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Hauptkommissar Klaus-Hagen Schäfer ist Kriminalist aus Leidenschaft und Kölner aus Passion. Abseits seiner aufreibenden Tätigkeit will er einfach nur Ruhe haben und sein Leben genießen, aber das Verbrechen in seinen mannigfachen Schattierungen folgt ihm überall hin nach.
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Seitenzahl: 315
Veröffentlichungsjahr: 2018
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Martin Genahl wurde im niederösterreichischen Stockerau geboren und studierte Komposition, Geschichte, Musikwissenschaft und Numismatik in Köln und Wien, wo er als freischaffender Schriftsteller und Komponist lebt. Sein literarisches Schaffen umfasst Romane, Kurzgeschichten, Theaterstücke, Hörspiele und Libretti. „Die Chiffren des Schäfers“ ist sein dritter Kriminalroman (nach „Der Tag, an dem es Kapitalisten regnete“ und „Extremitäten“, die beide im Berlin der Weimarer Republik spielen).
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind ungewollt und rein zufällig.
Für Ela
Prolog: In Bergheim
Schäfers erster Fall - Anno 1985
Chiffre I: In Köln
Im Westen der Republik des Jahres 2008
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Chiffre II: In Wyk auf Föhr
Im Norden der Republik des Jahres 2009
Chiffre III: In Gotha
Im Osten der Republik des Jahres 2010
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Chiffre IV: In Wien
Im Süden der Republik (und darüber hinaus) des Jahres 2011
Epilog: Zurück in Köln
Ein süßer Kulturgenuss – Anno 2015
Aus den Lautsprechern des Radios tropfte das neue Lied von Phil Collins, doch die schmalzige Ballade hatte keine Chance gegen das hysterisch kreischende Kind in der Nachbarwohnung, das Klaus-Hagen Schäfer seit Monaten den Schlaf raubte. Just als er die Wohnung Richtung S-Bahn verlassen wollte, rundete der Anruf seines direkten Vorgesetzten, des Präsidenten, wie ihn alle Kollegen halb anerkennend und halb scherzhaft nannten, den verregneten Morgen nach unten ab.
„Oberkommissar Schäfer, Sie können sich den Weg nach Köln heute sparen, ihr Heimatdörfchen hat um unsere Unterstützung angesucht. Ein Mord.“, überrumpelte ihn die ehrfurchtgebietende Bassstimme des Präsidenten, der nach allgemein vorherrschender Meinung seine aktuelle Position als Dezernatsleiter ohnehin nur als lästige Zwischenstation auf dem Weg zur totalen Macht betrachtete.
„Ein Mord? In Bergheim? Hier? Heute?“, zeigte sich Schäfer hochgradig überrascht.
„Glauben Sie es ruhig, es kommt noch besser.“, lachte sein Vorgesetzter. „Der Tatort befindet sich in Ihrer alten Schule, dem Erftgymnasium.“
„Es gab einen Mord in der Anstalt?“, entfuhr es Schäfer ungläubig, als könnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass gerade an einer seiner früheren Wirkungsstätten irgendetwas Bedeutendes geschehen konnte.
„Ich wusste, Sie würden den Fall lieben. Beeilen Sie sich, der Direktor erwartet Sie bereits.“, beendete der Präsident kurzerhand das Gespräch.
Schäfer sattelte also im wahrsten Sinne des Wortes um und holte sein leicht angestaubtes Fahrrad aus dem mit Spinnweben überzogenen Kellerabteil. Bis zum Gymnasium sollte er nicht länger als acht oder zehn Minuten brauchen. Schäfer nutzte die nostalgische Fahrt zu seiner ehemaligen Schule, um seine ersten Gedanken zu dem Verbrechen zu ordnen, kam aber nicht weit, weil ihm allzu schnell die Informationen ausgingen. Der Präsident hatte nicht einmal erwähnt, wer das Opfer sei, lediglich, dass der Direktor ihn erwartete. Der schied aller Wahrscheinlichkeit nach somit aus, was ihm durchaus bedauernswert erschien. Unter normalen Umständen legte Schäfer übrigens sehr viel Wert auf die Feststellung, dass er durchaus gebürtiger Kölner sei, den lediglich die widrigen Umstände in jungen Jahren nach Bergheim verschlagen hatten, wo er nunmehr in Folge von Trägheit und Alltagstrott bis heute festsaß. Von wegen Heimatdörfchen, aber dieses Mal war die Überraschung größer gewesen als sein Drang, nicht als Bergheimer gelten zu wollen, deshalb fiel die ansonsten obligatorische Klarstellung ausnahmsweise aus. Als er bei der Anstalt, wie er sie nach wie vor nannte, ankam, überfiel ihn wieder die altvertraute Beklemmung, die ihn während der neun Jahre im Bildungsbunker treu begleitet hatte, und die es sogar heute noch schaffte, das soeben gehörte One More Night als Ohrwurm aus seinem Gehirn zu vergraulen. Noch bevor er die Schule betreten konnte, stellte ihn einer der ortsansässigen Ordnungshüter, der es gar nicht erwarten konnte, die Verantwortung für diesen unerquicklichen Vorfall schnellstmöglich abzuschieben. Schäfer erinnerte sich an das Gesicht. Der ländliche Kollege hatte zwar zwei Jahre mehr auf dem Buckel als er selbst, aber in schulischer Hinsicht hatte Schäfer ihn damals rasch eingeholt, so waren sie kurze Zeit Klassenkameraden gewesen, ehe der emsig bemühte Langzeitschüler vorzeitig abging und nach einer Ablehnung bei der Post schließlich im mittleren Polizeidienst landete. Wenn auf dem flachen Land etwas reibungslos funktionierte, dann der Tratsch – und natürlich die Vetternwirtschaft. Schäfer würgte den leicht vorhersehbaren Versuch, sich nach einem knappen Bericht der Eckdaten des Falles unmittelbar wieder aus dem Staub zu machen, mit der schlichten Begründung, er bräuchte in dieser außergewöhnlichen Situation dringend einen Assistenten, bereits im Ansatz ab und nahm die widerwillige Zustimmung seines früheren Mitschülers zufrieden zur Kenntnis. Am Tatort, einem Klassenzimmer im ersten Stock, erwartete den Ermittler bereits der Leiter der Anstalt, Oberstudiendirektor Zacharias Wolf, seines Zeichens begeisterter Lateiner und brillanter Trinker, beides im gleichen Ausmaß.
