Die Buchhandlung zum Glück - Susan Wiggs - E-Book
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Die Buchhandlung zum Glück E-Book

Susan Wiggs

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Beschreibung

Eine besondere Buchhandlung, über Familie, das Älterwerden und gerettete Träume

Nach einem schweren Schicksalsschlag ändert sich für Natalie Harper alles. Um für ihren Großvater da zu sein, zieht sie in das kleine Apartment über der Buchhandlung in San Francisco. Am vernünftigsten wäre es, das Geschäft aufzugeben. Doch als Natalie sieht, wie viel die Buchhandlung ihrem Großvater und den Stammkunden bedeutet, übernimmt sie den Laden. Und zwischen den Wänden, an denen noch Schwarz-Weiß-Fotografien hängen, findet Natalie, was sie völlig verloren geglaubt hatte: echte Nähe, Hoffnung und einen ungeahnten Schatz, der Träume wahr machen kann.

»Mit Liebe geschaffen, wartet diese Geschichte nur darauf, im Lieblingssessel gelesen zu werden. […] ein verschachteltes Patchwork aus alten Wunden und Neuanfängen, Liebe und der heilenden Kraft von Freundschaft, umsäumt von einer herrlichen Kleinstadtgemeinde, die ihre eigenen Geheimnisse birgt.« SPIEGEL-Bestsellerautorin Lisa Wingate über »Wie Sterne am Himmel«

»Meisterhaft beschreibt Susan Wiggs die Eigenheiten menschlicher Beziehungen.« SPIEGEL-Bestsellerautorin Jodi Picoult

»Klug, kreativ und genial, hier hat sich Susan Wiggs selbst übertroffen. Ich habe das Buch verschlungen und so schnell umgeblättert, dass ich mich am Papier geschnitten habe.« SPIEGEL-Bestsellerautorin Debbie Macomber über »Dich im Herzen«

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Seitenzahl: 551

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Zum Buch

Die Buchhandlung ihrer Mutter sei ein magischer Ort, sagen die Leute. Und sie meinen den Zauber der besonderen Welt der Worte, in der ihre Mutter stets das richtige Buch zur richtigen Zeit fand. Jetzt will ihr Großvater, dass Natalie das Geschäft übernimmt. Aber kann sie sich auf diese Reise in die Vergangenheit einlassen? Und wird sie es schaffen, den Laden aus den roten Zahlen zu holen? Natalie beherzigt den Rat ihrer Mutter und vertraut auf ihr Gefühl. Denn darin liegt der Schlüssel zu ihrem Glück. »Eine Familiengeschichte zum Wohlfühlen … eine charmante Geschichte über die Silberstreifen am Horizont, die man bei ungeplanten Umwegen sieht.«People Magazin

Zur Autorin

Das Leben der New York Times-Nummer-1-Bestsellerautorin Susan Wiggs dreht sich um drei Dinge: Familie, Freunde und Fiktion. Sie lebt mit ihrem Mann, ihrer Tochter und dem Hund auf einer Insel im nordwestlichen Pazifik. Ihre Romane stehen regelmäßig auf den internationalen Bestsellerlisten, sind in 25 Sprachen übersetzt und werden weltweit millionenfach verkauft. Obwohl sie gerne wandert, fotografiert und Ski fährt, macht sie es sich am liebsten mit einem guten Buch auf der Couch bequem.

Lieferbare Titel

Wie Sterne am Nachthimmel Für immer in meinem Herzen Was mein Herz dir sagen will

HarperCollins®

Copyright © 2021 für die deutschsprachige Ausgabe by HarperCollins in der HarperCollins Germany GmbH, Hamburg

© 2020 by Susan Wiggs Originaltitel: »The Lost and Found Bookshop« Published by arrangement with HarperCollins Publishers L.L.C., New York

Covergestaltung: semper smile Werbeagentur, München Coverabbildung: mauritius images / Jeff Morgan 02 / Alamy, Andrey_Kuzmin, Dmitr1ch / Shutterstock E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN E-Book 9783749950072

www.harpercollins.de

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Widmung

Für die Buchhändler*innen – die Traumlieferant*innen

PROLOG

The Flood Mansion

San Francisco

Bei der Gedenkfeier für ihre Mutter stand Natalie Harper vor der Trauergemeinde und senkte den Blick auf das Rednerpult. Auf der geneigten Platte lag ein Ordner mit der Aufschrift »Hilfen für Trauernde« neben ihren Aufzeichnungen. Der Ratgeber war ein Leitfaden für Trauerarbeit, aber eine Sache wurde darin nicht erwähnt: Wie sollte sie nach dem, was geschehen war, weitermachen?

Natalie hatte die Seiten tagelang mit sich herumgetragen, in der Hoffnung, irgendwie eine Erklärung für das Unerklärbare zu finden, oder einen Weg, das Unaussprechliche auszudrücken. Doch es gab auf der ganzen Welt keinen Leitfaden und keine Rede, welche die unvollendete Erzählung des Lebens ihrer Mutter, die Natalies Trauer durchwirkte, durchdringen konnten. Ein kurzes Stück außerhalb ihrer Reichweite. Die Worte verschwammen ihr in einem Tränenschleier vor den Augen.

Sie versuchte, sich daran zu erinnern, was sie sagen wollte – als könnte sie Blythe Harpers Leben in einer dreiminütigen Ansprache zusammenfassen. Was sagte man bloß beim endgültigen Abschied von der eigenen Mutter? Dass sie in jeder Minute da gewesen war – von dem Moment an, als man den ersten Atemzug getan hatte, bis vor einer Woche, als sie für immer gegangen war. Dass sie wundervoll gewesen war und bereichernd. Geistreich, aber oft tollkühn. Eigen und anstrengend. Kompliziert und beliebt. Dass sie alles gewesen war – Mutter, Tochter, Freundin, Buchhändlerin und Traumlieferantin.

Und dass Blythe Harper in dem Moment, als Natalie sie am meisten gebraucht hatte, vom Himmel gefallen war.

TEIL EINS

1

Archangel, Sonoma County, Kalifornien

Eine Woche zuvor

Es war ein großer Moment für Natalie. Der Höhepunkt ihrer beruflichen Laufbahn, so viel stand fest. Die gesamte Firma hatte sich in der Empfangshalle von Pinnacle Fine Wines versammelt, um ihre Beförderung und den Millionen-Dollar-Deal zu feiern, den sie für das Unternehmen an Land gezogen hatte. Aber ihre eigene Mutter glänzte durch Abwesenheit.

Wie immer.

Fairerweise musste sie sagen, dass die Fahrt von der Innenstadt nach Archangel zur Nachmittagszeit äußerst langwierig und unvorhersehbar sein konnte. Es war aber genauso gut möglich, dass Blythe Harper ihr Versprechen, an der Feier zu Ehren ihrer Tochter teilzunehmen, vollkommen vergessen hatte.

Natalie setzte ein Lächeln auf und strich ihren Blazer glatt. Es war ein maßgeschneidertes, elegantes Kleidungsstück, das sie über der Schluppenbluse aus Seide trug, die sie sich extra für diesen Anlass gegönnt hatte. Gleichzeitig verfolgte sie mit den Blicken den Firmeninhaber Rupert Carnaby, der sich den Weg zu dem Podium auf der kleinen Bühne bahnte und dabei gelegentlich stehen blieb, um Mitarbeiter zu begrüßen. Dann sah sie zur Tür. Ein Teil von ihr hoffte, ihre Mom käme gleich doch noch in letzter Minute hereingestürzt.

Der andere Teil wusste es besser.

Natalie erinnerte sich daran, dass sie eine erwachsene Frau war und kein Kind, das ihre Mutter bei einer Schulaufführung an seiner Seite brauchte. Nicht dass Blythe bei einer derartigen Veranstaltung jemals dabei gewesen wäre.

Wenn Natalie auch nicht gezielt Protokoll darüber führte, so wusste sie doch, dass ihre Mutter vieles verpasst hatte, was im Leben eines Kindes einen Meilenstein darstellte – von ihrer Aufnahmezeremonie bei den Pfadfindern über die California-Mathletics-Meisterschaft bis zu ihrem College-Abschluss. Und immer gab es einen Grund: Sie konnte nicht aus dem Laden weg, ein Vertreter hatte sich angekündigt, niemand wollte ihr ein Auto leihen, sie hatte eine Veranstaltung mit einem VIP-Autor – alles gute Gründe, bei denen Natalie sich kleinkariert vorgekommen wäre, hätte sie sich trotzdem beschwert.

Ist doch egal, dachte Natalie und verlagerte das Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Diese Pumps waren zwar schick und nicht zu hoch, aber verdammt unbequem. Alles ist gut. Ihre Mom hatte eine Ausrede, und Natalie begnügte sich damit. So lief es immer. Und fairerweise musste sie zugeben, dass ihre Mutter – die Natalie allein großgezogen hatte – sich tatsächlich nur selten aus dem Buchladen loseisen konnte. Sie führte ihn seit dreißig Jahren so gut wie allein und hatte nur zwei freie Mitarbeiter, die ihr zur Seite standen.

Mandy McDowell, Natalies Mitarbeiterin aus der Logistik, schlenderte mit einem Glas Wein in der Hand an ihr vorbei, während sie einen Kollegen mit einer der vielen Anekdoten über ihre reizenden, aber ungezogenen Kinder beglückte.

Zu spät bemerkte Natalie, dass Mandy nicht darauf achtete, wohin sie ging. Natalie wich nicht rechtzeitig aus, und der Inhalt von Mandys Weinglas ergoss sich über ihre Bluse.

»Oh nein, Natalie!«, rief Mandy mit aufgerissenen Augen. »Ich habe dich gar nicht gesehen. So ein Mist. Es tut mir total leid!«

Natalie zog sich die weiße Seidenbluse mit spitzen Fingern vom Körper weg. »Super«, murmelte sie, griff nach einer Serviette und tupfte den Rotweinfleck ab.

