Die Sammlerin der verlorenen Wörter - Pip Williams - E-Book
SONDERANGEBOT

Die Sammlerin der verlorenen Wörter E-Book

Pip Williams

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 17,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Oxford, Ende des 19. Jahrhunderts. Esme wächst in einer Welt der Wörter auf. Unter dem Schreibtisch ihres Vaters, der als Lexikograph am ersten Oxford English Dictionary arbeitet, liest sie neugierig heruntergefallene Papiere auf. Nach und nach erkennt sie, was die männlichen Gelehrten oft achtlos verwerfen und nicht in das Wörterbuch aufnehmen: Es sind allesamt Begriffe, die Frauen betreffen. Entschlossen legt Esme ihre eigene Sammlung an, will die Wörter festhalten, die fern der Universität wirklich gesprochen werden. Sie stürzt sich ins Leben, findet Verbündete, entdeckt die Liebe und beginnt für die Rechte der Frauen zu kämpfen.

»Eine wunderschöne Erkundung der Geschichte und der Macht der Sprache. Dieser subversive Roman verwebt stimmungsvoll Liebe, Verlust und Literatur – für alle, die Wörter lieben und feiern.« Reese Witherspoon

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 627

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



ÜBERDIESESBUCH

Oxford, Ende des 19. Jahrhunderts. Esme wächst in einer Welt der Wörter auf. Unter dem Schreibtisch ihres Vaters, der als Lexikograph am ersten Oxford English Dictionary arbeitet, liest sie neugierig heruntergefallene Papiere auf. Nach und nach erkennt sie, was die männlichen Gelehrten oft achtlos verwerfen und nicht in das Wörterbuch aufnehmen: Es sind allesamt Begriffe, die Frauen betreffen. Entschlossen legt Esme ihre eigene Sammlung an, will die Wörter festhalten, die fern der Universität wirklich gesprochen werden. Sie stürzt sich ins Leben, findet Verbündete, entdeckt die Liebe und beginnt für die Rechte der Frauen zu kämpfen.

ÜBERDIEAUTORIN

Pip Williams, geboren in London, aufgewachsen in Sydney, lebt mit ihrer Familie in Südaustralien. Sie ist Sozialwissenschaftlerin und neben ihrer Forschung leidenschaftliche Autorin eines Reisememoirs, von Artikeln, Buchrezensionen, Flash Fiction und Gedichten. Ihre Faszination für Sprache und ihre Recherchen in den Archiven des Oxford English Dictionary inspirierten ihren ersten Roman Die Sammlerin der verlorenen Wörter, der ein Nr.-1-Sensationserfolg in Pips australischer Heimat wurde. Mehrfach preisgekrönt, stand dieser Roman auf der Shortlist für den Walter Scott Prize for Historical Fiction.

PIP WILLIAMS

DIE

SAMMLERIN

DER

VERLORENEN

WÖRTER

Roman

Aus dem Englischen

von Christiane Burkhardt

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machten, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2020 by Pip Williams

Die Originalausgabe erschien 2020

unter dem Titel The Dictionary of Lost Words bei Affirm Press, Melbourne.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2022 by Diana Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Antje Steinhäuser

Covergestaltung: t.mutzenbach design, München

nach einer Originalvorlage von Penguin Random House US

Coverdesign: Micaela Alcaino

Covermotiv: © Shutterstock.com (4Max; Preto Perola;

ESB Professional; Sur; Andrey_Kuzmin;

Gerisima; Soyka; Vitalina Rybakova; Marrilena)

Satz: Leingärtner, Nabburg

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-641-27236-4V004

www.diana-verlag.de

Für Ma und Pa

PROLOG

Februar 1886

Vor dem verlorenen Wort gab es noch ein anderes. Es erreichte das Skriptorium in einem gebrauchten Umschlag – die alte Adresse war ausgestrichen und durch Dr. Murray, Sunnyside, Oxford ersetzt worden.

Es war Vaters Aufgabe, die Post zu öffnen, und meine, auf seinem Schoß zu sitzen wie eine Königin auf ihrem Thron, ihm dabei zu helfen, jedes Wort vorsichtig aus seiner papiernen Schutzhülle zu nehmen. Er pflegte mir zu sagen, auf welchen Stapel ich es legen sollte, und hielt manchmal inne, um meine Hand zu nehmen und meinen Finger die Buchstaben hinauf und hinab zu führen, wobei er sie mir ins Ohr flüsterte. Er sagte das Wort, und ich wiederholte es, dann verriet er mir seine Bedeutung.

Dieses Wort war auf einem Stück Packpapier notiert worden. Dort, wo es abgerissen worden war, um den von Dr. Murray geforderten Abmessungen zu entsprechen, wies es raue Kanten auf. Vater hielt inne, und ich bereitete mich darauf vor, es erklärt zu bekommen. Aber seine Hand nahm nicht die meine, und als ich mich umdrehte, um ihn zur Eile anzutreiben, erstarrte ich angesichts seiner Miene. Obwohl wir uns so nah waren, war sein Blick in weite Ferne gerichtet.

Ich wandte mich wieder dem Wort zu und versuchte, es zu verstehen. Ohne von ihm geführt zu werden, fuhr ich jeden Buchstaben nach.

»Was bedeutete es?«, fragte ich.

»Lily«, sagte er.

»Wie Mama?«

»Wie Mama.«

»Heißt das, dass sie auch im Wörterbuch vorkommen wird?«

»In gewisser Weise, ja.«

»Werden wir alle im Wörterbuch vorkommen?«

»Nein.«

»Warum?«

Ich spürte, wie ich mich mit seiner Atmung hob und senkte.

»Ein Name muss etwas bedeuten, damit er ins Wörterbuch kommt.«

Erneut betrachtete ich das Wort. »War Mum wie eine Blume?«, fragte ich.

Vater nickte. »Die schönste Blume überhaupt.«

Er griff nach dem Wort und las den darunter stehenden Satz. Dann drehte er den Zettel um und hielt nach mehr Ausschau. »Da fehlt was«, stellte er fest. Aber er las das Wort erneut, seine Augen huschten hin und her, als könnte er doch noch finden, wonach er suchte. Er legte das Wort auf den kleinsten Stapel.

Vater schob seinen Stuhl vom Sortiertisch zurück. Ich kletterte von seinem Schoß und bereitete mich darauf vor, den ersten Stapel Belegzettel entgegenzunehmen. Auch etwas, wobei ich ihm helfen konnte, und ich liebte es zu sehen, wie jedes Wort seinen Platz in den Regalfächern zugewiesen bekam. Er griff zu dem kleinsten Stapel, und ich versuchte zu erraten, wo Mum hinkäme. »Nicht zu weit oben und nicht zu weit unten«, sang ich stumm vor mich hin. Doch statt mir die Wörter in die Hand zu legen, machte Vater drei große Schritte zum Kamin und warf sie in die Flammen.

Es waren drei Belegzettel. Als sie seine Hand verließen, wurde ein jeder an einen anderen Ort gewirbelt. Ich sah, wie sich das Wort Lily einrollte, noch ehe es gelandet war.

Ich hörte mich schreien, während ich auf den Kamin zurannte. Ich hörte, wie Vater meinen Namen bellte. Der Zettel wand sich.

Ich griff nach ihm, um ihn zu retten, auch wenn das Packpapier bereits angekokelt war und die Buchstaben darauf zu Schatten wurden. Ich bildete mir ein, ihn halten zu können wie ein verblasstes, winterlich-trockenes Eichenblatt, aber als ich die Finger darum schloss, zerstob er.

Ich hätte ewig so verharren können, doch Vater riss mich mit einer Gewalt fort, dass mir die Luft wegblieb. Er rannte mit mir aus dem Skriptorium und steckte meine Hand in den Schnee. Sein Gesicht war aschfahl, deshalb sagte ich ihm, dass es nicht wehtue. Aber als ich die Hand öffnete, klebten die geschwärzten Wortfetzen an meiner versengten Haut.

* * *

Manche Wörter sind wichtiger als andere – das habe ich gelernt, als ich im Skriptorium aufwuchs. Aber ich habe lange gebraucht, um zu verstehen, warum das so ist.

TEIL 1

1887–1896

Batten – Distrustful

Mai 1887

Scriptorium. Das klingt, als wäre es ein beeindruckendes Gebäude gewesen, in dem noch die leisesten Schritte zwischen Marmorboden und vergoldeter Kuppel widerhallen. Aber es war nur ein Schuppen im rückwärtigen Garten eines Hauses in Oxford.

Doch statt Schaufel und Rechen enthielt der Gartenschuppen Wörter. Jedes Wort der englischen Sprache war auf postkartengroßen Zetteln notiert. Freiwillige Mitarbeiter aus aller Welt schickten sie ein, woraufhin sie zu Bündeln geordnet in den Hunderten von Regalfächern aufbewahrt wurden, die die Wände des Schuppens säumten. Dr. Murray war der Einzige, der scriptorium sagte – bestimmt fand er es beschämend, dass die englische Sprache in einem Gartenschuppen gelagert wurde –, alle anderen, die dort arbeiteten, nannten es einfach bloß Scrippy. Alle bis auf mich. Mir gefiel, wie es sich anfühlte, das Wort scriptorium in den Mund zu nehmen, meine Lippen sanft darum zu wölben. Ich brauchte lange, bis ich es aussprechen konnte, und als es endlich so weit war, kam nichts anderes mehr infrage.

