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Die jüngsten Ereignisse haben einen Umstand in den Hintergrund gedrängt: die anstehende Zeremonie von Chris und Decarabia. Doch nun lenkt sich der Fokus des Erzengels Uriel auf genau diese Verbindung. Er gräbt in Chris' Vergangenheit und bringt dabei Wahrheiten ans Licht, die besser unerzählt geblieben wären, und er taucht mit einer Gestalt auf, von der eine ungeahnte Gefahr ausgeht. Auch Gabriel muss sich mit einem entscheidenden Fehler, den er einst begangen hat, auseinandersetzen.
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Seitenzahl: 427
Veröffentlichungsjahr: 2025
Die Chronik der
Daemonenfuersten
Teil 7
Das Buch vonLeben und Tod
Urban Dark Fantasy Roman von
Monika Grasl
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Erste Auflage 2025
© Monika Grasl
© Coverbild: Depositphotos [email protected], milosluz
Covergestaltung: Verlag der Schatten
© Engelsflügel: Fotolia Sushi, © Schwerter: Fotolia Elnur
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Lektorat: Verlag der Schatten
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ISBN: 978-3-98528-045-2
Das Buch vonLeben und Tod
Urban Dark Fantasy Roman von
Monika Grasl
Die jüngsten Ereignisse haben einen Umstand in den Hintergrund gedrängt: die anstehende Zeremonie von Chris und Decarabia. Doch nun lenkt sich der Fokus des Erzengels Uriel auf genau diese Verbindung. Er gräbt in Chris’ Vergangenheit und bringt dabei Wahrheiten ans Licht, die besser unerzählt geblieben wären, und er taucht mit einer Gestalt auf, von der eine ungeahnte Gefahr ausgeht.
Auch Gabriel muss sich mit einem entscheidenden Fehler, den er einst begangen hat, auseinandersetzen.
Nun holen sowohl den ehemaligen Erzengel als auch Chris ihre Vergangenheit ein. Wird die Beziehung zu Decarabia an diesen neuen Wahrheiten zerbrechen? Und inwiefern spielt Gabriels Fehler dabei eine Rolle?
In diesem finalen Band der Reihe rund um die Dämonenfürsten werden die letzten offenen Fragen geklärt.
Inhalt
Uriel
Chris
Constanza
Reagan
Uriel
Decarabia
Jingle
Constanza
Uriel
Decarabia
Ezekiel
Seere
Gabriel
Reagan
Chris
Camio
Constanza
Gabriel
Decarabia
Uriel
Jingle
Constanza
Gabriel
Ezekiel
Maja
Seere
Constanza
Gabriel
Reagan
Chris
Azrael
Reagan
Seere
Evy
Epilog
Danksagung
Autorenvorstellung
Werden wir jemals frei sein? Diese Frage beschäftigt die Menschen nicht erst seit dem Ende der Sklaverei. Doch eine Antwort gibt es darauf nicht.
Und wird es sie je geben können?
Aus dem dritten Konzil zwischen Himmel und Hölle unter dem Vorsitz des Großfürsten Amymon.
Fünf Monate. Er konnte noch immer nicht glauben, dass ihm nun dieser Platz zustand. Gelegentlich überkam Uriel die Angst, Gabriel könne zurückkommen. Doch dafür gab es keinen Anlass. Der einstige Erzengel war seiner Macht beraubt. Zumindest war er es gewesen. Das Gerede im Himmel ließ auf anderes schließen.
Uriel gab nichts auf das Geschwätz. Die Engel hatten stets dazu geneigt, zu tratschen. Das würde sich unter seiner Führung ändern. Bei einigen hatte es bereits zum gewünschten Erfolg geführt und bei anderen würde es folgen, sobald sie aus den unterirdischen Gängen der Engelsburg hervortraten. Geschunden, gequält und gebrochen. Genau so wollte Uriel die Himmelsgestalten. Dann waren sie leicht zu lenken.