„Ich erinnere mich ganz genau an Sie, Schäfer, ganz genau, ich wusste, aus Ihnen wird einmal was. Und ich hatte recht. In so jungen Jahren schon Kriminaloberkommissar. Nur wenige Jahre nach dem Abitur. Das ist zu einem guten Teil natürlich auch unser Verdienst als Wissensvermittler.“, überfiel Wolf seinen ehemaligen Schüler mit einem gehörigen Schwall aus Eigenlob.
„Vielen Dank für die späten Blumen, Herr Direktor, aber mein Abschluss liegt doch schon einige Jahre in der Vergangenheit, und weder meine Zensuren, noch sonstige äußere Einflüsse haben mich in diese Position gebracht. Die Lorbeeren dafür muss ich leider für mich alleine beanspruchen.“, entwand sich Schäfer der unangenehmen Jovialität und ließ einen konsternierten Pädagogen zurück.
Der eben noch so hoch Gelobte begutachtete gewissenhaft den Tatort. Wir hatten Anfang August, Ferienende, aber noch kein Vollbetrieb, deshalb war die Schule praktisch leer. Zum Zeitpunkt des Mordes muss das Opfer nahezu alleine mit dem Täter gewesen sein. Bei der Leiche handelte es sich um den ältestgedienten Lehrer des Gymnasiums, Studiendirektor Laurenz Müller, passionierter Mathematiker und von seinen leidgeplagten Schülern in Anlehnung an Friedrich Torbergs Roman Der Schüler Gerber nur Gott Kupfer genannt. Zweifelsfrei einer der unangenehmsten Zeitgenossen unter der Sonne, folglich alleinstehend und kinderlos, dafür mit einer klaffenden Stichwunde im Rücken ausgestattet. Schäfer kannte Müller noch aus seiner eigenen Schulzeit, musste ihn aber glücklicherweise nur ein einziges Jahr als Pauker ertragen. Studiendirektor Müller gehörte zu jenen sentimentalen Zeitgenossen, die ihre Schützlinge auch vierzig Jahre nach Kriegsende am liebsten noch mit den Händen an der Hosennaht vor dem Zeichensaal antreten und gelegentlich auch über den Schulhof exerzieren hätten lassen, wenn es die Möglichkeit dazu gegeben hätte, was von den anderen Lehrkräften und der Schulbehörde allerdings geflissentlich übersehen und überhört wurde. In diesem Stil pflegte er auch sein Regiment - Verzeihung: seinen Unterricht - zu führen. An potentiell Tatverdächtigen und nachvollziehbaren Mordmotiven sollte es also nicht mangeln. Schäfer untersuchte den Leichnam und entdeckte auffällige Kreidespuren an den Fingern und am Gesäß des Opfers. Letzteres war ungewöhnlich - das bezog sich nicht auf Müllers Hinterteil, sondern seine kreideverschmierten Griffel -, dem sollte nachgegangen werden. Neben der üblichen, fix an der Wand befestigten Tafel, befand sich noch eine zweite, etwas kleinere und auf einer Staffelei montierte Schiefertafel im Raum. Vermutlich war das alte Ding eigens aus der hintersten Ecke eines Lagerraums gewuchtet worden, um darauf die Aufgaben für die Neuankömmlinge zu kritzeln. Ungewöhnlich erschien allerdings, dass sie mit dem Gesicht zum Fenster stand, das machte keinen Sinn, außerdem war sie ganz offensichtlich umgefallen und danach wieder aufgestellt worden.
„Der Tatort wurde verändert.“, grollte Schäfer missmutig und drehte die Tafel zu sich.
Sie war leer, lediglich in der rechten oberen Ecke waren mit zittriger Hand zwei Kreise, ein größerer und ein kleinerer, aufgemalt worden. Sie waren leicht verwischt, aber noch deutlich erkennbar
„Was könnten diese beiden Kreise bedeuten?“, murmelte er geistesabwesend.
„Genau genommen sind es zwei Ellipsen.“, dozierte Oberstudiendirektor Wolf.
„Und genau deshalb sind Lehrer auch so beliebt!“, schoss es Schäfer durch den Kopf.
Nachdem auch sonst niemand einen konstruktiven Beitrag leisten konnte, knöpfte er sich wohlbegründet den Schulwart in dessen winzigem Kämmerchen vor, wobei sich rasch herausstellte, dass tatsächlich selbiger die Leiche entdeckt hatte und in pflichtbewusster Unbedarftheit kein Chaos hinterlassen wollte. Der gute Mann hatte den Tatort also notdürftig in Stand gesetzt und dabei wichtige Spuren vernichtet, noch bevor er den Schulleiter informierte, schied aber schon aus purer Debilität und mangels Motiv als Tatverdächtiger aus. Ebenso schnell musste Schäfer einen weiteren, vielversprechenden Verdächtigen, jenen Schüler, den Müller nicht in die nächsthöhere Klasse aufsteigen lassen wollte, und dessen Nachprüfung zur Versetzung eigentlich anstand, von der Liste streichen, nachdem sein Assistent wider Willen ihn aus dem Bett klingeln musste, in das er augenscheinlich erst kurz zuvor im Vollrausch gestolpert war. In diesem Zustand wäre es ihm vermutlich nicht einmal möglich gewesen, die Schule überhaupt zu finden, was wohl auch für die neunte Klasse gelten dürfte.