»Mineralwasserrettung naht.« Mandys Freundin Cheryl eilte mit einer Serviette und einer Flasche bewaffnet herbei. »Komm, ich helfe dir.«

Während Natalie die Bluse von ihrem ebenfalls besudelten BH weghielt, bearbeiteten Mandy und Cheryl den großen Fleck. »Ich bin so ein Tollpatsch«, sagte Mandy. »Kannst du mir jemals verzeihen? Obwohl: Nein – das sollst du gar nicht. Und ausgerechnet heute, wo du doch gleich ans Rednerpult musst …«

»War ja keine Absicht«, versuchte Natalie sie zu beruhigen. Auch um die Situation nicht unnötig aufzubauschen.

»Versprich mir, dass ich die Reinigungskosten übernehmen darf«, fuhr Mandy fort. »Und wenn der Fleck nicht rausgeht, kaufe ich dir eine neue Bluse.«

»Na schön«, sagte Natalie. Sie wusste, dass ihre Mitarbeiterin ihr Versprechen nicht halten würde. Mandy war alleinerziehend und chronisch pleite. Sie bemühte sich redlich, ihre Ausgaben im Blick zu behalten. Aber ihren falschen Wimpern und den künstlichen Fingernägeln nach zu urteilen, sparte sie nicht gerade an Beauty-Produkten. Sie war einfach immer knapp bei Kasse.

Urteile nicht, ermahnte Natalie sich. Jeder hat seine Gründe.

Mandy sah sie aus großen Kulleraugen mitfühlend an. »Sag mal, wollte deine Mom nicht auch kommen?«

Natalie biss für einen kurzen Moment die Zähne aufeinander. »Ja. Keine Ahnung, was da los ist. Vielleicht der Verkehr. Oder irgendwas im Buchladen. Sie kommt da oft schlecht weg.«

»Hast du ihr denn gesagt, dass diese Party nur deinetwegen steigt?«

»Das weiß sie«, murmelte Natalie. Mandy meinte es aufrichtig gut, aber ihre Fragen waren nicht besonders hilfreich.

»Und was ist mit Rick? Will dein Freund an deinem großen Tag nicht dabei sein?«

»Er hat einen Testflug, den er nicht verschieben konnte«, erwiderte Natalie.

»Ach, wie schade. Der macht bei Aviation Innovation bestimmt Karriere. Als ich noch mit ihm zusammen war, hatte er immer Zeit, wenn bei mir etwas Wichtiges anstand.« Mandy und Rick waren ein Paar gewesen, bevor Natalie nach Archangel gezogen war. Und sie waren immer noch Freunde, was Mandy mit nervtötender Regelmäßigkeit anmerkte. Jetzt zog sie ihr Telefon aus der Tasche. »Ich sende ihm mal ein Bild, damit er weiß, was er verpasst.«

Ohne zu fragen, schoss Mandy ein wenig schmeichelhaftes Foto von Natalie, die mit offenem Mund vor ihr stand, und schickte es ab, ehe Natalie es verhindern konnte.

Danke, dachte sie. Und dann: Es ist kein großer Tag. Es ist nur ein Job. Sie beobachtete ihre Arbeitskollegen, die Kanapees aßen und an der offenen Bar ihre Weingläser neu auffüllten. Keine Gipfelerfahrung des Lebens.

In diesem Augenblick wurde ein Glas mit einem Messer zum Klingen gebracht, und die Aufmerksamkeit aller richtete sich auf das Podium.

»Einen guten Nachmittag zusammen«, sagte Rupert, beugte sich vor zum Mikrofon und bedachte die Menge mit dem für ihn so typischen jungenhaften Lächeln. »Und mit ›gut‹ meine ich ›großartig‹. Und mit ›Nachmittag‹ meine ich ›Happy Hour‹.«

Gedämpftes Lachen ging durch die Reihen. »Ich will heute ein wenig mit Ihnen feiern. Natalie Harper muss ich wohl niemandem mehr vorstellen. Sie alle kennen sie bereits. Aber ich möchte gerne ein paar Worte sagen. Natalie!« Rupert machte eine einladende Geste. »Kommen Sie doch hoch zu mir.«

Natalie spürte, wie sie errötete, als sie ihren Blazer zuknöpfte – wohl wissend, dass der Weinfleck oberhalb des Revers dennoch zu sehen war. Ihre Brust fühlte sich feucht an, und sie roch intensiv nach reifem Zinfandel.

»Einen kurzen Moment, wenn Sie erlauben«, begann Rupert. Er erzählte gerne und ausschweifend von der Geschichte des Weinhandels seiner Familie. »Als meine Großmutter Clothilde mir die Leitung von Pinnacle übergab, sagte sie: ›Jetzt hast du einen Auftrag.‹« Während er sprach, imitierte er den französischen Akzent seiner Großmutter. »›Den Wein in die Welt zu tragen – und zwar hervorragenden.‹ Und das schafft man nur mit hervorragenden Mitarbeitern.« Er trat zur Seite und bat Natalie mit einer Geste auf die Bühne. »Meine Freunde, Natalie Harper hat hervorragende Arbeit geleistet. Deshalb ist sie ab heute unsere neue stellvertretende Leiterin der Abteilung Digitales Bestandsmanagement.«

Ein schmetternder Applaus begleitete sie zum Rednerpult. Rupert strahlte mit seinen überkronten Zähnen um die Wette. In einem winzig kleinen Winkel ihres Kopfes glaubte Natalie, er wusste, dass sie ihn über Wasser hielt, wenn er Zulieferern und Kunden die Hände schüttelte und während der Arbeitszeit Golf spielte. Vermutlich war das der wahre Grund für diese Beförderung.

»Vielen Dank«, sagte sie verlegen. Sie war es einfach nicht gewohnt, im Rampenlicht zu stehen. Laut ausgesprochen klang die neue Position dämlich oder vielleicht sogar irgendwie erfunden. Das lag wohl in der Natur ihres Tätigkeitsfeldes, wie sie annahm. Sie hatte diesen Beruf gewählt, weil er Zukunft hatte. Jemand, der sich mit IT und Logistik auskannte, würde immer einen Job finden.

Bestandsverwalter zu sein, war etwas anderes als Diplomat, Tiefseetaucher, Winzer oder Buchhändler – Berufe, die den Menschen womöglich Freude bereiteten. »Ich bin dankbar für diese Gelegenheit«, fuhr sie fort, »und ich freue mich auf das, was wir erreichen können.«

In Wahrheit konnte sie den Job selbst nicht leiden, aber darum ging es hier nicht. Es ging ihr um eine stabile Berufslaufbahn, in der ihr nichts passieren konnte.

»Noch eine Geschichte«, sagte Rupert, zwinkerte Natalie zu und übernahm das Mikrofon. »Vor einiger Zeit kam diese junge Lady zu mir und bewarb sich um eine Stelle in unserer Firma. Und in meiner unendlichen Weisheit stellte ich sie augenblicklich ein.« Er machte eine Pause. »Jetzt sehen Sie sich sie an: Sie hat einen sanften Hundeblick, den Instinkt eines Barrakudas und vermutlich mehr Grips als wir alle zusammen. Was sie aus unserem Warenwirtschaftssystem gemacht hat, kommt einem Wunder gleich. Dank Natalie hat Pinnacle das umsatzstärkste Jahr aller Zeiten erlebt.« Er lachte. »Okay, schon gut, ich sehe, dass ich Sie langweile. Deshalb schließe ich meine kleine Ansprache mit einer letzten Anmerkung. Die einzige Tochter von Gouverneur Clement heiratet den Eigentümer von Cast Iron.« Cast Iron, eine Gruppe von wahnsinnig beliebten Luxusrestaurants, war von einem wahnsinnig beliebten Internetstar gegründet worden. Mit seinen kreativen Gerichten und ausgezeichneten Weinen eroberte er die Gourmetwelt im Sturm. »Wie Sie sich vorstellen können, wird das in unserem schönen Staat die Hochzeit des Jahres.« Wieder eine Pause. »Was das mit uns zu tun hat, wollen Sie wissen? Ich lasse Natalie erklären.«

Als er ihr das Mikrofon überreichte, stieg ihr für einen Augenblick ihr eigener Geruch in die Nase. Halb getrockneter Wein und Schweiß. Wie nett. »Ich versuche es kurz zu machen. Pinnacle Wines hat die exklusive Zusage bekommen, Bitsy Clements’ Hochzeitsfeier mit Wein zu beliefern. Und anschließend werden wir der Exklusivlieferant für Cast Iron sein.«

Ihre Worte konnten nicht mal annähernd vermitteln, wie kompliziert und langwierig die Verhandlungen gewesen waren. Natalie hatte ihr Team bis an die Grenzen getrieben, um ein perfektes Angebot auszuarbeiten. Nun war der Multi-Millionen-Dollar-Deal so gut wie unter Dach und Fach.

Nur noch ein Detail fehlte – der Bräutigam wollte unbedingt einen bestimmten seltenen Elsässer Weißwein auf seiner Hochzeit trinken, der noch pünktlich geliefert werden musste. Sobald das Eintreffen der Lieferung bestätigt war, würden die Verträge unterzeichnet. »Ich möchte meinem Team danken – Mandy, Cheryl, Dave und Lana. Sie haben mich bei diesem Projekt nach Kräften unterstützt.« Das ist eine blanke Lüge, gestand sie sich im Stillen ein. Das Team war eine einzige Belastung gewesen und hatte ihr permanente Wachsamkeit abverlangt.

»Und nun: Lassen Sie uns anstoßen!«, rief Rupert, ergriff wieder das Mikrofon und knipste seinen Charme an. Er hatte sich in dem gesamten Prozess ebenfalls als Herausforderung erwiesen. Auch wenn er gute Absichten hegte, fehlte ihm der nötige unternehmerische Scharfsinn, um einen anspruchsvollen Deal einzutüten. Dennoch war er so frei, die Lorbeeren einzuheimsen, und so anständig, Natalie mit einer höheren Position zu bedenken.

