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Berlin, 1924. Eine grauenvolle Mordserie, die sich in ihren bestialischen Details offenkundig an einem soeben anlaufenden, brandneuen Stummfilm orientiert, hält die Hauptstadt der noch jungen Weimarer Republik in Atem. Die Polizei tappt restlos im Dunkeln und übergibt daher den aussichtslos scheinenden Fall dem vergleichsweise unerfahrenen Kollegen Roderich Unfried, dessen Leidenschaft für Gruselgeschichten und Schauerromane unvermutet zum unschätzbaren Vorteil bei der Aufklärung des verstörenden Verbrechens avanciert.
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Seitenzahl: 283
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Martin Genahl wurde im niederösterreichischen Stockerau geboren und studierte Komposition, Geschichte, Musikwissenschaft und Numismatik in Köln und Wien, wo er als freischaffender Schriftsteller und Komponist lebt. Sein literarisches Schaffen umfasst Romane, Kurzgeschichten, Theaterstücke, Hörspiele und Libretti. „Extremitäten“ ist sein zweiter Kriminalroman (nach „Der Tag, an dem es Kapitalisten regnete“), der im Berlin der Weimarer Republik spielt.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind ungewollt und rein zufällig.
Für Ela
Kapitel 1 – Vorspann
Kapitel 2 – Aufblende
Kapitel 3 – Schwenk
Kapitel 4 – Szene
Kapitel 5 – Nahaufnahme
Kapitel 6 – Sequenz
Kapitel 7 – Montage
Kapitel 8 – Froschperspektive
Kapitel 9 – Weitwinkel
Kapitel 10 – Vogelperspektive
Kapitel 11 – Halbtotale
Addendum I – Regieanweisung
Kapitel 12 – Schnitt
Kapitel 13 – Totale
Kapitel 14 – Syntagma
Kapitel 15 – Abspann
Addendum II – Filmmusik
Addendum III – Danksagung
Lieblingstage machen wenig Sinn, was wiederum durchaus Sinn macht. Eine Erkenntnis, die natürlich keinen Hinderungsgrund darstellt, dass mir, seit ich mich erinnern kann, der Mittwoch der mit Abstand erfreulichste Tag der Woche ist. Das mag daran liegen, dass ich an einem Mittwoch geboren bin, oder mit seiner besonderen Funktion als Wochenteiler und der damit einhergehenden kleinen Zäsur. Nicht auszuschließen ist auch die Variante, dass ich mit dieser wenig fundierten Vorliebe lediglich einem meiner zahlreichen Spleens fröne, von denen mein enges Umfeld so wortreich zu berichten weiß. Und wie der Zufall es will, der heutige Tag ist ein Mittwoch, was ein ebenso spontanes wie undefinierbares Wohlbehagen in mir auslöst. Kann aber auch am Wetter liegen, um eine weitere Plattitüde zu strapazieren. Der Ausblick jedenfalls ist vielversprechend. Durch die Eisblumen am Fenster brechen sich die letzten Strahlen der rasch untergehenden Sonne, das Feuer im Kamin knistert wohlig und sanft, und vor mir liegt die begründete Hoffnung auf einen ungestörten, behaglichen Abend. Ich hätte es wahrhaft schlimmer treffen können. Die moderne Musik, die ohne Unterlass aus dem Radio sprudelt, ist mir im Laufe der Jahre immer fremder geworden, aber ich habe mich zu sehr an diese Unart der permanenten akustischen Berieselung gewöhnt, als dass ich nun so einfach auf sie verzichten könnte.
Schritt für Schritt schraube ich die Lautstärke so weit nach unten, bis nur noch ein kaum wahrnehmbarer Klangteppich durch den Raum wabert. Mehr bedarf es nicht, andernfalls würde ich es schon wieder als störend empfinden. So ist es perfekt. Derart zufriedengestellt lasse ich mich in meinen ebenso alten wie heißgeliebten Ohrensessel fallen. Die Einsamkeit tut gut, denn von Zeit zu Zeit, wenn die Tage kürzer und kälter werden, ordne ich gerne meine Gedanken. In dem Alter, das ich mittlerweile erreichen durfte, eine überaus löbliche Angewohnheit, wie mir scheint. Seit annähernd einem halben Jahrhundert lebe ich nun schon in der Fremde, wie der Volksmund jeden Wohnsitz abseits des eigenen Geburtsortes nennt, eine Fremde, die mir jedoch zusehends zur zweiten Heimat geworden ist. Trotzdem ist es ihr nie möglich gewesen, jene erste, ursprüngliche Heimat, die wir vermutlich alle als die einzig wahre betrachten, aus meinen Gedanken zu verdrängen oder sogar ihren Platz einzunehmen. Das Glück ist mir hold gewesen und ich fand hier meinen Frieden, aber besagtes Kunststück gelang ihr trotz durchaus brillanter Ansätze nicht. Nicht in all den vergangenen Jahrzehnten und auch nicht in den kommenden, mir verbleibenden, vermutlich nur mehr sehr wenigen Jahren. Die Eindrücke und Gerüche der Orte, an denen ich aufwuchs, werde ich niemals vergessen. Ganz im Gegenteil sehne ich sie nach wie vor oft herbei und wünsche mir inständig eine Rückversetzung in die geradezu selig und heil erscheinende Zeit der Kindheit und Jugend. Zu dieser rar gewordenen Schar an hoffnungslosen Romantikern gehöre ich tatsächlich. Oder zur Spezies der alternden, sentimentalen Spinner, darüber bin ich mir noch nicht restlos im Klaren. Und ich gehöre zu denen, die gerne an langen Winterabenden am Kamin sitzen, dem monotonen Prasseln des Feuers lauschen, die Augen schließen und in Gedanken die fernen Gestade der Vergangenheit bereisen. Zwei Dinge nenne ich nämlich