Jedoch war es nicht das, worüber er sich gegenwärtig Gedanken machte. Vielmehr ruhte sein Blick auf der Wand aus Buchrücken. Gabriels Schätze, wie er wusste. Einige stammten aus dessen eigener Feder. Soweit er sich richtig entsann, hatte Gabriel die Werke gehütet und nie fremden Händen überlassen. Er hätte sie gewiss mitgenommen, wenn sein Aufbruch nicht so überstürzt vonstattengegangen wäre. Doch auch das beschäftigte Uriel nur geringfügig.
Er war auf der Suche. Seine Augen huschten von einem Titel zum nächsten. Die Bücher wurden erhellt durch die einfallende Sonne. Gabriel hatte selbiger niemals Einlass in diesen Raum gewährt. Die schweren Vorhänge hatten das Licht ausgesperrt. Dabei spiegelte es sich gerade schön auf dem polierten Marmorboden. Sogar die Öllampen fingen den Schein der Sonne ein.
An die Entstehung dieser Sammlung konnte sich Uriel nicht entsinnen. Sie war nach dem Fall der Mächtigen und Hochrangigen entstanden. Somit nach jener Zeit, die er mit Gabriel in dessen Bett zugebracht hatte. Dass der Bastard in den wenigen Wochen nicht einzig ihm seine ungeteilte Aufmerksamkeit geschenkt hatte, stieß Uriel heute noch sauer auf.
Er streckte die Finger aus, um die Buchrücken zu berühren. Ein Dämonenfürst reihte sich an den nächsten. Sie wurden abgelöst von den Regenten und schließlich von den niedrigen Dämonen.
Eines musste man Gabriel lassen, über den Feind hatte er sehr genau Buch geführt. Selbiges galt auch für das eigene Volk. Lediglich von den Menschen existierten nur wenige Aufzeichnungen. Aber was hätte sich bei diesen einfach gestrickten Individuen gelohnt aufzuschreiben?
Im Augenblick wäre es Uriel lieber gewesen, wenn über diese eine unermessliche Fülle hier zu finden gewesen wäre. Aber dem war nicht so. Darum wandte er sich jäh von der Wand ab und lenkte seine Schritte durch den Thronsaal. Ein letzter Blick erfolgte, ehe er den Raum hinter sich ließ.
Er beschritt einen halb erleuchteten Gang. Keine Diener waren zu sehen. Seit Gabriels Fall hatten sie sich in den Dienst anderer Engel begeben. Einige waren bei ihm vorstellig geworden, doch Uriel hatte sie abgewiesen. Er wollte nichts in seiner Nähe, das in irgendeiner Weise an Gabriel erinnerte. Schon gar nicht mitten im Petersdom. Denn dort hatte er sich sein Domizil gesucht. So nahe bei Gott konnte er seine Position weit besser ausnutzen. Davon war er überzeugt.
Vor einer unscheinbaren Tür hielt er inne. Der Geruch von Moschus und Nelken hing schwer in der Luft. Es brachte Uriel dazu, an den Moment in der Engelsburg zu denken, als Gabriel vor ihm mit stolzem Blick auf dem Boden kniete und Uriel aufgefordert hatte, ihn anzusehen. Die hellblauen Augen hatten eine unermessliche Kälte ausgestrahlt, als er der Forderung nachgekommen war. Eine stumme Anschuldigung all dessen, was man ihm vorwerfen konnte. Angefangen bei seinen Lügen und aufgehört bei der Tatsache, dass er versucht hatte, aus Raphael einen Schlächter zu machen. Dabei hatte Gabriel mit dem Erzengel ganz andere Pläne verfolgt. Solche, die er Uriel gegenüber jedoch nie mit einem Wort erwähnt hatte. Aber oft genug hatte er Raphael vor Gottes Zorn in Schutz genommen. Weit mehr als es bei Uriel der Fall gewesen war.
Mit diesem eingebildeten Bastard hatte er das Bett geteilt? Uriel konnte es selbst heute nicht fassen. Wie oft war er zudem freiwillig in Gabriels Bett gekrochen? Diese Tatsache versuchte er von sich zu schieben, aber sie hing unleugbar in seinem Verstand fest.