Also zurück an den Start: Die Tat musste zwischen sieben und acht Uhr morgens stattgefunden haben. Müller war bekannt dafür, seit jeher täglich als einer der ersten im Gymnasium aufzutauchen, aber wer war außer dem späteren Opfer noch derart früh in der Schule anwesend? Freiwillig! Wer kam überhaupt hinein? Schließlich blieb die Tür aus gutem Grund über Nacht nie unversperrt. Somit reduzierte sich dieser illustre Kreis auf den Schulwart, die Sekretärin, das Lehrpersonal und einen potentiellen Einbrecher, wobei freilich nirgends eine Spur für gewaltsames Eindringen festzustellen war, das hatte Schäfer seinen Assistenten auf Zeit akribisch genau untersuchen lassen. Sah nicht gut aus! Schäfer klammerte sich an den letzten Strohhalm und blätterte in der Hoffnung auf eine zündende Idee in Müllers Unterlagen, die noch auf dem Lehrertisch lagen, wo er nach kurzer Suche tatsächlich einen erhellenden Hinweis fand, allerdings an einer Stelle, an der er ihn niemals vermutet hätte. Unter dem Vorwand, dringend seine Dienststelle anrufen zu müssen, verschaffte er sich Zutritt zu Wolfs Büro, wo er neben einigen leeren Weinflaschen tatsächlich den erhofften Beweis sicherstellen konnte, nämlich einen zerrissenen Brief im Papierkorb des Schulleiters, dessen Schnipsel er elegant in seiner Tasche verschwinden ließ. Der Rest war Routine. Eine knappe Stunde später klickten bei Oberstudiendirektor Wolf die Handschellen und er wurde unter den ungläubigen Blicken von Kollegen, Sekretärin und Schulwart abgeführt.
„Tatsächlich der Alte?“, zeigte sich auch der temporär zwangsrekrutierte Kollege bei der anschließenden Verabschiedung fassungslos. „Warum eigentlich?“
„Eifersucht.“, nahm Schäfer die Einladung zur ausführlichen Erklärung seiner genialen Schlussfolgerungen dankend an, sein Zug nach Köln fuhr schließlich erst in knapp zwanzig Minuten. „Die beiden alten Säcke haben selbst im Spätherbst ihres ansonsten ereignislosen Lehrerlebens noch um die Gunst einer jungen Kollegin gebuhlt. Sie ist Musiklehrerin und neu an der Schule, das hat die langgedienten Silberrücken offenkundig scharf und wieder jung gemacht. Den Brief, in dem die mehrfach Angebetete Wolf mitgeteilt hat, dass er bei ihr abgeblitzt ist, habe ich aus dem Papierkorb gefischt. Es dauerte fast vierzig Minuten, ihn wieder zusammenzufügen. Das älteste Motiv der Welt. Wieder einmal. Dabei konnte Müller auch nicht bei ihr landen, aber er hat es am Telefon erfahren. Dieses Detail hat mir die Dame bereitwillig bestätigt, doch davon wusste Wolf nichts.“
Angesichts der über dem Kopf seines Gegenübers schwebenden Fragezeichen legte Schäfer eine kurze Verschnaufpause ein.
„Den entscheidenden Tipp habe ich von Müller selbst erhalten.“, klärte er schließlich auch noch die letzte offene Frage. „Wolf hat von hinten zugestochen. Müller klammerte sich an die Tafel und riss sie mit sich um. Dann hat er sich wohl umgedreht und seinen Mörder erkannt, wusste aber, dass er keinen direkten Hinweis hinterlassen konnte, weil Wolf diesen sofort vernichtet hätte, also malte er hinter seinem Rücken das an die Tafel, was ich im ersten Moment irrtümlich für zwei Kreise hielt. In Wahrheit ist es eine Potenz, Null hoch Null, was per festgesetzter Definition Eins ergibt, wie mir Müllers Unterlagen verrieten. Und wer ist die Nummer Eins an der Schule?“
Schäfers Ausführungen entlockten den Umstehenden ein anerkennendes Raunen inklusive respektvollem Kopfnicken. So hatte er sich das vorgestellt.
„Gut, dass der Direx kein Mathematiker ist.“, lachte der wackere Dorfpolizist, während Oberinspektor Schäfer selbstzufrieden pfeifend Richtung Bahnhof schlenderte.
Sein Fahrrad steht vermutlich heute noch vor der Schule und rostet fröhlich vor sich hin.
Kurz und bündig, aber genau so hat mein alter Freund seinen Jungfernfall, wie er ihn gerne nennt, in Erinnerung behalten, dessen bin ich mir absolut sicher, schließlich musste ich die Geschichte unzählige Male über mich ergehen lassen, ehe ich mich endlich bereit erklärte, sie für die Nachwelt aufzuschreiben.
Es gab absolut nichts zu tun. Neben völlig belanglosen Fernsehsendungen und ein paar veralteten Videospielen, deren monotone Geräuschkulisse nicht nur die Spielenden nervte, blieb lediglich das Warten auf den heiß ersehnten Feierabend. Es war nicht die erste Nachtschicht in einem kleinen Kölner Polizeirevier, die nach diesem Muster ablief. Auch als gegen zwei Uhr morgens das Telefon klingelte, rechnete keiner der gelangweilten Kollegen mit einem ernstzunehmenden Einsatz. Die Wahrscheinlichkeit, dass es sich dabei nur um eine Beschwerde wegen nächtlicher Ruhestörung handelte, die routinemäßig in den Papierkorb wandern würde, war ungleich höher. Doch ein einziger Blick auf den Gesichtsausdruck des Beamten, der das Telefonat entgegennahm, zeigte, dass hier etwas bedeutend Ernsteres in der Luft lag. Kaum hatte er den Hörer aufgelegt, schnappte er sich seine Jacke und bedeutete einem Kollegen, ihm zu folgen.
„Wir haben eine Leiche in einem Abbruchhaus.“, instruierte er diesen knapp, der auch sofort alles stehen und liegen ließ und mit ihm zum Wagen rannte.
Mit quietschenden Reifen ging es los.
„Was ist denn mit dir? Du machst ja ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter. Das ist doch nicht der erste Tote zu dem wir gerufen werden. Vermutlich ein Penner, der sich totgesoffen hat.“
Nachdem sie schon ein paar Kilometer in einem Höllentempo, das seinesgleichen suchte, durch die Stadt gefahren waren, ohne ein weiteres Wort gewechselt zu haben, erschien die Frage durchaus berechtigt.
„Wenn ich dem hysterischen Geschrei am Telefon glauben kann, wird das kein Routineeinsatz. Die Frau war dermaßen durch den Wind, dass ich nur die Hälfte von dem, was sie gesagt - vielmehr gestottert - hat, überhaupt verstehen konnte. So einen Schock holst du dir nicht beim Anblick einer toten Ratte. Du solltest davon ausgehen, dass die Sache hässlich wird.“
Schweigend, jeder in seine eigenen Gedanken versunken, jagten sie weiter durch die menschenleeren Straßen. Die Ungewissheit blieb. Manche wurden eben auch beim Anblick eines toten Nagetiers hysterisch.