Gläser wurden erhoben. Sie blickte sich im Raum um, in dem die Anwesenden sich unterhielten und lachten und den Ausblick aus den oberen Büroräumen genossen.

Die Beförderung brachte auch ein neues Büro mit sich, in angenehmer Entfernung von dem Großraumbüro mit den vielen Trennwänden, in dem die Bestandsabteilung untergebracht war. Von nun an hatte Natalie ein Eckchen ganz für sich allein. Sie hätte es gerne ihrer Mutter gezeigt – das bodentiefe Fenster mit einem traumhaften Blick auf die hügelige Landschaft von Sonoma. Ihren Rückzugsort ohne das ständige, unproduktive Geschnatter ihrer Kollegen.

Rupert gab noch mehr charmante Scherze über die bevorstehende Eheschließung zum Besten, die schon jetzt voll übertriebener Begeisterung mit einer königlichen Hochzeit verglichen wurde. Natalie verließ die Bühne und holte ihr Telefon heraus. Auf dem Bildschirm leuchtete ihre Affirmation des Tages auf: Ich vertraue darauf, auf dem rechten Weg zu sein.

Sie wischte die Worte weg und drückte auf Wahlwiederholung, doch wie erwartet antwortete nur die Mailbox ihrer Mutter: Hier ist der Anschluss von Blythe Harper vom Lost and Found Bookshop im Herzen von San Franciscos historischer Altstadt. Hinterlassen Sie mir eine Nachricht. Oder noch besser: Besuchen Sie mich in meiner Buchhandlung!

Natalie hinterließ keine Nachricht. Ihre Mutter hörte die Mailbox nur selten ab. Stattdessen schrieb Natalie ihr eine Mitteilung. Du hast nicht viel verpasst. Außer dass mir jemand Rotwein über die Bluse geschüttet hat und ich am Mikrofon total verstockt war.

Dann sah sie, dass sie selbst eine Nachricht auf der Mailbox hatte, und stahl sich aus dem Raum. Es würde sie ohnehin niemand vermissen. Sie war schon immer jemand gewesen, der unter dem Radar blieb. Natalie ging den Flur entlang zu ihrem neuen Büro. Die meisten ihrer Habseligkeiten befanden sich in den Kartons, die überall herumstanden. Sie hatte gehofft, ihre Mutter würde ihr beim Einrichten des neuen Raums helfen, wenn sie schon mal hier war. Nun trat sie ans Fenster, machte ein Foto von der eindrucksvollen Aussicht und schickte es ihrer Mutter. Live ist es noch schöner, schrieb sie.

Die Voicemail war von Rick. Während sie die Mitteilung abhörte, krümmte sie sich innerlich leicht zusammen. Hey, Babe, tut mir leid, dass ich deinen großen Tag verpasse, hörte sie seine tiefe, freundliche Stimme. Ich konnte diesen Testflug einfach nicht verschieben. Freu mich aufs Wochenende. Lieb dich.

Tat er das? Liebte er sie? Liebte sie ihn?

Ein Teil von Natalie wollte nicht über die Antwort nachdenken, aber wenn sie ganz ehrlich zu sich war, musste sie zugeben, dass der Funke zwischen ihnen schon vor einer Weile erloschen war.

Oberflächlich betrachtet waren sie und Rick das perfekte Paar – eine ambitionierte leitende Angestellte im Weinhandel und ein viel beschäftigter Flugzeugingenieur und Pilot. Er war attraktiv und kam aus gutem Hause. Dennoch lag unter dieser Oberfläche ein Hauch von Vorhersehbarkeit. Manchmal fragte sie sich, ob sie beide nur noch aus Bequemlichkeit zusammen waren. Wenn bequem gleichbedeutend war mit einer fantasielosen, langweiligen Beziehung.

Möglicherweise warteten sie beide darauf, dass der jeweils andere es beendete.

Der einer Türklingel ähnliche Hinweiston einer eingehenden E-Mail riss sie aus ihren Gedanken. Wahrscheinlich eine berufliche Angelegenheit, die bis Montag Zeit hatte, aber es gelang ihr einfach nicht, nicht nachzusehen. Und dann gelang es ihr nicht, nicht die fett gedruckte Betreffzeile zu sehen, bei der ihr fast das Herz stehen blieb: Dringend: Frist für Lizenzvergabe versäumt!

Was zur Hölle?

Mit weichen Knien sank sie auf ihren ergonomisch geformten Bürostuhl und spürte, wie ihr die Farbe aus dem Gesicht wich. Die Mail kam von Gouverneur Clements’ Büro. Ms. Harper, leider muss ich Ihnen mitteilen, dass die von der Steuerbehörde angesetzte Frist für die Lizenzvergabe versäumt wurde und die Vereinbarung somit aufgehoben wird. Dies erfolgt gemäß …

In Natalies Brust braute sich ein stummer Schrei zusammen. Das Versäumen einer wichtigen Frist brachte den gesamten Vertragsabschluss in Gefahr. Wie hatte das passieren können?

Tief in ihr wusste sie es. Mandy war dafür verantwortlich gewesen, die Unterlagen einzureichen. Natalie hatte ihr wieder und wieder eingeschärft, dass die Deadline essenziell wichtig war. Mandy hatte wieder und wieder behauptet, alles unter Kontrolle zu haben. Natalie hatte dennoch alles doppelt überprüft.

Aber eben nicht dreifach.

Sie hielt mit aller Kraft die Panik zurück, während sie eine Nummer ins Telefon eingab. Sie hatte so hart dafür gearbeitet, diesen Deal abzuschließen. Hatte mit der Konkurrenz erbittert um die Belieferung der Hochzeitsfeier und die Lizenzvergabe gekämpft.

Wenn das Geschäft nun platzte, müsste Natalie überlegen, wie es mit Mandy weitergehen sollte. Die Frau machte einen Fehler nach dem anderen, und normalerweise deckte Natalie sie. Mandy war Everybody’s Darling. Die süße Kleine. Sie war hinreißend, lustig, charmant, beliebt.

Natalie zerquetschte das Telefon beinahe in der Hand, als sie das Büro des Obersten Rechnungsprüfers und den Bezirksleiter kontaktierte. Nun hatte es doch etwas Gutes, dass ihre Mutter und Rick nicht gekommen waren. Es wäre für niemanden besonders amüsant gewesen, sie bei ihren Bemühungen, den Fehler ihrer Kollegin auszubügeln, zu beobachten.

Eine angespannte Stunde später hatte Natalie die Situation gerettet. Sie war schweiß- und weingebadet und zitterte am ganzen Leib, als sie auf die Toilette ging. Irgendwie war es ihr gelungen, Mandy den Hintern zu retten – wieder einmal. Sie war zu Kreuze gekrochen und hatte einen zusätzlichen Rabatt von 10.000 Dollar gewährt – der selbstverständlich von Natalies Bonuszahlung abgezogen würde.

Sie musste sich zwar nicht übergeben, aber sie würgte. Natalie entledigte sich ihres Blazers und der Bluse. Beide waren gleichermaßen ruiniert. Da sie die Bluse nicht eine Sekunde länger am Körper tragen mochte, stopfte sie sie in den Mülleimer. Dann knöpfte sie den Blazer über ihrem weinbefleckten BH zu.

Sie wollte gerade die Kabine verlassen, als sie die Tür aufschwingen hörte.

»… ihr Gesicht gesehen, als Rupert immer weitergeredet hat?« Die Stimme gehörte zu der Person, die gerade den Vorraum der Toiletten betrat. Mandy.

Natalie erstarrte. Beinahe hörte sie auf zu atmen.

»Ja«, sagte eine zweite Frau. Mandys Freundin Cheryl. »Die guckt doch immer so verkniffen. Zum Glück müssen wir uns das jetzt nicht mehr jeden Tag reinziehen.«

»Du sagst es.« Mandy kicherte. »Ihre sogenannte Beförderung ist das Beste, was uns passieren konnte.«

»Meinst du?«

»Das hübsche Büro in der Ecke? Die Personalabteilung hat sie extra dorthin gesetzt, damit niemand ihr permanentes Genörgel hören muss. Weg aus unserem Blickfeld. Ihre Interaktionen werden sich künftig nur noch auf Kalkulationstabellen beschränken. Perfekt. Ich habe mich persönlich bei Rupert dafür bedankt, dass er sie aus dem Großraumbüro genommen hat. Süße Freiheit!«

Natalie hörte ein spöttisches Lachen und das Geräusch von zwei Händen, die einander abklatschten.

»Darauf und auf die Befreiung von toxischen Chefs.«

Während die Frauen in die anderen Kabinen gingen, fing eine von ihnen an zu summen: »Ding Dong, die Hex’ ist tot.«

Jetzt hatte Natalie wirklich das Bedürfnis, sich zu übergeben. Doch stattdessen schlüpfte sie lautlos aus dem Raum und betete, dass die beiden Frauen nichts von ihrer heimlichen Zuhörerin wussten.

2

Eine Dusche und frische Sachen halfen ein bisschen, aber Natalie war von dem, was sie unfreiwillig mit angehört hatte, noch immer verstört. Verstört, aber trotzdem irgendwie nicht überrascht. Sie würde niemals leugnen, dass sie gewissenhaft war. Ordentlich. Anspruchsvoll – sich und anderen gegenüber.

Und wenn sie sich in ihrer bescheidenen Wohnung so umsah, erkannte sie einen gewissen Hang zur Reinlichkeit.

Aber machte sie das zu einem furchtbaren Menschen?

Sie fuhr sich mit den Fingern durch die dunklen, lockigen Haare, die vermutlich das einzig Unordentliche an ihr waren, und dachte über ihr stets sauberes, abbezahltes Hybrid-Auto nach. Über ihr aufgeräumtes Zuhause, ihr sicheres kleines Leben … und – flüsterte eine kaum hörbare Stimme in ihr – die Leere.