Tief durchatmend schüttelte Uriel den Kopf und stieß die Tür sachte auf. Die Vorhänge waren zugezogen. Lediglich Fackeln tauchten den Raum in ein nebulöses Halbdunkel. Schnell zog er die Stoffbahnen auseinander, um Tageslicht hereinzulassen.
Wenn er sich recht entsann, hatte Gabriel zu Beginn seiner Regentschaft mit mindestens einem Engel in diesem Bett geschlafen. Später war er alleine geblieben. Ein Umstand, den Uriel nicht bedauerte. Im Gegenteil, es zeigte, wie sehr er Gabriel gebrochen hatte. Wie er diesen überheblichen Kerl in die Schranken gewiesen hatte. Keiner hätte dies je für möglich gehalten und nur die Wenigsten wussten davon.
Ein süffisantes Grinsen schlich sich auf sein Gesicht, als er das Bett betrachtete. Hier hatte alles seinen Anfang genommen. Uriel war für den Fall so vieler verantwortlich gewesen. Für jenen von Gabriel sowie den der Hochrangigen und der Mächtigen. Zu schade, dass Satan vor Kurzem versagt hatte. Es war nicht zu ändern. Wenn Uriel es recht bedachte, konnte es ihm gleich sein, wer über die Hölle herrschte. Zu den Konzilen würde er nicht gehen. Ob er im kommenden Jahr einen Boten schickte, war ebenfalls fraglich. In der Hinsicht war von Gottes Seite das letzte Wort noch nicht gesprochen. Was Uriel eines vor Augen führte: Er musste schnellstens dahinterkommen, wie Gabriel den Schöpfer so ruhig gehalten hatte.
Ohne weiter nachzudenken, trat er auf den Schreibtisch zu. Sein Fellumhang schleifte über den Boden. Staub wirbelte hoch. Konnte es gar sein, dass Gabriel länger nicht mehr hier geschlafen hatte? Falls ja, würde er dann das Gesuchte überhaupt hier finden? Und wenn nicht, wo sollte er mit seinen Nachforschungen weitermachen?
Seine Finger begannen die Notizen zu durchwühlen. Er ließ sich auf den Stuhl nieder, als ihm eine Nachricht in die Hände fiel. Sie erweckte seine Neugierde. Versiegelt lag sie da. Doch Uriel scherte sich wenig darum, somit brach er das Wachssiegel und starrte auf die Zeilen hinab.
Mein Gebieter,
wir sollten diesem Treiben nicht länger nur zusehen. Der Nachfahre Salomons ist niemals dazu in der Lage, die Dämonenfürsten erneut zu bannen. Ihr, wie ich, wisst, dass es ihm an zwei Dingen mangelt: der nötigen Sprache und dem richtigen Material. Ein drohender Krieg ist somit unumgänglich. Und doch verlangt Ihr, dass wir die Hände in den Schoß legen? Ist das die Stellung, die wir in Zukunft einnehmen werden?
Verzeiht, wenn ich dies so offen sage, doch wir sind für die Menschen verantwortlich. Ihr seid es! Sie sind Eure liebste Schöpfung und doch lasst Ihr sie zugrunde gehen.
Schreibt mir, um die Angelegenheit mit Salomo Kaine zu klären. Die Menschheit wird Euch dankbar dafür sein, da besteht kein Zweifel.
Gezeichnet
Gabriel, Erzengel und Gottes rechte Hand
»Du scheinst es dir doch noch anders überlegt zu haben, Gabriel«, murmelte Uriel. Das Papier zerknitterte unter seinem Griff.
Schon erstaunlich, dass der Erzengel die Botschaft nie abgeschickt hatte. Oder war sie von Gott zurückgesandt worden, ohne einen Blick hineingeworfen zu haben? Es läge im Bereich des Möglichen. Doch was sagte dies über den Stellenwert von Gabriel aus? Dass er zu dem Zeitpunkt bereits nicht mehr Gottes Liebling gewesen war? Die Antwort erschloss sich ihm nicht. Es war gleich. Salomo war tot und die Dämonenfürsten herrschten nach wie vor über die Welt. Es blieb nur die Frage, wie lange es noch so sein würde. Ob die einstigen Mächtigen nicht doch lieber zur alten Ordnung der Sklaverei zurückkehrten, um ihre Macht nicht einzubüßen? Spätestens wenn Uriel gefunden hätte, wonach er hier so verzweifelt suchte, wäre es der Fall.