zur Genüge mein Eigen: Endlose Winter und Zeit. Ich blicke auf ein erfülltes und langes Leben zurück, in dem ich viel erleben durfte, ein Leben, das es wert ist, sich daran zu erinnern. Vermutlich gibt es nicht allzu viele Menschen meiner Generation, die sich an dem Glück eines dermaßen ungetrübten Rückblicks auf das eigene Dasein erfreuen dürfen, zu bewegt waren die Zeiten, die mein Jahrgang zu meistern hatte. Dieser außerordentlichen Gnade bin ich mir sehr wohl bewusst. Tag für Tag. In diesem Sinne danke ich meinem Schicksal für jedes positive Erlebnis, das mir im Geiste haften geblieben ist, aber eine singuläre Erinnerung, so ambivalent sie bei genauerer Betrachtung auch daherkommen mag, stand und steht stets über allen anderen Memoiren. Ich lebte damals in Berlin, war frei und ungebunden, zwar keine Zweiundzwanzig mehr, aber immer noch jung genug, um voller Energie und Begierde auf den ersten großen Fall meiner frischgebackenen Profession als Beamter der Kriminalpolizei zu hoffen. Unendlich lange Wochen zuvor zumindest verhielt es sich so in den Augen der ungeduldigen Jugend - hatte ich meine Ausbildung zum Kriminalkommissar abgeschlossen und ließ mich direkt danach auf besonderen Wunsch eben nach Berlin versetzen. Hier wurde ich nun langsam ungeduldig, denn schließlich war ich eigens wegen der Aussicht auf ein spektakuläres Verbrechen, das es aufzuklären galt, das buchstäblich nur auf mich wartete, vom provinziellen Bremen, wo mich nach dem Tod meiner Eltern und dem nahezu gleichzeitigen Ableben meiner einzigen Schwester, Ruth, die allesamt der schrecklichen Grippeepidemie von 1918 zum Opfer fielen und mich somit als Vollwaise ohne die geringste familiäre Bindung zurückließen, nichts mehr hielt, in die aufstrebende Hauptstadt der noch so jungen und fragilen Weimarer Republik gezogen. Viele taten es mir damals gleich und verhalfen Berlin durch ihren ungehemmten Zuzug in diesen Tagen zu einem unaufhaltsamen Aufstieg hin zur weltoffenen und praktisch sämtliche Lebensbereiche dominierenden und durchdringenden Metropole. Egal, ob Musik, Mode, Lebensstil, Politik oder Gesellschaft, es war hier, es war Berlin, wo Geschichte gemacht wurde. Die durch den Krieg verursachten Turbulenzen sowie die zahlreichen Putschversuche der unzähligen linken und rechten Parteien, die nach dem heiß herbeigesehnten Ende der weltumspannenden Katastrophe – und dem damit einhergehenden Niedergang der Monarchie - wie Unkraut auf dem für sie plötzlich fruchtbar gewordenen Boden wucherten, schienen gleichfalls überwunden wie die unerfreuliche Episode der willkürlichen Attentate auf Leib und Leben und der rasanten Geldentwertung, kurz: die Goldenen Zwanziger standen am Aufbruch hin zur vollen Blüte und nach oben galt als einzig relevante Grenze für sämtliche hochfliegenden Träume nur der klarblaue Himmel. Die Schatten der Gräuel, die Jahre später die Stadt, das Land, den Kontinent und schließlich die ganze Welt in ihren Würgegriff nehmen sollte, waren hingegen vergleichsweise kurz und unbedeutend. Sie tangierten das alltägliche Leben an diesem Punkt der Geschichte oft nicht einmal peripher. Noch herrschte die paradiesische Leichtigkeit des Seins. In diesen Tagen dachte niemand überhaupt nur darüber nach, dass es sich bei all der glitzernden und blendenden Pracht, die sich so unversehens vor den leidgeprüften Heimkehrern, Entwurzelten und oftmals jeglicher Existenzgrundlage Beraubten, entfaltete, lediglich um eine Scheinblüte handeln könnte. Selbst ein solcher Verdacht erschien völlig unmöglich. Das Jetzt überstrahlte Alles. Mitten in dieser ekstatischen Hochstimmung kam ich also in der Stadt an, wild entschlossen, keine Zeit zu verlieren und meinen Weg zu gehen. Das pulsierende Leben genoss ich vom ersten Augenblick an in vollen Zügen, manchmal mehr, als es mir gut tat, die erhofft steile Karriere stockte allerdings ein wenig. Schnell, wie es sich hier nun einmal lebte, hatte ich mir mein privates Refugium geschaffen und sogar eine bezahlbare Wohnung in einem der weniger angesagten Bezirke des Molochs gefunden, die ich mir aus ökonomischen und praktischen Gründen mit einem Mitbewohner namens Maximilian Gerepolski, seines Zeichens ein hochbegabter Musiker, soweit ich als Laie das einschätzen konnte, aber auch immer mit einem Bein an der Grenze zum Wahnsinn befindlich, teilte. Im Zuge des gemeinsamen Daseins Tür an Tür hatte ich in Maximilian, der sich in mehr als einer Hinsicht als absoluter Glücksfall entpuppen sollte, gleichermaßen einen verlässlichen Freund gefunden, von denen quer durch alle Epochen sprichwörtlich Hundert auf ein Lot passten, was ich gestern wie heute voll inhaltlich bestätigen kann. In diesem leicht überschaubaren Reich lebten wir also unseren Alltag mit Arbeit, einer stattlichen Sammlung an Schauerromanen und einschlägigen Büchern meinerseits sowie buchstäblich Tonnen von Notenpapier auf Maximilians Seite, und – zumindest was meinen Wohnungsgenossen betraf – einer nicht minder beachtlichen Menge an Alkohol