Sie wusste nicht, womit sie diese Leere füllen sollte. Sie hatte sich das Zuhause geschaffen, das ihr als Kind gefehlt hatte – berechenbar, überschaubar und sauber. Die Wohnung war zwar hübsch, doch es mangelte ihr an etwas Wesentlichem, was Natalie nicht genau benennen konnte. Sie befand sich in einem pinkfarbenen Altbau und war so klein und süß wie ein Cupcake. Die Wohnung war zwar nicht üppig, aber recht gemütlich eingerichtet mit bequemen Sesseln, mit Büchern vollgestopften Regalen und einem weichen Bett, in dem es sich gemütlich lesen ließ.

Eigentlich passte die Wohnung zu ihr. Eigentlich hätte es sich wie ein Zuhause anfühlen müssen, wie der Ort, an den sie gehörte. Doch trotz des idyllischen Flairs der Stadt, die von Weinbergen und Apfelplantagen umgeben war, verspürte sie diese gähnende Leere. Es fühlte sich eben nicht wie ihr Zuhause an.

Ihre Arbeit war da gewiss auch keine Hilfe, auch wenn ihr Engagement für Pinnacle etwas anderes vermuten ließ. An den meisten Tagen war ihr Job eine einzige Schufterei. Sie hatte irgendwann angefangen, ihn zu hassen. In Kombination mit dem deprimierenden Gedanken, dass sie und Rick beziehungstechnisch auf das Ende zusteuerten, führte diese Erkenntnis dazu, dass eine neue Welle der Übelkeit sie überkam.

Hör auf, ermahnte sie sich selbst. Die Beförderung hatte eine saftige Erhöhung ihres Gehalts und firmeninternen Marktwerts mit sich gebracht. Wenn sie so weitermachte, hätte sie ausgesorgt. Früher im Buchladen – als Kind mit einer flatterhaften Mutter – hatte ihr dieses Gefühl von Sicherheit und Kontinuität gefehlt.

Meistens war das Grund genug, an ihrem Job bei Pinnacle festzuhalten.

Während sie gegen die Übelkeit ankämpfte, zog sie sich eine weit geschnittene Hose, ein gestreiftes Jerseytop und Canvas-Sneakers an. In dem Versuch, das beunruhigende Gefühl abzuschütteln, das sie erfüllte, sah sie auf ihr Telefon. Ihre Mom hatte noch immer nicht auf ihre Nachricht geantwortet. Und Rick schien sich noch immer in der Luft zu befinden.

Dafür hatte sie eine Mitteilung von ihrer Freundin Tess, die sie zu sich einlud. Ein Sonnenstrahl an einem ansonsten beschissenen Tag.

Sie sprang in ihr kleines Hybridauto und fuhr zu Tess’ Wohnung. Unterwegs hielt sie an einem Straßenstand vor einem Haus, um ein Glas Honig zu kaufen. Jamie Westfall, der der Stand gehörte, war Imkerin und erst vor wenigen Jahren in die Gegend gezogen – allein und schwanger. Inzwischen war sie nicht mehr allein. Jetzt hatte sie einen kleinen Jungen namens Ollie.

Als Natalie sich ein Glas mit einem RETTETDIEBIENEN-Label ausgesucht und fünf Dollar in die Büchse gesteckt hatte, stand Ollie plötzlich neben ihr. »Hallo, Miss Natalie«, sagte er.

»Selber hallo. Wie geht’s?«

Ein Schulterzucken. Er war auf goldige Art verlegen. »Ich soll meiner Mom was vorlesen. Hausaufgabe.«

»Und? Wie läuft es?«

Noch ein Schulterzucken. Seine Mutter kam auf die Terrasse. Sie war zierlich und trug eine Latzhose und eine bestickte Bauernbluse. »Er kann gut lesen, aber er ist superwählerisch. Das letzte Buch, das Sie uns mitgebracht haben, fand er toll. One Family.«

»Freut mich, dass es dir gefallen hat. Ich wünschte, das Buch hätte es schon gegeben, als ich so alt war wie du, Ollie. Unsere Familie – das waren nur ich, meine Mom und mein Opa. Ich glaube, es hätte mich sehr glücklich gemacht, von all den unterschiedlichen Familien zu lesen, die es gibt. Nicht nur Familien, die aus Mom, Dad, Kindern und einem Hund bestehen.« Sie zählte die Mitglieder einer typischen Bilderbuchfamilie an den Fingern ab.

Er zupfte an seiner Unterlippe. »Ich lese gerne Geschichten mit Hunden.«

»Beim nächsten Mal bringe ich dir ein neues Buch mit. Das ist richtig gut und heißt Smells Like a Dog. Habe ich dir schon mal erzählt, dass meine Mom einen Buchladen hat? Früher habe ich dort gearbeitet, und das hat mir eine Superkraft verliehen: Ich kann für jedes Kind genau das richtige Buch auswählen.«

»Und wieso arbeitest du da jetzt nicht mehr?«, fragte Ollie.

»Nach dem heutigen Tag frage ich mich das auch«, entgegnete Natalie. »Ich bin auf dem Weg zu Tess. Ich brauche dringend einen Tee und etwas Mitgefühl.«

»Ich mag keinen Tee«, sagte Ollie. »Wie schmeckt denn Mitgefühl?«

Natalie lachte und zauste ihm die Haare. Dann stieg sie wieder ins Auto. »Wie geschmolzener Mäusespeck mit Schokosoße.«

»Vielleicht gibt es das heute Abend bei uns zum Nachtisch«, sagte Jamie. Sie standen nebeneinander auf der Veranda und winkten zum Abschied.

Während sie Jamie und ihren Sohn betrachtete, fiel Natalie auf, wie glücklich die zwei wirkten. Hin und wieder dachte sie über eigene Kinder nach und verspürte ein sehnsüchtiges Ziehen. Alles zu seiner Zeit, sagte sie sich.

Sie und Rick hatten mal über Kinder gesprochen. Korrektur: Rick hatte über Kinder gesprochen. Sie hatte zugehört. Und gezweifelt. Danach hatten sie das Thema umschifft.

Auf dem Weg zu Tess stiegen Zweifel in ihr auf. War Tess überhaupt ihre Freundin, oder hatte sie Natalie wie eine streunende Katze aufgenommen? Nach dem, was sie im Büro zufällig mitbekommen hatte, war Natalie sich nicht mehr so sicher. Sie war sich in keiner Hinsicht mehr sicher.

Bei den Schildern Richtung Rossi Vineyards und Angel Creek Winery bog sie ab und folgte der langen Schotterstraße. Genau wie Natalie war auch Tess Delaney Rossi nur bei ihrer Mutter aufgewachsen und hatte vor ihrem Umzug nach Archangel in San Francisco gelebt. Aber im Gegensatz zu Natalie war Tess der Liebe und nicht der Karriere wegen in die kleine Stadt gezogen.

Natalie parkte vor dem rustikalen Bauernhaus, in dem Tess mit ihrem Ehemann, Kindern, Stiefkindern und zwei einstigen Straßenhunden lebte – einem in die Jahre gekommenen, stupsnasigen Italian Greyhound und einem bulligen Mischlingshund, der, soweit man wusste, halb Akita, halb Bernhardiner war. Die Hunde fläzten sich mitten auf dem Weg zwischen Auffahrt und Haus.

Tess kam heraus, um sie zu begrüßen. Sie hatte die roten Haare mit einem Schal zurückgebunden und trug eine mit Weintraubenflecken übersäte Latzschürze über ihren Klamotten.

»Hey, Nat!«, rief sie. »Ich dachte mir, wir könnten den Tag gemütlich gemeinsam ausklingen lassen.«

»Klingt himmlisch. Danke.«

»Dominic und die Kinder sind alle hinten. Große Traubenlese auf unserem kleinen Weinberg.« Mit einer Geste wies Tess den Weg zu einer sonnigen Stelle neben einem großen Schuppen. Das Ernteteam lud gerade die Kisten mit frisch geernteten Trauben ab und kippte sie auf den langen Sortiertisch aus Edelstahl. An einem Ende vibrierte der Tisch und sortierte so unreife oder verdorbene Trauben aus. Auf der gegenüberliegenden Seite wurden die Früchte auf einem Förderband transportiert, um entstielt zu werden.

Die Familie versammelte sich um den Tisch, verlas die Trauben zusätzlich per Hand, lachte und redete, während der Saft überall Flecken hinterließ.

Natalie ließ den Anblick der Kinder und herumlaufenden Hunde auf sich wirken. Tess’ pfeifender Ehemann, die älteren Kinder, die Dominic mit geübten Handgriffen halfen. Alles wirkte so normal. Eine Familie, der das Beisammensein Freude machte.

»Hallo zusammen«, sagte sie.

»Hallo, Natalie«, erwiderte Dominic. »Willkommen zum Freitagabend auf Angel Creek.«

Dominic Rossi war die Sorte Ehemann, die den Ruf von Ehemännern aufpolierte. Der Typ Mann, für den die Beschreibung groß, dunkelhaarig und gut aussehend gemacht worden war. Der Typ Mann, der Humor, Wärme und eine Wir-schaffen-das-Haltung ausstrahlte. Früher war er Präsident der Bank von Archangel gewesen, doch seine Leidenschaft war der Wein.

Und offensichtlich Kinder machen mit seiner hübschen Frau. Natalie blickte verstohlen auf Tess’ Schürze. Von der Seite war der Bauch unmöglich zu übersehen. »Bist du wieder schwanger?«, fragte sie leise.

Tess antwortete, indem sie erst errötete und dann zu strahlen begann.

