird in der Altstadt wild gezecht werden. Aber ihr seid schon weg.«

Rosie kümmerte sich um ein Spalier für Stangenbohnen, das am Rumpf der Staying Put lehnte. Ihr Sohn war in den Krieg gezogen, und als sie sich umdrehte, sah ich, wie sehr ihr der Tag zugesetzt hatte. Ihre Stimme war bewusst fest.

»Bis Weihnachten soll alles vorbei sein.« Sie nickte energisch, um sich aufzumuntern.

»Ja, das sagen alle«, meinte die alte Mrs. Rowntree.

Doch keine von beiden schien es so richtig zu glauben.

Die Calliope war ein tröstlicher Anblick. Sie war dunkelblau mit goldener Schrift, so wie die Einbände der Reihe Oxford World’s Classics. Sie schien die Staying Put fast zu berühren – eine beruhigende Nähe. Ich hielt Maude die Einstiegsluke auf und kletterte hinterher.

Es roch leicht süßlich-erdig. Den ganzen Tag war nicht gelüftet worden. Die Luke fiel hinter mir zu, während ich den Geruch einsog. Bücherduft, pflegte Ma stets zu sagen, wenn die Leute danach fragten. Sich zersetzendes Papier. Sie rümpften die Nasen, woraufhin Ma lachte und meinte, Inzwischen liebe ich es.

Ma brachte zwei Bücher mit, als sie die Calliope bezog: Die Odyssee und Die Tragödien des Euripides, Band II. Sie hatten bereits ihrer Mutter gehört und waren ganz zerlesen. Ihre Sammelleidenschaft begann erst nach unserer Geburt. Sie brachte Bücher von Trödelläden und Dorffesten mit, manchmal kaufte sie auch neue – günstige Ausgaben für einen Shilling das Stück. Sie waren zwar gebunden, aber Mängelexemplare. Immer wenn ich fragte, ob sie sie überhaupt mit nach Hause nehmen dürfe, wich sie mir aus. Ausschussware, sagte sie. Zu schlecht für den Verkauf. Um sie mir dann zu geben. Aber gut genug zum Lesen, findest du nicht? Ich sagte stets Ja, auch wenn ich anfangs, als ich noch klein war, so gut wie kein Wort verstand.

Ma bewahrte ihre Bücher in einem schmalen Regal zwischen den Fenstern auf, das vom Bug bis zum Heck reichte. Als es voll war, baute ihr Oberon Rowntree ein zweites. Und bald darauf noch eines.

Als wir zehn Jahre alt waren, sagte er, ein viertes habe keinen Platz mehr, also kaufte Ma einer Trödlerin in der Markthalle ein kleines Regal ab. Es war bei Ebbe aus dem Fluss gezogen worden und sah aus wie wertloser Plunder. Aber Ma reinigte es, schliff es ab und ölte es ein. Sie stellte es neben ihren Sessel, gleich neben der Einstiegsluke, und stellte ihre Lieblingsromane und ihre Griechischen Sagen hinein. Warum haben wir so viele Bücher?, fragte ich gern. Um unseren Horizont zu erweitern, erwiderte sie stets.

Doch als sie starb, schrumpfte meine Welt.

Und ich begann selbst Bücher zu sammeln. Ungebundene Manuskripte, Buchteile, einzelne Lagen. Seiten, die keinerlei Hinweis auf Titel oder Autor gaben. Schon nach drei Jahren herrschte keinerlei Ordnung mehr in den Regalen. Auf der Calliope wurde es chaotisch, überall Ideenbruchstücke und Fragmente von Geschichten. Es gab Anfänge ohne Ende und Enden ohne Anfänge, die ich dort aufbewahrte, wo gerade Platz war und dort, wo eigentlich kein Platz war. Sie steckten zwischen gebundenen Büchern und türmten sich unter dem Tisch. Ein paar verstreute Manuskripte ohne Buchdeckel lagen im Abtropfständer über der Kombüse.

Und dann gab es noch Seiten, die mir egal waren. Wir schnitten sie zu quadratischen Blättern, die wir in einer alten Keksdose aufbewahrten. Während ich kochte, faltete Maude daraus alle möglichen Formen. Falten, Falzen – das war für sie so selbstverständlich wie Atmen, sie hatte schon damit begonnen, als sie noch ganz klein war. Solange ich mich erinnern konnte, schmückten ihre Kreationen die ganze Calliope.

Ich nahm meinen Hut ab und hängte ihn an den Haken neben der Luke. Dann ging ich die paar Schritte zum Tisch, an dem Maude bereits saß und faltete. Ich nahm auch ihr den Hut ab.