Er kam nicht umhin, erneut den Blick auf das Bett zu legen. Tief durchatmend entsann er sich seiner letzten Nacht darin. Mit Unmut hatte er verfolgt, wie Gabriel ihn ignoriert hatte. Wie der Erzengel hier gesessen und Nachrichten verfasst hatte. Dabei war auch Uriels Zeit kostbar gewesen. Er hätte sich jedem anderen hingeben können. Genau das hatte er an jenem Abend auch zu Gabriel gesagt. Selbst heute lief ihm ein kalter Schauder über den Rücken, als er daran dachte, wie Gabriel den Kopf gehoben und ihn mit seinen hellen Augen angeblickt hatte. Dazu war ein feines Lächeln auf seinem Gesicht zu sehen gewesen.
»Dann geh doch. Ich zwinge dich schließlich nicht, hier zu sein, Uriel.«
Er war geblieben. Weil er von Gabriel genauso abhängig gewesen war wie der Erzengel von ihm. Aber es war die letzte Nacht gewesen, die sie zusammen verbracht hatten. Und dann nicht mal in diesem Bett. Uriel hatte ihn nur weiter beobachtet. Am nächsten Morgen war er gegangen, wie immer. Zurückgekehrt war er nicht mehr. Stattdessen hatte ihn sein Weg zu Satan und somit in eine Revolte und Intrige geführt, an die er all die Jahre nicht mehr gedacht hatte. Bis die Rede vom Auftauchen der übrigen Regenten vor wenigen Monaten an seine Ohren gedrungen war. Gabriel hatte sich dabei natürlich als Retter der Welt aufspielen müssen.
Wütend fegte Uriel bei der Erinnerung die umliegenden Schriftstücke vom Tisch. Er riss Schubladen auf und holte noch mehr Unterlagen hervor. Dabei stieß er gegen das Tintenfässchen. Es kippte um und ergoss sich über ein Blatt.
»Verdammt!«
Uriel warf alles beiseite und langte nach dem nächsten Schreiben. Es war eine unbedeutende Rolle. Doch als er sie auseinanderzog, strahlten seine braunen Augen. Da waren sie, die Namen. Eine ganze Familie von Selbstmördern und Verrätern. Der schlimmste Abschaum der Welt.
Soweit er unterrichtet war, gab es für jene, die ihrem Leben selbst ein Ende gesetzt hatten, ein eigenes Symbol: eine Triskele.
Uriel fuhr mit dem Finger Zeile um Zeile entlang. Der Stammbaum war nicht klein. Namen über Namen. Manche davon mehrfach genutzt. Andere so selten, dass die Abstammung kaum belegt werden konnte. Dabei benötigte Uriel eine gesicherte Verbindung. Eine, die nicht infrage zu stellen wäre.
Und tatsächlich.
Da stand er. Am Ende der Rolle. Gerade ausreichend Platz, um noch vermerkt worden zu sein, und daneben ganz eindeutig das gewünschte Symbol.
Allerdings hatte es wenig mit den ruhigen Handstrichen Gabriels gemein. Anscheinend war es von einem anderen Engel hinzugefügt worden. Um wen es sich dabei handelte, konnte sich Uriel denken: Azrael. Kaum einer wusste so gut über die Lebenden und Toten Bescheid. Kein Wunder, immerhin verwaltete der Todesengel das Buch von Leben und Tod.
»Sieh einer an.«
Er nahm die Rolle an sich. Doch dazu, aufzustehen und den Raum zu verlassen, konnte sich Uriel nicht überwinden. Er blieb sitzen. Sein Blick war auf den Lichtschein gerichtet, der durch das Fenster hereinfiel. Er sah dabei zu, wie die Sonne ihrem Zenit entgegensteuerte und diesen letztlich verließ.