»Sie hat mir eine Schwester versprochen«, sagte Trini. Dominics Tochter, die mittlerweile zur Highschool ging, warf ihrem Bruder Antonio einen Blick zu. Der hatte sich vom Tisch entfernt und spielte mit Tess’ beiden Söhnen, indem er sie mit seinen traubenverschmierten Händen jagte. Die kleinen Jungs mit den Spitznamen Nummer Eins und Nummer Zwei reagierten mit vergnügtem Kreischen.

»Wie schön«, sagte Natalie. »Herzlichen Glückwünsch.«

Bei den Rossis sah die Sache mit der Patchworkfamilie so einfach aus. Eine Illusion, wie Tess ihr versichert hatte. Natalie wusste, dass es nicht immer einfach war mit Dominics Kindern aus erster Ehe und den zweien, die er und Tess miteinander in die Welt gesetzt hatten. Aber man konnte nicht leugnen, dass sie in Momenten wie diesem einen glücklichen und sorglosen Eindruck machten. Und es war unmöglich, den Unterton der Leidenschaft zwischen Dominic und Tess nicht wahrzunehmen.

»Es heißt ja: Aller guten Dinge sind drei«, sagte Trini. »Wieso eigentlich?«

»Gute Frage«, meinte Natalie. »Und soll das bedeuten, dass die ersten zwei nicht gut sind? Kann ich mir kaum vorstellen, wenn ich mir diese kleinen Kerlchen so ansehe.«

Während sie sprach, warf Nummer Eins seinem Bruder eine Handvoll aussortiertes Traubenfruchtfleisch an den Kopf. Der Jüngere heulte wütend auf.

Dominics Schwester Gina wischte sich die Hände ab. »Ich mach schon, Tess.«

»Danke.« Tess setzte sich auf einen Schemel und sah Natalie an. »Sag mal … wo steckt denn Rick heute Abend?«

»Weiß nicht genau. Er hatte am späten Nachmittag einen Testflug.«

»Du siehst aus, als läge ein harter Tag hinter dir«, sagte Tess.

Natalie gab sich keine Mühe, es abzustreiten. »Ich wurde befördert …«

»Hey, das ist ja toll.« Irgendetwas hatte wohl in Natalies Gesicht aufgeblitzt, denn Tess fügte hinzu: »Oder nicht?«

»Zunächst habe ich mich auch gefreut. Die Firma hat sogar eine kleine Feier organisiert, weil ich einen wichtigen Auftrag an Land gezogen habe. Mein Mom wollte eigentlich auch kommen, aber sie ist nicht aufgetaucht. Was vermutlich gut war, weil sich irgendwann herausstellte, dass ich nur befördert wurde, damit man mich in ein Einzelbüro stecken kann, sodass niemand mehr mit mir direkt zusammenarbeiten muss.«

»Was?« Tess’ Hände flogen professionell durch die Trauben. »Versteh ich nicht.«

Natalie seufzte und blickte zu Boden. »Ich bin eine toxische Chefin.«

»Auf keinen Fall. Du bist eine meiner liebsten Freundinnen.«

»Du musst ja auch nicht mit mir arbeiten. Anscheinend bin ich ein Albtraum. Erbsenzählerin, Kontrollfreak, dämliche Kuh. Der Unterhaltung zufolge, die ich auf der Toilette mit angehört habe, gehöre ich in alle drei Kategorien.«

»Ach, Natalie. Das klingt so überhaupt nicht nach dir. Wenn du mich fragst, liegt das Problem nicht bei dir, sondern bei deinen Kolleginnen. Jemand, der so was sagt wie die beiden, ist ganz objektiv betrachtet furchtbar. Es tut mir leid, dass du dir so was anhören musstest, und ich will, dass du weißt, dass es nicht stimmt.«

»Danke. Wahrscheinlich hast du recht, aber es tat trotzdem weh. Ehrlich gesagt bin ich froh, dass ich jetzt in einem Büro sitze, in dem mein einziger Kollege ein Flachbildschirm ist.« Natalie seufzte. »Meine Kollegen können mich nicht leiden.«

»Aber wir auf dem Weingut Angel Creek lieben dich. Also kremple die Ärmel hoch und hilf mit.« Tess warf ihr eine Gummischürze zu.

»Du zwingst mich zur Arbeit?«

»Zu dieser Jahreszeit arbeiten alle.«

»Ich bin toxisch, schon vergessen?« Sie band sich tapfer die Schürze um.

»Sag deinen gepflegten Händen Auf Wiedersehen«, sagte Tess. »Die nächste Maniküre geht auf mich.«

Natalie hatte immer makellos manikürte Hände. Sie empfand das als Teil ihres Businessoutfits. Auch wenn das jetzt keinen Unterschied mehr machte, würde doch kaum noch jemand sie zu Gesicht bekommen. Entschlossen begann sie mit dem Entstielen, und sogleich nahmen ihre Finger die tiefviolette Farbe der Zinfandeltrauben an.

Eine Weile arbeiteten sie alle Seite an Seite. Die monotone Aufgabe und das Geplapper von Tess’ Familie halfen ein wenig, dennoch konnte sie kaum an etwas anderes denken als an das, was sie heute gehört hatte. »Was ist, wenn sie recht haben?«, sinnierte Natalie laut. »Meine Arbeitskollegen, meine ich. Was ist, wenn sie recht haben und ich wirklich toxisch bin? Und niemand mich leiden kann?«

Tess antwortete nicht sofort, doch Natalie spürte ihren prüfenden, intensiven Blick. »Was?«, fragte sie schließlich.

»Du brauchst was zu trinken.« Tess und Dominic wechselten einen Blick. »Wir machen eine Pause«, sagte sie und wies Natalie den Weg zu einem Bottich mit einem Schlauch.

»Drückeberger.« Ihr Ehemann grinste.

Tess streckte ihm die Zunge raus und drehte sich um. »Ich bin manchmal auch eine toxische Chefin. Hier traut sich nur niemand, was zu sagen.«

Nach dem Händewaschen zapfte Tess aus einem Fass mit der Aufschrift Alter Wein – Creek Slope ein Glas Zinfandel. Für sich selbst öffnete sie eine kalte Flasche Mineralwasser. Dann setzten sie sich auf die Terrasse neben dem Haus. Der Bereich lag im Schatten einer Pergola und war mit Steinen gepflastert, auf denen überall Kinderspielzeug herumlag. Von hier aus hatte man einen imposanten Blick über den Weinberg. Darunter lag die benachbarte Apfelplantage, wo Tess’ Schwester lebte und eine Kochschule leitete.

»Hör zu«, sagte Tess. »Früher war ich genauso wie du. Ich war du. Ich lebte für meinen Job und war wütend auf die Welt, ohne so richtig zu wissen, warum.«

»Was?« Stirnrunzelnd sah Natalie sich auf dem Grundstück um – das tatsächlich von einem weißen Gartenzaun umgeben war – und betrachtete die Kinder und Hunde. »Niemals.«

»Doch. Weißt du, dass ich einmal mit einer Panikattacke in der Notaufnahme gelandet bin?«

»Im Ernst? Meine Güte, Tess. Ich hatte ja keine Ahnung. Das tut mir leid.«

»Danke. Ehrlich, es ging mir hundsmiserabel. Ich dachte damals, ich hätte einen Herzinfarkt.« Sie schwieg einen Moment. Dann sagte sie: »Das kommt mir schon ewig weit weg vor. Ein anderes Leben, damals, als ich Single war und in der Stadt lebte, bevor all das hier passierte.« Mit einer raumgreifenden Geste deutete sie auf die Weinberge, ihren Ehemann und die Familie. »Ich war besessen von meinem Beruf. Einem Beruf, in dem ich verdammt gut war.«

Soviel Natalie wusste, war Tess bei einem noblen Auktionshaus als Expertin für die Herkunftsforschung der Exponate tätig gewesen. Sie hatte Natalies Mutter sogar mal geholfen, indem sie ihr einen Kollegen vermittelte, der einige seltene Bücher für sie geschätzt hatte. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich die Leute kirre gemacht habe«, gestand Tess. »Und ganz sicher bin ich mir, dass ich mich selbst kirre gemacht habe.«

»Das kann ich mir überhaupt nicht vorstellen.«

»Es ist passiert. Ich hab’s überlebt. Und ich will dir keine Angst machen. Ich sage auch gar nicht, dass es bei dir um Angst geht, aber für mich war die Erfahrung mit der Notaufnahme, als ich überzeugt war, sterben zu müssen, ein Weckruf.«

»Ich bin wach. Zu wach, wenn man den Kollegen glaubt.« Sie erzählte Tess von Mandys hoher Fehlerquote und von ihrer eigenen permanenten Wachsamkeit und der Extraarbeit, die sie damit hatte, die Fehler wieder auszubügeln.

»Nur damit ich dich richtig verstehe«, sagte Tess, »diese Frau baut jeden Tag Mist, und du deckst sie. Dabei bist du ihr doch nichts schuldig. Warum hilfst du ihr immerzu aus der Patsche?«

»Weil ich ihre Vorgesetzte bin. Und weil ich es kann.«

»Dann stelle ich dir jetzt mal eine Frage: Was würde passieren, wenn du Mandys Fehler nicht länger korrigieren, sondern sie auf die Nase fallen lassen würdest? Was dann?«

»Das habe ich mich auch schon oft gefragt«, räumte Natalie ein. »Das wäre schlecht für die gesamte Firma. Wenn ich nicht heute Nachmittag noch ein paar Dinge geregelt hätte, wäre der Vertrag nicht zustande gekommen, und der Ruf der Firma hätte gelitten. Und meiner auch, da ich ihre Vorgesetzte bin. Irgendwann würde man sie entlassen. Und sie braucht ihren Job. Sie ist alleinerziehende Mutter von zwei Kindern.«

»Und wieso ist das deine Verantwortung?«, fragte Tess.