Sie machte einen Fächer.

»Gute Idee«, sagte ich. Es war warm.

Sie nickte.

Ich hängte ihren Hut neben meinen, ging zur Kombüse und wickelte die Heringe aus, die wir auf dem Heimweg gekauft hatten. Ich feuerte den Kohlenherd an, und als die Kochplatte heiß genug war, stellte ich die Pfanne darauf. Ich begann zu schwitzen.

»Darf ich den Fächer haben, wenn du damit fertig bist?«, fragte ich Maude.

Sie schob ihn mir hin. Auf der Calliope war alles in Reichweite. Ich fächelte mir Luft zu.

»Komm heil nach Hause, Angus McDonald«, sagte sie.

»Weißt du überhaupt, wer Angus McDonald ist, Maudie?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Mach die Luke auf«, wies ich sie an.

»Um frische Luft reinzulassen«, beendete sie meinen Satz.

Von der Kombüse aus sah ich, wie sie eine der Luken öffnete, um dann nach A History of Chess zu greifen. Das Schachbuch diente dazu, die Luke offen zu halten. Ich wartete auf ihren üblichen Kommentar.

»Die muss repariert werden.«

Die Luke musste seit geraumer Zeit repariert werden, aber das Schachbuch erfüllte seinen Zweck überaus gut. Es hatte was, danach zu greifen und es wieder wegzunehmen, wenn wir uns einschlossen. Neunhundert Seiten war es schwer. Hinzu kam, dass Ma einige Bögen davon gefalzt hatte und wir die anderen. Dass Ma den Buchblock geheftet und ihr Freund Ebenezer es gebunden hatte – in blaues Leder, so blau wie die Calliope, darauf prangte in Blattgold: A History of Chess. Es sei nicht durch die Qualitätskontrolle gekommen, hatte Ebenezer behauptet, als er es mir gab. Ich hatte das Gefühl, er könnte jeden Moment in Tränen ausbrechen, deshalb starrte ich lieber auf das Buch. Soweit ich das beurteilen konnte, war es völlig in Ordnung. Ma war seit einem Monat tot.

Ich öffnete das Kombüsenfenster, und Luft strömte in die Calliope. Ein Papiervogel flatterte. Er war der von Tilda, der mit dem gebrochenen Flügel.

Tilda war Schauspielerin und Mas engste Freundin. Nachdem Ma gestorben war, kam Tilda und blieb – so lange, bis ich wieder weinen konnte und Maude wieder sprach. Sie machte unser erstes Weihnachten einigermaßen erträglich, auch unser erstes Silvester. Die Anfangsmonate des Jahres 1912 waren wir uns selbst überlassen, dann kehrte sie an Ostern zurück. Einige Monate später half sie uns über Mas Geburtstag hinweg, und als wir neunzehn wurden, tauchte sie mit einer Torte auf. An Mas Todestag hatte Tilda Mineralwasser und Stones Original Green Ginger Wine dabei. Eure Ma hat den geliebt, verkündete sie und schenkte uns ein Glas Mineralwasser ein, in das sie einen großzügigen Schuss Ingwerwein gab. Wir tranken ihn wie Limonade. Jetzt haben wir es geschafft, sagte sie und füllte unsere Gläser erneut – diesmal ohne Mineralwasser. Lauter erste Male: das erste Weihnachten, das erste Ostern, der erste Geburtstag, der erste Todestag. Sie stieß mit uns an und trank. Jetzt könnt ihr damit anfangen, ohne sie zu leben. So ganz stimmte das nicht, aber ich war froh, dass sie das gesagt hatte. Sie gab mir gewissermaßen die Erlaubnis dazu. Damals schoss ich alle Warnungen aus Mr. Harts Enthaltsamkeitsvortrag im Clarendon Institute in den Wind und trank ein zweites Glas.

Tilda kam und ging, wie es ihr gefiel, das letzte Mal hatten wir sie im Frühling gesehen, kurz nachdem wir zwanzig geworden waren. Sie hatte unseren Geburtstag nicht erwähnt, sich aber den ganzen Abend zu Maude gesetzt, um mit ihr zu falten und die Papierskulpturen an der Gardinenstange über der Kombüse zu befestigen, so als würde sie unser Boot für eine Party dekorieren.

Ich berührte Tildas Vogel. Hadernpapier. Äußerst stabil. Trotz des kaputten Flügels wird er noch eine ganze Weile fliegen, dachte ich und freute mich.

Maude widmete sich wieder dem Falten und nahm unser Gespräch von vorhin wieder auf.