und sonstiger Rauschmittel. Im Laufe der Begebenheiten sollte sich später auch noch Maximilians Kaninchen Hoppel, ein in seinem Wesen absolut einzigartiges Tier, zu uns gesellen, aber da greife ich der Geschichte in ihrer epischen Breite bereits vor. Während ich also das endlose Warten mit Lesen und dem Lösen von Bagatellverbrechen sowie dem Lauschen von Maximilians bisweilen überaus eigenwilliger Musik oder wahlweise der Wehklage über sein verkorkstes Leben, die je nach Tagesverfassung zu einem überaus ermüdenden Monolog ausarten konnte, überbrückte, malte ich mir in meinem tiefsten Inneren (und dank meiner durch die zielgerichtete Lektüre bestens geschulten und schier überbordenden Phantasie) stets von Neuem, verlässlich wiederkehrend wie eine fixe Idee, das umfassende Glücksgefühl bei der allein verantwortlichen Klärung meines ersten Kapitalverbrechens, das in seiner Grausamkeit gar nicht abscheulich genug sein konnte, nebst der für mich damit einhergehenden Popularität aus. Mein Triumph sollte ein totaler und überwältigender sein. Das war die Naivität der Zeit, in der ich förmlich versank, aber kein Mensch hätte mich damals eines Besseren belehren können. Meine Wünsche und Gelüste standen stabiler als jede Dampflok. Und dann, endlich, wurde mein inniges Flehen erhört. Ich entsinne mich wie heute, sehe die Stadt und die Gesichter vor mir, spüre wie damals die Sonne auf meiner Haut, höre die Schlager der Epoche aus den Grammophonen, schmecke die Gerüche der Straße, in der ich lebte, gerade so, als würde alles in diesem Moment erneut passieren. Wie eingebrannt in meinem Gehirn. Unauslöschlich.
Man schrieb das Jahr 1924, es war Anfang September, das Radiophon schickte sich in diesen Tagen gerade an, dem von mir so heißgeliebten Grammophon nach und nach den Rang abzulaufen, und nicht einmal die spätsommerliche Schwüle konnte meinen unverändert ungezügelten Tatendrang eindämmen. Die Vorfreude ist angeblich die schönste Freude, doch für mich bedeutete sie nie etwas anderes als blanke Qual, die an diesem schicksalshaften Septembertag gleichermaßen plötzlich wie unvermutet, von einem glorreichen Augenblick auf den anderen, abrupt endete. Und das war gut so, denn meine Geduld war praktisch erschöpft, die Grenzen der Belastbarkeit annähernd erreicht. Die Erlösung kam genau zur rechten Zeit. Endlich konnte ich real eintauchen in diese mir vermeintlich so vertraut erscheinende Welt der geisteskranken Mörder und entmenschten Psychopathen, so wie ich sie bis dato nur aus meiner Phantasie und der gewogenen Lektüre kannte. Ich war bereit wie nie zuvor und zutiefst übermotiviert. Meine gesamte Persönlichkeit brannte lichterloh vor Verlangen und Ungeduld. Wäre mir jedoch vorab bewusst gewesen, was in den folgenden Wochen auf mich zukommen würde, hätte ich diesen speziellen Wunsch nach möglichst viel Grusel und Mysterium vermutlich bedeutend dezenter formuliert.
Das Wartezimmer war brechend voll. Angesichts meines dröhnenden Schädels und dem damit unweigerlich einhergehenden Absinken meiner Laune, zog ich es ernsthaft in Erwägung, mir in Zukunft einen Arzt zu suchen, der signifikant weniger zufriedene Patienten produzierte. Wozu das führte, verspürte ich soeben am eigenen Leib. Augenblicklich blieb mir allerdings nichts weiter übrig, als Platz zu nehmen und zur Überbrückung der unvermeidlichen Verweildauer meinen Gedanken nachzuhängen, soweit das gegen die pochenden Schmerzen überhaupt möglich war. Sogar einen freien Stuhl zu ergattern erwies sich als problematisch. Kämpfte ich tatsächlich mit dem Luxusproblem, mir einen zu guten Arzt ausgesucht zu haben? Was ich momentan brauchte, war aber keine von Patientenscharen überlaufene Koryphäe, sondern ein Quacksalber, der mich in einem Anfall puren Glücks von den permanenten Kopfschmerzen befreite, die mich seit Tagen quälten. Das blinde Huhn, dessen Korn ich sein wollte. Und das alles ohne nervenraubende Wartezeiten. Sogar die ausgelegten Zeitungen und Magazine waren vergriffen. Die einzige Ausnahme bildete ein Exemplar des Periodikums Das Dreieck. Wie ein besonders kunstbeflissener Freund mir versicherte, handelte es sich dabei um eine brandneue und hochgeistige Zeitschrift, für die sich allerdings niemand in diesen Räumlichkeiten erwärmen konnte, und die in meiner Verfassung intellektuell viel zu überfrachtet (und zugegeben auch ein wenig langweilig) war, also legte ich sie nach kurzer, oberflächlicher Lektüre wieder hin, während um mich herum emsig in den üblichen Klatschblättern geschmökert wurde. So definierte ich Folter. Nächstes Mal würde ich meinen eigenen Lesestoff mitbringen, soviel war sicher. Ungeduldig wippte ich auf dem knarrenden Stuhl hin und her, was mir den einen oder anderen vorwurfsvollen Blick einbrachte, den ich geschickt weglächelte. Die nächsten Delinquenten wurden aufgerufen, aber mein Name war noch immer nicht dabei. Zumindest war es mir jetzt möglich, eine lieblos weggeworfene Tageszeitung zu ergattern, die sich akkurat als bemerkenswert