Die chinesische Truhe - Claudine Sandoz - E-Book

Die chinesische Truhe E-Book

Claudine Sandoz

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Beschreibung

Pamela, eine junge Engländerin, beobachtet nachts ein Verbrechen im alten Quartier von Hongkong und informiert umgehend die Polizei. Inspektor Chan leitet die Ermittlungen. Pamela ist ebenfalls entschlossen, der Tat auf den Grund zu gehen. Beide machen getrennt rätselhafte Entdeckungen. Werden sie sich finden, um die Puzzlesteine zu vereinigen?

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Seitenzahl: 209

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Alle Figuren dieses Kriminalromans sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit realen Personen wären reiner Zufall.

Inhaltsverzeichnis

Personen

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Personen

Hongkong

Gerald Wong

Geschäftsführer

Ted Chung

Mitarbeiter von Gerald Wong

Roxanne

Sekretärin

Wai Kei

Fahrer

Pamela Bright

Junge Engländerin

Harry

Englischer Kollege von Pamela Bright

Sue

Chinesische Kollegin von Pamela Bright

Ann

Kollegin von Pamela, Harry und Gerald

Arthur Whitewood

Zeuge des Anschlags auf Pamela Bright

Inspektor Chan

Leiter der Ermittlungen

Brian Lee

Angestellter in einer Logistikfirma

Peter Ko

Vorgesetzter von Brian Lee

England

Mildred Brass

Bekannte von Pamela Bright in Livinfield

Kathleen

Hausangestellte von Mildred Brass

Bill Partridge

Butler bei Mildred Brass

Amanda Woodley

Nachbarin von Mildred Brass

Axel

Bekannter von Gerald Wong

Nora

Buchhändlerin in Livinfield

Inspektor Gray

Mitarbeiter von Superintendent Barber

Superintendent Barber

Leiter von Sonderermittlungen in Livinfield

1

E s war ein sonniger Tag im März. Zwei junge chinesische Männer unterhielten sich an einer Hotelbarin Hongkong. Der eine, Gerald Wong, war dreißig Jahre alt. Wie die meisten Männer in Hongkong hatte er kurze, schwarze, nach hinten gekämmte Haare. Seine regelmäßigen Gesichtszüge verliehen ihm ein beinahe aristokratisches Aussehen. Die dunklen, ausdrucksvollen Augen verrieten einen lebhaften Geist. Mit scharfem Blick nahm er seine Umgebung blitzschnell auf. Besonderheiten merkte er sich, ordnete sie und zog seine Schlüsse daraus. Diese Begabung hatte er im Laufe der Jahre bewusst trainiert, was ihm bis zum heutigen Tag zum Erfolg verholfen hatte. Er trug dunkelblaue Hosen und ein perfekt gebügeltes hellgrünes Hemd, was seine sportliche Figur zusätzlich unterstrich.

Ted Chung, sein Mitarbeiter, war gleich alt und stammte ebenfalls aus Hongkong. Sie unterschieden sich aber stark voneinander. Seine alten, gebleichten Jeans und das vom vielen Waschen verzogene T-Shirt passten zu seiner Frisur. Ted trug seine schwarzen Haare halblang bis unter die Ohren. Sie waren leicht gewellt und nicht sonderlich gepflegt. Sein schmales Gesicht und das spitze Kinn verliehen ihm einen strengen Ausdruck. Durch seine hagere Gestalt wirkte er viel größer als Gerald. Er hätte einer dieser Studenten sein können, die sich jahrelang an den Universitäten herumtreiben, ohne jemals ernsthaft eine Abschlussprüfung ins Auge zu fassen. Gerald hatte sich aber von seinem Aussehen nicht täuschen lassen. Ted besaß genau die Eigenschaften, die für sein Geschäft unerlässlich waren. Er scheute keine Arbeit. Er wirkte vertrauenswürdig, schreckte aber vor nichts zurück, wenn es denn sein musste. Ted war der ideale Partner für Geralds Geschäft.

»Wann kommt die nächste Lieferung aus Shanghai?«, fragte Gerald.