Am Fundort der Leiche angekommen, schlug den Beamten dann auch direkt ein widerwärtig süßlicher Geruch entgegen. Ein überaus typisches Aroma. Es roch nach verwesendem Fleisch. In einer dreckigen Ecke des baufälligen Gebäudes kauerte die komplett verstörte Anruferin, eine junge Frau, vollkommen verwahrlost, in zerrissenen Klamotten. Die bemitleidenswerte Kreatur hatte vermutlich nur ein trockenes Plätzchen für die Nacht gesucht. Unentwegt deutete sie mit der Hand in Richtung des Nebenraumes. Ihr Gesicht war so weiß wie die Wand, an der sie sich abstützen musste.
„Kümmere dich mal um die Kleine, ich schaue mir das an.“, ergriff der Dienstältere die Initiative.
Mit einem Taschentuch vor der Nase, um den ekligen Gestank ertragen zu können, betrat der Polizist den Raum, während der zweite Beamte sich der hemmungslos weinenden und zitternden Frau annahm, die jedoch nicht zu beruhigen war. Der Schrecken saß offenkundig tief, und ihr Zustand gab Anlass zu ernsthafter Besorgnis.
„Wir brauchen hier schnellstens einen Krankenwagen.“
Der Funkspruch war längst überfällig gewesen.
„Ist schon unterwegs, müsste gleich am Einsatzort eintreffen!“, quäkte es daraufhin aus dem Funkgerät.
Sekunden verstrichen wie Stunden, während die vermeintliche Augenzeugin ungebremst auf einen kapitalen Nervenzusammenbruch zusteuerte. Die Anspannung war ebenso unerträglich wie die Dunkelheit, die sich wie ein Leichentuch über die Szenerie legte. Endlich kam der Kollege aus dem Nebenraum zurück. Seine Schritte waren schwer und unsicher, das Gesicht kreidebleich. Kurz blickte er seinen Partner an, dann rannte er zur gegenüberliegenden Ecke, um sich zu übergeben. Langsam rutschte er rücklings an der modernden Wand herunter, seine Stimme bebte.
„Das ist eindeutig eine Nummer zu groß für uns.“
Hauptkommissar Klaus-Hagen Schäfer rutschte auf Händen und Knien durch seine Küche und versuchte, das Paprikapulver, das er gerade in hohem Bogen gleichmäßig auf dem Boden verteilt hatte, wieder einzusammeln. Schließlich wollte sein legendäres Gulasch auch entsprechend gewürzt sein. Er hatte das Paket mit dem edelsüßen Pulver nicht aus blanker Unachtsamkeit fallen lassen, vielmehr hatte genau im wirklich ungünstigsten Moment sein Diensthandy geläutet und ihm dadurch einen derartigen Schrecken versetzt, dass es unweigerlich zu besagtem Missgeschick kommen musste. Die Titelmelodie zum Film Der weiße Hai, die er den Anrufen aus dem Kommissariat zugewiesen hatte, hörte er nicht mehr oft in letzter Zeit, um so ernster musste es genommen werden, wenn es doch wieder einmal passierte.
„Was gibt es?“, meldete er sich missmutig.
Das schwere Schnaufen am anderen Ende der Leitung verriet unmittelbar den Teilnehmer am anderen Ende der Leitung, namentlich seinen direkten Vorgesetzten, Kommissariatsleiter Adrian Haidt, mit dem ihn eine sorgsam gepflegte Männerfeindschaft verband. Selbige begann tatsächlich an jenem Tag, an dem sie das erste Mal aufeinandertrafen. Das war nämlich der Tag, an dem dieser kleine, überprivilegierte Karrierist ihm, der eigentlich für den Posten des Leiters des Kommissariats vorgesehen und auch ungleich besser qualifiziert war, von einem Rudel korrupter Stadtpolitiker vor die Nase gesetzt wurde. Somit war die längst überfällige Beförderung Geschichte - und der Klüngel hatte wieder einmal die Vernunft besiegt. Ausgehend von diesem schicksalshaften Zeitpunkt, verschlechterte sich das Verhältnis zwischen den beiden Männern buchstäblich von Minute zu Minute. Es war Hass auf den ersten Blick. Das war jetzt knapp vier Jahre her und markierte gleichzeitig den Anfang des langsamen Niedergangs von Schäfers Karriere. Seither waren für ihn nur mehr die perversen Serientäter, Kinder- und Ritualmorde, und natürlich die praktisch unlösbaren Fälle reserviert. Selbstverständlich geschah all das vorsätzlich und in der Hoffnung, dass er früher oder später seelisch an dieser Bürde zerbrechen und hinschmeißen würde. Aber den Gefallen wollte er diesem rückgratlosen Schleimer nicht erweisen.
„Es gibt Arbeit, Schäfer, ich erwarte Sie in spätestens einer Stunde in meinem Büro.“, drang es in herrischem Ton an sein Ohr.
An den Verlust jeglicher Manieren im Umgang mit den Mitmenschen würde sich Schäfer zwar nie gewöhnen, hatte es aber mittlerweile aufgegeben, sich diesem flächendeckenden Phänomen großartig entgegenzustellen, auch wenn er selbst sich niemals an dieser Modeerscheinung beteiligen würde. So war das Leben nun einmal, zumindest seines, doch trotz aller Unwegbarkeiten übte er seinen Beruf gerne aus und leistete deshalb auch den schroffen Anweisungen seines Vorgesetzten Folge. Rasch tauschte er die legere Jogginghose wieder gegen Straßenkleidung ein und machte sich auf den Weg zum Kommissariat. Ein letzter sehnsüchtiger Blick fiel beim Verlassen der Wohnung noch auf den dampfenden Kochtopf. Aber egal. Gulasch schmeckte aufgewärmt sowieso besser.