uninteressant erwies. Seitenlange Abhandlungen über die in den Augen der meisten Beobachter unglücklich verlaufene Mai-Wahl, die die vormals bedeutungslosen Splitterparteien des linken und rechten Randes unversehens in den Rang von gewichtigen Mitspielern auf der politischen Bühne befördert hatte und damit seit Monaten die Bildung einer stabilen Regierung verhinderte, woran sich die Bürger der Republik fatalerweise Schritt für Schritt gewöhnten, aber keine Zeile zum Ableben von Frances Hodgson Burnett, deren Bücher meiner Meinung nach zu Unrecht mit dem Makel der reinen Kinderliteratur behaftet waren, und deren Werk ich hoch einschätzte. Nur hierzulande schien sich niemand für ihren Tod zu interessieren. Wenn ich nur an die schier endlose Zahl von Leitartikeln und Nachrufen dachte, als zu Jahresbeginn Lenin und Wilson gestorben waren, während es der wenig spätere Tod des Musikers Ferruccio Busoni bestenfalls zur Randnotiz brachte, stellte ich zum wiederholten Male ein eklatantes Ungleichgewicht der Interessen meiner Mitmenschen fest, das mir tiefstes Unbehagen bereitete. Wie zur Untermauerung meiner Hypothese, nahm die einschläfernde Berichterstattung über die anstehenden Reparationszahlungen an die Alliierten, die unseligen Nachwehen des Ruhrkampfes sowie Deutschlands unterwürfige Bemühungen zur Wiederaufnahme in den Völkerbund, dann auch praktisch den kompletten Rest des trostlosen Printwerkes ein. Sogar die Gründung des Rotkämpferbundes als Antwort der KPD auf die politisch entgegengesetzt orientierte Organisation des Reichsbanners fand trotz erwiesener Bedeutungslosigkeit ausführliche Erwähnung. Gelangweilt ging die Welt zu Grunde. Von dieser Seite durfte ich also keine Linderung meiner Pein erwarten. Das Gleiche galt im Übrigen für den Medicus, in dessen Vorraum ich gerade mein Leben verplemperte. Es war zum Auswachsen. Obwohl ich berufsbedingt gerne und häufig die Menschen rund um mich beobachtete, mir bisweilen aus purer persönlicher Freude sogar skurrile Geschichten rund um ihr mutmaßlich eher eintöniges Leben einfallen ließ, in denen die blassesten Gestalten urplötzlich zu den schillerndsten Figuren der Weltgeschichte und Hochliteratur aufstiegen, vermochten mir die anwesenden Exemplare keine Kurzweil zu verschaffen. Es wäre wirklich besser gewesen, ich hätte mir heute schon ein gutes Buch von zu Hause mitgenommen, aber um ernsthaft lesen zu können quälten mich die Donnerschläge in meinem Gehirn ohnehin viel zu sehr. An echte Konzentration war unter diesen Umständen wahrlich nicht zu denken gewesen. Überdies hatte ich nicht im Geringsten mit einer derart ausgiebigen Verzögerung gerechnet. Aus der Erfahrung früherer Besuche heraus hätte ich in diesem Punkt allerdings klüger sein können. Die Flut an verkrüppelten Heimkehrern mit ihren geschundenen Körpern und Seelen, Kinder und Erwachsene, die an schweren Mangelerscheinungen und Hunger litten, schwangere Frauen, denen die Angst um das in ihnen heranwachsende, neue Leben förmlich ins Gesicht geschrieben stand, sie alle füllten buchstäblich jede Arztpraxis der Stadt weit über deren Kapazitäten hinaus. Und im Schlepptau zogen sie das unverwüstliche Kroppzeug gleich mit an wie ein dampfender Kuhfladen die Fliegen. Abschaum, der eine günstige Gelegenheit zum Diebstahl, zur Bettelei, oder einfach nur zum Erhaschen von Mitleid zehn Kilometer gegen den Wind witterte. Aber ich musste mich zügeln, denn da ging erneut mein Beruf mit mir durch. Kein Wunder, wenn ich mich durch nichts von den unerträglichen Schmerzen abzulenken vermochte außer durch mein selbstgeknüpftes Seemannsgarn, also zwang ich mich zur Räson, um das vermeintlich Wesentliche nicht aus den Augen zu verlieren. So unerfreulich sich der Status quo momentan auch darstellte, denn ungehindert zog die Karawane an Kranken und Simulanten weiterhin ein und aus, während ich wie Pik Sieben in der hintersten Ecke vergammelte. Dem Wartezimmer hätte eine Renovierung gut getan, das sah jedes Kind. In diesem Teil Berlins hatten die Wirren des zurückliegenden Krieges und die darauf folgenden Turbulenzen inklusive allgegenwärtiger Not und Geldentwertung besonders tiefe Spuren hinterlassen. Dabei sagte man doch speziell den Juden, von denen es in diesem Viertel ausreichend gab, besonderes Geschick in pekuniären Angelegenheiten nach. Das schien auf meinen Doktor Feinstein augenscheinlich nicht zuzutreffen. Oder er sparte sich sein Geld für andere Dinge auf. Wer konnte das schon wissen? Ich nicht. Ich wusste nicht einmal, warum mein Kopf wie verrückt schmerzte und dieser Umstand außer meiner eigenen Person offensichtlich niemanden interessierte.
„Unfried? Roderich Unfried? Sie sind der Nächste!“
Das ansonsten unerträglich schrille Organ der Sprechstundenhilfe, die in erster Linie mit ihren anatomischen Vorzügen zu glänzen verstand, klang weiland wie eine sanfte Schubert-Symphonie in meinen gemarterten Ohren. Ich beeilte mich ins Behandlungszimmer zu kommen, sonst überlegte sie es sich womöglich noch anders.