Hier hatte er ihn erlebt. Seinen ersten Kuss. Wie ungeschickt er dabei gewesen war. Gabriel hatte lediglich gelächelt. Vermutlich eine einstudierte Geste. Aber sie hatte ihn beruhigt. Sogar als der Erzengel ihn später auf das Bett gedrückt hatte. In die weichen Kissen. Die Stunden würde er nie aus seinem Verstand streichen können.
Das Licht im Raum begann sich von golden zu rötlich zu bewegen. Dies war der Moment, in dem er aufstand. Seine Finger fuhren noch einmal über das Holz des Tisches. Dann verweilten sie auf der Bettdecke, an der er Gabriels Duft wahrnehmen konnte. Nicht mehr so intensiv wie früher, aber doch.
Er riss sich von dem Zimmer los. Seine Schritte hallten im Stillen des Kremlpalastes nach, bis er die Tore passierte und sich zu dem Gebäude umdrehte. Angespannt leckte er sich über die Lippen.
Würden seine Fähigkeiten bereits ausreichen?
Gleich würde er es wissen.
Es war besser, sich hier – abgeschieden von den Cherubs und Gott – zu blamieren als später vor aller Augen.
Seine Lider senkten sich. Er stellte es sich vor. Die Hitze eines Sommertages. Vor sich konnte er die Strahlen ausmachen, die durch die Fenster auf das trockene Holz der Vertäfelungen trafen. Die Funken, die dadurch entstanden. Wie sie sich sachte durch den Palast arbeiteten …
Ein Knistern ließ ihn erschrocken zusammenfahren. Hastig sah er zum Kremlpalast. Er konnte nicht anders, als zu lachen. Der Laut schmerzte in den Ohren und doch konnte er nicht aufhören.
Gabriels einstiger Wohnsitz stand in Flammen. Wegen eines Gedankens. Seinetwegen. Der neuen rechten Hand Gottes. Was war das für ein Gefühl. Kein Wunder, dass Gabriel immer auf seine Fähigkeiten stolz gewesen war. Jetzt begriff es Uriel. Das hier war wahre Macht. Eine, die er nie mehr hergeben würde.
Nach fünf Herzschlägen wandte Uriel sich von dem Anblick ab. Es gab noch einiges zu tun, um seine Position sowohl unter den Menschen als auch unter den Dämonenfürsten zu sichern. Da er diese schwerlich vernichten konnte, wollte er sie zu alten Handlungen zwingen. Zu solchen, die einen baldigen Krieg auf der Erde ermöglichten, und nach dem sich die Dämonenfürsten hoffentlich zurück in die Hölle scherten.
»Du warst schon mal besser, chérie«, kam es spöttisch von Decarabia.
Chris stieß ein unwilliges Knurren aus. Er versetzte dem Marquis einen Stoß und ließ das Schwert durch die Luft zischen.
Der Treffer kam für diesen nicht überraschend. Dennoch reagierte Decarabia langsamer als sonst. Gerade noch rechtzeitig parierte er den Angriff und verpasste Chris einen Tritt gegen das Schienbein.
»Du sollst nicht ständig zu diesen miesen Tricks greifen«, murrte der ungehalten.
Die dunkelbraunen Augen ruhten jedoch nicht auf ihm. Vielmehr war der Blick auf etwas hinter Chris gerichtet. Doch er kannte seinen Geliebten. Vermutlich handelte es sich um einen weiteren Trick, um ihn auf eine falsche Fährte zu führen. Somit vollführte er sogleich die nächste Attacke. Diesmal wich Decarabia zurück. Zugleich schüttelte der Marquis ungehalten den Kopf. Aber Chris sah nicht ein, warum die Schwertübung schon beendet sein sollte. Sie hatten noch eine gute Stunde. Das sagte ihm der Stand der Sonnenstrahlen, die durch die hohen Fensteröffnungen der Staatsoper fielen. Hier auf der Feststiege spiegelte sich das Licht des alten Kronleuchters und des abblätternden Goldstucks. Um ehrlich zu sein, hätte er sich einen besseren Ort vorstellen können. Aber seit sie in die Innenstadt gezogen waren, fand sich kaum die Zeit, um hinauf zur Gloriette zu reiten. Dabei war dort die Luft weitaus angenehmer. Im Gegensatz zu den stickigen Staubwolken, die hier herumwirbelten.