»Wenn du die Baumwollkleider meinst, dann nächsten Dienstag«, antwortete Ted prompt, ohne Hilfe seiner Agenda.

»Und die andere?«

»Wie immer wird sie von unserem vertrauenswürdigen Fahrer Wai Kei alle vier bis sechs Wochen hergebracht. Er kennt die Schleichwege, die vom Hinterland von Hongkong in die Stadt führen. Auf ihn ist hundertprozentiger Verlass.«

»Und Roxanne hat wirklich keine Ahnung, was Wai Kei jeweils bringt?«, fragte Gerald weiter.

»Ach, die ist nur am vielen Geld interessiert, das sie bei uns verdient. Für den Rest interessiert sie sich zum Glück nicht«, erwiderte Ted. »Meine Sekretärin hat ja nur mit dem Handel der Baumwollkleider zu tun. Vorher habe ich die ganze Arbeit erledigt. Ich bin froh, dass ich ihre Hilfe seit einem Jahr habe. Was das Geschäft mit den antiken Tempelfiguren betrifft, hat sie zwar Wai Kei ein paarmal gesehen, mehr nicht. Sie stellt keine Fragen und schnüffelt nicht herum. Sie hält sich strikt an unsere Abmachungen, wie auch Wai Kei.«

»Gut. Wann genau trifft nun diese Lieferung ein?«

Ted kramte jetzt die Agenda aus seiner Gesäßtasche hervor und schlug sie auf.

»Am siebzehnten April«, erwiderte er kurz.

»Gut, wie immer wird die Lieferung in England dem Empfänger persönlich übergeben werden«, sagte Gerald, der dafür und für den Transport zuständig war.

Ted wusste nicht, mit wem Gerald diesen Teil des Geschäftes abwickelte. Dies war Teil der Sicherheitsmaßnahmen, die Gerald in seiner Organisation getroffen hatte.

»Die Dokumente werden wie immer nach deinen genauen Vorgaben termingerecht erstellt werden«, sagte Ted weiter.

Gerald atmete tief durch. Mit diesen Fragen hatte er Ted nochmals testen wollen. Er konnte nicht vorsichtig genug sein.

Seit vier Jahren lief dieses Geschäft einwandfrei. Vor Kurzem hatte Gerald mit dem Aufbau einer weiteren Organisation begonnen. Voller Zuversicht blickte er der Zukunft entgegen.

Dass er kurz vor dramatischen Ereignissen stand, ahnte er nicht im Geringsten.

2

An diesem Mittwochnachmittag im Juni fühlte sich Pamela wie im Urlaub. All die letzten Monate hatte sie bis zu zehn Stunden am Tag gearbeitet, jetzt hatte sie endlich einen halben Tag zur freien Verfügung. Sie schlenderte ganz vergnügt durch die Nathan Road, die wichtigste Geschäftsstraße von Hongkong. Eine bunte Mischung aus eleganten Chinesinnen, indischen Frauen in leuchtenden Saris, Geschäftsmännern in maßgeschneiderten dunklen Anzügen und Touristen in Freizeitbekleidung drängten sich auf dem Gehsteig. Von hinten wurde sie geschubst, rechts versuchte sich ein junger Mann an ihr vorbeizuschlängeln. Es war heiß und feucht. In der Nähe der Untergrundbahnstation wurde das Gedränge noch dichter. Als sich Pamela der großen Moschee näherte, drehte sie sich automatisch zur gegenüberliegenden Straßenseite um. Sie wusste, dass sich dort eines der zahlreichen großen Schmuckgeschäfte befand. Sie liebte Schmuck und teure Kugelschreiber. Sie steuerte auf die Ampel zu. Unaufhörlich brausten Busse, Wagen und Taxis in beiden Richtungen vorbei. Endlich grün! Sie überquerte die Straße und ging auf das erste der beiden Schaufenster zu. Neben Goldketten in verschiedenen Längen und Mustern waren Ohrringe, Armbänder und mit Edelsteinen besetzte Ringe kunstvoll auf rotem Samt ausgestellt. Sie wusste, dass sie sich niemals Schmuck in dieser Preislage leisten konnte, und trotzdem zog es sie zum zweiten Schaufenster hin, das wiederum für sie unerschwingliche Preise vorgab. So verging der sorglose Nachmittag, bis ihre Füße zu schmerzen begannen.