„Mein guter Roderich, wie mecht es uns denn ergehen?“, begrüßte mich Doktor Feinstein in der ihm gegebenen, jovialen Art, die mir schon von Kindesbeinen an so eigentümlich vertraut war.
Was wiederum kein Wunder war, denn schließlich repräsentierte ich bereits die dritte Generation meiner Sippschaft, die ihn konsultierte, wenn es irgendwo zwickte und zwackte, was in meiner Familie traditionell sehr häufig der Fall war.
„Nicht so gut, Herr Doktor, sonst wäre ich nicht hier.“, entgegnete ich schmunzelnd.
„Hast recht, mein junger Unfried, seh ich die Leit nur, wenn se belieben krank zu sein.“, seufzte der Arzt schwer und nestelte an seinem Stethoskop.
Irgendetwas schien ihn zu bedrücken. Normalerweise hatte er immer einen Scherz auf den Lippen und ein zuvorkommendes Lächeln im Gesicht, aber heute umspielte den zerbrechlichen Mann eine zuvor nie gekannte Schwermut.
„Wieder der Kopf?“, fasste er sich ungewohnt kurz.
Ich bejahte.
„Hab ich a neies Mittel, werd ich dir verschreiben, wird dir schnell verschaffen Linderung.“, kanzelte er mich eilig ab, ohne überhaupt eine halbwegs ernst gemeinte Examination bei mir vorgenommen zu haben.
Mit den wenig aufmunternden Worten „Is die Medizin aber so neich, dass du musst kommen wieder nächste Woche, da miss ma schaue, ob es dir geht noch gut.“, beförderte er mich schließlich in Rekordzeit wieder vor die Tür.
Man sagte mir gerne nach, dass ich meine Arbeit nicht abschütteln oder vergessen konnte und hinter jedem Gebüsch ein Verbrechen und hinter jedem Baum einen Kriminellen vermutete, aber das kuriose Verhalten des Doktors musste eine tiefere Bedeutung haben, davon war ich fest überzeugt. Ich kannte ihn bereits viel zu lange und viel zu gut, um nicht zu bemerken, dass sich da etwas Ungewöhnliches im Busch verschanzte. Vielleicht würde ich ja noch herausfinden, wo der Hase im Pfeffer lag und schnalzte, schließlich war ich für die kommende Woche wiederbestellt, und das bot mir die Möglichkeit, diesbezüglich noch einmal nachzuhaken. Draußen empfing mich spätsommerliche Schwüle und die mir erbarmungslos ins Gesicht scheinende Vormittagssonne. Geblendet kniff ich meine Augen zusammen, die sich erst an den gleißenden Schein gewöhnen mussten. Die Menschen trotteten hier auf der Straße ebenso seelenlos auf und ab wie zuvor in Doktor Feinsteins Praxis. Um nicht weiter aufzufallen, schloss ich mich mit möglichst leerem Blick und stumpfer Miene dem Zug der zweibeinigen Lemminge an und ergab mich der allgegenwärtigen Lethargie.
„Roderich Unfried, machen wir heute blau?“
Albert Bosse, zugegeben einer der von mir weniger geschätzten Kollegen, riss mich unsanft aus meinen Gedanken. Ich hatte nicht einmal bemerkt, dass er neben mir stand. Das tat er wohl schon eine ganze Weile, zumindest erweckte er den Anschein. Was hatte er hier auf der Straße überhaupt verloren? Meines Wissens verband ihn nichts mit diesem Teil der Stadt. Wollte er mir nachspionieren? Machte er sich seinerseits einen duften Lenz, während die Anderen brav auf der Wache malochten?
„Keineswegs!“, rechtfertigte ich mich. „Ich war beim Arzt. Kopfschmerzen.“
„Na, der Kopf würde mir auch Schmerzen bereiten.“, grinste Bosse bösartig.
„In ein paar Minuten bin ich zurück auf dem Revier, dort können wir unsere entspannte Plauderei fortsetzen, zuvor muss ich aber noch in die Apotheke.“, setzte ich der unangenehmen Begegnung ein rasches Ende.
Mit sichtlich pikierter Miene blieb Bosse zurück und ging schlussendlich wieder seiner unergründlichen Wege. Offensichtlich fühlte er sich ob meines Desinteresses an seiner Person nicht mit dem nötigen Respekt behandelt. Aber wie mein Vater noch zu Lebzeiten zu sagen pflegte, wollte jede Form von Anerkennung erst redlich erworben werden. Vom Reichspräsidenten bis zum Kohlehändler, das galt für alle in gleichem Maße. Bosse sah das völlig anders, denn obwohl wir formal gleichgestellt waren, trug er die Nase immer eine Etage höher als der Rest der Kollegenschaft. Mutmaßlich fühlte er sich von Natur aus allen anderen Menschen überlegen, weil er aus reichem Hause kam und sich bereits als den nächsten Polizeipräsidenten wähnte. Fürwahr ein widerliches Protektionskind, das nicht nur bei mir stetiges Unbehagen auslöste.
„Da wird aber ordentlich mit Kanonen auf Spatzen geschossen.“, kommentierte der Apotheker meines Vertrauens lakonisch die Wahl des Medikaments.
„Doktor Feinstein hat mir schon gesagt, dass die Medizin neu und wohl sehr stark ist. Haben Sie denn Bedenken?“, fragte ich vorsichtig nach, während der dickliche Mann mit der runden Metallbrille ein schmales Glasröhrchen mit fremdartig anmutenden, gelblichen Tabletten befüllte.