Vater half mir einmal dabei, in den Fächern nach scriptorium zu suchen. Wir fanden fünf Belegzettel mit Beispielen für den Gebrauch des Wortes, und alle Zitate reichten kaum mehr als hundert Jahre zurück. Sie lauteten mehr oder weniger gleich, und keines bezog sich auf einen Schuppen im rückwärtigen Garten eines Hauses in Oxford. Ein scriptorium, so die Belegzettel, sei eine Schreibstube in einem Kloster.

Trotzdem konnte ich verstehen, warum Dr. Murray dieses Wort ausgesucht hatte. Seine Assistenten und er waren auch ein bisschen so wie Mönche, und als ich fünf Jahre alt war, konnte ich mir leicht vorstellen, dass das Wörterbuch ihre Heilige Schrift war. Als Dr. Murray mir erklärte, dass es eine Lebensaufgabe war, all die Wörter zusammenzutragen, fragte ich mich: wessen Lebensaufgabe? Sein Haar war bereits aschgrau, und erst die Hälfte des Buchstabens B war erfasst.

* * *

Vater und Dr. Murray hatten als Lehrer in Schottland gearbeitet – lange bevor es ein Skriptorium gab. Und weil sie Freunde waren, weil ich keine Mutter hatte, die sich um mich kümmerte, weil Vater einer von Dr. Murrays bewährtesten Lexikographen war, drückten alle ein Auge zu, wenn auch ich mich im Skriptorium aufhielt.

Das Skriptorium war ein magischer Ort – ganz so, als würde alles, was es jemals gab und geben würde, an ihm aufbewahrt. Bücher türmten sich auf jeder freien Fläche. Frühere Wörterbücher, historische Texte und uralte Sagen füllten die Regale, die einen Schreibtisch vom anderen trennten oder eine Nische bildeten, in der ein Stuhl stand. Ihre Fächer reichten vom Boden bis zur Decke. Sie waren voller Zettel, und Vater meinte mal, dass ich nach ihrer Lektüre die Bedeutung von allem kennen würde.

In der Mitte stand der Sortiertisch. An einem Ende saß Vater, während an jeder Seite Platz für drei Assistenten war. Am anderen Ende befand sich Dr. Murrays Stehpult, mit Blick auf all die Wörter und Männer, die ihm halfen, sie zu definieren.

Wir waren stets vor den anderen Lexikographen da, und in dieser kurzen Zeit hatte ich Vater und die Wörter ganz für mich allein. Ich saß auf seinem Schoß am Sortiertisch und half ihm beim Ordnen der Zettel. Immer wenn wir auf ein Wort stießen, das ich nicht kannte, las er das dazugehörige Zitat vor und half mir, seine Bedeutung zu verstehen. Wenn ich die richtigen Fragen stellte, versuchte er, das Buch zu finden, aus dem das Zitat stammte, um mir noch mehr daraus vorzulesen. Es war wie eine Schatzsuche, und manchmal fand ich Gold.

»This boy had been a scatter-brained scapegrace from his birth.« – »Dieser Junge war von Geburt an ein zerstreuter Taugenichts.« Vater las das Zitat von einem Zettel ab, den er gerade aus einem Umschlag gezogen hatte.

»Bin ich ein zerstreuter Taugenichts?«, fragte ich.

»Manchmal.« Vater kitzelte mich.

Dann fragte ich, wer dieser Junge sei, und Vater zeigte mir, was oben auf dem Zettel stand.

»Ala-ed-Din and the Wonderful Lamp« – »Aladin und die Wunderlampe«, las er.

Wenn die anderen Assistenten kamen, kroch ich unter den Sortiertisch.

»Sei mäuschenstill und komm uns nicht in die Quere«, ermahnte mich Vater.

Es war leicht, sich zu verstecken.

Am Ende dieses Tages saß ich in der Wärme des Kamins auf Vaters Schoß, und wir lasen »Aladin und die Wunderlampe«. Eine ganz alte Geschichte, wie mir Vater erklärte. Sie handelte von einem Jungen aus China. Als ich fragte, ob es noch mehr solche Geschichten gebe, meinte er, noch tausend mehr. Diese Geschichte war anders als alles, was ich bisher gehört hatte, sie spielte an einem Ort, an dem ich noch nie gewesen war, und handelte von niemandem, den ich kannte. Ich schaute mich im Skriptorium um und stellte mir vor, es wäre die Lampe eines Geistes. Von außen sah es ganz gewöhnlich aus, doch von innen war es voller Wunder. Und vieles war nicht das, wonach es aussah.

Nachdem ich Vater am nächsten Tag mit den Zetteln geholfen hatte, bettelte ich um eine neue Geschichte. In meiner Begeisterung vergaß ich mäuschenstill zu sein und kam ihm in die Quere.

»Ein Taugenichts wird hier nicht bleiben dürfen!«, warnte mich Vater, und ich stellte mir vor, in Aladins Höhle verbannt zu werden. Den Rest des Tages verbrachte ich unter dem Sortiertisch, wo mich ein kleiner Schatz erwartete.

Es war ein Wort, das vom Tischende kam. Wenn es in meiner Nähe landet, so sagte ich mir, werde ich es retten und Dr. Murray höchstpersönlich übergeben.

Ich schaute ihm zu. Eine Ewigkeit beobachtete ich, wie es auf unsichtbaren Luftströmungen einherschwebte. Ich ging davon aus, dass es auf dem ungefegten Boden landen würde, doch das tat es mitnichten. Es flatterte durch die Luft wie ein Vogel, setzte beinahe auf, um dann einen Salto schlagend emporzuwirbeln, als wäre es von einem Geist gebissen worden. Nie hätte ich damit gerechnet, dass es in meinem Schoß landen, dass es so weit fliegen würde. Doch genau das tat es.

Das Wort lag in den Falten meines Kleides wie ein funkelndes Himmelsgeschenk. Ich wagte nicht, es zu berühren. Nur in Vaters Beisein durfte ich die Wörter halten. Ich wollte schon nach ihm rufen, doch etwas ließ mich innehalten. Lange saß ich so mit dem Wort da, wollte es anfassen und dann doch wieder nicht. Was war das für ein Wort? Wem gehörte es? Niemand bückte sich, um es zurückzufordern.

Irgendwann griff ich danach und achtete darauf, seine silbrigen Flügel nicht zu zerknittern. Ich hielt es mir ganz nah vors Gesicht. Im Dämmerlicht meines Verstecks war es nur schwer zu entziffern. Ich rutschte in Richtung eines Vorhangs aus flimmerndem Staub, der zwischen zwei Stühlen hing.

Ich hielt das Wort ins Licht. Schwarze Tinte auf weißem Papier. Acht Buchstaben; der erste war ein Bienen-B. Ich formte den Rest mit den Lippen, wie Vater es mir beigebracht hatte. O für Orange, N für naseweis, D für Dachs, M für Murray, A für Apfel, I für Insel und noch mal D für Dachs. Ich flüsterte die Buchstaben. Der Anfang war leicht: bond. Für den Rest brauchte ich etwas länger, aber dann fiel mir wieder ein, dass A und I zusammengezogen werden können. Maid.

Das Wort hieß bondmaid – leibeigene Magd. Darunter standen andere Wörter, die sich verflochten wie ein Wollfaden. Ich konnte nicht beurteilen, ob sie sich zu einem Zitat zusammensetzten, das ein freiwilliger Mitarbeiter eingeschickt hatte, oder zu einer Definition, die von einem von Dr. Murrays Assistenten notiert worden war. Vater sagte immer, all die Stunden, die er im Skriptorium verbringe, dienten dazu, schlau aus den Wörtern zu werden, die von Freiwilligen eingesandt wurden. Mit dem Ziel, die Bedeutung ebendieser Wörter im Wörterbuch zu definieren. Das sei wichtig und sorge auch dafür, dass ich eine Ausbildung und drei warme Mahlzeiten am Tag erhalte, damit einmal eine reizende junge Dame aus mir werde. Die Wörter, so meinte er, seien für mich.

»Wird man sie alle definieren?«, fragte ich ihn einmal.

»Manche wird man weglassen«, erwiderte Vater.

»Warum?«

Er schwieg. »Sie sind einfach nicht zuverlässig genug belegt.« Ich runzelte die Stirn, und er sagte: »Weil sie von zu wenigen Leuten aufgeschrieben wurden.«

»Und was passiert mit diesen weggelassenen Wörtern?«

»Die kommen zurück in die Fächer. Gibt es nicht genug Informationen darüber, werden sie aussortiert.«

»Aber wenn sie nicht ins Wörterbuch kommen, werden sie vielleicht vergessen!«

Er neigte den Kopf und sah mich an, als hätte ich etwas Wichtiges gesagt. »Ja, das ist gut möglich.«

Ich wusste also, was passierte, wenn ein Wort aussortiert wurde. Ich faltete bondmaid sorgfältig zusammen und steckte es in meine Schürzentasche.

Kurz darauf tauchte Vaters Gesicht unter dem Sortiertisch auf. »Beeil dich, Esme! Lizzie wartet schon auf dich.«

Ich spähte zwischen den vielen Beinen hindurch – zwischen denen von Stühlen, Tischen und Männern – und sah Murrays junges Dienstmädchen in der offenen Tür stehen, die Schürze straff um die Taille gebunden, zu viel Stoff darüber und zu viel Stoff darunter. Sie wachse erst noch in ihre Uniform hinein, erklärte sie mir, doch von meiner Warte aus kam sie mir vor wie jemand, der Verkleiden spielt. Ich krabbelte zwischen den verschiedenen Beinen hindurch und eilte zu ihr.