Schäfer lenkte seinen zwanzig Jahre alten Mazda durch das abendliche Köln. Unter normalen Umständen würde er diese Fahrt genießen, aber mit der Perspektive, gleich auf Haidt zu treffen, wollte sich kein angenehmes Gefühl bei ihm einstellen. Wie immer zu schnell und unter Aufwendung sämtlicher Flüche, die er im Repertoire hatte, schlängelte er sich durch den traditionell chaotischen Verkehr. Es hatte seine Vorteile, einen dermaßen alten, fahrbaren Untersatz sein Eigen zu nennen, denn ernsthafte Rücksicht musste er in Sachen Feindberührung nicht wirklich nehmen. Ganz im Gegenteil waren es die zahlreichen Bonzen und überbezahlten Bankmanager in ihren hochgezüchteten Luxuskarossen, die panische Angst davor hatten, dass einer wie Schäfer mit seiner Rostlaube ihre kostbaren und innig geliebten Statussymbole auch nur leicht verkratzen könnte, was bei den meisten Vertretern dieser Spezies einer Entmannung gleich gekommen wäre. Abgesehen davon liebte er seinen alten Schrotthaufen, bei dem auch die kleinste der zahlreichen Dellen von einem Hauch von Totalschaden umweht wurde. Dieses Fahrzeug würde er erst aufgeben, wenn es ihm unter dem Allerwertesten zusammenbricht. Die Karre lief und lief und lief, ließ sich beim Anspringen zwar auch immer gerne mal ein wenig bitten, hatte ihn aber letztendlich noch nie im Stich gelassen. Manchmal funktionierte auch die Elektronik zur Öffnung des Schiebedachs, manchmal auch nicht, je nach Lust und Laune. Dieses Auto hatte eben Charakter. Und es hatte auch einen eingebauten Parkplatz. Nicht immer einen legalen, aber da die gelegentlich anfallenden Strafmandate ohnehin nie bezahlt wurden, war das nicht weiter von Bedeutung.
„Hallo, Kommissar Schäfer, wieder einmal im Lande? Sie machen sich ja ziemlich rar in letzter Zeit.“ Mit gespielter Entrüstung wurde Schäfer von Haidts Sekretärin, die von allen Kollegen nur Lilly genannt wurde, weil Alina hier einfach nicht reinpassen wollte, herzlich begrüßt.
Sie war einer der wenigen Lichtblicke in diesem Betonbunker, der nach erwähnter feindlicher Machtübernahme noch ein wenig kälter geworden war.
„Und die ganze Zeit vergehe ich vor Sehnsucht nach Ihnen.“, gab Schäfer das Kompliment zurück.
Sie lachten und umarmten sich.
„Alter Charmeur! Wenn ich Ihnen nur glauben könnte.“ Kokett hob sie ihre Augenbrauen und beugte sich zu Schäfer vor.
„Ich weiß nicht, was der alte Tyrann so spät noch von Ihnen will, aber Sie sollten vorsichtig sein.“, flüsterte sie mit warnendem Unterton.
„Danke für die Warnung, aber bei dem Kerl bin ich ohnehin immer auf der Hut.“, antwortete Schäfer und wollte sich zur Tür drehen, doch die Sekretärin zog ihn noch einmal am Arm zurück.
„Schon, aber ich habe gehört, dass…..“
Sie konnte den Satz nicht mehr zu Ende sprechen, weil sich in diesem Moment die Tür öffnete und besagter Kommissariatsleiter Haidt, eine Duftwolke des ekligsten Parfüms unter der Sonne hinter seinem massigen Körper herziehend, aus seinem Büro kam.
„Für Privatgespräche werden Sie ja wohl beide nicht bezahlt. Hauptkommissar Schäfer, in mein Büro, und Fräulein Lilly hat vermutlich auch noch zu arbeiten, oder?“
Lilly senkte den Kopf und bearbeitete schweigend die Tastatur ihres Computers. Man musste kein Hellseher sein, um zu bemerken, wie sehr ihr dieser Mann den Job vermieste. Sie konnte ihn einfach nicht leiden. Schäfer teilte diese Auffassung. Bis jetzt hatten sich sein Chef und er noch nicht einmal begrüßt, dabei beließen sie es auch.
„Das ist alles, was wir haben.“ Haidt knallte ohne weiteren Kommentar eine dicke Polizeiakte auf den Schreibtisch.
„Und was soll das sein?“ Schäfer, der auch ungefragt Platz genommen hatte, reagierte demonstrativ gelassen und betont gemächlich.
Natürlich wusste er, dass Haidt diese träge Lässigkeit auf den Tod nicht ausstehen konnte. Ein Grund mehr, noch einen Gang zurückzuschalten. Anstatt sich die Akte anzusehen, ging Schäfer erst einmal zum Automaten und holte sich einen Becher Kaffee. Auch der Kaffee war ausnehmend widerlich. Haidt war stinksauer und drohte zu platzen, aber er wusste, dass er Schäfer nicht auf die direkte Art loswerden konnte. Das würde nur Ärger bringen, weil absolut jeder im Haus um ihr gespanntes Verhältnis und um die Schiebereien, die ihn, den verhassten Günstling der Politik, in dieses Amt gebracht hatten, wusste. Nur wenn Schäfer über seine eigenen Beine stolperte, konnte er sich elegant dieses Quälgeistes entledigen. Betont ruhig öffnete Haidt die Akte und schob Schäfer einige Fotos über den Schreibtisch zu.
„Wieder so ein durchgeknallter Religionsfreak. Wahrscheinlich ein schwuler Pfarrer, dem der Saft irgendwann aus den Ohren herausgeronnen ist. Früher wurden solche Probleme noch mit Pfarrersköchinnen gelöst.“, lachte er dreckig und selbstgefällig über seinen eigenen, völlig niveaulosen Scherz.
Schäfer warf einen kurzen Blick auf die Tatortfotos. Mehr war auch gar nicht nötig, denn genau diese Art von Bildern hatte er schon viel zu oft gesehen. Öfter, als er es eigentlich ertragen konnte, aber er durfte sich nichts anmerken lassen. Nie. Wie immer täuschte er auch dieses Mal Professionalität vor, anstatt vor Wut und Verzweiflung die Wände hochzugehen.
„Diese Zahlen, könnten das Verweise auf Bibelstellen sein, die da an die Wand gemalt wurden?“, hakte er unschuldig nach.
Natürlich mit Blut! Er hatte diese perversen Fanatiker so satt, dass er rund um die Uhr kotzen könnte.