„Bedenken? Nein, dann wäre ich im falschen Stand, aber seien Sie vorsichtig bei der Dosierung. Das ist starker Tobak! Vor zehn Jahren hätte man das Präparat noch als kriegstauglich eingestuft.“, lachte er.
Ich machte gute Miene zum bösen Spiel und verließ die Apotheke. Den spezifischen Humor gewisser Berufsgruppen würde ich vermutlich nie verstehen. Das Leben in den Gassen schien nach wie vor seltsam verlangsamt zu sein, beinahe stillzustehen. Der gesamte Weg zur Polizeiwache, meiner Dienststelle, kam mir vor, als würde ich durch Honig schwimmen. Ich kannte dieses spezielle Gefühl. Es beschlich mich immer wieder, wenn ich elegische Streichertöne aus dem Schalltrichter meines nagelneuen Grammophons vernahm oder mir vor einem imaginären Kamin eine Kurzgeschichte von Edgar Allan Poe, einem meiner Lieblingsautoren, zu Gemüte führte. Außerhalb der vertrauten Wohnung war mir dieser Zustand jedoch neu.
„Unfried, wo bleiben Sie denn? Alle warten schon auf Sie. Und ich meine: Nur auf Sie! Der Alte auch. Und Sie verspäten sich. Gerade heute. Jetzt aber hurtig.“ Kurzatmig begrüßte mich unser Amtssekretär und schob mich direkt ins Büro meines Vorgesetzten, wo bereits das gesamte Personal versammelt war und mir mitleidig zunickte.
Lediglich Bosse grinste herablassend zu mir herüber. Obwohl er ganz genau wusste, warum ich zu spät auf der Wache eintraf, hatte er vorab keinen Pieps gesagt und ließ mich gnadenlos auflaufen.
„Ich war beim Arzt. Kopfschmerzen.“, stammelte ich verlegen, aber es hörte mir ohnehin niemand zu.
Vielmehr starrten alle Anwesenden gebannt auf einen überdimensionalen Pharus-Plan von Groß-Berlin, der beinahe die gesamte Stirnwand des Raumes in Beschlag nahm. Unmittelbar vor dieser Monstrosität hatte sich unser großer Meister in Pose geworfen. Um seiner Erscheinung mehr Würde zu verleihen, hatte er sich zusätzlich mit einem ausnehmend dick geratenen Zeigestab bewaffnet, mit dem er andauernd nervös auf seine schwielige Handfläche schlug.
„Werden die Bezirke an den Meistbietenden versteigert?“, flüsterte ich meinem Nebenmann, den ich nur flüchtig kannte, weil es wirklich nur sehr selten vorkam, dass die komplette Belegschaft antreten musste, leise ins Ohr.
Ich wollte das weihevolle Schweigen nicht stören. Andererseits drohte ich vor Neugier zu platzen. Für einen Mann meines Zuschnitts war das ein Teufelskreis.
„Pyramidale Sache. Wir haben da wohl einen Serienmörder. Sie sollten die Bilder von den Tatorten sehen. Nichts für schwache Nerven. Echt grauenhaft. Und so schockierend, dass ich gar nicht wegsehen konnte.“, reagierte der hoch aufgeschossene, blonde Hänfling zu meiner Linken, der nach eigenem Bekunden erst seit kurzer Zeit meiner Dienststelle zugeteilt war, mit gehöriger Verspätung, aber dafür um so ausführlicher, auf meine Frage.
Ein Serientäter also. Wie Jack the Ripper. Hier in Berlin. Sollte verboten werden.
„Kollege Unfried, endlich, es gibt Arbeit für Sie.“, wurde mein Kommandeur auf mich aufmerksam und zerschnitt damit unsanft meinen Gedankengang.
Irgendwie passierte mir das heute laufend.
Unter den versammelten Kollegen regte sich spontaner Unmut, ich möchte sogar so weit gehen zu behaupten, dass ein bösartiges Raunen wie eine langgestreckte Welle durch den überfüllten Raum wogte. Augenscheinlich war bis zu diesem Zeitpunkt nicht klar gewesen, wem der außergewöhnliche Fall zugeteilt werden sollte, und einige der Umstehenden schienen eine kriminalistische Ermittlung mit einem Hauptgewinn in der Lotterie zu verwechseln. Gegen den merklich aufkeimenden Widerstand bahnte ich mir einen Weg zur Karte, die, wie ich nunmehr erkennen konnte, bereits mit einschlägigen Markierungen versehen war, und vor der mich mein Vorgesetzter mit versteinerter Miene und besagtem Zeigestab im Anschlag erwartete.
„Zählt es jetzt schon als besondere fachliche Eignung, wenn man sich mit banaler Schundliteratur umgibt?“ Bosse ätzte fröhlich vor sich hin, während seine Paladine ihm wie gewohnt huldigten.
Menschen wie er konnten ohne rückgratlose Speichellecker um sich nicht leben, folgerichtig umgab er sich rund um die Uhr mit dieser leider nicht aussterben wollenden Spezies, vielmehr gab es sie in unseren modernen Zeiten im Überfluss. Und unaufhörlich vermehrten sie sich auf dem fruchtbaren Boden aus Korruption und Rückgratlosigkeit. Von Bosse war ich nichts anderes gewohnt. Der unfähige Günstling brauchte die Bühne vor den Kollegen, um seine nicht vorhandene Persönlichkeit bis zur Kenntlichkeit aufzuplustern. Normalerweise überging ich seine Anspielungen, weil er mir einerseits zu minder, andererseits allerdings auch zu gut eingebunden in den höheren Diensträngen und der sogenannten feinen Gesellschaft war, um mich mit ihm anzulegen. Ein ernsthaftes Zerwürfnis mit einem Kotzbrocken seines Schlages konnte so manche Karriere ins Stottern bringen, aber trotzdem fehlte mir heute die Lust, ihn wie gewohnt zu ignorieren.