»Komm heil wieder nach Hause«, sagte sie. »Komm heil wieder nach Hause.«

»Komm heil wieder nach Hause, Jack Rowntree«, ergänzte ich.

»Jack Rowntree.« Sie nickte. »Komm heil wieder nach Hause.«

Ich nahm Servietten und Besteck aus der Schublade und legte sie auf den Tisch, stellte zwei Gläser und den Krug dazu. Er war fast leer, aber für uns beide würde es reichen. Ich würde ihn später nachfüllen. In der Nacht sollte es regnen, so würde die Tonne wieder aufgefüllt. Maude schob ihre Zettel beiseite und betastete den Spitzenrand ihrer Serviette. Sie war ganz vergilbt. Sie breitete sie auf dem Tisch aus und faltete sie einmal.

»Omas Servietten«, sagte sie und faltete sie erneut, legte eine Ecke auf die andere.

»Ein Hochzeitsgeschenk«, erwiderte ich.

Darüber sprach sie gern, und ich sträubte mich nicht länger dagegen. Tu so, als wärst du auf der Bühne, hatte mir Tilda einmal geraten. Sag deinen Text Abend für Abend mit derselben Begeisterung. Dann ist das Publikum Wachs in deinen Händen.

»Von unserer alten Tante Wieheißtsienochgleich«, meinte Maude und faltete die Serviette so lange, bis etwas anderes daraus geworden war.

»Ein Buch wäre nützlicher gewesen.«

»Aber damit kann man sich nicht schnäuzen.«

Letzteres hatte Ma immer gesagt, und jetzt war es Maudes Satz. Sie griff zu Messer und Gabel, legte sie in die von ihr gefaltete Tasche. Dann begann sie mit der anderen Serviette.

Ich goss die Heringe ab und machte Kartoffelpüree vom Vorabend warm.

»Jack Rowntree, komm wieder heil nach Hause?«, sagte sie.

Wie sollte ich diese Frage beantworten? Aber wenn ich nicht reagierte, würde sie sie endlos wiederholen.

»Während der Grundausbildung wird ihm schon nichts zustoßen«, sagte ich.

»Ich werde deinen Gesang vermissen.«

»Hat er dir das gesagt?«

Sie nickte.

»Vielleicht singst du ja eines seiner Lieblingslieder, wenn du an Jack denkst«, schlug ich vor … um es gleich darauf zu bereuen.

»After the ball is over, after the break of morn …«

Ich gab das Püree auf unsere Teller und fragte mich, ob Tilda wohl kurz vor der Kriegserklärung in London gewesen war. Ich trug die Teller zum Tisch.

»Nichts Grünes«, bemerkte Maude.

Ich hatte eigentlich Bohnen kochen wollen. »Wir werden’s überleben.«

»Aber nicht lange.« Mas Refrain.

***

7. August 1914

Hallo, Pegs,

was für Zeiten! Natürlich war ich in London. Es war ein richtiges Fest, auch wenn ich mich nach wie vor frage, warum. Manchen Männern ist jeder Vorwand recht, um sich danebenzubenehmen, und Krieg ist auf jeden Fall ein guter Vorwand. Ich bin von nicht weniger als sechs Männern begrapscht worden. Drei haben es geschafft, mich zu küssen – mehr oder weniger erfolgreich. Sie waren ausnahmslos jung und bereit, sich freiwillig zu melden (weshalb ich die Besseraussehenden gewähren ließ). Sie haben weibliche Gunstbezeugungen gesammelt wie einst die Ritter.

Ich glaube, es war unausweichlich, dass wir da mit hineingezogen werden – wir können gar nicht anders, und die Nachrichten aus Belgien sind schrecklich. Trotzdem konnte ich mir bis dahin nicht vorstellen, wie sich so was anfühlt. Ich möchte ehrlich sein, Pegs, es fühlt sich verdammt aufregend an. Ich bin ihn nämlich leid, musst Du wissen: unseren anderen Krieg. An dieser Front scheinen wir unserem Sieg kein bisschen näher gerückt zu sein. Premierminister Asquith lässt sich nicht umstimmen in Sachen Frauenwahlrecht, und die Stimmung innerhalb der Women’s Social and Political Union ist denkbar schlecht.

Aber jetzt gibt es Ablenkung. Mrs. Pankhurst glaubt, dieser Krieg könnte unser Trojanisches Pferd sein, sie mobilisiert bereits ihre Truppen. Sie war außer sich, als Millicent Fawcett erklärte, die Suffragetten würden ihre politischen Aktivitäten während des gesamten Krieges einstellen. Panky weiß, dass unsere Taktik, jetzt wo ein echter Krieg tobt, nicht viele Anhänger finden wird. Aber sie will einfach nicht aufgeben. Außerdem ist es so gar nicht ihre Art, sich so höflich zu ergeben wie die National Union of Women’s Suffrage Societies. Wart’s ab, Pegs, sie wird schon dafür sorgen, dass wir nicht so schnell aus den Schlagzeilen verschwinden.