»Weil ich …« Natalie hielt inne. »Ist es nicht.«

»Also …?«

Natalie schwenkte das Weinglas. Wein war so etwas Schönes. Komplex, vollmundig und köstlich. Die Firma, für die sie arbeitete, war allein auf der Basis dieser feinen Substanz gegründet worden, die denjenigen, die sie zu genießen wussten, viel Behaglichkeit und Freude schenkte.

Aber für Natalie war es keine Freude. Es war nur ein Job. Ein sicherer, lukrativer Job mit zahlreichen Vorteilen. Zum Beispiel einer Betriebsrente. Alles, was ihre Mom noch nie gehabt hatte. »Es käme mir schäbig vor, Mandy nicht zu helfen, wenn ich doch genau weiß, wie. Ich will nicht der Grund für ihren Niedergang sein.«

»Das kann ich verstehen, und ich verstehe auch deine anderen Beweggründe. Wir beide wurden von unseren Müttern allein großgezogen. Kein Dad in Sicht. Sind unsere Mütter abgestürzt?«

Natalie dachte über ihre Mutter nach, die mit finanziellen Engpässen immer irgendwie zurechtgekommen war, ohne gänzlich zusammenzubrechen. Tess und ihre Halbschwester Isabel waren ohne Vater aufgewachsen, der noch vor ihrer Geburt verschwunden war.

Natalie hingegen wusste genau, wer ihr Vater war. Obwohl Blythe gern behauptete, das Leben hätte ihr alles gegeben, was sie wollte, fragte Natalie sich manchmal, ob das wirklich stimmte. Blythe war ein Bündel aus Widersprüchen. In geschäftlichen Dingen ging sie jedes Risiko ein, nicht aber in Herzensangelegenheiten.

»Wenn du deine Mitarbeiterin weiterhin rettest«, sprach Tess weiter, »wird sie niemals lernen, die Dinge vernünftig und selbst zu regeln. Es ist verrückt, wie viel man durch Fehler lernen kann.«

»Man lernt nie aus«, pflichtete Natalie ihr bei.

»Ich will damit sagen, dass du ihr nicht hilfst, indem du immerzu hinter ihr aufräumst. Wenn man jemanden ständig rettet, nimmt man ihm die Möglichkeit, dazuzulernen und sich weiterzuentwickeln.«

»Wie kommt es nur, dass du so weise bist?«, fragte Natalie. »Schwangerschaftshormone?«

»Genau.« Tess lachte leise.

Natalie ermahnte sich, den dunkelroten Wein und die herrlichen Farben des beginnenden Sonnenuntergangs zu genießen. Sie hatte ein gutes Leben. Einen guten Job. Eine gute Freundin. »Ich muss sagen: Du bist besser als eine Therapeutin. Der Tag heute war echt ein Albtraum. Nicht nur wegen der Arbeit, sondern auch weil meine Mom durch Abwesenheit geglänzt hat.«

»Was ist mit dir und Rick? Ihr beide scheint euch doch hervorragend zu verstehen. Was ist passiert?«

»Tja, das ist auch ein Teil meines Problems. Eigentlich ist nichts passiert. Gar nichts. Er ist wirklich ein netter Kerl, und wenn man von der Arbeit mal absieht, bin ich eine nette Frau. Oberflächlich betrachtet, passen wir gut zueinander, aber … Ich bin mir nicht sicher, ob das reicht. Wir sind seit fast einem Jahr zusammen, ohne dass unsere Beziehung an Tiefe gewonnen hätte.«

»Oh, wow. Dann wärest du also bereit für etwas Ernstes?«

Natalie ließ den Blick über die weitläufige Landschaft schweifen – Weinberge und Obstplantagen, endlose Fülle. Manchmal nahm Rick sie auf einen Rundflug über die Gegend mit, und sie liebte es. Sie wollte sagen können, dass sie ihn liebte. »Ich will verrückt nach ihm sein. Ich sollte verrückt nach ihm sein. Er sieht toll aus. Er ist erfolgreich. Super im Bett. Er hat eine nette Familie unten in Petaluma.«

»Und trotzdem …«

»Genau. Es gibt ein Trotzdem.« Sie sah in die Ferne. Dort, wo Hügel und Himmel aufeinandertrafen, zeichnete sich eine sanfte, wellenförmige Linie ab. »Ich wünschte, es gäbe keins. Ich wünschte, da wäre mehr Gefühl.« Es war die Wahrheit. Sie sehnte sich nach einer berauschenden Mischung aus Leidenschaft und Sicherheit. Nach einer Aufregung, die sich nicht bedrohlich oder riskant anfühlte.

Aber vielleicht war genau das der Punkt. Vielleicht lag es in der Natur der Aufregung, dass sie stets mit einem Risiko einherging.

In dem Fall käme sie auch ohne Aufregung klar. »Mom sagt, ich könne keine Nähe zulassen«, meinte sie. »Sie muss es natürlich wissen. Immerhin war sie ihr ganzes Leben Single. Und sie behauptet, glücklich zu sein. Warum also denkt sie, dass ich jemanden brauche? Kann ich nicht auch ohne Mann glücklich sein?«

»Natürlich kannst du. Deine Mom klingt wie meine – der Widerspruch in Person. Das wird nie langweilig. Ach, Nat. Es tut mir so leid, dass deine Mom nicht gekommen ist, und auch, dass es mit dir und Rick nicht so gut läuft. Aber das mit deiner Beförderung ist großartig und verdient.« Sie machte eine kurze Pause. »Du bist meine Freundin, und ich liebe dich, also sage ich das, was ich jetzt sage, aus Liebe: Hältst du es für möglich, dass du wegen der Arbeit so schlecht drauf bist?«

»Da wäre ich ja nie draufgekommen.« Die Ironie war nicht zu überhören. »Die Arbeit ist … ach, einfach Arbeit. Aber ich bin total gut darin. Sosehr ich mich auch danach sehne, einen Job zu finden, der sicher und gleichzeitig inspirierend ist – ich glaube, den gibt es für mich nicht.«

»Irgendwo auf deinem Weg bist du zu der Überzeugung gelangt, dass Aufregung zu riskant ist.«

»Das passiert, wenn man in einer Buchhandlung aufwächst. Ich will gar nicht leugnen, dass es auch lustig war – umgeben von den vielen Büchern, den Kunden, den monatlichen Lieferungen neuer Titel. Das war schon schön. Aber irgendwann habe ich begriffen, dass Mom Monat für Monat in Schulden ertrank.«

»Und vor lauter Angst hast du dir einen sicheren Beruf ausgesucht, der keinerlei Überraschungen birgt.«

Natalie nickte. »Ich kann nicht so furchtlos sein wie meine Mom. Vielleicht gefällt ihr diese Achterbahnfahrt. Es stört sie nicht, im Zahlungsrückstand zu sein, weil sie der Überzeugung ist, dass auch wieder bessere Tage kommen.«

Bei dem Gedanken, so zu leben, krampfte sich Natalie der Magen zusammen. »Ich habe nur ein einziges Mal erlebt, dass sie Zweifel bekam: als mein Großvater sich bei einem Sturz die Hüfte gebrochen hatte. Inzwischen hat er ›kognitive Probleme‹, wie meine Mom sagt. Ich hätte sie heute Abend gern gesehen, um mehr darüber zu erfahren. Armer Grandy. Vielleicht konnte sie ja deshalb nicht kommen – weil was mit Grandy ist.« Sie schlang die Arme um ihren Körper, als sie an den liebevollen Mann dachte, der für sie so vieles war – der Vater, der ihr so gefehlt hatte, das Kindermädchen, das sich um sie gekümmert hatte, geduldiger Nachhilfelehrer und geliebter Spielgefährte aus Kindertagen.

»Mein Großvater ist auch gestürzt«, erzählte Tess.

»Der alte Magnus?« Natalie war dem älteren Herrn vielleicht ein-, zweimal begegnet. Wie ihr Opa war auch er ein feiner alter Mann. Er hatte diese sanfte Art zu sprechen und eine Warmherzigkeit, die nur den besten Großvätern zu eigen waren. »Er ist gestürzt?«

»Ist schon länger her. Er ist vor ein paar Jahren auf der Apfelplantage von der Leiter gefallen. Ein riesiger Schreck, aber er hat sich wieder erholt.«

»Ich hoffe, ich kann das Gleiche von meinem Opa sagen. Seit der Sache mit der gebrochenen Hüfte ist er nicht mehr derselbe. Vielleicht fahre ich morgen mal runter in die Stadt und besuche ihn.«

»Er würde sich bestimmt freuen, dich zu sehen.«

Natalie stand auf und brachte das Glas zur Bar auf der Veranda. »Und mit diesen erfreulichen Worten lasse ich dich zurück zu deiner Familie gehen. Ich muss nach Hause und darüber nachdenken, was ich wegen der Leute unternehme, die mich hassen.«

»Hör auf damit.«

»Ich werde es versuchen, Tess. Ich werde es nicht an mich ranlassen.«

Auf der Rückfahrt in die Stadt wiederholte Natalie die Worte wie ein Mantra. Lass es nicht an dich ran.

Da das Mantra keine Wirkung zeigte, schaltete sie das Autoradio an und sang gemeinsam mit Eddie Vedder, während draußen das Sonnenuntergangspanorama vorbeizog. Der Song »Wishlist« brachte sie dazu, über ihre eigene Wunschliste nachzudenken. Ein anderer Job. Eine andere Haltung. Ein anderes Leben.

»Und hier die aktuellen Meldungen«, unterbrach der Nachrichtensprecher den nächsten Song.

Verärgert wollte sie einen anderen Sender einstellen, als sie »Aviation Innovations« hörte. Sie verharrte in der Bewegung. Das war Ricks Firma.

