Die chauvinistische Bedrohung - Sabine Fischer - E-Book

Die chauvinistische Bedrohung E-Book

Sabine Fischer

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Beschreibung

Russlands aggressiver Vernichtungskrieg gegen die Ukraine lässt sich nicht begreifen und stoppen, ohne den russischen Chauvinismus zu verstehen. Der speist sich aus nationalistischen und misogynen Ideen und dient dem autokratischen Putin-Regime zur Selbstlegitimation. Die chauvinistische Politik Russlands greift nicht nur die Ukraine an. Sie bedroht auch signifikante Teile der russischen Gesellschaft und will die auf Regeln und Werten basierende europäische Sicherheitsordnung zerstören. An ihre Stelle soll das Recht des Stärkeren, Aggressiv-Imperialen treten. Der russische Chauvinismus betrachtet alles, was mit Liberalismus zu tun hat, als feindlich – und auch in Europa breitet sich diese Haltung aus. Sabine Fischer, Osteuropa-Expertin bei der renommierten Stiftung Wissenschaft und Politik, liefert uns einen ganz neuen Blick auf die Macht- und Expansionspolitik Russlands. Sie erklärt, wie aggressiver Nationalismus, misogyner Chauvinismus und Autokratie in Russland zusammenhängen, und wie Europa und die westliche Welt sich aufstellen müssen, um dem russischen Chauvinismus zu trotzen. »Viele reden über Russland – Sabine Fischer kennt es von innen, besser als kaum jemand sonst in Deutschland. In luzider Analyse enthüllt sie den chauvinistischen Charakter seiner aggressiven Politik und seines Präsidenten. Wer Wladimir Putins zerstörerischen und selbstzerstörerischen Krieg verstehen will, muss dieses Buch lesen.« Rüdiger von Fritsch

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Die chauvinistische Bedrohung

Die Autorin

Sabine Fischer ist Politikwissenschaftlerin und Senior Fellow bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Seit sie 1992 zum Studium nach St. Petersburg ging, hat Russland sie als Forschungsgegenstand und Lebenswelt nicht mehr losgelassen. Als Senior Research Fellow am European Union Institute for Security Studies in Paris (2007–2012) weitete sie ihre Forschung auf die Staaten und Gesellschaften der östlichen Nachbarschaft der EU aus. Sie beschäftigt sich seit anderthalb Jahrzehnten mit den ungelösten Konflikten in der Region, seit 2014 besonders intensiv mit Russlands Krieg gegen die Ukraine. Von 2016 bis 2021 leitete sie ein Netzwerk von 40 Expert:innen aus Russland und der EU, das sich mit dem Status quo und der Zukunft der EU-Russland-Beziehungen beschäftigte. Von 2019 bis 2021 lebte und arbeitete sie in Moskau, wo sie im Rahmen des Public Diplomacy. EU and Russia-Projekts gesellschaftliche Kontakte zwischen Russland und der EU organisierte.

Das Buch

Russlands aggressiver Vernichtungskrieg gegen die Ukraine lässt sich nicht begreifen und stoppen, ohne den russischen Chauvinismus zu verstehen. Der speist sich aus nationalistischen und misogynen Ideen und dient dem autokratischen Putin-Regime zur Selbstlegitimation. Die chauvinistische Politik Russlands greift nicht nur die Ukraine an. Sie bedroht auch signifikante Teile der russischen Gesellschaft und will die auf Regeln und Werten basierende europäische Sicherheitsordnung zerstören. An ihre Stelle soll das Recht des Stärkeren, Aggressiv-Imperialen treten.

Der russische Chauvinismus betrachtet alles, was mit Liberalismus zu tun hat, als feindlich – und auch in Europa breitet sich diese Haltung aus. Sabine Fischer, Osteuropa-Expertin bei der renommierten Stiftung Wissenschaft und Politik, liefert uns einen ganz neuen Blick auf die Macht- und Expansionspolitik Russlands. Sie erklärt, wie aggressiver Nationalismus, misogyner Chauvinismus und Autokratie in Russland zusammenhängen, und wie Europa und die westliche Welt sich aufstellen müssen, um dem russischen Chauvinismus zu trotzen.

Sabine Fischer

Die chauvinistische Bedrohung

Russlands Kriege und Europas Antworten

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

ISBN 978-3-8437-3032-7

 

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2023

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Inhalt

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

Einleitung

1   Was ist Chauvinismus?

2   Chauvinismus in Russland

3   Russlands Kriege

4   Russlands Zukunft

5   Europas Angriffsflächen

6   Europas Antworten

7   Deutschlands Rolle

Schluss

Dank

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Einleitung

Widmung

Für V., N. und O.

Einleitung

Im Januar 1992 landete ich zum ersten Mal auf dem Pulkowo-Flughafen in Sankt Petersburg. Es war ein grauer Tag mit Schneeregen. Die Passagiere stiegen aus dem Flugzeug in einen klapprigen Bus, um zum Terminal zu fahren. Die Fensterscheiben waren so beschlagen, dass ich nichts sehen konnte. Dieser Moment steht mir noch heute vor Augen. Er entsprach recht genau meiner damaligen Situation: Ich war ziemlich ahnungslos und auf dem Weg in eine unbekannte Welt.