Es war halb acht und schon dunkel, als sie sich entschloss, nach Hause zurückzukehren. Morgen wartete wieder ein arbeitsintensiver Tag auf sie. Von der Nathan Road bog sie in die Salisbury Road ein und vorbei am berühmten Peninsula Hotel. Wenige Minuten später erreichte sie die Meerenge und steuerte auf die Anlegestelle der Star Ferry zu. Die Ferry ist neben der Untergrundbahn die schnellste Verbindung zwischen Kowloon, dem Stadtteil auf dem chinesischen Festland, wo sie sich befand, und dem gegenüberliegenden Stadtteil auf der Insel Hongkong, wo sie wohnte. Die Leute waren schon am Einsteigen. Eiligst begab sie sich zur Einsteigerampe. Kaum war sie aufgesprungen, wurde diese zurückgeschoben und die Ferry setzte sich in Bewegung. Schwankend steuerte Pamela auf den nächsten freien Sitz zu. Die Sicht auf die gegenüberliegende Bucht mit ihren vielen schlanken, zu dieser Zeit hell erleuchteten Hochhäuser am Fuße des Victoria Peak begeisterte sie jedes Mal von Neuem. Nach der heißen stickigen Luft in den Straßenschluchten von Kowloon genoss sie die erfrischende Brise auf dem Deck. Sie lehnte sich zurück und streckte ihre brennenden Füße vor sich aus.

Wie schön, dass ich mich vor drei Jahren entschlossen habe, England zu verlassen und hierher zu ziehen, dachte sie ganz glücklich. Jetzt, mit ihren einunddreißig Jahren, genoss sie das Leben in vollen Zügen. Da sie wusste, dass sie so schnell nicht wieder in den Genuss eines freien Nachmittags kommen würde, beschloss sie, diesen Abend mit einem Spaziergang durch das antike Quartier am Fuße des Hausberges, dem Victoria Peak, zu beenden. Sie liebte diese malerische Gegend, wo sich einer der ältesten Tempel von Hongkong befand, der winzige Man-Mo-Tempel.

Mittlerweile hatte das Boot die Anlegestelle auf der Insel erreicht. Das übliche Gedränge vor dem Aussteigen hatte begonnen. Instinktiv klammerte sie sich fester an ihre Handtasche, während sie sich inmitten der Passagiere zum Ausgang begab. Ein Blick auf ihre Armbanduhr verriet ihr, dass es Viertel nach acht geworden war und sie noch nichts gegessen hatte. In diesem geschäftlichen Stadtteil, Central, gab es viele kleine Lokale. Sie ging auf das rote Schild mit dem goldenen, geschwungenen Drachen zu, das über dem Eingang eines Restaurants leuchtete. Es war für seine schmackhaften Fischzubereitungen bekannt. Sie genoss das leckere süßsaure Gericht und machte sich danach auf den Weg zum alten Quartier.