Decarabia unterbrach seinen nächsten Angriff, indem er seinen Arm packte. Zugleich drehte er ihn zum Treppenabsatz herum. Keine Sekunde später legte sich dessen Dolch an seine Kehle. Aber das verschreckte Chris weit weniger als die Gestalt, die abwartend am Ende der Stufen stand.
Der Gast war mehr als unerwartet. Allzu oft verirrte sich ein Mensch nicht hierher, besonders keine Frau. Erst recht keine bewaffnete. Wobei der Bogen locker in der Hand lag. Das kupferrote Haar gereichte gerade bis zum Kinn und die grünen Augen strahlten sowohl Neugierde als auch Untergebenheit aus.
»Haben wir eine neue Kriegerin, von der du mir nichts gesagt hast?«, fragte er Decarabia leise.
»Nein. Ich dachte, die sei auf deinem Mist gewachsen«, antwortete der leise.
Verwundert sah Chris über seine Schulter. Sein Freund schenkte ihm ein mildes Lächeln. Über die Bemerkung würden sie sich später unterhalten. Jetzt galt es erst mal, zu klären, um wen es sich bei der Besucherin handelte.
»Kann man irgendwie behilflich sein?«, brach Chris als Erstes das Schweigen. Zugleich versuchte er, sich aus dem Klammergriff zu befreien. Aber Decarabia machte keine Anstalten, ihn loszulassen. Ganz zu schweigen davon, den Dolch von seiner Kehle zu entfernen.
»Ich hoffe es«, erwiderte die Besucherin. »Mir wurde gesagt, dass ich Marquis Decarabia und seinen Gefährten hier antreffen würde. Allerdings hat man mir verschwiegen, dass ich gerade störe. Nur zu, Ihr wolltet soeben einen Schlag gegen den Oberarm ausführen, nehme ich an. Euch sollte allerdings klar sein, dass Ihr damit Eure rechte Seite ungeschützt lasst. In einem richtigen Kampf würde Euch dies das Leben kosten.«
Chris war kein Idiot. Er hatte nicht vorgehabt …
Allerdings, wenn er recht darüber nachdachte, stimmte es. Er hatte tatsächlich auf Decarabias Arm gezielt. Wer war diese Frau?
»Darf man erfahren, wer sich hier gerade anmaßt, meinem Gefährten Unterricht im Schwertkampf zu erteilen?«, murrte Decarabia.
Durch die kleine Frau ging ein kurzer Ruck, als sie den Rücken durchstreckte. Dabei erhaschte Chris einen Blick auf das Amulett, das sie um den Hals trug. Es zeigte einen silbernen Drachen, der von einer Schlange umwunden war. Irgendwoher kannte er das Stück, aber gerade konnte Chris es nicht zuordnen.
Die Frau schob das Kinn nach vorne und nickte abgehackt. »Verzeiht, Marquis, ich hätte mich vorstellen sollen. Mein Name ist Jingle. Ich wurde von König Asmodai ausgeschickt, der Zeremonie zwischen Euch und Eurem Gefährten beizuwohnen. Er übermittelt Euch seine besten Grüße. Zudem bedauert er es, nicht persönlich anwesend sein zu können, doch Mount Pulog bedarf seiner Gegenwart. Die von Satan vernichteten Dörfer müssen neu aufgebaut werden.«
Wenigstens ließ Decarabia endlich das Stilett sinken. Frei gab er Chris jedoch nicht. Um ehrlich zu sein, wusste er gar nicht mehr, wann sie sich – seit der verdammten Planung für die Feier – zum letzten Mal so nahe gewesen waren. Wochen, mit Sicherheit, wenn nicht sogar länger.
»Und Asmodai schickt mir deshalb einen Menschen, ja?«
In Chris’ Ohren klang es abfällig. Er wusste, dass Decarabia nichts gegen die Frau und die Bevölkerung persönlich hatte. Er vergriff sich nur zumeist im Ton, und diesen Umstand machte er seinem Freund deutlich, indem er ihm einen Ellbogen in den Magen stieß. Das hatte zur Folge, dass Decarabia ihn losließ. So viel zur trauten Zweisamkeit. Die hätte sich womöglich eingestellt, wenn Jingle nicht aufgetaucht wäre.