„Vermutlich das Übliche, vielleicht auch nicht. Die Bibel und andere Märchenbücher beherrsche ich nicht auswendig, und mit dem Koran kenne ich mich gar nicht aus. Aber das festzustellen ist ab jetzt ihre Aufgabe. Und das ist auch gut so!“, entgegnete Haidt sichtlich gelangweilt.
Mit einer kleinen, wegwerfenden Handbewegung schob er Schäfer nicht nur den Fall zu, sondern demonstrierte auch gleich zum wiederholten Male, wer hier der Herr im Haus war. Der alte Drecksack genoss die Situation augenscheinlich.
„Genehmigen Sie mir einen Assistenten?“, fragte Schäfer, ohne den Blick von den Bildern zu erheben.
Haidt blickte auf.
„Sind Sie etwa jetzt schon überfordert?“, kam es spottend zurück.
Schäfer verkniff sich den einen oder anderen Kraftausdruck und überging die entbehrliche Pöbelei seines Vorgesetzten.
„Mit etwas Unterstützung könnte ich den Fall wesentlich schneller lösen, ehe vielleicht noch weitere Opfer zu beklagen sind, aber wenn der Erhalt von Menschenleben keine Bedeutung für sie hat, verzichte ich natürlich gerne darauf und führe meine Ermittlungen alleine und dementsprechend im Schneckentempo durch.“ Schäfer grinste Haidt, der verdutzt die Lippen aufeinander presste, unverhohlen an.
Haidt stand schwerfällig aus seinem protzigen Ledersessel auf und ging zum Fenster. Vermutlich verwehrte ihm seine unglaubliche Ignoranz, den herrlichen Ausblick über die hell erleuchtete Altstadt entsprechend zu würdigen, anstatt nur ins Leere zu starren, aber das war bei Menschen seines Schlages nichts Ungewöhnliches. Für Schönheit musste man offen sein, Charakteren wie Haidt blieb sie jedoch verwehrt, was Schäfer gleichermaßen erfreute und fair erschien. Die Minuten verstrichen unter kollektivem Schweigen. „Wir haben letzte Woche vier Frischlinge von der Polizeischule hereinbekommen. Suchen Sie sich einen davon aus, die fehlen sowieso nirgends.“, grollte Haidt schließlich, ohne Schäfer eines weiteren Blickes zu würdigen.
Schäfer schnappte sich die Akte und verließ grußlos den Raum. Jede zusätzliche Wortspende wäre reine Verschwendung gewesen. Die Sekretärin blickte vorsichtig hoch, als sich die Bürotür öffnete. Ihre Gesichtszüge entspannten sich, als sie sah, dass es Schäfer war, der da mit gerunzelter Stirn und versteinertem Gesicht auf sie zukam.
„Muss ich nachfragen?“ Sie neigte den Kopf zur Seite und bot ihm Kaffee an.
„Bloß nicht, alles wie gehabt.“, stöhnte Schäfer.
Da der Kaffee aus dem gleichen Automaten kam, lehnte er ihn dankend ab.
„Ich kann mich bei den Frischlingen bedienen und mir einen Assistenten aussuchen, können Sie mir da einen Tipp geben?“
Lilly verzog angestrengt das Gesicht und suchte im Aktenschrank nach den Personalunterlagen der Neuankömmlinge.
„Zwei Männlein, zwei Weiblein, alle ziemlich unscheinbar und erst seit zehn Tagen hier. So wirklich weiterhelfen kann ich Ihnen da leider nicht.“, bedauerte sie, während sie vier Fotos auf dem Schreibtisch ausbreitete.
Schäfer überflog die Portraits. Der Mauerblümchenanteil lag tatsächlich bei einhundert Prozent, aber letztendlich suchte er auch einen verlässlichen Assistenten und keinen Popstar.
„Kann ich mir die bis morgen ausleihen, oder ist es mittlerweile üblich, dafür erst ein paar Formulare auszufüllen?“, flachste Schäfer, während er die Fotos in die Manteltasche steckte, ohne die Antwort auf seine ohnehin nur rhetorisch zu verstehende Frage abzuwarten.
„So einfach geht das nicht! Zuerst müssen Sie einen Antrag auf Aushändigung eines Antragsformulars stellen, danach sehen wir weiter.“, erwiderte die Sekretärin lachend, aber mit einem bitteren Unterton, den seichten Witz.
Schäfer zog das Knöllchen unter seinem Scheibenwischer hervor und warf es in den nächsten Mülleimer. Eigentlich hatte er tierische Lust, noch ein oder zwei Kölsch in einer seiner geliebten Kölner Kneipen einzunehmen, aber das Pflichtbewusstsein siegte dieses Mal über den Schlendrian und er fuhr direkt nach Hause, wo er seinen Wagen mangels Alternativen auf einem Zebrastreifen abstellte. Im Treppenhaus begegnete er Frau Schmitz, eine nette, ältere Dame, deren Alkoholfahne sie ebenso treu durchs Leben begleitete, wie die Musik der Sechziger-Jahre, die Tag und Nacht aus ihrer Wohnung dröhnte. Das alte Mädchen war nicht nur geistig in der Zeit der Hippies hängengeblieben, sondern auch schon ziemlich taub.
„Guten Abend, Herr Polizeipräsident, hat wieder einmal ein Massenmörder in zweiter Spur geparkt?“, amüsierte sie sich, während Schäfer ihr ein Kusshändchen zuwarf.
Schäfer verteilte die Fotos seiner potentiellen Assistenten auf dem Couchtisch und überlegte, nach welchen Kriterien er einen der Aspiranten auswählen sollte. Auch die persönlichen Daten auf der Rückseite der Bilder erleichterten ihm die Entscheidung nicht. Alle hatten die Polizeischule mit guten, aber nicht herausragenden Leistungen abgeschlossen, Hobbies schien sich niemand mehr leisten zu können oder zu wollen, anderweitige Interessen wohl auch nicht, zumindest war hier nichts vermerkt, was darüber Aufschluss hätte geben können. De facto waren die vier untereinander restlos austauschbar, allerdings war einer der Frischlinge drei Jahre älter als seine Mitbewerber. Was die Verzögerung bei der Ausbildung bewirkt hatte, ging aus den Unterlagen nicht hervor. Vielleicht ein Schulversager mit zwei oder gar drei Ehrenrunden? Oder ein gescheiterter Handwerker? Schäfer war neugierig geworden und griff zum Telefon. Ein wenig spät war es zwar schon für einen Anruf, vor allem, wenn man den Angerufenen noch nicht einmal persönlich kannte, aber die Neulinge sollten sich gleich mal an die Realität der Polizeiarbeit gewöhnen. Und da war der Begriff Feierabend eben nur ein unverbindlicher Richtwert. Der junge Mann war hörbar überrascht über Schäfers Anruf, unterzog sich aber bereitwillig dessen Verhör.