Es wurde immer stiller. Hier gab es keine Leuchtreklamen mehr. Langsam schritt Pamela die steile Straße empor, den alten Gebäuden nach. Es war stockdunkel. Ab und zu drang ein schwacher Lichtstrahl aus einem Fenster auf die Straße. Sie war ganz allein. So dachte sie jedenfalls. Es fröstelte sie. Nachts war sie noch nie hierhergekommen. War es die bedrückende Stille, die sie als bedrohlich empfand? Sie wusste es nicht. Sie hielt inne. Warum bin ich nur so ängstlich?, fragte sie sich verärgert. Mit erhobenem Kopf schritt sie entschlossen weiter. Nicht lange. Ein erstickter Schrei in unmittelbarer Nähe ließ sie erschaudern. Sie befand sich vor einem zehnstöckigen Wohnhaus. Pamela blieb stehen und horchte. Es war still. Sie war sicher, dass der Schrei aus dem benachbarten Garten mit dem großen Baum herrührte. Das zweistöckige Haus und der Garten waren durch eine hohe Hecke von der Straße und dem Gehsteig getrennt. Am Ende dieser Hecke befand sich die Kreuzung mit der belebten Hollywood Road. Durch diese Straße wollte sie nach Hause spazieren. Mit ihren zahlreichen Kunstgalerien und dem alten Tempel zog diese Straße sowohl Stadtbewohner als auch ganze Gruppen von Touristen an. Pamela zögerte. War jemand im Garten gestürzt, gar verletzt? Vorsichtig schritt sie weiter. Nach wenigen Metern stand sie vor einer Lücke in der Hecke. Es war totenstill. Sie spähte hinein. Das zweistöckige Haus und der Garten mit dem großen Baum befanden sich hinter der Hecke. Behutsam schritt sie durch die Lücke hindurch. Die Fenster des Hauses waren in beiden Stockwerken dunkel. Ein schmaler Pfad führte am Hauseingang vorbei und weiter um das Haus herum. Zitternd spähte sie um die Hausecke. Der Garten erstreckte sich auf dieser Seite bis zur Hollywood Road hinauf. Er war durch eine Mauer zur Straße hin und zum Nachbarhaus getrennt. Sie erstarrte. Im schwachen Lichtstrahl konnte sie die Szene wie ein Schattenspiel mitverfolgen. Eine dunkle, große Gestalt hielt mit beiden Händen einen Golfschläger in die Luft.

»Du wirst nicht zur Polizei gehen«, fauchte die dunkle Gestalt zur kleineren hinunter.

Eine männliche Stimme, registrierte Pamela. Englisch mit dem charakteristischen Akzent der Einheimischen.

Die kleinere Gestalt versetzte dem anderen mit seinem rechten Bein einen wuchtigen Tritt in den Bauch, während der Golfschläger auf ihn einschlug. Und wieder der gleiche Schrei. Der Körper fiel mit dumpfem Ton auf den Boden.

»Bist du wahnsinnig?!«, hörte sie eine weitere Männerstimme zischen. »Ist er tot?«

Die Antwort konnte sie nicht verstehen.

Jetzt erst konnte sie die Umrisse des zweiten Mannes erkennen. Beide waren mit dem Opfer am Boden beschäftigt. Zitternd spähte sie zum breiten Baumstamm hinüber. Ich muss hier weg! Wie komme ich unbemerkt raus? Nur der breite Baumstamm kann mich retten. Zitternd sprang sie zum Baum hinüber. Von hier aus konnte sie das Haus nur noch von vorne sehen, nicht mehr von der Seite. Sie drückte sich mit aller Kraft an den Stamm. Ihr Atem stockte, ihr Herz raste. Was machen sie, wo sind sie?

Endlich hörte sie die Stimmen wieder. Die beiden Männer kamen um die Ecke herum. Sie trugen etwas, das einer schmalen Kiste glich. In der Dunkelheit waren nur Umrisse zu erkennen. Sie verschwanden durch die Hecke. War noch jemand im Haus? Alles war dunkel. Sie hörte, wie eine Wagentür zugeschlagen wurde. Steif und zitternd schlich sie sich wieder am Hauseingang vorbei durch die Hecke. Zwei Männer hatten soeben die Hecktür eines auf der gegenüberliegenden Straßenseite geparkten Kombiwagens zugeschlagen und stiegen vorne ein. Der Wagen sprang an. Der Beifahrer starrte den Bruchteil einer Sekunde lang in ihre Richtung, bevor sie am Haus vorbeibrausten. Erst auf der Kreuzung wurden die Scheinwerfer eingeschaltet. Es ging alles so schnell, dass sie nur die Buchstaben BC und 4 auf dem Nummernschild lesen konnte. Sie atmete tief durch. Wie vom Teufel besessen rannte sie die Straße hinunter. Völlig außer Atem stürmte sie in den nächsten Polizeiposten.

Erschöpft erreichte Pamela eine Stunde später ihre Wohnung und ließ sich auf ihr schwarzes Ledersofa mit den roten Kissen fallen. Ihre dreieckige, orangefarbene Handtasche hatte sie auf den Boden fallen lassen. Die kleine Tischuhr von Cartier auf ihrer Kommode zeigte auf Viertel vor elf. Unaufhörlich kreisten ihre Gedanken um den Mann mit dem Golfschläger und um den leblosen Körper auf dem Boden.