Sag Maude, dass ich auch weiterhin das Falten übe, ich schaffe fast den Schwan. Meinen neuesten Versuch habe ich beigefügt, und obwohl ich stolz darauf bin, wird sie bestimmt etwas zu bekritteln haben.

Alles Liebe,

Tilda

4

In den nächsten Tagen verschwand die Feierstimmung aus Jericho, nicht aber die Vorfreude auf den Krieg. Kleinere Grüppchen versammelten sich vor Geschäften und an Straßenecken. In ihrer Empörung und Begeisterung griffen die Leute die Rufe der Zeitungsjungen auf, und ihre Worte fielen wie Schneeflocken auf Maudes Zunge. Invasion, Barbaren, unsere Pflicht. Die armen, armen Belgier, sagte sie. Sie blieben eine Weile, um dann wieder zu verschwinden. Die meisten gaben Rosie Rowntree recht: Weihnachten ist alles vorbei – Weihnachten ist alles vorbei, wiederholte Maude.

Eines Samstagnachmittags nahmen wir den Omnibus raus nach Cowley – Maudes Lieblingsausflug. Darin wimmelte es nur so von jungen Männern, von Vätern mit ihren erwachsenen Söhnen und Pärchen. Ich erkannte vier Druckerlehrlinge wieder, die die Stufen zum Oberdeck nahmen. Mit heulendem Motor fuhren wir den Hügel nach Temple Cowley hinauf, um dann in den Hollow Way einzubiegen.

»Chaos, überall Chaos«, sagte Maude.

Chaos? Männer! Die Kitchener’s Army, wie die Zeitungen sie nannten. Sie waren überall dort, wo sie eigentlich nicht sein sollten. Sie standen auf Grünstreifen, rauchten und redeten. Einige hatten die Köpfe vorgereckt und übergaben sich. Andere schliefen neben dem Zaun. Zwei prügelten sich, ein dritter mischte sich ein. Auf dem Oberdeck wurde gejohlt, man feuerte sie sogar noch an. Je näher wir dem Militärgelände der Cowley Barracks kamen, desto chaotischer ging es zu. Es war, als wäre eine Windhose über Oxfordshire hinweggefegt und hätte Männer von Feldern, Fabriken und Straßen mitgerissen, nur um sie dann bei den Baracken wie Laub fallen zu lassen.

Wir hielten an, und der Omnibus schaukelte, als die jungen Männer vom Oberdeck die Treppe hinuntereilten. Die Lehrlinge liefen an unserem Fenster vorbei. Sie warfen Maude Küsse zu, die sie erwiderte. Ein Echo, sonst nichts. Mehr hatte das nicht zu bedeuten. Wir sahen zu, wie sie sich in die Schlange derer einreihten, die sich freiwillig meldeten. Wie viele davon unterernährt, viel zu klein und schmächtig waren! Ihre Gesichter waren fahl, und ihnen fehlten Zähne. Wie sollten sie einen Krieg gewinnen? Zum ersten Mal bekam ich es mit der Angst.

Der Omnibus fuhr weiter über den Hollow Way, und wir sahen Militärzelte hinter dem Zaun, ein Mann rasierte sich, ein anderer wusch sich mit nacktem Oberkörper.

»Sie sind schon seit Tagen hier«, sagte ich.

»Seit Tagen«, meinte Maude.

»Aber warum?«

»Denkt an Belgien.« Ein Plakat, das sie gesehen hatte.

»Die Hälfte von ihnen weiß nicht mal, wo Belgien ist.«

»Ein Abenteuer. Die Gelegenheit, etwas Wichtiges zu leisten. Mein Weg in die Freiheit.« Alles Dinge, die sie gehört hatte.

***

Als Maude und ich am Montag den Torbogen zum Verlag durchschritten, wurden wir von Zuspätkommenden fast umgerannt, die sich Verweise von ihren Vorarbeitern ersparen wollten. Normalerweise geizte Mrs. Hogg auch nicht damit, aber heute Vormittag hatte sie frei, um Mr. Hogg zu den Cowley Barracks zu begleiten.

Als wir die Buchbinderei erreichten, saßen die meisten Frauen bereits an ihren Plätzen. Mrs. Stoddard schaute diskret zur großen Wanduhr.

»Ich mach’s wieder gut!«, formten meine Lippen.