»Das nächste Mal kommst du rein und suchst nach mir, das wäre noch lustiger«, schlug ich vor.

»Da is kein Platz für mich.« Sie nahm meine Hand und führte mich in den Schatten der Esche.

»Wo ist dann dein Platz?«

Sie runzelte die Stirn und zuckte mit den Schultern. »In dem Zimmer am Ende der Treppe, nehm ich an. In der Küche, wo ich Mrs. Ballard zur Hand geh, aber auch nur dann. Und sonntags in der Kirche, in St. Mary Magdalen.«

»Und sonst nirgendwo?«

»Im Garten, wenn ich mich um dich kümmere – damit wir Mrs. B nich in die Quere kommen. Und immer öfter in der Markthalle, wegen ihrer kaputten Knie.«

»Hast du schon immer in Sunnyside gewohnt?«, fragte ich.

»Nein, nicht immer.« Sie schaute auf mich herunter, und ich wunderte mich, wo ihr Lächeln geblieben war.

»Wo denn dann?«

Sie zögerte. »Bei meiner Mum und den anderen Kleinen.«

»Welchen Kleinen?«

»Den anderen Kindern.«

»So wie ich?«

»So wie du, Essymay.«

»Sind sie tot?«

»Bloß meine Mum. Die Kleinen sin’ woandershin gekommen, keine Ahnung, wohin. Die waren noch zu klein, um in Stellung zu geh’n.«

»Was heißt Stellung?«

»Hörste nie auf, mich mit Fragen zu löchern?« Lizzie packte mich unter den Achseln und schwenkte mich im Kreis, bis uns beiden so schwindlig war, dass wir uns ins Gras fallen ließen.

»Und wo ist mein Platz?«, fragte ich, als der Schwindel nachließ.

»Im Scrippy, nehm ich an, bei deinem Vater. Im Garten, in meinem Zimmer und auf’m Küchenhocker.«

»In meinem Haus?«

»’türlich in deinem Haus, obwohl du die meiste Zeit hier bist.«

»Ich hab keinen Ort extra für sonntags, so wie du.«

Lizzie runzelte die Stirn. »O doch, hast du. St. Barnabas.«

»Da gehen wir bloß manchmal hin. Und wenn, nimmt Vater ein Buch mit. Das legt er aufs Gesangbuch und liest, statt zu singen.« Ich lachte bei dem Gedanken, wie sich Vaters Mund öffnete und wieder schloss, während er nachahmte, was die Glaubensgemeinde gerade tat, ohne dass auch nur ein einziger Ton herauskam.

»Darüber lacht man nicht, Essymay.« Lizzie legte die Hand auf den Kruzifix-Anhänger, der sich, wie ich wusste, unter ihrer Kleidung befand. Ich bekam Angst, sie könnte schlecht über Vater denken.

»Weil Lily gestorben ist«, sagte ich.

Lizzies Stirnrunzeln wich Traurigkeit, aber das wollte ich auch nicht.

»Aber er sagt, dass ich mir selbst ein Bild machen soll. Von Gott und dem Himmel. Deshalb gehen wir in die Kirche.« Ihre Züge entspannten sich, und ich beschloss, ein harmloseres Thema anzuschneiden. »Mein liebster Platz ist das Haus der Murrays, sie nennen es Sunnyside«, erklärte ich. »Das Skriptorium. Dann dein Zimmer, dann die Küche, wenn Mrs. Ballard bäckt – vor allem wenn sie gefleckte Scones macht.«

»Du bist ja lustig, Essymay – die heißen Rosinen-Scones.«

Vater sagte immer, Lizzie sei selbst noch ein Kind. Und wenn er mit ihr sprach, merkte ich es auch. Dann stand sie so still wie möglich da, mit verschränkten Händen, damit sie nicht wild damit herumfuchtelte, und nickte zu allem, wobei sie kaum ein Wort verlor. Bestimmt hatte sie Angst vor ihm so wie ich vor Dr. Murray. Doch kaum war Vater fort, sah sie mich schräg von der Seite an und zwinkerte mir zu.

Während wir im Gras lagen und sich der Himmel über unseren Köpfen drehte, beugte sie sich plötzlich zu mir und zauberte eine Blume hinter meinem Ohr hervor.

»Ich hab ein Geheimnis«, gestand ich.

»Und was soll das sein, du kleiner Kohlkopf, du?«

»Das kann ich dir hier nicht zeigen. Dann weht es vielleicht fort.«

Auf Zehenspitzen liefen wir quer durch die Küche zur schmalen Treppe, die zu Lizzies Zimmer führte. Mrs. Ballard beugte sich in der Vorratskammer über eine Dose mit Mehl, und alles, was ich von ihr sah, war ein dicker, von blauem Karostoff bedeckter Hintern. Wenn sie uns sah, hätte sie gleich einen Auftrag für Lizzie, und dann würde mein Geheimnis warten müssen. Ich legte den Finger auf die Lippen, doch ein Kichern stieg in mir auf. Lizzie sah es bereits kommen, weshalb sie mich mit ihren dünnen Ärmchen die Treppe hochzog.

Im Zimmer war es kalt. Lizzie nahm die Decke von ihrem Bett und legte sie wie einen Teppich auf den nackten Boden. Ich fragte mich, ob welche von den Murray-Kindern nebenan waren, denn dort lag das Kinderzimmer. Manchmal hörten wir den kleinen Jowett weinen, aber nie sehr lange. Mrs. Murray eilte dann immer schnell herbei oder eines der älteren Geschwister. Ich lauschte an der Wand und hörte die Laute, die das Baby beim Aufwachen machte, ganz leise und noch keine richtigen Worte. Ich stellte mir vor, wie es die Augen öffnete und merkte, dass es allein war. Der Kleine wimmerte eine Weile und begann dann zu weinen. Diesmal kam Hilda. Als das Weinen verstummte, erkannte ich sie an ihrer glockenhellen Stimme. Sie war dreizehn, genau wie Lizzie, und ihre kleinen Schwestern Elsie und Rosfrith waren nie weit von ihr entfernt. Als ich mich mit Lizzie auf die Decke setzte, stellte ich mir vor, dass die anderen nebenan dasselbe taten. Was sie wohl spielten?

Lizzie und ich saßen uns im Schneidersitz gegenüber, unsere Knie berührten sich leicht. Ich hob beide Hände, um mit einem Klatschspiel zu beginnen, aber beim Anblick meiner komischen Finger hielt Lizzie inne. Sie waren rot und runzlig.

»Sie tun nicht mehr weh«, sagte ich.

»Wirklich?«

Ich nickte, und wir begannen zu klatschen, auch wenn sie meine komischen Finger viel zu vorsichtig berührte, als dass man es Klatschen hätte nennen können.

»Und, was ist dein großes Geheimnis, Essymay?«

Fast hätte ich es vergessen. Ich griff in die Tasche meiner Schürze und zog den Zettel hervor, der vormittags in meinem Schoß gelandet war.

»Was ist denn das für ein Geheimnis?« Lizzie nahm mir den Zettel ab und drehte ihn um.

»Das ist ein Wort, aber ich kann nur diesen Teil hier entziffern.« Ich zeigte auf bondmaid. »Kannst du mir den Rest vorlesen?«

Sie fuhr die Worte mit dem Finger nach, genau wie ich. Nach einer Weile gab sie mir den Zettel zurück.

»Wo hast du das denn her?«

»Es hat mich gefunden«, erwiderte ich. Und als ich merkte, dass ihr das nicht genügte: »Einer der Assistenten hat es weggeworfen.«

»Die haben es also weggeworfen?«

»Ja«, antwortete ich, ohne den Blick zu senken. »Manche Wörter ergeben einfach keinen Sinn, und die werden weggeworfen.«

»Und, was machst du jetzt mit deinem Geheimnis?«, fragte Lizzie.

Darüber hatte ich noch gar nicht nachgedacht. Ich hatte es Lizzie bloß zeigen wollen. Ich wusste, dass ich Vater unmöglich bitten konnte, es aufzubewahren, und in meiner Schürze konnte es auch nicht ewig bleiben.

»Kannst du es für mich aufbewahren?«

»Ich denke schon, wenn du das willst. Auch wenn ich nicht versteh, was so besonders daran sein soll.«

Es war etwas Besonderes, weil es zu mir gekommen war. Es war fast ein Nichts, aber eben doch nicht. Es war klein und empfindlich, gut möglich, dass es nichts Wichtiges bedeutete, aber ich musste es vor dem Kaminfeuer retten. Ich wusste nicht, wie ich Lizzie das begreiflich machen sollte, aber sie bohrte nicht weiter nach. Stattdessen ging sie auf alle viere, griff unter ihr Bett und zog eine kleine Koffertruhe aus Holz darunter hervor.

Ich sah zu, wie sie durch die dünne Staubschicht auf dem verkratzten Deckel fuhr. Sie hatte es nicht eilig, ihn aufzuklappen.

»Was ist da drin?«

»Nichts. Alles, was ich hatte, ist für diese Dienstmädchenuniform draufgegangen.«

»Brauchst du die Koffertruhe nicht zum Verreisen?«

»Ich werd sie nicht brauchen.« Sie öffnete den Riegel.

Ich legte mein Geheimnis auf den Boden der Truhe und setzte mich wieder auf die Fersen. Es sah winzig und verloren aus. Ich schob es erst in die eine und dann in die andere Ecke der Truhe. Schließlich holte ich es wieder heraus und wölbte die Hände darum.