Die Sowjetunion hatte wenige Wochen vor meiner Ankunft aufgehört zu existieren. Boris Jelzin, der erste Präsident der Russischen Föderation, hatte Michail Gorbatschow, den ersten und letzten Präsidenten der Sowjetunion, im Moskauer Kreml abgelöst. Wladimir Putin war bereits aus Dresden in seine Heimatstadt Sankt Petersburg zurückgekehrt und hatte dort seine Laufbahn in der Stadtverwaltung begonnen. Die russische Gesellschaft war im Aufbruch, im positiven wie im negativen Sinne. Die jüngere Generation spürte die gewonnene Freiheit und hoffte auf neue Perspektiven, auf ein besseres Leben in einem demokratischen und kapitalistischen Russland. Aber für viele Menschen begann ein dramatischer Abstieg. In gewisser Weise saß die gesamte russische Gesellschaft in einem Bus mit beschlagenen Fenstern. Niemand konnte sehen, wohin die Fahrt ging. Russland hat mich seitdem nicht mehr losgelassen. Es wurde, ist – und bleibt – ein entscheidender Teil meines Lebens.

Dreißig Jahre später, in den Morgenstunden des 24. Februar 2022, gab Wladimir Putin den Befehl zur Vernichtung des ukrainischen Staates. Er versuchte, einen Krieg zu Ende zu bringen, den er 2014 mit der Annexion der Krim und der Besetzung von Teilen des ukrainischen Donbas begonnen hatte. Seit Februar 2022 sind dem russischen Angriff auf die Ukraine wahrscheinlich Hunderttausende Menschen zum Opfer gefallen. Die russischen Streitkräfte zerstören Wohnhäuser, Schulen, Kindergärten, Krankenhäuser, Kulturstätten, Industrieanlagen, Straßen, Brücken, Kraft- und Wasserwerke. Sie setzen sexualisierte Gewalt als Kriegswaffe ein. Sie entführen Menschen, darunter Tausende Kinder. Das Putin-Regime hält 20 Prozent des ukrainischen Staatsterritoriums besetzt und behauptet, neben der 2014 illegal annektierten Krim gehörten nun auch die ukrainischen Gebiete Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson zur Russischen Föderation. Wo immer die ukrainischen Streitkräfte seit Beginn der Vollinvasion Gebiete befreit haben, deckten sie horrende Kriegsverbrechen auf. Einen so zerstörerischen Krieg hat es in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr gegeben.

»Unsere Staatsmacht verhält sich wie ein Schläger in seiner Familie«, sagte die russische Frauenrechtlerin Aljona Popowa im Januar 2023 im Gespräch mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

»Dieser kollektive Schläger hält das ganze Land für sein Haus, in dem er die Macht hat, über alles zu verfügen. Er hat alle Richter und Polizisten in der Tasche. Behauptet genau wie bei häuslicher Gewalt, die Opfer hätten sich selbst wehgetan, verletzt, getötet. ›Wenn du gehst, verrätst du die Familie‹, sagt der Peiniger zu seinem Opfer. Entsprechend nennt die Staatsmacht Russen, die ausreisen oder nicht mit ihr einverstanden sind, Verräter oder ›ausländische Agenten‹. Diese Gewalt greift auf andere Länder über. […] Gewalt ist die Klammer des Systems. Das zeigt sich daran, dass unsere Staatsmacht kein Gesetz erlässt, das die Rechte von Opfern häuslicher Gewalt schützt. Denn anzuerkennen, dass häusliche Gewalt schlecht ist, würde bedeuten, zuzugeben, dass andere Arten der Gewalt auch schlecht sind.«

1

Aljona Popowa drückt mit diesen Worten etwas aus, was auch mich in den vergangenen zehn Jahren zunehmend beschäftigte: Ich sah, wie das politische System Russlands immer autoritärer und die russische Außenpolitik immer nationalistischer und aggressiver wurde. Ich beobachtete, wie um Putin ein extremer Männlichkeitskult aufgebaut und wie offen ausgelebter Sexismus immer selbstverständlicher wurde. Und dann war da die Gewalt. Ich habe die russische Gesellschaft immer als sehr gewalttätig erlebt. Schon die Transformationskrise der 1990er-Jahre war mit einem äußerst hohen gesellschaftlichen Gewaltniveau verbunden. Russland war seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion fast ununterbrochen in Kriege verwickelt. In den 2010er-Jahren griff der Staat immer öfter zu gewaltsamen Repressionen, um gesellschaftlichen Dissens zu unterdrücken. Die Corona-Pandemie verschlimmerte die Situation – vor allem bei Übergriffen gegen Frauen. Der auf Vernichtung zielende Angriffskrieg gegen die Ukraine ist der vorläufige Höhepunkt dieser Geschichte von Brutalität. Er wird sich katastrophal auf das Gewaltniveau in der russischen Gesellschaft auswirken. Aljona Popowa hat recht: Gewalt ist die Klammer des Putin’schen Systems.