Mrs. Stoddard nickte. »Louise, Agatha und du kollationiert wieder den Shakespeare.« Dann wandte sie sich mit einem verschwörerischen Lächeln an meine Schwester. »Und du passt auf, dass sie sich nicht ablenken lässt, Maude.«

Maude richtete sich kerzengerade auf. »Kollationieren, nicht lesen«, sagte sie.

Mrs. Stoddard runzelte die Stirn. »Hast du mit Professor Cannan gesprochen, Peggy? Über die freie Stelle?«

»Ich hab’s versucht«, meinte ich. »Aber die Gelegenheit ist bereits vorbei.«

***

Nach der Mittagspause stand ich Aggie am Kollationierungstisch gegenüber. Darauf verteilten sich Stapel aus verschiedenen Lagen, die eine obere und eine untere Reihe bildeten und darauf warteten, zu The Complete Works of William Shakespeare zusammengetragen zu werden. Ein dickes Buch, das aus fünfundachtzig Lagen bestand, ein jeder seiner Bögen war dreimal gefalzt worden, um sechzehn Seiten zu ergeben.

Ich betastete die Lage, die meinen Schenkel berührte. Die vordersten Seiten. Die letzten, die ich nehmen, aber die ersten, die gelesen werden würden. Dazu gehörten auch die Titelei, eine Liste der Abbildungen und das Inhaltsverzeichnis. Zu dieser Lage würde ich ganz zuletzt greifen. Ich legte eine aus der oberen Reihe auf meinen linken Unterarm, machte einen Schritt nach links, griff zur nächsten Lage und dann wieder zur nächsten. Es dauerte, bis ich den richtigen Rhythmus fand, bis sich mein Körper an den Tanz erinnerte. Aber dann eilte ich an dem Arbeitstisch entlang, mit den Füßen einer eigenen Choreografie folgend, und sah meine Hand ganz verschwommen über die einzelnen Stapel mit Lagen huschen. Das Klappern meiner Absätze und das Rascheln des Papiers spielten die Melodie dazu. Der Lärm der Buchbinderei trat in den Hintergrund, und wenn ich mich stärker in den Hüften wiegte als unbedingt nötig – nun, niemand konnte mir nachweisen, dass diese Bewegung mir nicht dabei half, schnell zu sein.

Ich legte die vordersten Seiten zu dem Stapel auf meinem Unterarm – die Hälfte eines Buches hatte ich bereits – und reichte alles Maude. Die stieß die zusammengetragenen Lagen auf dem Tisch glatt, sodass sie auf Kante lagen, und legte sie auf die, die Aggie auf der anderen Seite kollationiert hatte.

Ich schaute zu meiner Tanzpartnerin hinüber. Sie nickte unmerklich, und schon drehten wir eine weitere Runde auf der Tanzfläche.

Jede Titellage zeigte an, dass ein kompletter Buchblock zusammengetragen worden war. Es waren fünfzehn, als ich kurz innehielt, um zu kontrollieren, dass sie sich nicht hatte ablenken lassen. Auch die Hände meiner Schwester hatten die Angewohnheit zu tanzen – wenn auch zu einer Melodie, die nur sie hörte. Die Buchblöcke sahen absolut ordentlich aus, und wenn Maude nicht abgelenkt würde, würde das auch so bleiben.

Mrs. Hogg läutete die Glocke, die erste Schicht durfte Pause machen. Wir gehörten zur zweiten Schicht, und mein Rhythmus hatte kaum nachgelassen. Dann bellte sie eine Warnung: Niemand möge sich erdreisten, zu spät zurückzukommen. Sie klang strenger als sonst, vermutlich hatte die Armee Mr. Hogg gegen den Wunsch seiner Frau angenommen.

Ich beendete meine Runde und legte meinen Stapel Maude hin. Ich zog die Strickjacke aus.

»Es ist warm«, sagte ich. »Bei der Tanzerei …«

»Warm.« Sie nickte, während sie die Lagen gleich stieß. Die Buchblöcke drohten den Tisch vor ihr schier unter sich zu begraben.

»Halt kurz inne, Maudie«, bat ich sie. Ich hielt nach Lou Ausschau und sah, wie sie mit einem leeren Wagen von den Heftmaschinen zurückkehrte.

»Hast du wieder eine neue Ladung für mich, Maudie?«, fragte sie.

Maude hielt einen Fächer hoch. Sie hatte die letzte Lage, zu der ich gegriffen hatte, wieder auseinandergefaltet – einmal, zweimal – und ihre Finger tanzen lassen, bis etwas Nützliches daraus geworden war.