Konzentriert versuchte Pamela sich an Details zu erinnern. Eine Person war niedergeschlagen worden. Ob die Person tot war, wusste sie nicht. Warum hatten die Männer eine Kiste oder etwas Ähnliches weggetragen? Der leblose Körper musste darin sein, was sonst? Am Anfang der steilen Straße hatte sie Schritte hinter sich gehört. Sie hatte dem keine Beachtung geschenkt. In Hongkong war man nie allein. Genau, die Schritte hatte sie danach nicht mehr bemerkt. »Ich bin Zeugin eines Mordes«, sagte sie laut vor sich hin. Sie fühlte sich wie die Hauptdarstellerin eines Abenteuerfilmes. Sie musste es jemandem erzählen. Harry war die richtige Person, ein junger Engländer, den sie in Hongkong kennengelernt hatte. Das Leben war plötzlich so aufregend und so spannend. Mit einem Schlag verspürte sie aber ein unheimliches Gefühl. Hat mich jemand gesehen? Die Person hinter mir hatte mein Gesicht nicht sehen können, aber jemand anders, aus einem Fenster vielleicht? Mit einem Ruck erinnerte sie sich, dass ein Mann sie etwas weiter oben überholt hatte. Sie beschloss, mit niemandem darüber zu reden, nicht einmal mit Harry. Schließlich hatte sie der Polizei alles zu Protokoll gegeben. Sie lehnte sich noch fester in ihre roten Kissen zurück. Kopfschmerzen breiteten sich wellenartig vom Nacken her aus. Hatte sie vor drei Jahren wirklich die richtige Entscheidung getroffen? Sie war damals achtundzwanzig Jahre alt gewesen. In Gedanken ging sie ihr Leben nochmals durch.

Von London nach Hongkong auszuwandern und hier ein neues Leben zu beginnen war die beste Entscheidung gewesen, die sie je in ihrem Leben getroffen hatte. So hatte sie jedenfalls bisher immer voller Stolz gedacht. Sie war bei ihrer Großmutter in London aufgewachsen. Ihre Eltern waren bei einem Verkehrsunfall umgekommen, als sie vier Jahre alt war. Geschwister hatte sie keine, was sie sehr bedauerte. Als ihre Großmutter starb, wurde sie von einer Tante kurzerhand in ein Internat gesteckt. Die Erinnerungen an diese Zeit ließen sie noch immer erschaudern. Zwei Jahre später, mit bestandenem Abitur, hatte sie diese Festung fluchtartig verlassen. Nach einem weiteren Abschluss an einer Handelsschule hatte sie ihre erste Stelle angetreten. Fünf Jahre später hatte ihr Vorgesetzter das Rentenalter erreicht und die Firma verlassen. Da sein Nachfolger machtbesessen und cholerisch war, hatte sie, wie die meisten Mitarbeiter, die Firma kurzerhand verlassen.

Sie lächelte, als sie daran dachte, wie sie an jenem Abend die Untergrundbahn zum Piccadilly Circus bestiegen hatte. Die Beziehung zu ihrem Freund Fred hatte sich drei Monate zuvor lautstark zerschlagen. Jetzt war sie frei. Sie hätte die ganze Welt umarmen können. Wenig später, während sie ein hübsches Schaufenster mit Seidendessous betrachtete, hatte sie sich an den Kalender mit Aufnahmen von Hongkong erinnert. Sie hatte ihn vor Jahren gekauft. Die Bilder dieser Stadt hatten sie so fasziniert, dass sie damals schon gewusst hatte, Hongkong würde irgendwann in ihrem Leben eine wichtige Rolle spielen. Dieser Zeitpunkt war nun da.

Sie würde nach Hongkong auswandern. Ihr Entschluss stand fest. Wie entfesselt war sie daraufhin in den Laden gestürzt und hatte sich ein sündhaft teures Negligé mit dem dazu passenden Nachthemd in dunkelrosa Seide mit schwarzen Ziernähten gekauft.