»Was der werte Marquis eigentlich sagen wollte, war, welchen Rang Ihr bekleidet, Jingle«, warf Chris ein.
»Wollte ich nicht.«
Chris drehte sich um und stierte Decarabia an, während er entgegnete: »Wolltest du sehr wohl.«
»Nein, ich wollte wissen, was sich der Kerl einbildet, mir eine Frau zu schicken. Eine, die noch dazu glaubt, mehr Ahnung vom Schwertkampf zu haben als ich. Glaubt die, ich würde dich umbringen? Du machst das mit der Seite übrigens nicht zum ersten Mal. Ich habe …«
Ein helles Lachen unterbrach Decarabia. Chris drehte sich zu der Frau um.
Diese winkte entschuldigend und sagte: »Verzeiht, Marquis. Ich wurde bereits von Eurer impulsiven Art unterrichtet. Mein Rang unter König Asmodai ist, seine Heerführerin zu sein.«
»Eine Frau ist bei Asmodai Heerführerin?«, wunderte sich Chris.
»Wollt Ihr mir etwas damit zu verstehen geben, Mensch?«
Die bis jetzt so samtene Stimme nahm einen herrischen Tonfall an. Chris kannte den nur zu gut, obwohl es Jahrzehnte zurücklag, dass er ihn vernommen hatte. Selbst Decarabia schreckte unverhofft zusammen. Wenigstens konnte er jetzt sicher sein, dass er sich das nicht einbildete.
»Nein, Jingle«, erklärte Chris schnell. »Es kommt jedoch äußerst selten vor, dass einem Menschen ein derartiges Vertrauen entgegengebracht wird. Mehr wollte ich nicht sagen. Ich wollte weder Euch beleidigen noch König Asmodais Entscheidung hinterfragen.«
Warum fühlte er sich gerade, als müsste er sich bei seiner toten Mutter für sein Leben entschuldigen? Schlimmer noch. Als müsste er sich vor Perla rechtfertigen.
Das hübsche Gesicht verzog sich zu einer unwilligen Grimasse. Eines war unverkennbar: Die Frauen dieser Zeit waren nicht mehr wie früher. Sie waren härter, erfahrener und bei Weitem nicht darauf aus, sich von einem Kerl sagen zu lassen, was man von ihnen erwartete. Jedenfalls war ihm seit Langem keine mehr über den Weg gelaufen, der Derartiges gefiel. Die Letzte, die sich von ihm zu irgendwas bewegen hatte lassen, war längst tot. Was Chris vor Augen führte, wie alt er mittlerweile war. Und dass er ebenfalls nicht mehr leben würde, wenn Decarabia nicht mit Azrael einen Pakt geschlossen hätte.
»Nun, Jingle«, begann er unbeholfen, »Ihr seid zu früh hier. Die Zeremonie findet erst in über einem Monat statt. Also …«
»Ich weiß. König Asmodai wies mich an, früher meine Zelte hier aufzuschlagen. Macht Euch keine Sorgen, ich bereite keine Schwierigkeiten. Ich suche mir einen Platz in einem der Parks und werde dort die Nächte …«
»Gewiss werdet Ihr nicht draußen schlafen«, unterbrach Decarabia sie entschieden. »Ich lasse meiner Stadt und mir nicht nachsagen, dass wir Gesandte seit Neuestem unter freiem Himmel schlafen lassen. Ihr kommt mit uns. Ich würde ohnehin behaupten, dass die heutige Übungsstunde zu meinen Gunsten ausgefallen ist.«
»Sicher nicht«, erwiderte Chris wütend.