»Es ist warm«, sagte sie und reichte Lou den Fächer.

»Maudie …«, hob ich an.

»Genau das brauche ich jetzt«, erwiderte Lou. Sie nahm den Fächer und fächelte sich Luft zu – sodass wir alle eine Brise spürten. Dann gab sie ihn mir. »Manchmal denke ich, du stiftest sie dazu an, Peg.« Sie lächelte.

Lou kontrollierte jeden neuen Buchblock – mit geschultem Blick ging sie die einzelnen Lagen durch. Waren sie in der richtigen Reihenfolge und zeigten mit der richtigen Seite nach oben, signierte sie die letzte Seite und legte sie auf den Wagen, der sie zum Heften bringen würde.

Ich schaute mich in der Buchbinderei um. Mrs. Hogg lernte gerade eines der neueren Mädchen an, und Mrs. Stoddard war in ihrem Büro.

»Falls jemand fragt, Aggie: Ich bin kurz austreten.« Ich griff zu dem Buchblock, der zu Maudes Fächer gehörte, und ging zu den Toiletten. Offen gestanden, hätte ich auch einfach bloß die ruinierte Lage mitnehmen können – der Rest des Buchblocks war perfekt. Aber was sollte ich nur mit der Titelei und dem Inhaltsverzeichnis anfangen?

Ich verstaute den Shakespeare in meiner Tasche.

Als wir Pause hatten, ging ich zu Eb in der Männerabteilung der Buchbinderei und zwar in den Raum, in dem Bücher restauriert wurden.

Ebenezer war ein stiller Mann, kurzsichtig und freundlich. Zu freundlich, hieß es oft, und eben drum nannten ihn manche ironisch Scrooge, nach Dickens Bösewicht aus Eine Weihnachtsgeschichte. Ebs großzügige Gelassenheit hatte fast jeden seiner Mitarbeiter einmal vor Problemen bewahrt, die ihrem Ruf oder ihrem Geldbeutel geschadet hätten. Er entdeckte die Fehler noch vor dem Vorarbeiter: ein Nicken, ein einziges Wort genügten, und niemand bekam etwas davon mit. Seine Lehrlinge gehörten zu den kompetentesten überhaupt, zwei davon waren zu Vorarbeitern aufgestiegen. Mr. Hart hatte es aufgegeben, Eb zu bitten, mehr Verantwortung zu übernehmen. Es liegt einfach nicht in meiner Natur, eine Führungs-position zu übernehmen, hatte ich ihn mal zu Ma sagen hören und mich damals gefragt, ob er deswegen nie geheiratet hatte. Ma schüttelte nur den Kopf, als ich ihr das vorschlug. Er hat mir drei Mal einen Antrag gemacht, sagte sie, aber ich liebe ihn auf eine andere Art. Sie hatte den Mut, Nein zu sagen, empfand jedoch so viel Zuneigung für ihn, dass er sie weiterhin lieben durfte.

»Ausschuss«, sagte ich und überreichte Eb den Buchblock. »Könntest du ihn beschneiden?«

»Ausschuss, jaja«, meinte er nur, als er den Buchblock in seine kleine Schneidemaschine legte und den Falz aufschnitt.

***

Schon vom Treidelpfad aus sahen wir Rosie und die alte Mrs. Rowntree auf Liegestühlen in Rosies Gemüsegarten sitzen. Es war ein lauer Abend, dennoch hatte die alte Frau eine Häkeldecke über den Knien liegen.

»Willkommen zu Hause!«, rief Rosie. »Wir haben schon auf euch gewartet.« Sie zeigte auf zwei freie Liegestühle und hielt die Teekanne in die Luft.

Maude trat zwischen die Blumentöpfe und umarmte Rosie. Dann beugte sie sich vor und küsste die alte Mrs. Rowntree auf die Wange. Die nahm Maudes Kopf in zwei zittrige Hände.

»Ihr Lächeln vertreibt jeden Kummer, Miss Maude.« Die alte Frau klopfte auf den Stuhl neben sich. »Erzählen Sie mir von Ihrem Tag.«

Maude versuchte sich an einem Gespräch, während die alte Mrs. Rowntree nickte und an den richtigen Stellen zustimmende Laute von sich gab.

»Ich stoße gleich zu euch«, sagte ich zu Rosie.

»Lass dir ruhig Zeit.«

Auf der Calliope zog ich den Buchblock aus meiner Tasche und setzte mich auf unser Bett. Ich blätterte darin.