Der Flug mit der älteren Dame neben ihr war ein einziges Vergnügen gewesen. Sie hatte sich mit »Mildred« vorgestellt. Mit ihren dunklen Hosen, dem schwarzen Pullover und dem fuchsiafarbenen Schal, der ausgezeichnet zu ihrer ganz hellen Haut und den gewellten weißen Haaren passte, hatte sie bezaubernd ausgeschaut. Nachdem Orangensaft und Mineralwasser serviert worden waren, hatte Mildred begonnen, aus ihrem erlebnisreichen Leben zu erzählen. Sie hatte Kunstgeschichte in London studiert und war danach in diversen Galerien in London tätig gewesen.

»So, meine Liebe, und nun erzählen Sie mir, was Sie nach Hongkong treibt«, hatte Mildred sie nach dem Essen gefragt.

Pamela war zusammengezuckt. Zögernd hatte sie von ihrem Leben zu erzählen begonnen. Das Lächeln von Mildred und ihr Zunicken hatte Pamela angespornt weiterzureden. Voller Begeisterung hatte sie ihr ihre Pläne geschildert und dass ihr Traum vom Auswandern an diesem Tag in Erfüllung ging.

»Wie wundervoll!«, hatte Mildred entzückt ausgerufen.

Pamela hatte mit älteren Leuten bisher ganz andere Erfahrungen gemacht. Nur nichts Neues beginnen, zufriedenseinmitdem,was man hat, und so weiter. Mildred war völlig anders.

Als sie gute zwölf Stunden später in Hongkong landeten, hatten sie sich wie zwei alte Freundinnen verabschiedet. Mildred war von einem Chauffeur abgeholt worden, um nach Macao weiterzureisen, wo sie drei Tage lang zu tun hatte.

»Danach muss ich gleich wieder nach London zurück«, hatte sie der verdutzten Pamela gesagt.

Sie hatten keine Gelegenheit mehr gehabt, sich in diesen drei Tagen nochmals zu treffen, hatten aber ihre Telefonnummern ausgetauscht. Die Adresse von Mildred hatte sich Pamela sorgfältig notiert. Dass Mildred in ihrem neuen Leben eine wichtige Rolle einnehmen würde, hatte sie damals irgendwie geahnt und gehofft.

So kam es denn auch, nur nicht so, wie sie es erwartet hatte.

Wenige Wochen nach ihrer Ankunft hatte Pamela das unverhoffte Glück, eine Stelle und eine Wohnung zu finden. Zwei Tage später trat sie ihre Stelle als Sachbearbeiterin in einer mittelgroßen Versicherungsfirma an. Sue, ein hübsches junges Mädchen aus dem Büro nebenan, führte sie in die umliegenden kleinen chinesischen Lokale ein. Wie alle Leute in Hongkong hatte sie sich mit ihrem englischen Vornamen vorgestellt.

Sue war es auch, die Pamela mit den Gepflogenheiten von Hongkong bekannt machte, etwa dass die Leute zwei Vornamen haben, einen chinesischen und einen englischen, den sie vor allem im Umgang mit Ausländern benützen. Hongkong war bis vor Kurzem eine englische Kronkolonie gewesen. In der Schule galt Englisch als erste Fremdsprache. Dies hat sich in den letzten Jahren unter dem Einfluss von Peking geändert. Englisch wurde durch Mandarin ersetzt. Die lokale Sprache ist aber weiterhin Kantonesisch.

Sue kannte viele junge Leute, die ebenfalls hier im Central District auf der Insel arbeiteten und hier ihre Mittagspausen verbrachten.

Durch Sue lernte sie Gerald Wong kennen, einen jungen Chinesen. Wie alle Männer hier hatte er kurz geschnittene, nach hinten gekämmte schwarze Haare. Er wirkte sehr sportlich. Als sie ihm voller Begeisterung von den Bambusbaugerüsten erzählte und wie sie Angst um die Bauarbeiter hatte, die darauf herumspringen, hatte er gelacht.