„Und wie haben Sie die drei Jahre gegenüber ihren Kollegen vertändelt?“, kam er sehr schnell auf den Punkt.
„Ich habe studiert, ehe ich in den Polizeidienst eingetreten bin. Fünf Semester lang.“, kam die wenig originelle Antwort.
Schäfer selbst hatte jahrelang Jura studiert, besser gesagt, seine Zeit als Student genossen. Dann hatte seine Familie ihm den Geldhahn zugedreht, worauf er sich für den Weg des geringsten Widerstandes entschied und somit eine geregelte, bürgerliche Arbeit suchte. Über ein paar der üblichen Umwege war er dann letztendlich bei der Polizei gelandet. In seinem tiefsten Inneren bereute er den Schritt, das Studium nicht abgeschlossen zu haben, bis heute, aber diese Möglichkeit hatte er endgültig in den Sand gesetzt, denn für ihn war völlig klar, dass er niemals gemeinsam mit verwöhnten Teenies die Schulbank drücken würde. Nicht in seinem biblischen, unerbittlich und unaufhaltsam voranschreitenden Alter.
„Und was haben Sie studiert?“, hakte er nach seinem geistigen Exkurs schließlich nach.
„Theologie. Ich habe Theologie studiert.“, tönte es geradezu entschuldigend aus dem Telefon.
Vom Beinahe-Pfaffen zum Polizisten. Perfekt! Das war die Besonderheit, die Schäfer bis zu diesem Zeitpunkt so verzweifelt gesucht und vermisst hatte. Die Entscheidung war also gefallen und endgültig. Sein neuer Assistent, Georg Würfel, würde ihm zweifellos noch gute Dienste leisten und viel Freude bereiten.
„Sie wissen Bescheid, wir sehen uns morgen früh.“, entließ Schäfer den leicht verstörten Jungen nach einem mehr als einstündigen Gespräch, in dem er ihm im Eiltempo die Eckdaten des Falles, so wenig auch bisher bekannt war, nahegebracht hatte, in eine vermutlich schlaflose Nacht.
Nachdem diese Vorarbeit erledigt war, erwartete ihn nun selbst noch eine Pflicht, auf die er sehr gerne verzichtet hätte. Er musste in den Kopf des Täters kriechen, sich in dessen Lage versetzen. Schäfer hasste diesen leider unvermeidbaren Teil seiner Arbeit. Hinauszögern konnte er die obligatorischen Qualen, die ihm unweigerlich bevorstanden, aber abwenden konnte er sie nicht. Widerwillig studierte er die Akten mit all ihren Abscheulichkeiten noch einmal auf das Gründlichste, ehe er ohne jegliche Zuversicht zu Bett ging, denn er wusste ganz genau, dass die Bilder und Details dieses Falles auch ihm den Schlaf rauben würden. Und das galt definitiv nicht nur für diese Nacht.
Punkt acht Uhr dreißig stand Schäfer am vereinbarten Treffpunkt, der Eingangshalle des Kommissariats. Gut, vereinbart war eigentlich acht Uhr gewesen, aber schließlich war er der Chef und schon gar kein Frühaufsteher. Dass sein Helferlein noch nicht zur Stelle war, irritierte ihn allerdings sehr, denn für die unteren Chargen gab es keine Gnade bei allfälligen Verspätungen. Schäfer wandte sich an die Empfangsdame, die seit vier Jahren aus nur allzu durchsichtigen PR-Gründen hier ihren Dienst versah und in erster Linie hübsch auszusehen und mit gut geputzten Zähnen ununterbrochen zu lächeln hatte. Sie erfüllte ihren Job mit derart beiläufiger Eleganz, dass er nicht einmal ihren Namen kannte.
„Ich warte auf einen Kollegen, Georg Würfel, haben Sie ihn heute schon gesehen?“, wandte sich Schäfer an die Namenlose.
Die junge Frau konnte nur mühsam ein Lachen unterdrücken.
„Würfel? Haben Sie tatsächlich Würfel gesagt? Tut mir leid, aber ich kenne hier keinen Würfel. Und heute ist mir auch noch keiner über den Weg gerollt.“, prustete sie sichtlich amüsiert.
Schäfer war zu dieser morgendlichen Uhrzeit noch nicht aufnahmefähig für Späße jeglicher Art.
„Er ist seit fast zwei Wochen hier, kommt frisch von der Polizeischule, vielleicht hilft Ihnen das ja weiter.“, insistierte er.
„Sind Sie Hauptkommissar Schäfer?“, zirpte es plötzlich in seinem Rücken.
Schäfer hatte gar nicht bemerkt, dass jemand hinter ihm stand und schnellte herum.
„Ich bin Georg Würfel, ihr neuer Assistent.“, stellte sich der Zirpende artig vor.
Gott, war der Knabe winzig! Sogar Schäfer, selbst kein Riese vor dem Herrn, überragte den Kollegen Würfel um fast einen Kopf.
„Ach, unseren Churchy haben Sie gesucht! Warum sagen Sie das nicht gleich?“, platzte es aus der Empfangsdame heraus, noch ehe Schäfer überhaupt reagieren konnte.
„Churchy?“, fragte er nunmehr ungläubig nach.
Der Angesprochene zog resignierend die Schultern hoch.
„Du heißt echt Würfel, das glaube ich ja nicht!“, gackerte und kicherte es aus dem Hintergrund.
Diese blonde Tussi verstand es in der Tat, sämtliche Klischees der banaleren Sorte zu erfüllen. Schäfer zog es vor, die Debatte vorerst nicht zu vertiefen und schob Georg sanft in Richtung der Kantine.