Wir besaßen bereits Bücher von Shakespeare – Sonette, Dramen –, Einzelbände, aber auch Werkausgaben. Aber die gesammelten Werke, die hatten wir noch nicht. Dafür war nie genug Geld da gewesen, oder aber es hatte sich einfach nicht ergeben. Trotzdem, das Ding war so groß, dass ich es mir genauer anschauen musste, bevor ich sagen konnte, ob es sich lohnte, es zu heften, ihm einen Patz zuzuweisen.

Die Einleitung gefiel mir, und als ich zu den Sonetten kam, erregte die Typografie meine Aufmerksamkeit. Ich las ein paar Gedichte und beschloss, das Buch zu behalten. Ich legte den Buchblock zu meiner Heftlade auf dem Tisch, nahm zwei Stolen und gesellte mich zu den anderen.

»Ich bin kurz in den wunderbaren Worten von Mr. Shakespeare versunken«, entschuldigte ich meine Verspätung, legte Maude eine Stola um und nahm in dem noch freien Liegestuhl Platz.

»In welchen Worten, Peg?«, fragte die alte Mrs. Rowntree.

»In den Sonetten.«

»Ich mag die Sonette«, sagte sie. »Mehr als die Dramen.«

»Hast du ein Lieblingssonett, Ma?«, fragte Rosie.

»Von Müh’n erschöpft such ich mein Lager auf, doch dann beginnt in meinem Kopf ein Lauf.« Stirnrunzelnd schüttelte sie den Kopf. »Ich konnte es mal auswendig.«

»Du hättest guten Grund gehabt, es aufzusagen, als du noch jung warst, Ma.«

»Es geht nicht wirklich um harte Arbeit«, sagte die alte Mrs. Rowntree. »Sondern darum, jemanden zu vermissen, den man liebt. Sein Gesicht in der nächtlichen Stille vor sich zu sehen, sodass man an nichts anderes mehr denken kann.«

Sie starrte auf die Decke um ihre Knie und versuchte, sie zurechtzuzupfen, aber ihre Rechte begann heftig zu zittern. Maude legte ihre Hand auf die der Frau. Als das Zittern aufhörte, lächelte sie. Dann legte die alte Mrs. Rowntree ihre Hand auf die von Maude, und die ging auf das Spiel ein. Rosie und ich sahen zu, wie sie jeweils die unterste Hand wegzogen, um sie auf die der anderen zu legen und zwar immer schneller und schneller, bis die alte Mrs. Rowntree Maude zur Siegerin erklärte.

***

Es wurde erst spät dunkel, und Maude weigerte sich, ins Bett zu gehen, solange ein Blick aus dem Fenster unseres Kanalboots noch etwas erkennen ließ. Ich baute meine Heftlade auf und setzte mich so, dass ich sie zwischen den Armen hatte wie eine Harfenistin ihr Instrument. Während Maude faltete, heftete ich eine Lage nach der anderen.

Als ich bei Der Widerspenstigen Zähmung angelangt war, ließ ich meine Nadel und mein Schutzpolster sinken und massierte den Muskel zwischen Daumen und Zeigefinger.

»Von Müh’n erschöpft«, sagte ich.

»Such ich mein Lager auf«, sagte Maude, ohne von ihrer Falterei aufzusehen.

Ich sah, wie ihre Hände das Papier zu einem Schmetterling formten.

Du bist meine Müh, dachte ich, während ich mich vom Tisch erhob. Ich nahm eine Lage von dem Stapel, den ich noch nicht geheftet hatte, küsste dann Maudes Scheitel und flüsterte: »Such dein Lager auf, draußen ist es dunkel.«

Nachdem Maudes Atemzüge sich beruhigt hatten und sie schlief, nahm ich die ungehefteten Lagen von The Complete Works of William Shakespeare. Die Kerze brannte noch, also las ich das Sonett der alten Mrs. Rowntree. Nummer siebenundzwanzig. Die alte Frau hatte sich richtig erinnert – nicht an den gesamten Vers, aber an seine Botschaft. Wie viele Nächte die Rowntrees in ihren Köpfen wohl noch einen Lauf haben würden, bevor dieser Krieg vorbei und Jack wieder zu Hause sein würde?

Die Kerze flackerte, und ich blies sie aus.

5

Am letzten Sonntag im August wachte ich davon auf, dass die Wellen des Kanals gegen den Rumpf der Calliope schlugen.

»Oberon«, flüsterte ich. Es war noch nicht richtig hell, und Maude hatte die Augen nach wie vor geschlossen.

»Der die Calliope liebkost«, sagte sie, ohne sie aufzuschlagen. Das pflegte Ma immer zu sagen, wenn die Calliope von Fahrtwellen geschaukelt wurde.