Lizzie strich mir übers Haar. »Du musst weitere Schätze finden, damit sie deinem Geheimnis Gesellschaft leisten.«

Ich stand auf, hielt den Zettel so hoch wie möglich über die Truhe und ließ los, um zuzusehen, wie er hinabflatterte, hin und her wirbelte, bis er in einem Winkel der Truhe zur Ruhe kam.

»Hier will er hin.« Ich beugte mich vor, um den Zettel glatt zu streichen. Aber das ging nicht. Unter dem Papier, mit dem die Truhe verkleidet war, befand sich ein Knubbel. An der Ecke hatte es sich bereits gelöst, sodass ich es weiter abpulte.

»Die Truhe ist nicht leer, Lizzie«, sage ich, als der Kopf einer Nadel auftauchte.

Lizzie beugte sich über mich, um zu gucken, wovon ich sprach.

»Das ist eine Hutnadel.« Sie griff danach. Ihr Ende bestand aus drei kleinen aufeinandersitzenden Perlen, eine jede bunt wie ein Kaleidoskop. Lizzie drehte die Hutnadel zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her. Ich konnte regelrecht zusehen, wie ihre Erinnerung zurückkehrte. Sie presste sie an die Brust, küsste mich auf die Stirn und legte die Hutnadel vorsichtig auf ihren Nachttisch, neben das kleine Foto von ihrer Mutter.

* * *

Unser Heimweg nach Jericho, das Viertel, in dem wir wohnten, dauerte länger als nötig, weil ich noch klein war und weil Vater gern einen Umweg machte, um seine Pfeife zu rauchen. Ich liebte ihren Duft.

Wir überquerten die breite Banbury Road und liefen dann die St Margaret’s hinunter, vorbei an großen, paarweise errichteten Häusern mit hübschen Gärten und schattenspendenden Bäumen. Dann führte ich uns in einem Zickzack-Parcours durch schmale Sträßchen, in denen die Häuser dicht nebeneinanderstanden, sich aneinanderlehnten wie die Belegzettel in ihren Regalfächern. Als wir in die Observatory Street einbogen, klopfte Vater seine Pfeife an einer Mauer aus und steckte sie zurück in seine Tasche. Anschließend nahm er mich auf die Schultern.

»Bald wirst du zu groß dafür sein«, meinte er.

»Bin ich dann keine Kleine mehr?«

»Nennt Lizzie dich so?«

»Unter anderem. Sie nennt mich auch Kohlkopf und Essymay.«

»Kleine versteh ich ja noch und Essymay auch – aber warum nennt sie dich Kohlkopf?«

Kohlkopf wurde stets von einer Liebkosung oder von einem zärtlichen Lächeln begleitet. Ich fand das völlig logisch, konnte es aber nicht erklären.

Unser Haus lag auf halber Höhe der Observatory Street, gleich hinter der Adelaide Street. Als wir die Kreuzung erreichten, zählte ich laut: »Eins, zwei, drei, vier – halt, wir wohnen hier!«

Wir hatten einen alten Messingtürklopfer in Form einer Hand. Lily hatte ihn an einem Antiquitätenstand in der Markthalle entdeckt. Laut Vater war er ganz angelaufen und verkratzt gewesen, mit Flusssand zwischen den Fingern, aber er hatte ihn gesäubert und am Tag ihrer Hochzeit an der Haustür angebracht. Jetzt zog er seinen Schlüssel aus der Tasche, und ich beugte mich vor, um Lilys Hand mit meiner zu bedecken. Ich ließ sie viermal klopfen.

»Keiner zu Hause.«

»Aber gleich!« Er öffnete die Tür, und ich zog den Kopf ein, als er in den Flur trat.

* * *

Vater setzte mich ab, stellte seine Tasche auf die Kommode und las die Briefe vom Boden auf. Ich folgte ihm durch den Flur in die Küche und setzte mich an den Tisch, während er unser Abendessen zubereitete. Dreimal die Woche kam eine Haushaltshilfe, um für uns zu kochen, zu putzen und die Wäsche zu machen, aber heute war sie nicht dran.

»Werde auch ich in Stellung gehen, wenn ich keine Kleine mehr bin?«

Vater rüttelte an der Pfanne, um die Würste zu wenden, und sah dann zum Küchentisch, wo ich saß.

»Nein, wirst du nicht.«

»Warum nicht?«

Wieder wendete er die Würste. »Das ist nicht so leicht zu erklären.«

Ich wartete. Er atmete tief durch, und seine Denkfalten zwischen den Brauen wurden tiefer. »Lizzie hat Glück, in Stellung zu sein, aber für dich wäre es ein Unglück.«

»Das versteh ich nicht.«

»Nein, vermutlich nicht.« Er goss die Erbsen ab, stampfte die Kartoffeln und gab dann alles zusammen mit den Würsten auf unsere Teller. Nachdem er sich endlich gesetzt hatte, sagte er: »Service, Stellung – je nachdem, wer man ist, kann das etwas ganz Unterschiedliches bedeuten, Essy. Das hängt davon ab, welchen Platz man in der Gesellschaft einnimmt.«

»Werden alle verschiedenen Bedeutungen im Wörterbuch stehen?«

Seine Denkfalten glätteten sich. »Wir werden morgen in den Fächern nachschauen, einverstanden?«

»Wäre Lily in der Lage gewesen, service zu erklären?«, fragte ich.

»Deine Mutter hätte Worte genug gehabt, um dir die ganze Welt zu erklären, Essy, aber weil sie nicht mehr da ist, müssen wir das Scrippy zurate ziehen.«

* * *

Am nächsten Morgen, noch bevor wir die Post sortierten, hob Vater mich hoch und ließ mich die Fächer mit S-Wörtern durchsuchen.

»Schauen wir mal, was wir da haben.«

Vater zeigte auf ein Fach, das fast etwas zu weit oben lag, aber dann doch nicht. Ich zog ein Zettelbündel heraus. Service stand auf dem Deckblatt und darunter: Bedeutungsvarianten. Wir saßen am Sortiertisch, und Vater erlaubte mir, die Schnur, die die Zettel zusammenhielt, zu lösen. Sie waren in vier kleinere Zitatbündel unterteilt, ein jedes mit eigenem Deckblatt und mit einer Definition, die von einem von Dr. Murrays bewährteren Assistenten vorgeschlagen worden war.

»Die hier hat Edith sortiert.« Vater breitete die Stapel auf dem Sortiertisch aus.

»Du meinst Tante Ditte?«

»Ganz genau.«

»Ist sie eine Lexi…, Lexikographe wie du?«

»Eine Lexikographin. Nein. Aber sie ist eine sehr gebildete Dame, und wir können von Glück sagen, dass sie das Wörterbuch zu ihrem Steckenpferd gemacht hat. Es vergeht keine Woche, ohne dass ein Brief von Ditte mit einem Wort oder Eintrag für den nächsten Abschnitt bei Dr. Murray eintrifft.«

Es verging auch keine Woche, ohne dass auch wir einen Brief von Ditte bekamen. Wenn Vater diese Briefe laut vorlas, handelten sie überwiegend von mir.

»Bin ich auch ihr Steckenpferd?«

»Du bist ihr Patenkind, was noch viel wichtiger ist als jedes Steckenpferd.«

Ditte hieß eigentlich Edith, und als ich noch klein war, hatte ich Schwierigkeiten gehabt, das auszusprechen. Es gebe auch andere Möglichkeiten, meinte sie damals, und ich durfte mir einen Namen aussuchen. In Dänemark etwa hieße sie Ditte. Das gefiel mir deutlich besser, und seitdem hatte ich sie nie mehr Edith genannt.

»Dann schauen wir doch mal, wie Ditte service definiert hat«, meinte Vater.

Viele Definitionen beschrieben Lizzie, aber keine davon erklärte, warum service für mich und sie etwas anderes bedeuten sollte. Der letzte Stapel, den wir uns ansahen, hatte kein Deckblatt.

»Das sind Duplikate«, sagte Vater. Er half mir, sie zu entziffern.

»Was passiert mit ihnen?«, fragte ich. Doch noch bevor Vater etwas erwidern konnte, ging die Tür zum Skriptorium auf, und einer der Assistenten kam herein. Er band seine Krawatte, als hätte er sie gerade erst angelegt. Anschließend hing sie schief, und er vergaß, sie in seine Weste zu stecken.

Mr. Mitchell schaute mir über die Schulter und betrachtete die Zettelstapel, die auf dem Sortiertisch ausgebreitet waren. Eine dunkle Haartolle fiel ihm ins Gesicht. Er strich sie zurück, aber es war nicht genug Pomade darin, um sie an Ort und Stelle zu halten.

»Service«, sagte er. »Stellung.«

»Lizzie ist in Stellung.«

»Ja, das stimmt.«

»Aber Vater sagt, für mich wäre es ein Unglück, in Stellung zu sein.«

Mr. Mitchell sah zu Vater hinüber, der nur mit den Schultern zuckte und lächelte.

»Wenn du einmal groß bist, Esme, solltest du einfach machen, worauf du Lust hast«, sagte Mr. Mitchell.

»Ich möchte Lexikographin werden.«

»Das ist doch schon mal ein guter Anfang.« Er zeigte auf die vielen Zettel.