»Die Luftfahrbehörde untersucht den Absturz eines kleinen Flugzeugs, der sich am heutigen Nachmittag ereignete. Die Maschine gehört der Firma Aviation Innovations in Lake Loma«, sagte der Sprecher. »Pilot und Passagier kamen bei dem Unglück ums Leben. Die Namen der Opfer werden aus Rücksicht auf die Angehörigen noch nicht bekannt gegeben.«

Natalie lauschte der Meldung mit einer Mischung aus Schock und schuldbewusster Erleichterung. Es war zwar Ricks Firma, aber Rick konnte nicht das Opfer sein. Er flog heute allein, ein Testflug. Sie fuhr an den Straßenrand und wählte seine Nummer. Er ging nicht dran. Dann schickte sie ihm eine kurze Nachricht. Ich habe gerade von dem Absturz gehört. Tut mir leid. Jemand, den du kanntest?

Da keine Antwort kam, fuhr sie weiter. Er musste denjenigen kennen. Immerhin war die Firma klein. Vielleicht kannte sogar sie das Opfer. Mit einigen seiner Kollegen hatten sie und Rick schon gemeinsame Ausflüge gemacht – Weinproben und schöne Touren durch die Gegend. Sie ertappte sich bei der Frage, ob das Leben mit Rick wirklich so schlecht war. Er war zuverlässig. Vorhersehbar. Nett. Alles, was ihr wichtig war.

Einem Impuls folgend, verließ sie die Hauptstraße und fuhr zum Firmensitz von Aviation Innovations. Der Parkplatz stand voller Autos, und viele Leute liefen hektisch hin und her. Sie hielt Ausschau nach Rick – einem geschniegelten, typisch amerikanischen Kerl mit breiten Schultern, Kurzhaarschnitt und nettem Lächeln.

Doch sie konnte ihn zwischen den vielen Menschen, die das Hauptgebäude und die Hangars bevölkerten, nicht entdecken. Dann erspähte sie Miriam, seine Assistentin. Sie saß auf den Stufen vor dem Eingang und telefonierte.

Miriam blickte auf und sah Natalie. »Ich rufe dich zurück«, sagte sie ins Telefon.

»Hey, ich hab’s eben gehört«, sagte Natalie. »Ich wollte nur schauen, ob Rick schon zurück ist.«

Miriam packte das Treppengeländer und zog sich daran hoch. »Natalie …« Das Gesicht der Frau war so weiß wie die bauschigen Wolken, die über die Hügel von Sonoma zogen.

Natalie erstarrte. Das Grauen kam in Etappen – Verwirrung und Ungläubigkeit, dann das pure Leugnen. »Es war nicht Rick«, sagte sie. Ihre Stimme klang harsch, beinahe gemein. Wahrscheinlich klinge ich genauso bei der Arbeit, schoss es ihr in den Sinn.

»Natalie. Es ist furchtbar. Grauenvoll. Es tut mir so leid. Ich kann nicht mal …« Miriam griff nach ihrer Hand. »Komm, setz dich hin.«

Natalie zuckte zusammen und zog die Hand weg. »Ich brauche mich nicht hinzusetzen. Ich brauche … ich … ich …« Sie hatte keine Ahnung, was sie in diesem unwirklichen, unerträglichen Moment brauchte. Sie rang nach Luft. »Er hat gesagt, er sei den Tag über weg. Ja. Er meinte, er würde es nicht zu meiner Feier schaffen. Er hatte einen Testflug. Oh Gott, ist er dabei abgestürzt? Hat er … hat …«

»Es … es war kein Testflug.«

»Dann geht es ihm gut?« Natalie klammerte sich verzweifelt an diesen letzten Strohhalm.

In Miriams Blick blitzte Panik auf. Es schien ihr schwerzufallen, Natalie in die Augen zu sehen. Dann holte sie tief Luft. »Er, äh … Er hatte einen Passagier dabei.«

»Ja, das habe ich in den Nachrichten gehört.« Natalies Gedanken rasten. Oh Gott. Rick.

Seine Eltern lebten in Petaluma. Und seine Schwester auch. Natalie hatte sie erst vor wenigen Wochen kennengelernt. Rita? Nein, Rhonda. »Soll ich zu seiner Familie fahren?«, fragte sie Miriam. »Ist jemand bei ihnen?« Das Herz hämmerte ihr wie wild in der Brust. Ihre Hände waren feucht, ihre Lunge lechzte nach Sauerstoff.

Rick war nicht mehr da. Wie konnte er nicht mehr da sein? Sie wollten morgen Abend doch im French Laundry in Yountville essen gehen. Sie hatte sich wegen des Gesprächs über ihre Beziehungsprobleme, das sie führen wollten, schon den Kopf zermartert. Sie hatte sich gefragt, wer von ihnen beiden den ersten Schritt machen und die Sache beenden würde.

Wie konnte er nicht mehr da sein?

»Natalie, du solltest dich wirklich setzen.« Miriam legte ihr eine Hand auf die Schulter und dirigierte sie auf die hellen Kalksteinstufen vor dem niedrigen, modernen Gebäude. Die Berührung war fest, doch Natalie spürte, wie Miriam zitterte.

»Ja, okay. Ich bin … Wahrscheinlich stehen alle unter Schock …« Sie bemerkte, wie ein paar Leute zu ihr herübersahen und miteinander flüsterten.

»Er hatte einen Passagier dabei«, wiederholte Miriam. »Sie ist auch tot.«

»Oh. Das ist … schrecklich.« Ihre Gedanken rasten. Liefen vor etwas davon, das zu furchtbar war, um es fassen zu können. Sie. Eine andere Frau? Betrog Rick sie?

Nicht mehr, dachte sie und hasste sich im nächsten Moment dafür.

Miriam wandte sich ihr zu. Ergriff ihre Hände und hielt sie fest. »Es tut mir so leid. Ich weiß nicht, wie … oh Gott. Der Passagier, diese Frau … war deine Mutter.«

Die Zeit blieb stehen. Alles blieb stehen – Atmung, Herzschlag, die Erde, der Wind in den Bäumen, die Gruppe der nahenden Mitarbeiter. Natalie zwang sich, Miriams Erklärungen anzuhören, bemühte sich, die Worte zu begreifen, spürte aber gleichzeitig, dass sich alles in ihr gegen die Wahrheit auflehnte. Das konnte nicht sein. Doch als sich immer mehr Menschen um sie versammelten, fühlte sie den vernichtenden Stromschlag der Gewissheit.

Sie starrte die Frau an, die ihr gerade vom Tod ihrer Mutter berichtet hatte, war vor Schock aber wie blind. Und dann kam er – der Schmerz. Er bohrte sich ihr blitzartig ins Herz, sodass sich mit einem Mal alles nur noch taub anfühlte.

3

»Grandy.« Natalie sprach den Namen ihres Großvaters ganz leise aus und so sanft, wie sie nur konnte. »Es ist Zeit zu gehen.«

Als sie durch die Tür trat, erhob Andrew Harper sich aus seinem Lieblingsschaukelstuhl in seiner kleinen Wohnung, die hinter der Buchhandlung lag. Da er die Stufen in dem alten Gebäude nicht länger bewältigen konnte, war er aus der Wohnung im Obergeschoss, in der er fast sein gesamtes Leben verbracht hatte, nach unten gezogen. Früher war das kleine Studio im Erdgeschoss ein Lagerraum gewesen. Die hastig zusammengesuchte Einrichtung war nicht ideal, aber immerhin musste ihr Großvater so sein Zuhause nicht verlassen. Der vollgestopfte Raum hatte ein großes Fenster, von dem aus man in den rückwärtigen Garten schauen konnte. Dort blühten gerade die letzten Malven und Rosen der Saison.

Eine Hand auf dem Gehstock ruhend, drehte er sich zu ihr um. Er lächelte liebevoll. »Ach, da bist du ja, Blythe. Ich habe schon auf dich gewartet. Wie hübsch du aussiehst. Ist das Kleid neu?«

Die pure Liebe durchflutete Natalie, als sie auf ihn zuhielt. Grandy war für sie immer ein Fels in der Brandung gewesen. Seit der ersten Erinnerung war er da gewesen, hatte im Keller alte Bücher restauriert oder im Laden mit den Kunden geplaudert. Am Abend las er ihr Geschichten vor, während sie sich an ihn kuschelte und den beruhigenden Geruch seines Aftershaves einatmete. Durch ihn hatte sie gelernt, was Weisheit und Güte waren.

Und jetzt brauchte er sie. In der letzten Woche hatte er Natalie häufig für ihre Mutter gehalten. Vielleicht war die Trauer für ihn zu groß, um sie zu verkraften, und sein schwindender Verstand hatte Natalies Gesicht mit den Zügen ihrer Mutter versehen. Obwohl seit der erschütternden Nachricht schon mehrere Tage vergangen waren, gab es zahlreiche Momente, in denen er sich weigerte zu akzeptieren, dass seine Tochter – sein einziges Kind – nicht mehr da war.

Erst jetzt begriff Natalie, dass ihre Mutter mit Grandys Pflege alle Hände voll zu tun gehabt hatte. Irgendwie würde Natalie diese Aufgabe nun übernehmen müssen. Er sagte zwar immer wieder, dass er allein zurechtkomme, aber sie war sich da nicht so sicher. Er musste Termine mit seinem Arzt und diversen Spezialisten einhalten. Regelmäßig Medikamente nehmen und Essen zubereiten. Den Haushalt führen. Sie blickte sich um und sah ein halbes Dutzend Möglichkeiten, um den Raum behaglicher zu gestalten. Ein heller Anstrich. Ein Buchregal in Reichweite. Vielleicht irgendetwas mit der klobigen alten Heizung machen, die im Winter nur widerwillig und ächzend ansprang.

Sie fand, ihr Großvater sah in dem Licht, das zum Fenster hereinfiel, wunderbar aus – groß und würdevoll und zeitlos attraktiv in dem maßgeschneiderten Anzug und weißen Hemd, das sie am Vorabend noch zu später Stunde gebügelt hatte. Sie wusste, dass er bei der Trauerfeier so gut wie möglich aussehen wollte. Er zupfte halbherzig an seiner Krawatte. »Hilf mir mal damit, Blythe. Ich kann nicht … Ich weiß nicht, wie …« Seine Worte verdunsteten in einer Wolke der Verwirrung.