Mit diesem Buch möchte ich dem Zusammenhang zwischen den politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in Russland und der Gewaltexplosion, die sich über der Ukraine entlädt, auf den Grund gehen. Ich benutze dafür den Begriff des Chauvinismus. Mit ihm kann ich die wichtigsten Bausteine beschreiben, aus denen sich das russische System zusammensetzt: Nationalismus, Sexismus und Autokratie. Besonders wichtig ist mir die Einbeziehung der feministischen Perspektive. Denn ich bin überzeugt, dass die Analyse eines politischen und gesellschaftlichen Systems ohne den Blick auf die Gender-Verhältnisse unvollständig bleibt.

Ich habe diese Entwicklungen lange beobachtet, ohne über sie zu schreiben. Ich war mit anderen Themen beschäftigt. Vielleicht befürchtete ich auch, in der extrem antifeministischen Männerwelt der russischen Politik Kontakte zu Gesprächspartnern zu verlieren, wenn ich mich offen feministischen Fragen zugewandt hätte. Wie dem auch sei, nun habe ich es getan. Das Ergebnis ist dieses Buch.

Es beginnt im ersten Kapitel mit der Erklärung meines Chauvinismus-Konzepts, das sich aus Nationalismus, Sexismus und Autokratie zusammensetzt und die Zusammenhänge zwischen ihnen aufzeigt. Das zweite Kapitel ist dem Chauvinismus in Russland gewidmet. Es zeichnet die Entwicklung des russischen Nationalismus nach; es blickt auf die Entstehung der russischen Frauenbewegung, auf Feminismus im postsowjetischen Russland und den machtvollen Gender-Backlash in der Herrschaftsperiode Wladimir Putins; schließlich behandelt es die Entwicklung der russischen Autokratie seit Putins Machtantritt im Jahr 2000. Im dritten Kapitel geht es um die russischen Kriege seit den frühen 1990er-Jahren. Sie füllten das riesige Reservoir gewaltbereiter Männer, die, traumatisiert durch ihre Gewalterlebnisse, für weitere Kriege zur Verfügung standen. Das vierte Kapitel wirft einen Blick auf die Entwicklungen in Russland seit dem Beginn der Vollinvasion im Februar 2022 und auf mögliche Zukunftsszenarien. Ich ende mit der nicht sehr optimistischen Prognose, dass Chauvinismus auch mittel- bis langfristig die russische Innen- und Außenpolitik entscheidend prägen wird. Er ist eine existenzielle Bedrohung für die Ukraine und für andere Nachbarstaaten Russlands. Das chauvinistische Putin-Regime greift zudem die Fundamente der liberalen Demokratien und die liberale, regelbasierte Weltordnung an. Russlands chauvinistische Politik muss deshalb als übergreifende, systemische Bedrohung verstanden werden.

Der zweite Teil des Buchs ist Europa gewidmet. Kapitel fünf zeigt, welche Angriffsflächen die russische Politik nutzt, um Europa weiter zu schwächen. Kapitel sechs skizziert die Grundzüge einer Strategie, mit der Europa, insbesondere die Europäische Union, der russischen chauvinistischen Bedrohung begegnen kann. Kapitel sieben wirft einen genaueren Blick auf die Rolle Deutschlands und seiner Ostpolitik seit dem Ende des Ost-West-Konflikts und darauf, wie Berlin die künftige Politik der EU in Osteuropa mitgestalten und umsetzen kann.

Ich schildere in diesem Buch persönliche Erlebnisse und Beobachtungen. Ich zitiere aus Interviews und Gesprächen, die ich in den vergangenen dreißig Jahren in Russland und in anderen Ländern Osteuropas geführt habe. Viele meiner russischen Gesprächspartner:innen sind heute im Exil. Andere sind noch im Land und müssen Repressionen fürchten. Wieder andere arrangieren sich mit dem Krieg oder unterstützen ihn. Das eine wie das andere ist schwer zu ertragen. Ich behandle im Text alle Gesprächspartner:innen anonym.

Ukrainische, belarusische und russische Orts- und Eigennamen werden in der Transkription der jeweiligen Sprache wiedergegeben. Also nenne nenne ich den Machthaber in Minsk Aljaksandr Lukaschenka statt Alexander Lukaschenko. Ich schreibe Kyjiw, Donbas und Dnipro anstelle der im Deutschen immer noch zu gängigen russischen Versionen Kiew, Donbass und Dnjepr.

Berlin im Juli 2023

1   Was ist Chauvinismus?

Chauvinismus ist ein böses Wort.

Wer es verwendet, möchte einen Knall verursachen, auf einen schwerwiegenden Missstand aufmerksam machen, kritisieren, sich abgrenzen, sich emanzipieren. Oder aber polarisieren, manchmal auch diffamieren. Was für emotionale Reaktionen der Begriff auslöst, merkte ich schnell, als ich mit anderen Menschen über die Idee für dieses Buch sprach. Die meisten zuckten zurück, zogen die Augenbrauen hoch. Sie fragten: Ist der Begriff nicht veraltet? Sie assoziierten ihn mit den dunklen Zeiten des 20. Jahrhunderts, mit extremem Nationalismus, mit Faschismus, mit Rassismus, mit Krieg. Manche Männer sagten: lila Latzhosen! Und fühlten sich nicht angesprochen oder gar abgestoßen von einem Begriff, der in der feministischen Bewegung des 20. Jahrhunderts eine wichtige Rolle gespielt hatte.