Mr. Maling und Mr. Balk betraten das Skriptorium, diskutierten ein Wort, über das sie am Vortag gestritten hatten. Dann eilte Dr. Murray herein, sein schwarzer Talar bauschte sich. Ich sah von einem zum anderen und überlegte, ob ich wohl von ihrer Bartlänge und -farbe auf ihr Alter schließen konnte. Vater und Mr. Mitchell hatten die kleinsten und dunkelsten Bärte. Dr. Murrays Bart wurde weiß und reichte bis zu seinem obersten Westenknopf. Und Mr. Malings und Mr. Balks Bärte lagen irgendwo in der Mitte. Jetzt, wo sie alle da waren, wurde es Zeit, dass ich mich unsichtbar machte. Ich kroch unter den Sortiertisch und hielt nach verirrten Zetteln Ausschau. Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als dass mich ein weiteres Wort finden würde, was aber nicht geschah. Doch als Vater mich aufforderte, zu Lizzie zu laufen, waren meine Taschen trotzdem nicht ganz leer.

Ich zeigte Lizzie den Zettel. »Noch ein Geheimnis!«

»Kann ich das erlauben, dass du Geheimnisse aus dem Scrippy mitnimmst?«

»Vater hat gesagt, das ist ein Duplikat. Es gibt noch einen Zettel, auf dem genau dasselbe steht.«

»Und was steht da?«

»Dass es sich für dich geziemt, in Stellung zu sein, und für mich zu handarbeiten, bis mich ein Gentleman heiraten möchte.«

»Wirklich? Das steht da?«

»Ich glaube schon.«

»Na ja, ich könnte dir ja das Handarbeiten beibringen«, schlug Lizzie vor.

Ich dachte darüber nach. »Nein, danke, Lizzie. Mr. Mitchell sagt, ich soll Lexikographin werden.«

An den nächsten Vormittagen kroch ich, nachdem ich Vater mit der Post geholfen hatte, an ein Ende des Sortiertisches, um auf herabfallende Worte zu warten. Aber wenn welche fielen, wurden sie rasch wieder von einem der Assistenten aufgehoben. Nach einigen Tagen vergaß ich, nach Wörtern Ausschau zu halten, und nach einigen Monaten vergaß ich sogar die Koffertruhe unter Lizzies Bett.

April 1888

»Schuhe?«, fragte Vater.

»Glänzen«, erwiderte ich.

»Strümpfe?«

»Gerade hochgezogen.«

»Kleid?«

»Ein bisschen kurz.«

»Zu eng?«

»Nein, genau richtig.«

»Puh.« Er wischte sich über die Stirn. Dann musterte er lange meine Frisur. »Wo kommt das bloß alles her?«, murmelte er bei dem Versuch, mein Haar mit seinen großen ungeschickten Händen zu glätten. Als die roten Locken zwischen seinen Fingern hervorsprangen, machte er sich einen Spaß daraus, sie wieder einzufangen, doch dafür hatte er nicht genug Hände. Kaum war eine Locke gebändigt, entwich auch schon die nächste. Ich begann zu kichern, und er warf die Hände in die Luft.

Wegen meiner Frisur würden wir noch zu spät kommen. Vater meinte, das sei so Mode. Als ich ihn fragte, was Mode bedeute, meinte er, das sei etwas, was einigen viel bedeute, anderen hingegen gar nichts, auch dass es sich auf alles Mögliche beziehen könne – angefangen von Hüten über Tapeten bis hin zu dem Zeitpunkt, an dem man auf einem Fest erscheine.

»Können wir Mode etwas abgewinnen?«, fragte ich.

»Normalerweise nicht.«

»Dann sollten wir uns lieber beeilen.« Ich nahm seine Hand und zerrte daran, bis auch er in Laufschritt verfiel. Zehn Minuten später waren wir bei Haus Sunnyside, nur ein winziges bisschen außer Atem.

Das Tor war mit As und Bs jedweder Größe, Form und Farbe geschmückt. Das Ausmalen meiner Buchstaben hatte mich in der Vorwoche stundenlang beschäftigt, und ich war begeistert, sie unter den As und Bs der Murray-Kinder zu entdecken.

»Da kommt Mr. Mitchell. Kann er der Mode etwas abgewinnen?«

»Kein bisschen.« Vater gab ihm die Hand.

»Ein großer Tag«, sagte Mr. Mitchell zu Vater.

»Es hat lange genug gedauert«, erwiderte Vater.

Mr. Mitchell ging in die Hocke, um mir auf Augenhöhe zu begegnen. Heute hatte er genug Pomade aufgetragen, sodass seine Haare an Ort und Stelle blieben. »Alles Gute zum Geburtstag, Esme.«

»Danke, Mr. Mitchell.«

»Wie alt bist du jetzt?«

»Heute werd ich sechs, und ich weiß, dass dieses Fest nicht für mich ist, sondern für A and B – aber Vater sagt, ich darf trotzdem zwei Stück Kuchen essen.«

»Zu Recht.« Er zog ein kleines Päckchen aus der Tasche und gab es mir. »Zu einem richtigen Fest gehören Geschenke. Die sind für dich, junge Dame, und mit etwas Glück kannst du sie dazu verwenden, den Buchstaben C auszumalen, bevor du deinen nächsten Geburtstag feierst.«

Ich packte eine kleine Schachtel mit Buntstiften aus und strahlte Mr. Mitchell an. Als er sich wieder aufrichtete, sah ich seine Knöchel. Er trug einen schwarzen und einen grünen Strumpf.

Ein langer Tisch war unter die Esche gestellt worden, der genauso aussah, wie ich mir das vorgestellt hatte. Er war mit einer weißen Tischdecke geschmückt, darauf Teller mit Speisen und eine Glasschale mit Bowle. Bunte Luftschlangen hingen in den Zweigen des Baumes, und es waren mehr Leute da, als ich zählen konnte. Keiner hier interessierte sich für Mode.

Hinter dem Tisch spielten die kleineren Murray-Jungs Fangen, während die Mädchen Seil hüpften. Wenn ich zu ihnen ging, würden sie mich bitten, mitzuspielen, denn das taten sie immer. Aber das Seil würde sich seltsam in meiner Hand anfühlen, und wenn ich in der Mitte war, konnte ich nie den Rhythmus halten. Sie würden mich ermutigen, und ich würde es erneut versuchen, aber wenn das Seil immer wieder hängen blieb, machte das niemandem Spaß. Ich sah zu, wie Hilda und Ethelwyn das Seil kreisen ließen, den Rhythmus mit einem Lied vorgaben. Rosfrith und Elsie waren in der Mitte, sie hielten sich an den Händen und hüpften immer schneller, während ihre Schwestern das Tempo erhöhten. Rosfrith war vier und Elsie nur wenige Monate älter als ich. Ihre blonden Zöpfe flatterten auf und ab wie Flügel. Während ich zusah, blieb das Seil nicht ein einziges Mal hängen. Ich fasste mir ins Haar und merkte, dass Vaters Zopf aufgegangen war.

»Warte hier!«, befahl Vater. Er umrundete die Menge und ging in die Küche. Nach einer Minute war er wieder da, Lizzie im Schlepptau.

»Alles Gute zum Geburtstag, Essymay.« Sie nahm meine Hand.

»Wohin gehen wir?«

»Dein Geschenk holen.«

Ich folgte Lizzie die schmale Küchentreppe hinauf. Als wir in ihrem Zimmer waren, bat sie mich, auf dem Bett Platz zu nehmen, und griff in ihre Schürzentasche.

»Mach die Augen zu, mein kleiner Kohlkopf, und halt beide Hände auf.«

Ich schloss die Augen und spürte, wie sich ein Lächeln auf meinem Gesicht ausbreitete. Etwas kitzelte meine Handflächen. Bänder. Ich versuchte, mein Lächeln nicht ersterben zu lassen: Neben meinem Bett stand eine Schachtel, die bereits überquoll vor Bändern.

»Jetzt kannst du die Augen wieder aufmachen.

Zwei Bänder. Nicht so glänzend und weich wie die, mit denen Vater heute Morgen mein Haar zusammengebunden hatte, dafür war jedes am Ende mit denselben Glockenblumen bestickt, die auch mein Kleid zierten.

»Die sind nicht so glatt wie die anderen, dann verlierst du sie nicht so schnell.« Lizzie fuhr mir mit den Fingern durchs Haar. »Zu einem französischen Zopf dürften sie wunderbar aussehen.«

Wenige Minuten später kehrten Lizzie und ich in den Garten zurück. »Da kommt die Ballkönigin«, sagte Vater. »Genau im richtigen Moment!«

Dr. Murray stand im Schatten der Esche, ein riesiges Buch auf dem Tischchen vor ihm. Er schlug mit einer Gabel gegen sein Glas. Alle verstummten.

»Als Dr. Johnson sich der Aufgabe verschrieb, sein Wörterbuch zusammenzustellen, nahm er sich vor, kein Wort unberücksichtigt zu lassen.« Dr. Murray legte eine Pause ein, um sicherzustellen, dass wir auch alle zuhörten. »Ein Entschluss, der bald aufweichte, als er merkte, dass eine Frage bloß weitere Fragen aufwarf, dass ein Buch aufs nächste verwies, ja dass man selbst dann nicht immer fündig wurde, wenn man den Dingen auf den Grund ging, und dass fündig zu werden nicht immer bedeutet, wirklich Bescheid zu wissen.«

Ich zupfte Vater am Ärmel. »Wer ist Dr. Johnson?«

»Der Herausgeber eines früheren Wörterbuchs«, flüsterte er.

»Wenn es schon ein Wörterbuch gibt, warum macht ihr dann ein neues?«

»Das alte war nicht gut genug.«

»Wird das von Dr. Murray gut genug sein?«

Vater legte den Finger auf die Lippen und hörte wieder auf das, was Dr. Murray sagte.