»Lass mich dir helfen.« Sie stellte sich vor ihn und band den Schlips mit einem Windsorknoten, so wie Grandy selbst es ihr vor Jahren beigebracht hatte. Es war eine klassische Hermès-Krawatte aus Seide, bedruckt mit einem Sonnenuhrmuster. Vermutlich hatte ihre Mutter mit ihrem unbeirrbaren Näschen für hochwertige Mode zu kleinen Preisen das gute Stück in einem Secondhandladen gefunden.

»Ich bin es, Natalie«, sagte sie. Ihre Stimme war vom vielen Weinen ganz heiser. »Natalie. Deine Enkeltochter.« Es fühlte sich seltsam und grausam an, ihm erklären zu müssen, wer sie war. Ihm. Dem Mann, der sie mal besser gekannt hatte als sie sich selbst.

»Natürlich«, stimmte er ihr zu. »Du siehst deiner Mutter nur so ähnlich. Manchmal denke ich, dass du sogar noch schöner bist. Und meine allerliebste Tochter wäre die Erste, die mir recht geben würde.«

»Heute ist die Trauerfeier«, erinnerte sie ihn und zog die Krawatte behutsam fest. Noch immer war diese Vorstellung zu ungeheuerlich, um sie zu fassen. Ihr war zumute, als würde sie durch einen Nebel aus Trauer und Schuld schwimmen und krampfhaft versuchen, sich über Wasser zu halten. Hätte sie doch nur nicht angenommen, ihre dämliche Firmenfeier wäre eine Garantie dafür, dass ihre Mutter kommen würde. Wäre sie doch nur ehrlich zu Rick gewesen, statt darauf zu warten, dass er ihrer Beziehung ein Ende setzte. Stattdessen war sie für den Tod ihrer Mutter und eines guten Mannes im besten Alter verantwortlich. Zumindest empfand sie es so.

»Draußen wartet ein Wagen.«

»Ein Wagen …?«

»Der Gedenkgottesdienst«, sagte sie geduldig. »Deshalb haben wir uns alle so fein angezogen.«

Er nestelte an seiner Krawatte und sah Natalie ratlos an.

»Mom ist gestorben, Grandy. Ich bin sofort hergekommen, als ich davon erfahren habe, und die ganze Woche geblieben.« Nachdem Ricks Assistentin ihr die schreckliche Nachricht überbracht hatte, war Natalie wie ferngesteuert ins Auto gestiegen und schnurstracks zu ihrem Großvater gefahren. An die Fahrt konnte sie sich kaum noch erinnern, aber dafür durchlebte sie immer wieder den Augenblick, als sie es ihm hatte sagen müssen. Sein Gesicht hatte sich aufgehellt, als sie hereingekommen war, und für einige kostbare Sekunden hatte sie ihn die Freude über den Besuch seiner Enkeltochter genießen lassen.

Dann sagte sie die Worte, die ihr noch immer unwirklich vorkamen: Mom ist bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen.

Grandy reagierte genauso verständnislos wie zuvor Natalie. Blythe konnte nicht weg sein. Wie denn auch? Wie hätte sie einfach von der Erdoberfläche verschwinden können, von jetzt auf gleich?

Mehrere Erklärungen waren nötig, ehe er begriff und das Grauen zu ihm durchdrang. Ein Riss tat sich auf – ein Erdbeben. Eine riesige, unüberbrückbare Fissur. Sie konnte hören, wie sein armes Herz zerbrach.

Lange hatten sie zusammen geweint. Noch Tage später spürte sie die Nachbeben der emotionalen Verwüstung.

Andrews Gedächtnisprobleme machten die ohnehin schreckliche Situation noch schlimmer. Er hatte bereits Teile seiner körperlichen und geistigen Kraft verloren – Kurzzeitgedächtnis, Kontrolle über die Feinmotorik, rationales Denken. Die Ärzte stuften die Demenz als milde Form ein. Schubweise. Frühes Stadium – was implizierte, dass die Krankheit voranschreiten würde. Zunehmender Gedächtnisverlust, Enthemmung, Halluzinationen. Natalies Mutter hatte gesagt, Grandy sei manchmal verängstigt und verwirrt, ein anderes Mal aber wieder ganz er selbst. Er hatte abgenommen und litt unter Kopfschmerzen, Tremor und einer Erschöpfung, für die das Pflegeteam keine Erklärung hatte.

Natalie war nicht darauf vorbereitet gewesen, wie hart es werden würde. Jedes Mal, wenn er vergaß, dass seine Tochter tödlich verunglückt war, und er wieder daran erinnert werden musste, erlebte er das Grauen von Neuem. Spürte er immer wieder dieselbe Welle des Entsetzens und der Trauer? Würde er diesen frischen Schmerz auch weiterhin fühlen? Sie konnte sich nicht vorstellen, diesen ersten überwältigenden Stich wieder und wieder zu erleben.

Andrew holte tief Luft. Sein Gesicht blieb unverändert. Er bewegte sich kaum. Doch in seinem Blick lag eine unsägliche Traurigkeit, die Natalie zusammenzucken ließ. »Ich weiß«, flüsterte sie, nahm seine Hand und führte ihn zur Tür. »Es tut die ganze Zeit weh. In jeder Sekunde.«

»Ja«, erwiderte er. »Der Schmerz zeigt, wie sehr wir sie geliebt haben.«

»Du hattest schon immer ein gutes Gespür für Worte.«

»Blythe sagte, das liegt in der Familie. Sie hat Colleens Tagebücher gelesen.«

»Colleen. Du meinst deine Ahnin, die 1906 beim Erdbeben ums Leben kam?«

»Die Großmutter, die ich nie kennenlernen durfte. Mein lieber Vater war erst sieben Jahre alt, als sie starb, und kam daraufhin in ein Waisenhaus. Er sprach selten von jenem Tag, aber ich glaube, es hat ihn sein ganzes Leben verfolgt.«

Seit einiger Zeit konnte Grandy sich besser an die ferne Vergangenheit erinnern als an Dinge, die sich vor fünf Minuten ereignet hatten. »Ich wusste nichts von Colleens Tagebüchern.«

»Blythe hat sie vor Kurzem gefunden. Ich weiß nicht, was sie damit gemacht hat.«

Möglicherweise waren die Tagebücher ein Produkt von Grandys Fantasie. Im Grunde wusste er von Colleen O’Rourke Harper nur, dass sie aus Irland eingewandert war, einen Sohn gehabt hatte – Grandys Vater Julius – und nach dem Erdbeben verschwunden war. Eine Laune des Schicksals hatte die Familiengeschichte unwiderruflich verändert.

Ist es das, was mit dir und Rick passiert ist, Mom? fragte Natalie sich. Eine Laune des Schicksals? Oder hatte Natalie mit der Einladung ihrer Mutter zur Firmenfeier das Ganze selbst heraufbeschworen? Jeden Tag wünschte sie sich, diesen Moment ungeschehen machen zu können.

Sie wartete an der Garderobe neben der Tür, während ihr Großvater die vertraute Ausgehroutine durchführte. Zuerst das weiche, dünne Halstuch. Dann der Mantel, der schwarze Filzhut und schließlich der Gehstock. Kein Regenschirm heute. Es war zwar nebelig und feucht, aber es regnete nicht. Die leuchtend gelben Blätter, die den frühen Herbst ankündigten, klebten auf dem Bürgersteig fest.

Er hielt ihr die Tür auf, und sie verließ die Wohnung. »Möchtest du in den Rollstuhl?«, fragte sie.

Er zögerte und sah zu dem Stuhl runter. Der Schmerz grub Falten in sein Gesicht. »Nein. Ich werde die Trauerfeier meiner Tochter zu Fuß besuchen und im Stehen sprechen.«

Bei dieser würdevollen Antwort zog sich ihr das Herz zusammen, und ganz langsam führte sie ihn den schmalen Flur entlang, vorbei an einem Lagerraum voller Bücher, durch das Büro und dann weiter in den Verkaufsraum der Buchhandlung.

Als Mädchen hatte Natalie jeden Tag damit begonnen, durch den Laden zu hüpfen und ihren Lieblingen einen guten Morgen zu wünschen – Angelina Ballerina, Charlotte und Ramona, Lilly und ihrer lilafarbenen Plastiktasche. Dann hatte sie sich die Tür aufgeschlossen und war zum Schulbus gelaufen. Jetzt war ein großer Teil der Buchhandlung übersät mit Beileidsbekundungen von den vielen Menschen, die ihre Mutter gekannt hatten.

An der Ladentür hing ein Geschlossen-Schild und eine gedruckte Ankündigung des Gedenkgottesdienstes. GEDENKFEIERFÜRBLYTHEHARPER.

Warum nannte man das bloß so, wenn das Letzte, was eine trauernde Tochter wollte, eine Feier war?

Sie öffnete die Tür und bahnte ihnen einen Weg durch die sich stapelnden Symbole der Trauer, die dort spontan abgelegt worden waren – Blumenkränze, Romane mit Eselsohren und Erinnerungsstücke, Kerzen und selbst gemalte Bilder und handgemachte Karten. Seit Natalie auf der Welt war, gehörte der Lost and Found Bookshop zum Inventar der Perdita Street, und das plötzliche Ableben seiner Inhaberin zog unglaublich liebevolle Reaktionen nach sich, in denen sich spiegelte, wie groß der Verlust war.

Über eines hatte Natalie bis zu diesem Moment nie nachgedacht: Was geschah nach dieser überbordenden Anteilnahme? Wer sammelte die verwelkten Blumen ein, oder die regendurchtränkten Gedichte, die verschwommenen Fotos, die heruntergebrannten Kerzen?