Chauvinismus ist ein historischer Begriff, der unser Verständnis der russischen Politik weiten und ordnen kann. In ihm steckt viel Erklärungskraft für die Gegenwart und eine Warnung beziehungsweise Handlungsorientierung für die Zukunft. Chauvinismus bezeichnet ein übersteigertes Überlegenheitsgefühl einer Gruppe, verbunden mit Verachtung, Feindseligkeit und aggressivem Dominanzverhalten gegenüber Personen außerhalb dieser Gruppe.

Der Begriff geht zurück auf die Figur des Bauernsoldaten Nicolas Chauvin, der sich, in den Napoleonischen Kriegen vielfach verwundet, durch seinen fanatischen Patriotismus hervorgetan haben soll. Es darf bezweifelt werden, ob Nicolas Chauvin tatsächlich existierte. Seine Geschichte ist lediglich in folkloristischen Theaterstücken und Liedern überliefert. Er wurde jedoch durch diese literarische Aufbereitung zum Sinnbild eines militaristischen und aggressiven Nationalismus – und gleichzeitig Gegenstand von Überzeichnung und Spott. Der Historiker Gérard de Puymège entdeckte bereits in den frühen Chauvin-Darstellungen aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die beiden Themenstränge, die den Chauvinismus-Begriff später ausmachen sollten: Nationalismus und Hypermaskulinität. Denn der Chauvin des französischen Volkstheaters ist nicht nur ein hyperpatriotischer Bauernsoldat. Er ist auch ein primitiver Macho. So wird schon in der frühen Kunstfigur Chauvin aggressive Sexualität und ihre Sublimierung in patriarchalem Dominanzverhalten und kriegerischem Patriotismus sichtbar.2

Der Chauvinismus-Begriff erlebte seine erste Hochphase von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. Schon damals diente er sowohl der analytischen Beschreibung von extremem Nationalismus wie auch als politischer Kampfbegriff. Chauvinismus trieb die europäischen Nationalstaaten in den Ersten Weltkrieg. Karl Marx betrachtete den Chauvinismus als Mittel der kapitalistischen Bourgeoisie, um die internationale Arbeiterklasse zu spalten und gegeneinander aufzuhetzen. Wladimir Iljitsch Lenin prägte 1915 den Begriff des »Sozialchauvinismus« für reformorientierte sozialistische und sozialdemokratische Kräfte, die nicht mehr nach der Überwindung des Kapitalismus strebten und sich so zu Handlangern des nationalen Chauvinismus in Europa machten.

Ende der 1920er-Jahre tauchte der Begriff des »weißen« beziehungsweise »rassistischen Chauvinismus« im Sprachgebrauch der amerikanischen kommunistischen Partei auf, um die Rassendiskriminierung in den USA anzuprangern. Frauen in der Partei machten sich ihn in den 1930er-Jahren zu eigen und begannen, von »männlichem Chauvinismus« zu sprechen.3 Der Zweite Weltkrieg ließ beide Debatten zunächst verstummen. Auch der beginnende Kalte Krieg und die McCarthy-Ära in den USA, die bis etwa 1956 andauerte, war keine gute Zeit für linke und emanzipatorische Kräfte in den USA. Als jedoch die US-Bürgerrechtsbewegung und die zweite feministische Welle Ende der 1950er-Jahre an Fahrt aufnahmen, tauchte auch der Chauvinismus-Begriff wieder auf – um damit die anhaltende Rassendiskriminierung und die Unterdrückung der Frau anzuklagen. Das »männliche Chauvinistenschwein« (male chauvinist pig) wurde in den 1960er- und 1970er-Jahren in den USA und Europa zum geflügelten Wort. Die Entkolonialisierungsbewegung, mit der sich sowohl die Bürgerrechtsbewegung als auch der Feminismus und die 68er-Generation solidarisierten, prangerte den Rassismus der europäischen Kolonialmächte als Chauvinismus an. Mit der Ausdifferenzierung des feministischen Diskurses verschob sich ab den 1980er-Jahren abermals die Terminologie. Begriffe wie Feminismus und Chauvinismus rückten in den Hintergrund. Es wurde nun zwischen biologischem Geschlecht (Sex) und sozialem Geschlecht (Gender) unterschieden, um die binäre Zuschreibung von »männlichem« und »weiblichem« Geschlecht zu überwinden und die Realität geschlechtlicher Vielfalt sichtbar zu machen. Begriffe wie Geschlechtergerechtigkeit weiteten die Debatte über Marginalisierung und politische Teilhabe und umfassten nicht mehr nur die Situation von Frauen, sondern auch von sexuellen Minderheiten sowie von Gruppen, die von Rassismus, sozialer Ungerechtigkeit und Kolonialismus betroffen sind. Dieser intersektionale Feminismus wendet sich gegen jede Art von Diskriminierung, sei es aufgrund von Geschlecht, Klasse, Ethnizität oder Herkunft. Er hat eine inklusive Geschlechterdemokratie zum Ziel.4