»Wenn ich erfolgreicher war als Dr. Johnson, dann habe ich das nur dem guten Willen und der Hilfsbereitschaft vieler Gelehrter und Spezialisten zu verdanken – fast alles viel beschäftigte Männer, deren Interesse an diesem Unterfangen sie jedoch dazu gebracht hat, dem Herausgeber einen Teil ihrer Zeit zur Verfügung zu stellen und ihr Wissen bereitwillig zu teilen, um das Werk zu vervollkommnen.« Dr. Murray begann, allen zu danken, die dazu beigetragen hatten, die Stichwörter für A and B zusammenzutragen. Die Liste war so lang, dass mir die Beine vom langen Stehen wehtaten. Ich setzte mich auf die Wiese und begann, Gräser zu sammeln, die einzelnen Halme zurückzufalten, um die zarten grünen Triebe freizulegen und an ihnen zu knabbern. Erst als ich Dittes Namen hörte, schaute ich auf. Bald darauf fiel der von Vater und von den anderen Männern, die im Skriptorium arbeiteten.

Als die Rede vorbei war und man Dr. Murray gratulierte, ging Vater zu dem Band mit den Wörtern und hob ihn hoch. Er rief mich zu sich und bat mich, mich zu setzen, mich mit dem Rücken an den rauen Stamm der Esche zu lehnen. Dann legte er mir den schweren Band in den Schoß.

»Sind meine Geburtstagswörter da drin?«

»Aber natürlich.« Er schlug das Buch auf und blätterte bis zum ersten Wort.

A.

Dann blätterte er weiter.

Aard-vark – Erdferkel.

Und weiter.

Meine Worte!, dachte ich. Allesamt in Leder gebunden, gedruckt auf Papier mit Goldschnitt. Allein ihr Gewicht würde mich für immer an diesen Ort binden.

Vater legte A and B zurück auf den Tisch, und die Menge stürzte sich darauf. Ich hatte Angst um die Wörter. »Vorsicht!«, rief ich. Aber niemand hörte auf mich.

»Da kommt Ditte«, sagte Vater.

Ich rannte zum Tor, ihr entgegen.

»Du hast den Kuchen verpasst«, sagte ich.

»Dann komme ich ja genau richtig.« Sie beugte sich vor und küsste mich auf den Scheitel. »Der einzige Kuchen, den ich esse, ist Madeira-Kuchen. An diese strenge Regel halte ich mich, so bleibe ich grazil.«

Tante Ditte war so breit wie Mrs. Ballard und noch ein bisschen kleiner. »Was bedeutet grazil?«, fragte ich.

»Ein unerreichbares Ideal – etwas, worüber du dir ganz bestimmt keine Gedanken machen musst«, antwortete sie. Um dann hinzuzufügen: »Es bedeutet fein und zierlich.«

Ditte war nicht meine leibliche Tante, die lebte in Schottland und hatte so viele Kinder, dass sie keine Zeit hatte, mich zu verwöhnen, so Vater. Ditte hingegen hatte keine Kinder und lebte mit ihrer Schwester Beth in Bath. Sie fahndete fleißig nach Zitaten für Dr. Murray und schrieb ein Buch über die Geschichte Englands. Trotzdem hatte sie noch genug Zeit, mir Briefe zu schicken und Geschenke zu machen.

»Dr. Murray hat gesagt, dass Beth und du sehr porduktive Mitarbeiter seid«, sagte ich nicht ohne eine gewisse Autorität.

»Produktiv«, korrigierte sie mich.

»Ist das was Tolles?«

»Es bedeutet, dass wir viele Begriffe und Zitate für Dr. Murrays Wörterbuch gesammelt haben, und ich bin mir sicher, das war als Kompliment gemeint.«

»Aber ihr habt nicht so viele gesammelt wie Mr. Thomas Austin. Er ist viel porduktiver als ihr.«

»Produktiver. Ja, das stimmt. Keine Ahnung, woher er die Zeit nimmt. So, jetzt lass uns etwas Bowle holen.« Ditte nahm meine gesunde Hand, und wir gingen zum festlich gedeckten Tisch.

Ich folgte Ditte durch die Menge und verlor mich in einem Wald aus braunen und karierten Hosen sowie aus gemusterten Röcken. Alle wollten mit ihr reden, und sobald wir stehen blieben, machte ich mir einen Spaß daraus zu raten, zu wem die jeweilige Hose gehörte.

»Sollte das wirklich mit aufgenommen werden?«, hörte ich einen Mann sagen. »Es ist so ein unangenehmes Wort, ich finde eher, wir sollten seinem Gebrauch entgegenwirken.« Ich spürte, wie Dittes Hand den Druck um meine verstärkte. Mir war die Hose fremd, deshalb schaute ich auf, um zu gucken, ob mir das Gesicht bekannt vorkäme, doch alles, was ich erkennen konnte, war sein Bart.

»Wir sind nicht die Hüter der englischen Sprache, Sir. Unsere Aufgabe besteht darin, sie aufzuzeichnen – nicht, sie zu beurteilen.«

Als wir den Tisch unter der Esche endlich erreichten, schenkte Ditte zwei Gläser mit Bowle ein und legte ein paar Sandwiches auf einen kleinen Teller.

»Ob du es glaubst oder nicht, Esme, aber ich habe mich nicht hierherbemüht, um über Wörter zu reden. Lass uns ein ruhiges Fleckchen suchen, wo wir uns hinsetzen können. Dann erzählst du mir, wie es dir und deinem Vater geht.«

Ich führte Ditte zum Skriptorium. Als sie die Tür hinter uns schloss, verstummte der Lärm des Festes. Es war das erste Mal, dass ich ohne Vater, ohne Dr. Murray oder ohne einen der anderen Männer im Skriptorium war. Schon auf der Schwelle fühlte ich mich verantwortlich, Ditte die Fächer voller Wörter und Zitate zu zeigen, all die alten Wörterbücher und Nachschlagewerke, die Faszikel, sogenannte Teillieferungen, in denen die Wörter zuerst veröffentlicht wurden, bevor sie für einen ganzen Band reichten. Ich hatte lange gebraucht, bis ich Faszikel aussprechen konnte, und wollte, dass Ditte es hörte.

Ich zeigte auf eines von zwei Tabletts auf dem kleinen Tisch neben der Tür. »Da kommen alle Briefe hin, die Dr. Murray, Vater und die anderen schreiben. Manchmal darf ich sie am Ende des Tages zum Briefkasten bringen. Die Briefe, die du an Dr. Murray schickst, kommen auf dieses Tablett. Wenn sie Zettel enthalten, holen wir die zuerst raus, und Vater erlaubt mir, sie in die Fächer zu räumen.«

Ditte wühlte in ihrer Handtasche und zog einen der kleinen Umschläge hervor, die ich so gut kannte. Obwohl sie direkt neben mir stand, wurde ich angesichts der vertrauten, ordentlichen, leicht nach rechts geneigten Handschrift ganz aufgeregt.

»Ich dachte, das Porto spar ich mir.« Sie reichte mir den Umschlag.

Ich wusste nicht genau, was ich damit anfangen sollte – jetzt, wo Vater mir keine Anweisungen gab.

»Sind Zettel drin?«, fragte ich.

»Nein, nur meine Meinung zur Aufnahme eines alten Wortes, das die Gentlemen von der Philological Society ein wenig nervös macht.«

»Was ist das für ein Wort?«

Sie schwieg und biss sich auf die Unterlippe. »Ich fürchte, keines, das in guter Gesellschaft fallen sollte. Dein Vater würde es nicht gutheißen, wenn ich es dir beibringe.«

»Rätst du Dr. Murray, es wegzulassen?«

»Ganz im Gegenteil, mein Liebling. Ich dränge ihn, es aufzunehmen.«

Ich legte den Umschlag auf den Briefstapel auf Dr. Murrays Schreibtisch und setzte meine Führung fort.

»Das sind die Fächer, die sämtliche Zettel enthalten.« Ich machte eine weit ausholende Handbewegung vor der Regalwand, die mir am nächsten war, um die Geste dann bei den anderen Wänden des Skriptoriums zu wiederholen. »Vater meint, es sind Abertausende von Zetteln, es müsste also Aberhunderte von Fächern geben. Sie wurden maßangefertigt, und Dr. Murray hat die Zettel genau daran angepasst.«

Ditte zog ein Bündel heraus, und ich spürte, wie mein Herz schneller schlug. »Ohne Vater darf ich die Zettel nicht anfassen.«

»Nun, wenn wir gut aufpassen, wird niemand etwas davon erfahren.« Ditte schenkte mir ein verschwörerisches Lächeln, und mein Herz schlug noch schneller. Sie blätterte durch die Zettel, bis sie einen erreichte, der größer war als die anderen. »Schau!«, sagte sie. »Das hier wurde auf die Rückseite eines Briefes geschrieben. Siehst du? Das Papier hat dieselbe Farbe wie deine Glockenblumen.«

»Was steht da?«

Ditte gelang es, ein Stück zu entziffern. »Es ist nur ein Fragment, aber ich glaube, es könnte ein Liebesbrief gewesen sein.«

»Warum sollte jemand einen Liebesbrief zerschneiden?«

»Vielleicht weil die Gefühle nicht erwidert wurden?«

Sie steckte die Zettel zurück in ihr Fach, und nichts ließ erkennen, dass sie je herausgenommen worden waren.