„Manchmal ist tatsächlich jede Art von Spezialwissen wirksamer als ein Onkel im Abgeordnetenhaus, Kollege Bosse, aber diese, deine ganz persönliche Trumpfkarte, kannst du ja ins Spiel bringen, wenn einmal ein herrschaftliches Diamantencollier oder die güldene Tabakdose eines Pfeffersacks gestohlen werden sollten. Das ist dann wohl eher deine Kragenweite. Vielmehr dein Milieu. Und jetzt tritt beiseite, ich habe einen Auftrag zu erfüllen. Du kannst inzwischen gerne dein Geld zählen oder deinen Stammbaum nachzeichnen, aber unsereins hat zu arbeiten.“
Der gleichermaßen konsternierte wie unverhohlen feindselige Gesichtsausdruck meines neugewonnenen Widersachers bestätigte mich in der Annahme, dass es hoch an der Zeit gewesen war, ihm gegenüber meinen Claim in der Hierarchie des Polizeiapparats, dem wir nun einmal beide angehörten, ganz klar abzustecken. In diesem Moment hätte mich das blasierte Wohlstandsgeschöpf am liebsten in der Luft zerrissen, fand aber nicht den Mut dazu. Die Verwunderung stand ihm wie ein großes Fragezeichen auf die Stirn geschrieben, das ließ ihn noch innehalten, aber mir war klar, dass die Sache damit keineswegs ausgestanden war und ich mir gerade einen mächtigen Feind fürs Leben geschaffen hatte. Die Reaktion der verdutzten Kollegen schwankte indes zwischen aufrichtiger Bewunderung und der endgültigen Gewissheit, dass ich vollends den Verstand verloren hatte. Zumindest war die Grenze zwischen Bosse und mir unmissverständlich gezogen und somit der Weg frei für meinen neuen Fall, dem ich mich ab sofort mit von Banalitäten und Kopfschmerzen befreitem Geist (Die verordnete chemische Keule entfaltete sich vorbildlich in meinem Organismus und bewirkte tatsächlich eine signifikante Verbesserung meines Zustandes!) zuwenden konnte.
Die Medizin vermochte meine Leiden jedoch nur kurz zu lindern, denn die blassen Photographien, die der Leichenbeschauer vor mir ausbreitete, waren ausnehmend abscheulich und schürten die Schmerzen in meinem Kopf direkt aufs Neue. Obwohl die neuartigen Abbilder ein wenig unscharf und in surrealistischen Grau- und Braun-Tönen daherkamen, flößten sie mir doch tiefen Respekt ein. Manchmal wünschte ich mir die wesentlich unpersönlicheren Bleistiftskizzen unserer Polizeizeichner zurück, mit denen früher gearbeitet wurde. Diese Variante der Tatortbeschreibung glänzte zwar durch einige gröbere Ungenauigkeiten, hinterließ im Gegenzug aber auch nicht einen dermaßen beklemmenden, weil ungleich realistischeren Eindruck. Die moderne Technik und der unaufhaltsame Fortschritt bargen bisweilen eben nicht ausschließlich positive Aspekte, von Zeit zu Zeit erschien mir ein Hauch von Nostalgie durchaus erstrebenswert. Zum Beispiel in diesem Augenblick, in dem sich mir beinahe der Magen umdrehte. Das Bedürfnis, die sterblichen Überreste der Opfer danach noch leibhaftig zu sehen, hielt sich in Grenzen. Dummerweise blieb mir diese Wahl nicht, aber was nutzte alles Klagen, das war nun einmal keine Tätigkeit für verweichlichte Muttersöhnchen.
„Ich tippe auf ein Fleischerbeil oder die gute alte Axt im Haus.“, flüsterte mir der auch optisch mehr als suspekte Totenvogel mit gekünstelt gruseliger Stimme ins Ohr, als er die Tücher über den Leichen wegzog und so den Blick auf die verstümmelten Körper freigab. Heiß und kalt lief es mir den Rücken hinunter und gleich wieder zurück, aber ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen. Offen zur Schau getragenes Unbehagen wäre nämlich wie ein kleiner Sieg für diesen sonderbaren Menschen mit seinen beunruhigenden Manierismen gewesen, und genau den gönnte ich ihm nicht.
„Finden Sie das witzig?“, maßregelte ich ihn stattdessen in festem Tonfall.
„Bestatterhumor.“, zuckte er lapidar mit den Schultern.
Der Kollege von vorhin sollte recht behalten. Auch ich vermochte vor lauter ehrlich empfundenem Grauen nicht den Blick von den brutal zugerichteten Toten abzuwenden. Nicht einmal in meinen abartigsten Phantasien konnte oder wollte ich mir ausmalen, was den armen Seelen kurz vor ihrem gewaltsamen Ableben widerfahren war. Gegen diese Härte der Realität nahmen sich meine geliebten Gruselgeschichten plötzlich nur noch wie ein schmalztriefender Frauenroman aus.
„Wir tappen restlos im Dunkeln, Unfried.“, stand unvermutet mein Vorgesetzter neben mir und fixierte gleichermaßen die schockierenden Bilder.
Sogar ihm, dem langgedienten und kampferprobten Ordnungshüter, der überdies einen grausamen Krieg an vorderster Front miterlebt und vermeintlich schon alles gesehen hatte, stand der ehrlich empfundene Schrecken überdeutlich ins Gesicht geschrieben.
„Irgendetwas müssen Sie mir doch mit auf den Weg geben können.“, flehte ich ihn förmlich an. „Mehr als den Stoff, aus dem Alpträume gestrickt sind, denn davon gibt es ausreichend in diesem Mausoleum des Grauens.“
Betrübt senkte er den Kopf.