Wir blieben liegen, bis das Schaukeln aufhörte und wir uns sicher bewegen konnten. Der Wellengang war stärker als sonst, und ich nahm mir vor, die Anlegeleinen der Calliope zu überprüfen.

Es dauerte immer eine Weile, bis die Rowntrees ihr Arbeitsschiff, das zu Ehren von Rosies ursprünglicher Rückkehr in den Beruf der Bootsfrau Rosie's Return genannt worden war, richtig vertäut hatten. Aber wenn es so weit war, würden wir wieder Kohlen für unseren Kohleneimer und Speck zum Frühstück haben. Während Maude unsere Nachttöpfe leerte, machte ich das Bett. Ich setzte den Wasserkessel auf und maß Kaffeepulver für fünf Tassen ab.

Maude kam mit den Nachttöpfen zurück und stellte sie neben unser Bett.

»Wasch dir die Hände, Maudie« – ich zeigte mit dem Kinn auf die Waschschüssel. »Und dein Gesicht – alles, was gewaschen werden muss.« Wir waren fast einundzwanzig, und ich musste sie immer noch daran erinnern.

Ich brühte den Kaffee auf und stellte den Kessel zurück auf den Herd. Als ich angezogen war, war der Kaffee durchgelaufen, und Oberon klopfte gegen unseren Bootsrumpf – zwei kurze Schläge, nicht mehr als nötig. Das ist typisch für ihn, hatte Ma einmal gesagt, und Rosie hatte hinzugefügt, er sei auch nicht größer oder breiter als nötig, gehe auch sparsam mit Worten und Launen um: Mit niemandem sonst lasse es sich besser auf engstem Raum zusammenleben. Die beiden hatten gelacht.

Ich öffnete die Luke, und Oberon nickte mir zu. Dann reichte er mir eine volle Kohlenschaufel. Ich leerte sie in den Eimer unter der Treppe, die zum Vordeck führte. Er war nicht einmal halb voll.

»Kannst du noch mehr entbehren?«, fragte ich, als ich ihm die Schaufel zurückgab.

»Noch mehr entbehren«, echote Maude.

»Ja«, erwiderte er.

»Du darfst auch Nein sagen«, rief ich ihm in Erinnerung.

Er lächelte und zeigte mit dem Kinn zur Staying Put. »Ihren Zorn zieh ich mir lieber nicht zu.« Dann schaute er in den Himmel. »Oder seinen.«

Maude kehrte zurück in die Kombüse und holte einen Becher Kaffee. Sie reichte ihn Oberon, als Rosie auf dem Treidelpfad erschien. Sie trug ihren in breite Falten gelegten Rock, hochgeschnürte Stiefel und die schwarze Haube einer Bootsfrau. Dieselbe Kleidung, die sie auch getragen hatte, als Oberon und sie noch gemeinsam als Lastenschiffer gearbeitet hatten.

Eine Kleidung, die schon ihre Mutter und Großmutter getragen hatten.

Sie vermisste diese Arbeit auf den Wasserstraßen. Sie vermisste Oberon. Er war der Sohn einer Buchbinderin, ein Arbeiter aus der Papiermühle. Er war nicht schon von Geburt an Lastenschiffer gewesen wie Rosie, würde aber als solcher arbeiten, so lange er lebte, da war sie sich sicher. Das hätte Rosie ebenfalls getan, hätte sie denn eine Wahl gehabt. Aber ihr erstes Kind war kränklich gewesen. Da blieb Rosie lieber an Land. Nur für eine Weile, hatte sie zu Oberon gesagt, der Just for a While auf den Rumpf ihres Bootes gemalt hatte. Er baute das Lastschiff zu einem Wohnboot um und rechnete mit vielen weiteren Kindern, Rosie machte ein echtes Zuhause daraus. Dann verkaufte er ihr gemeinsames Pferd und baute einen Motor in ihr Zugboot ein, damit es Tag und Nacht über den Grand-Union-Kanal fliegen konnte.

Nach dem Tod ihres Kindes wollte Rosie Oberon erneut unterstützen, aber da zitterten die Hände der alten Mrs. Rowntree bereits zu sehr, um noch Bögen falzen zu können. Sie war nicht mehr in der Lage, einen Kessel zu halten, ohne sich zu verbrühen. Sie zog zu ihnen aufs Boot. Und als Rosie Jack bekam, bat sie Oberon, ihr Kanalboot in Staying Put umzutaufen, denn es würde von nun an immer vor Anker liegen.

Jetzt belieferte Oberon die Spedition Pickfords mit Kohle und Ziegeln. Sein erbarmungsloser Arbeitsrhythmus erlaubte nur eine Nacht im Monat auf der Staying Put