Seine jüngste Reinkarnation erlebte der Chauvinismus-Begriff Anfang der 1990er-Jahre, als die politische Soziologie begann, sich mit rechtspopulistischen, migrationsfeindlichen Parteien und ihren Wähler:innen zu beschäftigen. »Wohlfahrts-Chauvinismus« bezeichnet eine Haltung, die nur Bürger:innen eines Staates, nicht aber Migrant:innen ein Recht auf Sozialleistungen zugesteht. Die Literatur über dieses Phänomen ist proportional zum Einfluss nationalistischer politischer Kräfte in liberalen Demokratien angewachsen.5

Rechtspopulistische Parteien vertreten nicht nur im Hinblick auf Migration chauvinistische Positionen, sie stellen auch die Geschlechtergerechtigkeit infrage. Der aktuelle »Gender- Backlash« wendet sich gegen Feminismus, gegen die politische und rechtliche Gleichstellung von sexuellen und anderen Minderheiten, gegen gleichgeschlechtliche Ehen und ein Adoptionsrecht für alle, gegen Diversität und viele andere Errungenschaften liberaler Gesellschaften. Politiker wie Silvio Berlusconi in Italien, Viktor Orbán in Ungarn, Jair Bolsonaro in Brasilien oder Narendra Modi in Indien pflegen in demokratischen Systemen einen chauvinistischen und autoritären Politikstil. Spätestens mit der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten 2016 hat auch das Sprachbild des männlichen Chauvinisten-Schweins zurück in die Debatte gefunden.6

In meiner Auseinandersetzung mit Russland kreisten meine Gedanken in den vergangenen zehn Jahren immer stärker um den Begriff des Chauvinismus, ausgelöst durch den wachsenden Nationalismus und Sexismus und die immer deutlicheren autokratischen Zügen des russischen Staates. Ich dachte auch deshalb immer öfter an Chauvinismus, weil ich mich als Frau und Expertin für Außen- und Sicherheitspolitik in der extrem patriarchalen politischen Welt Russlands bewegte. Auf den vielen Konferenzen, die ich in Russland besuchte, lag der Frauenanteil kaum je über zehn, maximal bei 15 Prozent. Der Anteil der Sprecherinnen hat in den letzten zehn Jahren ab- statt zugenommen. Meine Interviewpartner:innen aus Wissenschaft und Politik waren fast immer Männer, vor allem, wenn es um Außenpolitik, Sicherheit und internationale Beziehungen ging. Ihre Perspektive war fast ausnahmslos eindimensional staatszentriert und von realpolitischem Gedankengut geprägt. Der Diskurs war hermetisch abgeschlossen – weibliche oder andere Stimmen, die Diversität hätten beisteuern können, fanden keinen Zugang. Auf der anderen Seite stehen die Erfahrungen, die ich in der Zusammenarbeit mit Russ:innen in der unabhängigen Zivilgesellschaft machen durfte. Diese Menschen, unter ihnen viele Frauen, setzten sich sehr bewusst in ganz unterschiedlichen Bereichen vom Chauvinismus des Putin-Regimes ab.

Der Begriff des Chauvinismus erlaubt es mir, die drei zentralen Elemente der russischen Politik zusammenzuführen: den aggressiven Nationalismus, den nicht minder feindseligen Sexismus und die Autokratie. Mit ihm kann ich zeigen, wie sehr sie miteinander verflochten sind und sich gegenseitig bedingen. Der Begriff kann so Wesentliches zur Erklärung des Krieges beitragen, den das Putin-Regime gegen die Ukraine führt, aber auch gegen liberale Demokratien und gegen die liberalen Segmente der eigenen Gesellschaft.

Chauvinismus als aggressiver Nationalismus

Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bildeten industrielle Revolution, expansiver Kapitalismus, weltwirtschaftliche Integration und Imperialismus den Nährboden für die Entstehung des nationalistischen Chauvinismus. Hannah Arendt arbeitete diesen widersprüchlichen Zusammenhang 1945 in ihrem Aufsatz »Imperialism, Nationalism, Chauvinism« meisterinnenhaft heraus.7 Sie beschreibt, warum europäische Nationalstaaten sich in Imperien verwandelten, obwohl Imperien in ihrer ethnischen Diversität der Idee des Nationalstaats als ethnisch homogenem Gebilde zuwiderlaufen. Die Staaten »exportierten«, so Arendt, im kapitalistischen Mutterland überflüssig gewordenes Kapital und Menschen. Diese »Abfallprodukte« der durch die Industrialisierung transformierten und fragmentierten europäischen Gesellschaften bekamen in den afrikanischen Kolonien eine neue Bestimmung. Expansion war die Rettung, denn sie lieferte der Nation ein gemeinsames Ziel. Imperialist:innen konnten sich als die Inkarnation ihrer eigenen, vermeintlich überlegenen Kultur – ob britisch, belgisch, französisch oder deutsch – in der Fremde fühlen. Ihre Mission war es, andere Völker zu beherrschen und zu »zivilisieren«. Darin liegt das eigentliche chauvinistische Element des Imperialismus. Denn, so schreibt Arendt, jeder Anspruch auf eine solche gleichsam göttliche Mission macht zwangsläufig die Angehörigen des eigenen Volkes zu Übermenschen und die Angehörigen aller anderen Völker zu Untermenschen. Dazu passend lieferte der Sozialdarwinismus biologistisch-deterministische Rechtfertigungen für die rassistischen Überlegenheitsideologien des europäischen Imperialismus. Die Verschmelzung von aggressivem Chauvinismus und Rassismus kulminierte in den faschistischen und nationalsozialistischen Bewegungen des frühen 20. Jahrhunderts und im Zweiten Weltkrieg.