»Das sind meine Geburtstagswörter.« Ich ging zu den ältesten Fächern, in denen alle Wörter von A to Ant aufbewahrt wurden. Ditte zog eine Braue hoch. »Das sind die Wörter, an denen Vater gearbeitet hat, bevor ich geboren wurde. Normalerweise nehme ich an meinem Geburtstag jeweils eines heraus, und Vater hilft mir, es zu verstehen.« Ditte nickte. »Und das ist der Sortiertisch«, fuhr ich fort. »Vater sitzt genau hier und Mr. Balk hier, daneben Mr. Maling. Bonan matenon.« Ich sah Ditte abwartend an.

»Wie bitte?«

»Bonan matenon. So sagt Mr. Maling Guten Morgen. Das ist Speranto.«

»Esperanto.«

»Genau. Und Mr. Worrall sitzt hier, Mr. Mitchell normalerweise dort, auch wenn er gern auf und ab läuft. Wusstest du, dass er immer Strümpfe trägt, die nicht zusammenpassen?«

»Woher sollte ich?«

Wieder musste ich kichern. »Ich weiß das, weil mein Platz dort unten ist.« Ich ging auf alle viere und kroch unter den Sortiertisch, unter dem ich hervorspähte.

»Tatsächlich?«

Fast hätte ich sie aufgefordert, sich zu mir zu gesellen, überlegte es mir jedoch anders. »Du müsstest grazil sein, um darunter zu passen.«

Sie lachte und gab mir die Hand, um mir wieder herauszuhelfen. »Komm, setzen wir uns auf den Stuhl deines Vaters, einverstanden?«

Jedes Jahr an meinem Geburtstag machte mir Ditte zwei Geschenke: ein Buch und eine Geschichte. Das Buch war immer eines für Erwachsene mit interessanten Wörtern, die Kinder nie benutzen. Sobald ich lesen konnte, bestand sie darauf, dass ich laut vorlas, bis ich auf ein Wort stieß, das ich nicht kannte. Erst dann begann sie mit der Geschichte.

Ich packte das Buch aus.

»Über die – Entstehung – der – Arten.« Das letzte Wort sprach Ditte ganz langsam aus.

»Wovon handelt es?« Ich blätterte um und suchte nach Abbildungen.

»Von Tieren.«

»Ich mag Tiere«, sagte ich. Dann blätterte ich zur Einleitung und begann zu lesen. »Als ich an Bord des Beagle …« Ich sah Ditte an. »Handelt es von einem Hund?«

Sie lachte. »Nein. Beagle war ein Schiff.«

Ich fuhr fort. »Als …« Ich stockte und zeigte auf das nächste Wort.

»Naturforscher.« Ditte sprach es mir langsam vor. »Jemand, der sich mit der Natur beschäftigt, mit Tieren und Pflanzen.«

»Naturforscher«, sprach ich ihr nach. Ich klappte das Buch zu. »Erzählst du mir jetzt die Geschichte?«

»Was könnte das wohl für eine Geschichte sein?« Ditte machte ein ratloses Gesicht, um dann zu lächeln.

»Du weißt es genau.«

Ditte verlagerte ihr Gewicht, und ich schmiegte mich an ihren Oberkörper.

»Du bist größer als letztes Jahr«, sagte sie.

»Aber noch kann ich mich da reinkuscheln.« Ich löste mich von ihr, und sie legte die Arme um mich.

»Als ich Lily das erste Mal sah, hatte sie gerade eine Gurkensuppe mit Kresse gemacht.«

Ich schloss die Augen und stellte mir vor, wie meine Mutter in einem Suppentopf rührte. Ich versuchte, sie in normale Kleider zu stecken, doch sie weigerte sich, den Brautschleier abzunehmen, den sie auf dem Foto auf Vaters Nachttisch trug. Ich liebte dieses Bild mehr als alle anderen, weil Vater sie darauf ansah und sie mich direkt anschaute. Der Schleier wird in der Suppe landen!, dachte ich und grinste.

»Sie wurde von ihrer Tante, Miss Fernley, erzogen«, fuhr Ditte fort. »Eine sehr große, sehr fähige Frau, die nicht nur Vorsitzende unseres Tennisvereins war, in dem diese Geschichte spielt, sondern auch Direktorin eines kleinen privaten Mädchen-Colleges. Lily ging auf die Schule ihrer Tante, und die Gurkensuppe mit Kresse stand anscheinend im Curriculum.«

»Was ist ein Curriculum?«, fragte ich.

»Das ist der Lehrstoff, den eine Schule vermitteln soll.«

»Habe ich einen Curriculum auf der St. Barnabas?«

»Du hast gerade erst mit der Schule angefangen, da sieht das Curriculum nur Lesen und Schreiben vor. Aber je älter du wirst, desto mehr Fächer kommen dazu.«

»Zum Beispiel?«

»Hoffentlich etwas weniger Hausfrauenmäßiges als Gurkensuppe mit Kresse. Darf ich jetzt weitererzählen?«

»Ja, bitte!«

»Miss Fernley bestand darauf, dass Lily die Suppe für unseren Verein kocht. Zum Mittagessen. Sie schmeckte scheußlich, alle fanden das, manche sprachen es sogar laut aus. Ich fürchte, Lily hatte das mitbekommen, denn sie zog sich ins Vereinshaus zurück und wischte dort Tische ab, die gar nicht mehr abgewischt werden mussten.«

»Arme Lily!«, sagte ich.

»Nun, vermutlich wirst du anders darüber denken, wenn du den Rest der Geschichte hörst. Hätte es die scheußliche Suppe nicht gegeben, wärst du vielleicht nie geboren worden.«

Ich wusste, was jetzt kam, und hielt die Luft an, um auch ja nichts zu verpassen.

»Irgendwie schaffte es dein Vater, seine Schale auszulöffeln. Ich war verblüfft, aber dann sah ich, wie er die Schale in die Küche trug und Lily um Nachschlag bat.«

»Hat er den auch ausgelöffelt?«

»Allerdings. Und wenn er ausnahmsweise mal nicht den Mund voll hatte, bombardierte er Lily mit Fragen. Es dauerte keine Viertelstunde, und sie verwandelte sich von einem schüchternen jungen Mädchen in eine selbstbewusste junge Frau.«

»Was hat er sie denn gefragt?«

»Das kann ich dir nicht sagen, aber als er aufgegessen hatte, war es, als würden sie sich schon ewig kennen.«

»Wusstest du, dass sie heiraten würden?«

»Nun, ich erinnere mich noch, dass ich dachte: Sie kann von Glück sagen, dass Harry weiß, wie man ein Ei kocht. Denn Lily sollte nie viel Zeit in der Küche verbringen. So gesehen, ja, ich glaube, ich wusste, dass sie heiraten würden.«

»Und dann wurde ich geboren, und dann ist sie gestorben.«

»Ja.«

»Aber wenn wir über sie reden, wird sie wieder lebendig.«

»Vergiss das nie, Esme! Wörter sind unsere Werkzeuge für Wiederauferstehungen.«

Resurrection – ein neues Wort. Ich schaute es nach.

»Das bedeutet: etwas zurückholen«, erklärte Ditte.

»Aber Lily wird nie mehr wirklich zurückkehren.«

»Nein.«

Ich schwieg, versuchte, mich an den Rest der Geschichte zu erinnern. »Und dann hast du Vater gesagt, dass du meine Lieblingstante sein wirst.«

»Ja.«

»Und dass du immer für mich Partei ergreifen wirst, selbst wenn ich Ärger mache.«

»Hab ich das gesagt?«

Ich drehte mich zu ihr um, und sie lächelte.

»Genau das hätte sich Lily von mir gewünscht, und ich habe jedes Wort ernst gemeint.«

»Ende der Geschichte«, sagte ich.

April 1891

Eines Morgens beim Frühstück sagte Vater: »Cleveres Coupon-Collagieren camoufliert kompliziertes C-Wörter-Chaos.« Ich brauchte keine Minute, um den Fehler zu finden.

»Kompliziert«, rief ich, »Kompliziert beginnt mit K, nicht mit C.«

Er hatte den Mund noch voller Porridge, so schnell war ich.

»Ich dachte, in Verbindung mit camoufliert hätte ich dich reingelegt«, meinte er.

»Aber das muss mit C anfangen, denn es kommt aus dem Französischen.«

»Dann war kompliziert wohl nicht kompliziert genug für dich, Kompliment! So, und jetzt sag mir, welches Zitat dir am besten gefällt.« Vater schob eine Korrekturfahne über den Frühstückstisch.

Drei Jahre waren inzwischen seit dem Picknick zu Ehren von A and B vergangen, trotzdem waren sie immer noch mit den Korrekturfahnen von C beschäftigt. Die Seiten waren gesetzt worden, aber einige Zeilen waren ausgestrichen, und die Randspalten waren mit Vaters Korrekturen gefüllt. Dort, wo ihm der Platz ausgegangen war, hatte er einen Zettel angeklebt und darauf geschrieben.

»Mir gefällt das neueste.« Ich zeigte auf den Zettel.