»Ich liebe meine Stadt. Es gibt so viele interessante Orte hier, alte Tempel, Museen und natürlich schöne Strände. Wenn du Lust hast, zeige ich dir gerne einige spezielle Straßen und Quartiere«, hatte er ihr eines Tages angeboten.

Eine aufrichtige Freundschaft hatte sich in diesen drei Jahren zwischen ihnen entwickelt. Pamela sah viel von Hongkong. Gerald kam ihr wie ein lebendiges Lexikon vor. Er hatte sich intensiv mit der Geschichte von China und speziell von Hongkong befasst. Wann immer er Zeit hatte, führte er Pamela in die zahlreichen Märkte und ermöglichte ihr Einblicke in das Leben dieser pulsierenden Stadt.

Zum ersten Mal machte ihr die Arbeit richtig Spaß. Vor einem Jahr war sie zur Direktionsassistentin befördert worden. Sie war stolz auf sich. Sie hatte ihre Ziele erreicht.

Mit einem Schlag wurde sie in die Realität zurückgeschleudert. Sie hatte Angst. Würde dieses Verbrechen sie eines Tages einholen?

Dass plötzlich Licht im Zimmer über dem Eingang des Hauses gebrannt hatte und dass das Fenster geöffnet worden war, bevor sie zur Polizei losgerannt war, hatte Pamela nicht bemerkt.

3

Vier Tage nach dem Verbrechen, es war Sonntag, machte sich Pamela mit einer Strandtasche auf den Weg. Sie hatte nur etwas Kleingeld, einen Badeanzug, ein Strandtuch sowie belegte Brötchen und zwei Flaschen Wasser dabei. Unter ihrem Kleid trug sie ihren schönsten Bikini, den meergrünen mit den goldenen Längsstreifen. Sie hatte sich auf diesen Ausflug mit Gerald besonders gefreut, denn ihre Gedanken, die pausenlos um die beobachtete Tat kreisten, mussten dringend zerstreut werden. Schnell warf sie einen Blick in den langen Spiegel, der an der Wand im Flur hing. Das türkisblaue, kurze Trägerkleid stand ihr gut mit ihrer schlanken Figur und den halblangen kastanienbraunen Haaren. Diese hatte sie mit einem türkisblauen Gummiband nach hinten zusammengebunden. »Ich muss los, der Bus fährt in einer Viertelstunde«, flüsterte sie vor sich hin, während sie die Wohnungstür hinter sich verriegelte.

Wenig später begrüßten sie sich herzlich zur vereinbarten Zeit an der Busstation. Im Bus, der sie quer über die Insel zur Bucht mit einem der schönsten Strände von Hongkong brachte, redete Pamela ununterbrochen. Sie erzählte Gerald voller Begeisterung von ihrer Arbeit und von dem Abend, den sie kürzlich mit Sue verbracht hatte. Zum Schluss schwärmte sie noch von ihrem freien Nachmittag, wie sie ihren Spaziergang genossen hatte und in dem kleinen Restaurant vorzüglich gegessen hatte.

Gerald hörte geistesabwesend zu, was Pamela in ihrem Eifer gar nicht auffiel. Er hatte keine Lust mehr auf diesen Ausflug, den sie vor zehn Tagen vereinbart hatten. Unerwartete Probleme hatten ihn aus der Bahn geworfen. Er musste sich zusammenreißen. Er durfte sich nichts anmerken lassen.

»Noch drei Kurven, dann sind wir da, in der Repulse Bay«, sagte Gerald wenig später, scheinbar entspannt.

»Was für ein hässlicher Name für diesen malerischen Strand mit den Palmen!«, seufzte sie kopfschüttelnd.

»Du weißt doch, dass er nach einem britischen Kriegsschiff benannt wurde«, erwiderte er, »ich habe dir die Geschichte doch erzählt.«

Pamela nickte eifrig mit dem Kopf. Sie hatte so viel von ihm gelernt. Einzig über sein Privatleben sprach er nie. Das respektierte sie und stellte ihm diesbezüglich keine Fragen. Von Sue wusste sie nur, dass er Single war und die Arbeit ihm das Wichtigste im Leben bedeutete.