Hannah Arendt stufte den pangermanischen und den panslawischen Chauvinismus als besonders gefährlich und aggressiv ein. Die Zersplitterung deutscher und slawischer Minderheiten und ihre geografische Ausbreitung in Mittel- und Osteuropa, einem Raum mit fluiden Grenzen, hätten ihre Expansionsträume überschießen und miteinander kollidieren lassen. »Diese Slawen und diese Deutschen waren die ersten Europäer, die en masse […] zu Chauvinisten wurden.«8 So beschrieb sie kurz nach dem Zweiten Weltkrieg die Situation im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion fanden sich 25 Millionen Russ:innen außerhalb der Russischen Föderation wieder, von den baltischen Republiken bis nach Zentralasien, was auf die zaristische und dann die sowjetische Bevölkerungs- und Umsiedlungspolitik zurückging. Moskau hat in den letzten beiden Jahrzehnten immer aggressiver den Anspruch erhoben, diese »Russische Welt« außerhalb der eigenen Grenzen gegebenenfalls mit Waffengewalt zu »schützen«. Hannah Arendts Worte lesen sich vor diesem Hintergrund geradezu prophetisch.

Chauvinismus als Sexismus

Die zweite Dimension, die den Begriff Chauvinismus für meine Analyse so attraktiv macht, ist seine Verknüpfung mit der feministischen Debatte. Bereits die frühe feministische Antikriegsbewegung prangerte während des Ersten Weltkrieges den Zusammenhang zwischen Patriarchat, aggressivem Nationalismus, Militarismus und Krieg an.9 Aus feministischer Perspektive sind sowohl der moderne Nationalstaat als auch der Nationalismus maskuline Projekte.10 Sie sind männlich dominiert und reproduzieren sich in ebenfalls männlich dominierten Diskursen und Handlungsmustern.11 Die chauvinistische Selbstbestätigung des weißen Europäers in der imperialistischen Beherrschung fremder Völker wiederholt und verstärkt die chauvinistische Selbstbestätigung des weißen Mannes zu Hause und gegenüber dem anderen Geschlecht.

Cynthia Enloe beschreibt in ihrem Standardwerk Bananas, Beaches and Bases von 1989 die ambivalente Beziehung von Frauen zum Nationalismus. Denn einerseits fänden Frauen als Akteurinnen in nationalistischen Bewegungen Entfaltungsmöglichkeiten. Die Zugehörigkeit zu einer »Nation« habe ihnen eine Identität gegeben, jenseits ihrer Beschränkung auf Ehe und Mutterschaft. Andererseits seien nationalistische Bewegungen zumeist patriarchal organisiert und von Männern geführt und machten Frauen zu Objekten und Symbolen nationaler, ethnischer und kultureller Reinheit, die von Männern verteidigt werden müssten.12 Dem stellt Enloe die Vision eines inklusiven, liberalen Nationalismus gegenüber, gleichsam eines geöffneten Schirms, unter dem nicht nur weiße Männer, sondern auch Frauen und Angehörige sexueller, ethnischer oder religiöser Minderheiten Schutz finden, ohne diskriminiert zu werden.13

In Cynthia Enloes Bild vom geöffneten oder eben geschlossenen Schirm spiegelt sich eine zentrale Kontroverse der Nationalismusdebatte seit dem 19. Jahrhundert. Auf der einen Seite steht Ernest Renans berühmtes Konzept von der Nation als Bürger:innen-Nation, die sich permanent demokratisch erneuern müsse (plébiscite de tous les jours). Eine solche Nation kann sich verändern, lernen, neue Elemente aufnehmen und sie zu einem Teil ihrer Identität zu machen. Auf der anderen Seite finden sich chauvinistische, biologistische und rassistische Konzepte. Sie imaginieren Nation als unwandelbar, weil biologisch determiniert; sie implizieren Überlegenheitsgefühle und sind deshalb zwangsläufig nach außen feindselig und aggressiv. Denn sobald alle Nationen von der eigenen Überlegenheit überzeugt sind, bringt sie das automatisch in einen Konflikt mit allen anderen. Nationalist:innen haben außerdem die Tendenz, zu »retraditionalisieren«, wie die amerikanische Soziologin Joane Nagel ausführt. Sie machen tatsächliche oder erfundene Traditionen zur Grundlage von Nationenbildung und kultureller »Wiedergeburt«. Diese Traditionen sind zumeist patriarchaler Natur.14

Die feministische Kritik am politischen Mainstream rückt die Privatsphäre in den Mittelpunkt. Feminist:innen beschreiben asymmetrische Machtbeziehungen in allen sozialen Beziehungen von der privaten über die gesellschaftliche und die nationale bis zur internationalen Ebene. Sie durchbrechen die Grenze zwischen privatem und öffentlichem Raum, die von den meisten anderen sozialwissenschaftlichen Denkschulen sorgsam eingehalten wird. Sie machen sichtbar, dass Frauen bei der Verteilung der Macht auf allen Ebenen benachteiligt werden. Ebenso benachteiligt sind Angehörige sexueller und religiöser Minderheiten, People of Colour oder arme Menschen. Die Benachteiligung von Frauen und sexuellen Minoritäten findet sich in fast allen dieser Gruppen, sie wirkt außer in der Mehrheitsgesellschaft auch innerhalb von Minderheiten. Sie ist allgegenwärtig.