»Was steht denn da?«

»Ob er nicht benachrichtigt worden, daß Demoiselle Cadiere bey dieser Land-Luft eine Entzückung bekommen, hernach aber sich als eine Zigeunerin verkleidet und den Überrest des Tages hindurch getanzt habe? (…) Ob nicht bey der Rückkunft von dieser Luft-Fahrt Demoiselle Cadiere und etliche andere Frauenzimmer mehr in das Jesuiter-Collegium gekommen …«

»Und warum gefällt es dir?«

»Es klingt lustig, so als könnte der Mann, der das geschrieben hat, nicht richtig buchstabieren und würde die Worte erfinden.«

»Das ist einfach bloß ein alter Text«, sagte Vater, nahm die Fahne wieder an sich und las, was er geschrieben hatte. »Wörter ändern sich mit der Zeit, weißt du. Die Art, wie sie aussehen, wie sie klingen … Manchmal verändern sie sogar ihre Bedeutung. Sie haben ihre eigene Geschichte.« Vater fuhr mit dem Finger über einen Satz. »Wenn du die Ys durch Is ersetzt, klingt es gleich viel moderner.«

»Was ist eine Demoiselle?«

»Eine junge Frau.«

»Bin ich auch eine Demoiselle?«

Er sah mich an, und eine winzige Falte erschien zwischen seinen Brauen.

»Ich werde bald zehn«, sagte ich erwartungsvoll.

»Zehn, sagst du? Na dann. Du wirst im Nu eine Demoiselle sein.«

»Und werden sich die Wörter immer weiter verändern?«

Der Löffel erstarrte auf halbem Weg zu seinem Mund. »Ich glaube, es könnte sein, dass eine Bedeutung, sobald sie notiert wurde, fixiert wird.«

»Dr. Murray und du, ihr könnt den Wörtern also die Bedeutung geben, die euch gefällt, und wir werden sie dann für immer so benutzen müssen?«

»Natürlich nicht! Unsere Aufgabe besteht darin, zu einem Konsens zu gelangen. Wir durchsuchen Bücher nach dem Gebrauch eines bestimmten Wortes. So finden wir Bedeutungen, die zutreffend sind. Das ist sogar ziemlich wissenschaftlich.«

»Was heißt das?«

»Konsens? Na ja, dass alle einer Meinung sind.«

»Fragst du alle?«

»Nein, du Schlaumeier! Aber ich glaube, es dürfte kaum ein Buch geschrieben worden sein, das wir nicht zurate gezogen haben.«

»Und wer schreibt diese Bücher?«

»Alle möglichen Leute. Aber jetzt hör auf, mich mit Fragen zu löchern, und iss dein Frühstück, sonst kommst du noch zu spät zur Schule.«

* * *

Die Glocke läutete zur Mittagspause, und ich entdeckte Lizzie an ihrem gewohnten Platz vor dem Schultor. Sie wirkte besorgt. Ich wollte auf sie zurennen, überlegte es mir aber anders.

»Du darfst sie nicht sehen lassen, dass du weinst«, sagte sie, als sie meine Hand nahm.

»Ich habe nicht geweint.«

»O doch, und ich weiß auch, warum. Ich hab gesehen, wie sie dich geärgert haben.«

Ich zuckte mit den Schultern und spürte, wie noch mehr Tränen kamen. Ich starrte auf die Füße, die einen Schritt vor den anderen setzten.

»Was ist?«, fragte sie.

Ich hielt meine komischen Finger hoch. Sie nahm sie und blies knatternd hinein. Ich konnte nicht anders, ich musste lachen.

»Die Hälfte ihrer Väter hat ebenfalls komische Finger.«

Ich sah zu ihr auf.

»Wirklich! Die, die in der Schriftgießerei arbeiten, tragen ihre Verbrennungen stolz vor sich her, ganz Jericho kennt ihren Beruf. Ihre Kleinen sind einfach nur frech, wenn sie dich damit aufziehen.«

»Aber ich bin anders.«

»Na ja, jeder ist anders.«

Sie verstand mich einfach nicht.

»Ich bin wie das Wort alphabetary, nach alphabetischer Reihung«, sagte ich.

»Nie gehört.«

»Das ist eines von meinen Geburtstagswörtern. Aber Vater sagt, dass es veraltet ist. Aus der Zeit gefallen. Das benutzt keiner mehr.«

Lizzie lachte. »Über so was redest du mit deinen Mitschülerinnen?«

Ich zuckte erneut mit den Schultern.

»Die stammen aus anderen Familien, Essymay. Die sind es nicht gewohnt, über Wörter, Bücher und Geschichte zu reden wie du und dein Vater. Manche Leute fühlen sich besser, wenn sie andere runtermachen können. Wenn du älter wirst, ändert sich das, versprochen!«

Schweigend gingen wir weiter. Je näher wir dem Skriptorium kamen, desto besser fühlte ich mich.

Nachdem ich mit Lizzie und Mrs. Ballard Sandwiches in der Küche gegessen hatte, lief ich quer durch den Garten zum Skriptorium. Ein Assistent nach dem anderen sah von seinem Mittagessen oder von seinen Wörtern auf, um zu gucken, wer gekommen war. Leise setzte ich mich neben Vater. Er machte mir etwas Platz, und ich holte ein Heft aus meinem Ranzen, um die Schreibschrift zu üben, die ich in der Schule gelernt hatte. Als ich damit fertig war, ließ ich mich von meinem Stuhl unter den Sortiertisch gleiten.

Es gab keine Zettel, daher verschaffte ich mir einen Überblick über die Schuhe der Assistenten. Jedes Paar passte perfekt zu seinem Besitzer und seinen jeweiligen Marotten. Die von Mr. Worrall waren hellbraun, und er hielt die Füße in den Schuhen äußerst still, die Spitzen zeigten nach innen. Die von Mr. Mitchell hingegen waren das genaue Gegenteil: Seine Schuhe waren bequem eingelaufen, die Zehen malten sich ab, die Fersen hüpften unablässig auf und ab, und verschiedenfarbige Strümpfe rankten sich aus beiden Schuhen empor. Die von Mr. Maling wiederum waren abenteuerlich und nie dort, wo man sie gerade vermutete. Mr. Balk hatte seine unter den Stuhl gezogen, und die von Mr. Sweatman klopften einen unablässigen Rhythmus, der bestimmt irgendeiner Melodie in seinem Kopf folgte. Immer wenn ich unter dem Tisch hervorspähte, lächelte er. Vaters Schuhe waren mir die liebsten, und ich musterte sie stets als letzte. An diesem Tag ruhte einer auf dem anderen, und beide Sohlen waren zu erkennen. Ich hielt inne, um das kleine Loch zu berühren, das gerade anfing, Wasser durchzulassen. Der Schuh wippte, als wollte er eine Fliege verscheuchen. Ich berührte ihn erneut, und da erstarrte er. Ich wartete. Ich wackelte mit dem Finger, nur ein winziges bisschen. Dann fiel der Schuh zur Seite, leblos und auf einmal sehr alt. Der Fuß, der in dem Schuh gesteckt hatte, begann, meinen Arm zu streicheln. Dermaßen unbeholfen, dass ich das Kichern, das mir entweichen wollte, kaum unterdrücken konnte. Ich kniff in den großen Zeh und krabbelte dorthin, wo ich mehr Licht zum Lesen hatte.

Als es dreimal heftig an der Tür des Skriptoriums klopfte, zuckten wir zusammen. Vaters Fuß fand seinen Schuh.

Von meiner Position unter dem Tisch aus sah ich, wie Vater einem kleinen Mann mit dickem blonden Schnurrbart und kaum noch Haaren auf dem Kopf aufmachte. »Crane«, hörte ich den Mann sagen, als Vater ihn hereinführte. »Ich werde bereits erwartet.« Die Kleidung war ihm viel zu groß, und ich fragte mich, ob er auch noch hoffte, hineinzuwachsen. Er war der neue Assistent.

Einige Assistenten kamen nur für wenige Monate, aber manchmal blieben sie auch für immer wie Mr. Sweatman. Er war im Vorjahr dazugestoßen und von allen Männern, die um den Sortiertisch saßen, der einzige ohne Bart. Als Vater Mr. Crane den anderen Männern vorstellte, lächelte Mr. Crane nicht ein einziges Mal.

»Und dieser kleine Taugenichts ist Esme.« Vater half mir auf.

Ich gab ihm die Hand, doch Mr. Crane schlug nicht ein.

»Was macht die denn da unten?«, fragte er.

»Was Kinder unter Tischen eben so treiben«, meinte Mr. Sweatman, und wir lächelten uns an.

Vater beugte sich zu mir. »Gib Dr. Murray Bescheid, dass der neue Assistent eingetroffen ist, Esme.«

Ich rannte durch den Garten in die Küche, und Mrs. Ballard begleitete mich ins Esszimmer.

Dr. Murray saß an einem Ende des großen Tisches, Mrs. Murray am anderen. Dazwischen fanden ihre elf Kinder Platz, auch wenn drei davon bereits »ausgeflogen« waren, wie Lizzie sagte. Der Rest verteilte sich an den Längsseiten, die größeren saßen bei Dr. Murray, die kleineren auf Hochstühlen neben ihrer Mutter. Ich stand stumm daneben, während sie noch das Tischgebet aufsagten. Dann winkten mir Elsie und Rosfrith, und ich winkte zurück. Auf einmal war meine Botschaft nicht mehr so wichtig.

»Unser neuer Assistent?« Dr. Murray, der mich warten sah, schaute mich über seine Brille hinweg an.

Ich nickte, und er stand auf. Die restlichen Murrays begannen zu essen.

Im Skriptorium erklärte Vater Mr. Crane gerade etwas, als dieser sich bei unserem Eintreten umdrehte.

»Dr. Murray, Sir, es ist mir eine Ehre, Ihr Team zu verstärken.« Er gab ihm die Hand, wobei er sich leicht verbeugte.