„Danke für die Unterstützung, aber ich bin es gewohnt, dass über meinen Namen gelacht wird.“, meinte dieser und bezahlte den Kaffee.
Ein gelungener Einstand für eine gute Zusammenarbeit.
„Ich habe Sie auch deshalb ausgewählt, weil Sie über theologische Kenntnisse verfügen. Wie ich Ihnen in unserem nächtlichen Telefonat bereits erklärt habe, fürchte ich, dass wir es mit einer Art Bibelkiller zu tun haben, also ein klassischer Nachahmungstäter zweitklassiger Kinofilme.“, stieg Schäfer gleich mit voller Kraft in den Fall ein.
„Ist ja schon fast inflationär. Ich dachte, dieser Mist mit den Bibelcodes sei längst aus der Mode gekommen, aber die Spinner sterben wohl nie aus. Wenigstens war mein höchst erfolgloses Studium dann vielleicht doch zu etwas gut, das habe ich bisher nämlich immer stark bezweifelt.“, gab Georg gleich in seiner ersten Wortmeldung seinen Hang zum ungebremsten Redeschwall preis.
„Das wird sich noch zeigen.“, bremste Schäfer die etwas zu früh aufkommende Euphorie seines Assistenten. „Auf alle Fälle brauchen wir einen Platz zum Arbeiten. Haben Sie ein Büro?“
Georg blickte Schäfer ungläubig an. „Ich habe hier nicht einmal einen Schreibtisch.“, antwortete er nach einer kurzen, schöpferischen Pause, um unmittelbar hinzuzufügen: „Ich dachte, Sie als Hauptkommissar hätten hier alle Rechte?“
„Das ist eine sehr lange Geschichte, aber wir werden schon ein ungestörtes Plätzchen finden.“, unterbrach Schäfer und bedeutete ihm zu gehen.
Schäfer legte die Fotos der Tatorte auf die Tische im Hinterzimmer seiner Stammkneipe. Glücklicherweise war er mit dem Wirt befreundet, und in der Not musste eben improvisiert werden. Außerdem konnte er auf Phasen in seinem Leben verweisen, wo er ohnehin praktisch in dieser Kneipe gewohnt hatte.
„Dann wollen wir mal zur Bestandsaufnahme schreiten. Wir haben drei Morde mit identischem Muster. Bestialische Ausführung, mit Blut an die Wand geschriebene Botschaften, keine bekannte Verbindungen der Opfer zueinander, keine Zeugen, keine verwertbaren Spuren. Alle Indizien deuten auf einen rituellen, religiös motivierten Hintergrund.“ Schäfers Stimme war belegt, man merkte, wie nahe ihm die Sache ging.
Georg starrte lange auf die zahlreichen Bilder, auch ihm setzte das, was er da zu sehen bekam, mächtig zu.
„Die Brutalität, mit der hier gemordet wurde, ist ein klarer Fall für den Psychiater.“, brach er erst nach einer ganzen Weile das Schweigen.
„Für mich ist jeder Mörder reif für die Psychiatrie. Manchmal kann ich es sogar verstehen, dass die Menschen durchdrehen und die Gesellschaft solche Psychopathen wie am Fließband produziert. Trotzdem bleibt es an uns hängen, diese Störfaktoren aus der Gesellschaft zu entfernen.“, entgegnete Schäfer und gab Georg eines der Bilder. „Was können Sie erkennen?“
Georg studierte das Foto, das im Wesentlichen mit Blut geschmierte Zeichen auf einer alten Wand zeigte, sehr genau.
„Ich lese hier John 7, 14, 9, sehr seltsam.“, schüttelte er den Kopf.
„Was genau ist seltsam daran?“, brachte Schäfer die Diskussion ins Rollen.
„Zum einen frage ich mich, warum die Botschaft in Englisch gehalten ist, also John, was sich eigentlich nur auf das Evangelium nach Johannes aus dem Neuen Testament beziehen kann, zum anderen ist eine Zahl zu viel aufgelistet, keine Ahnung, wofür die stehen soll. Andererseits wiederum werden die meisten Bibeln nun mal in den USA verkauft.“, erklärte Georg.
Schäfer sah seinen Assistenten ungläubig und fragend an.
„Sie müssen schon Nachsicht mit mir üben, ich nehme die Bibel nämlich nur dann in die Hand, wenn mein Tisch wackelt, und so einen explizit sakralen Fall kenne ich bisher auch nur aus der Theorie, also bitte noch einmal zum Mitschreiben: Sie meinen, John steht hier für Johannes, und die Amis haben sämtliche Namen einfach so ins Englische übersetzt?“, hakte er ungläubig nach.
„Stimmt genau, aber Deutsch war ja auch nicht die ursprüngliche Sprache der Evangelien, auch da wurde einfach drauf los übersetzt, ohne große Rücksicht auf die Originalsprache zu nehmen. Auf Englisch heißen die Evangelisten jedenfalls John, Mark, Matthew und Luke.“, ergänzte Georg seine Ausführungen.
Schäfer konnte und wollte sich das Lachen nicht verkneifen.
„Tatsächlich Luke, so wie in Star Wars?“, ahmte er das einschlägige Geräusch nach.
Auch Georg schaffte es nicht, sich der ungewollten Komik zu entziehen.
„Vermutlich war aber Darth Vader nicht sein Vater.“, lachte er.
„Klingt trotzdem eher nach den Mitgliedern einer Boygroup aus den Neunzigern, aber das hilft uns auf Dauer nicht weiter.“ Schäfer musste die Ermittlungen wieder auf eine ernste Basis stellen, sonst drohte zu viel kostbare Zeit verloren zu gehen.
„Abgesehen davon: Was meinten sie damit, es sei eine Zahl zu viel?“, nahm er wieder Fahrt auf.
Georg deutete auf das Foto.
„Normalerweise werden Bibelstellen mit einer Zahl für das Kapitel, und einer Zahl für den Vers beschrieben. Zum Beispiel bezeichnet Lukas 9, 7 dann eben das Evangelium nach Lukas, Kapitel Neun, Vers Sieben. So ist jeder Stelle des Neuen Testaments exakt eine Zahlenkombination zugeordnet.“, beendete er endlich seinen Vortrag.