So kommen feministische Theorien zu ihrer Kernaussage: Das Private ist politisch, und das Politische ist privat.15 Wo die privaten Beziehungen zwischen den Geschlechtern auf ungleicher Machtverteilung, Unterwerfung und Gewalt beruhen, sind auch alle anderen sozialen und politischen Beziehungen in ähnlicher Weise gestört und ungleich vermachtet. Die amerikanische Politologin Valerie M. Hudson und ihre Kolleg:innen fassen es so zusammen: »In der Vergangenheit ging man davon aus, dass die Geschlechterordnung von der generellen politischen Ordnung abhängig sei (dass ›bessere‹ Regierungen also Frauen ›besser‹ behandeln würden); aber die vorliegende Arbeit legt die gegenteilige Annahme zugrunde: die generelle politische Ordnung ist zutiefst geformt von der Geschlechterordnung. Mit anderen Worten, ›besseres‹ Regieren ist und kann nicht möglich sein, solange Frauen unterdrückt werden.«16

Das Gleiche sagen Feminist:innen über die internationale Politik: Das Private ist international, und das Internationale ist privat. Private Machtbeziehungen charakterisieren nicht nur die soziale und politische Ordnung in Nationalstaaten. Sie formen auch transnationale und internationale Beziehungen. Cynthia Enloe zeichnet in Bananas, Beaches and Bases am Beispiel von Tourismus, Militärbasen, weiblicher Arbeitsmigration, Diplomatie und internationalen Handelsbeziehungen nach, wie nationale Außenpolitik, transnationale und internationale Beziehungen in der patriarchalen Geschlechterordnung wurzeln und von ihr abhängig sind. Der Schutz nationalstaatlicher Souveränität und der Schutz der Privatsphäre vor Einmischungen von außen erscheinen aus dieser Perspektive in einem anderen Licht: Er macht die Grundlage der bestehenden Herrschaftsordnung, das Patriarchat, unsichtbar und unterbindet Forderungen nach Veränderung. Die feministische Sicht auf internationale Beziehungen ist postnational, indem sie diese mit privaten Geschlechterbeziehungen in Verbindung setzt.

Chauvinismus und Autokratie

Nationalistischer Chauvinismus und sexistischer Chauvinismus haben eine Gemeinsamkeit: Sie gehen mit autoritären politischen Strukturen einher und reproduzieren sie. Ein Nationalismus, der auf biologistischen Vorstellungen von ethnischer Reinheit, auf exklusiven kulturellen Traditionen und einem Überlegenheitsgefühl gegenüber anderen Ethnien oder Nationen beruht, ist in seiner Struktur ultrakonservativ und hierarchisch. Wo die nationalistische Identifikation mit einer zumeist männlichen Führungsfigur im Zentrum des politischen Denkens steht, ist kein Platz für Gewaltenteilung, demokratischen Pluralismus oder eine diverse und partizipative Gesellschaft. Wo die herabwürdigende und aggressive Ausgrenzung von »Anderen« ein wesentliches Element der eigenen Identitätsvergewisserung ist, greift Militarismus um sich – der wiederum hierarchisches Denken und Gewalt als Mittel der Politik begünstigt.

Auch im Patriarchat ist politischer Autoritarismus bereits angelegt. Denn wo die privaten Beziehungen zwischen den Geschlechtern, vom patriarchalen Staat begünstigt, auf Unterwerfung und Gewalt beruhen, hat Demokratie in letzter Konsequenz keine Chance. Deshalb bezeichnen Valerie Hudson und ihre Mitautorinnen die Beziehung zwischen den Geschlechtern auch als »Trainingscamp der Autokratie«. Geschlechterdominanz liefert Vorbilder für die Beherrschung und Marginalisierung anderer Gruppen.17 Politische Ordnungen auf der Basis patriarchaler privater Strukturen neigen, je nach Ausprägung, zu Dysfunktionalität, Gewalt, Instabilität, Unsicherheit, Autoritarismus und Korruption. Sie sind außerdem von Verantwortungs-, Rechenschafts- und Straflosigkeit gekennzeichnet.18 Hudson und ihr Forscher:innen-Team haben eine umfassende Datenbank zur rechtlichen und gesellschaftlichen Situation von Frauen angelegt. Das Projekt WomanStats ordnet und bearbeitet die gesammelten Daten anhand von Kriterien wie »Gewalt gegen Frauen«, »Bevorzugung von Söhnen«, »Familienrecht«, »heiratsfähiges Alter von Mädchen«, »Vielehe« und »Recht auf Besitz«. Es verortet Staaten auf einem Spektrum zwischen relativer Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern und extremen patriarchalen Verhältnissen.19 Dabei wird sichtbar, dass Geschlechtergerechtigkeit in liberalen Demokratien ausgeprägter und relativ stabil ist, wenn auch bislang kein Staat die Bestnote erhalten hat. Die Neigung zu Autokratie und aggressiver Politik nach innen und außen nimmt hingegen zu, je stärker patriarchale Strukturen sind.