Sie hatten unterdessen die Station erreicht. Die meisten Leute stiegen hier aus und begaben sich wie Gerald und Pamela zum Strand. Pamela streifte sich ihr Kleid vom Leib. Gerald hatte auch schon seine Badehose unter seinen Shorts an, und so schwammen sie wenige Minuten später in den Wellen. Das Wasser war herrlich kühl und glasklar. Als sie aus dem Wasser kamen, machten sie es sich auf ihren Strandtüchern in der Sonne bequem. Der feinkörnige, helle Sand fühlte sich wie ein weicher Teppich an. Gerald war normalerweise sehr unterhaltsam. Jetzt aber schwieg er und starrte vor sich hin. Was hatte sie im Bus erzählt, von einem freien Nachmittag vor vier Tagen? Sie erschrak, als er sie plötzlich mit rauer Stimme fragte, ob sie an jenem Abend nach dem Essen direkt nach Hause zurückgekehrt war.

»Von welchem Abend sprichst du?«

»Von deinem freien Nachmittag«, antwortete er kurz.

Pamela musterte ihn erstaunt und angewidert zugleich. Sie wollte nicht von dem Vorfall im alten Quartier sprechen. Sie wollte jenen Abend aus ihrem Leben streichen. Er würde ihr ohnehin nicht glauben. Hongkong war eine der sichersten Städte der Welt, war sie von dem Polizeibeamten belehrt worden.

»Ich habe noch eine kleine Runde im alten Quartier gedreht, bevor ich nach Hause ging«, antwortete sie vorsichtig.

»Bist du wieder zum Man-Mo-Tempel hinaufgestiegen?«

Mit gutem Gewissen konnte sie seine Frage beantworten.

»Nein, ich war nicht so weit oben.«

Das Verbrechen hatte sie in der steilen Straße unterhalb der Hollywood Road beobachtet, in der Lok Ku Road. Es fror sie noch immer, wenn sie daran dachte.

»Warum fragst du?«

»Nur so, es hätte ja sein können«, erwiderte er beiläufig, beobachtete sie aber genau.

Pamela legte sich wieder hin und tat, als schliefe sie. Seine Stimme, sein Verhalten und vor allem seine Augen waren unheimlich. Sie versuchte, eine Erklärung dafür zu finden.

»Hast du Probleme bei der Arbeit oder mit Freunden?«

»Nein, alles geht gut«, erwiderte er kurz.

Konnte es sein, dass er von dieser Tat gehört hatte und es ihm peinlich wäre, wenn sie es erfahren würde? Er gab sich solche Mühe, ihr nur die besten Seiten seiner wunderschönen Stadt zu zeigen. Als sie ihm einmal schilderte, dass sie einen Bettler auf dem Gehsteig gesehen hatte, war er fast wütend geworden. Seither achtete sie sehr darauf, nur von positiven Erlebnissen zu berichten.

»Geschehen oft Verbrechen in Hongkong?«

Sie hoffte, ihn damit abzulenken. Sicher würde er ihr wieder von seiner Stadt schwärmen und seine schlechte Laune vergessen. Mit einem Ruck setzte er sich auf und beobachtete sie scharf. Sie fühlte, wie sein eisiger Blick über ihren ausgestreckten Körper fegte. Sie drehte sich zu ihm hin und lachte.

»Das war nicht ernst gemeint. Was ist bloß mit dir los heute? Ist das nicht ein wunderbarer Tag? Komm, gehen wir schwimmen!«

Sie sprang auf und lief, ohne sich umzudrehen, zum Meer.

Den Rest des Tages gaben sich beide Mühe, ausgelassen zu wirken. Gegen fünf Uhr bestiegen sie den Bus für die Rückfahrt. Die Sonne und das Schwimmen hatten ihr gutgetan.

Während der schweigsamen Fahrt versuchte Pamela, ihr ungutes Gefühl zu verdrängen. Warum hatte sie ihn nur nach Verbrechen gefragt? Hatte er etwas damit zu tun? Sein aggressives Verhalten hatte sie geradezu zu ihrer Frage provoziert.