„Würde ich gerne, junger Freund, würde ich gerne, aber ich fürchte, ich habe eher Fragen als Antworten für Sie parat.“
„Egal, ich nehme alles.“, zeigte ich mich gleichermaßen entschlossen wie resignierend.
Das erste Mal, seit ich ihn kannte, grinste er – wenn auch säuerlich - und nickte mir bedächtig zu. Gewohnt umständlich holte er zu einer seiner typischen, breit und allumfassend angelegten Ansprachen aus.
„Drei Opfer, die nach jetzigem, noch mehr als lückenhaften, möchte ich hinzufügen, Stand der Ermittlungen absolut nichts gemein hatten, sich auch zu Lebzeiten nicht kannten oder auf irgendeine Weise miteinander verkehrten, gefunden in drei verschiedenen Stadtteilen Berlins, und zwar im Abstand von drei Tagen. Jeweils genau drei Tage liegen zwischen den Funden, das möchte ich betonen, vielleicht kann dieser Umstand ja helfen, falls es nicht blanker Zufall sein möchte, was ich jedoch nicht glauben kann. Was mit ihnen passiert ist, sehen Sie selbst, zwingen Sie mich also nicht, es noch einmal im Detail auszuführen, ich kämpfe deswegen schon seit Stunden gegen die aufkeimende Übelkeit an. Tatsächlich ist die bemerkenswerte Art, wie sie zu Tode gekommen sind, das einzige Merkmal, das die drei Unglücklichen miteinander verbindet. Und das war es auch schon wieder. Realistisch betrachtet stehen wir vor einem Rätsel.“, lieferte er den in der Tat äußerst dürftigen Bericht ab und behielt damit leider recht, dass die Ausführungen mehr Fragen aufwarfen, als sie Antworten zu geben vermochten.
„Die Fundorte der Opfer können aber nicht die Tatorte gewesen sein. Viel zu wenig Blut. Falls das von Bedeutung für die Aufklärung ist.“, ergänzte der Leichenfledderer, der sich im hinteren Teil der Leichenhalle im Halbdunkel herumdrückte.
„Wie ein Vampir auf der Lauer.“, dachte ich fröstelnd bei mir.
Meine Gedanken schweiften zum wiederholten Male in parallele Wirklichkeiten ab, das musste ich zukünftig um jeden Preis verhindern. Vor allem in Anwesenheit des obersten Häuptlings sollte ich meine sieben Sinne zusammenhalten und lieber über die auffällige Häufung der Zahl Drei in diesem Fall nachdenken, als über blutsaugende Untote. Welches Rätsel verbarg sich tatsächlich hinter der vermeintlichen Zahlenmystik, die Vorsatz oder Zufall sein konnte? Könnte sie mich gar zum Täter führen? Vorderhand bedankte ich mich für die pflichtbewusste Auflistung und wandte meine Aufmerksamkeit wieder den sterblichen Überresten zu. Während ich bereits in tiefes Grübeln verfiel, wollte mein Dienststellenleiter sich seinerseits klammheimlich davonstehlen.
„Warum habe ich nichts von dieser Mordserie gehört oder gelesen, wenn der erste Fund doch schon fast eine Woche zurückliegt?“, hielt ich ihn mit einer bewusst provokant gewählten Frage zurück, was seine Wirkung nicht verfehlte.
„Kompetenzstreitigkeiten.“, gab er sich nach einer kurzen Nachdenkpause zerknirscht und nestelte an den Knöpfen seiner Weste. „Jeder Stadtteil, in dem eine Leiche gefunden wurde, hat zuerst sein eigenes Süppchen gekocht, ehe das ohnehin spärliche Wissen – spät, aber doch – schließlich mit den anderen Dienststellen geteilt und abgestimmt wurde. So verstrich wertvolle Zeit, bevor die möglichen Zusammenhänge ruchbar wurden. Das ist nur ein Teil des Preises, den wir zu zahlen haben, dafür, dass die Einwohnerzahl Berlins per Federstrich und praktisch über Nacht glatt verdoppelt wurde. Natürlich baden wir das jetzt aus, nicht etwa die verantwortlichen Herren Politiker. Das wäre ja wie ein Kriegsherr, der seine eigenen Schlachten schlägt, also undenkbar. Wenigstens die Presse haben wir bisher unter Kontrolle. So konnten wir verhindern, dass die Bürger unnötig beunruhigt werden.“
Mit diesem bitteren Kommentar spielte er auf das Groß-Berlin-Gesetz von 1920 an, bei dem der Preußische Landtag über die Köpfe aller Betroffenen hinweg beschlossen hatte, die Bewohner von sieben bis dahin kreisfreien Städten und zahlreichen Landgemeinden zur Zwangsvereinigung zu verdammen, wodurch sich tatsächlich die Rate von nominellen Berlinern verdoppelte und die Stadtfläche mehr als verzehnfachte. Aus früheren Gesprächen war mir wohlbekannt, dass mein Vorgesetzter diesen Schritt vehement ablehnte, weil er die unverrückbare Meinung vertrat, dass dadurch nur noch mehr Verbrecher in seine Zuständigkeit hineingezogen worden waren. Viele Anwohner der auf diese Weise entstandenen Riesenstadt, ob alt oder neu hinzugekommen, teilten seine Vorbehalte bezüglich der maßlosen Expansionsgelüste, wenn auch nicht immer aus denselben Beweggründen.
„Mit einem Wort: Es herrscht Chaos und sogar vier Jahre nach der Annexion des Umlandes weiß noch immer niemand, wer eigentlich wofür verantwortlich ist.“, übersetzte ich seine politische Tirade in allgemein verständliche Worte.