Diese Chauvinismus-Trias aus Nationalismus, Sexismus und Autokratie leitet meine Analyse an. Der Chauvinismus-Begriff macht die Verbindung zwischen ihnen sichtbar. Er hilft, die feministische Perspektive fest in der Untersuchung der illiberalen Entwicklungen in Russland zu verankern, die in den Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 mündeten. Zudem schärft er nicht nur den Blick auf die russische Politik, sondern auch auf andere gesellschaftliche Systeme. Denn der Chauvinismus ist sowohl mit seinem nationalistischen als auch mit seinem sexistischen Aspekt in allen gesellschaftlichen Systemen vorhanden. Als analytische Kategorie macht er chauvinistische Tendenzen, Denk- und Verhaltensweisen auch in Demokratien sichtbar. Wo sie sich ausbreiten, wird das Fundament demokratischer Ordnungen brüchig und anfällig für autoritäre Entwicklungen – und für die Einflussnahme von externen Akteuren, die die liberalen Demokratien schwächen wollen.

Versuche, den Krieg zu erklären

Der russische Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 markiert einen tiefen Einschnitt. Er ist der erste russische Krieg, der offensichtlich auf die totale Unterwerfung und Vernichtung eines Nachbarstaats abzielt. Er bildet eine Wegmarke im langen Zerfallsprozess der Sowjetunion seit Mitte der 1980er-Jahre. Er beendet eine Periode, in der viele Akteur:innen immer noch glaubten, Putins Russland ließe sich zumindest perspektivisch in eine kooperative europäische Sicherheitsordnung integrieren. Diese Vorstellung ist mit dem Wüten der russischen Streitkräfte in der Ukraine haltlos geworden. Im Angesicht des Unfassbaren suchen die gestern noch Optimistischen nach Erklärungen sowohl für die Katastrophe selbst als auch für das eigene Unvermögen, sie heraufziehen zu sehen.

Krieg und Frieden zwischen Staaten sind ein zentraler Untersuchungsgegenstand der Lehre von den internationalen Beziehungen (IB), einer Teildisziplin der Politikwissenschaft. Die russische Invasion hat eine weitere Runde der alten Kontroverse zwischen zwei der wichtigsten Denkschulen in den IB ausgelöst, dem Realismus und dem Liberalismus.20 Im Kern streiten ihre Vertreter:innen über zwei eng miteinander verknüpfte Fragen: Sind die Ursachen staatlichen Außenverhaltens, also von Krieg und Frieden, primär im internationalen System und im Macht(un)gleichgewicht zwischen den Staaten zu suchen, wie der Realismus lehrt? Oder liegen die Gründe in den Staaten selbst, ihrer politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verfasstheit, wie im Liberalismus dargestellt? Ist das internationale System gemäß dem Realismus unveränderlich anarchisch und Krieg damit immer eine Option staatlichen Verhaltens? Oder kann sich die Staatenwelt dem Liberalismus entsprechend in Richtung einer dauerhaft friedlichen Ordnung mit funktionierenden zwischenstaatlichen Institutionen und engen zwischengesellschaftlichen Beziehungen entwickeln? Diese Fragen sind so alt wie die Disziplin selbst. Russlands Krieg wirft sie für Europa erneut auf. Ähnlich wie in der Nationalismusdebatte gibt es also einen Disput darüber, ob der Mensch als soziales Wesen lernen kann und ob deshalb nachhaltiger Fortschritt in Richtung Frieden möglich ist – oder eben nicht.

Die Denkschule des Liberalismus geht davon aus, dass das internationale System – in Abwesenheit eines allseits anerkannten Herrschafts- und Gewaltmonopols – anarchisch ist. Dieser Urzustand des »Alle gegen alle« kann aber eingehegt werden. Der Liberalismus folgt der auf Immanuel Kant zurückgehenden Annahme, dass Demokratien, zumindest gegen andere Demokratien, weniger Krieg führen. Demokratisch gewählte Regierungen, die ihren Bevölkerungen gegenüber rechenschaftspflichtig sind, neigen zu weniger aggressivem Außenverhalten, denn sie laufen Gefahr, von den Bürger:innen für die anfallenden Kosten durch Abwahl bestraft zu werden. Der Liberalismus nimmt außerdem an, dass Normen des internationalen Rechts und grenzüberschreitende Institutionen, also zwischenstaatliche Verträge oder Organisationen wie die Vereinten Nationen, ein ausreichend stabiles Gerüst bilden können, um Konflikte zwischen Staaten gewaltlos zu regeln. Dem Liberalismus wohnt also ein Fortschrittsgedanke inne: Die Staatenwelt kann sich von der Anarchie hin zu einem friedvollen Zustand bewegen. Die Voraussetzung dafür ist, dass Staaten sich im Innern demokratisieren und auf internationaler Ebene Normen und Regeln für den Umgang miteinander entwickeln und einhalten.