»Und ob, chérie. Du warst abgelenkt und …«
»Du etwa nicht? Ich hatte dich beinahe.«
»Beinahe. Das ist der entscheidende Faktor. Also, Jingle …« Decarabia wandte sich erneut an die Besucherin. »… können wir gehen?«
Chris kam sich gerade zurückgestoßen vor. Er wusste, dass sein Freund das nicht absichtlich machte. In dem Punkt gewann lediglich die übliche arrogante Haltung die Oberhand. Jene, die verdeutlichen sollte, dass Decarabia der Regent von Wien war. Aber lange würde das ohnehin nicht mehr anhalten, das wusste Chris. Dennoch ging er mit einem leisen Murren hinter den beiden her.
Es war unterhaltsam, zu verfolgen, wie Jingle verwundert beobachtete, dass sie die Staatsoper verließen. Hatten die Dämonenfürsten ernsthaft angenommen, dass Decarabia hier seine Zelte aufschlagen würde? Der Ort war zum Wohnen gänzlich ungeeignet. Nein, stattdessen hatten sie sich auf die Hofburg geeinigt. Was auch den Vorteil bot, dass es zur Nationalbibliothek gerade mal ein Katzensprung war. Dort bewohnten sie die Amalienburg. Es war keineswegs zu vergleichen mit Schloss Schönbrunn. Doch selbiges hatte Beleth niedergebrannt. Danach hatte Decarabia seinen Herrschersitz in die Innenstadt von Wien verlagert. Oder vielmehr dessen, was davon noch übrig war. Denn der König hatte auf seinem Durchzug nach Rom eine Vielzahl der Gebäude vernichtet. Plünderungen waren ebenso an der Tagesordnung gewesen. Schon die Museen waren nicht mehr mit dem zu vergleichen, was Decarabia versucht hatte, zu erhalten. Die Kunstschätze waren Beleths Truppen auf dem Weg nach Rom abhandengekommen. Und obwohl sich Chris bemühte, die Dinge nach und nach zurückzubekommen, war es ein schwerwiegendes Unterfangen. Die Goldfiguren waren längst eingeschmolzen. Ein Teil der wertvollen Gemälde zerstört und die Bilderrahmen zu Brennholz verarbeitet. Kurz, Beleth hatte es geschafft, ein großes Stück Geschichte der Menschheit zu vernichten.
»Und wie geht es dem Herrscher? Ihr habt Seite an Seite mit ihm gekämpft, wurde berichtet«, riss Decarabias Stimme ihn aus seinen Gedanken.
Jingle strich eine der Haarsträhnen nach hinten, ehe sie erwiderte: »Luzifer ist ein fähiger Kämpfer. Er befindet sich in der Hölle, soweit ich unterrichtet bin. Ich muss jedoch gestehen, dass ich persönlich nicht an seiner Seite kämpfen durfte. Mir war der Platz nahe seiner rechten Hand zugeteilt. Und dieses Engels … Vincent, wenn ich mich recht entsinne.«
Chris schmunzelte sachte, als Decarabia ihm einen wissenden Blick zuwarf. Niemand kämpfte rein zufällig an der Seite von Prinz Seere – erst recht keine Frau.
»Hat Luzifer Euch diese Stellung zugewiesen?«, fragte Chris.
»In der Tat«, entgegnete die Frau, als sie sich zu ihm umdrehte.
»Aha.«
Er beließ es bei der Aussage. Jingle schien den Sinn dahinter nicht zu begreifen, aber das war nicht zwingend notwendig. Sie würde es irgendwann. Falls nicht, könnte man die Frau darauf stoßen. Wenn sie sich denn ließe, was Chris ernsthaft bezweifelte. Abgesehen davon, hatte er mit der Planung der anstehenden Zeremonie bereits genug um die Ohren.
»Kommt Ihr voran? Oder benötigt Ihr bei irgendetwas Hilfe? Ich habe zwar wenig Ahnung von solcherlei Dingen, doch ich bin mir sicher, wenn es sein müsste, könnten diese Hände sogar Blumenkränze flechten. Wobei ich es nicht hoffe«, sagte Jingle ihrerseits.
»Nein, danke.«
Der erstaunte Blick aus Decarabias Augen entging ihm nicht. Aber Chris hatte sich geschworen, von keinem Hilfe dabei anzunehmen. Es war seine Feierlichkeit. In Wien wurde einem durch die Unmengen an Dienern und Dämonen ohnehin jeder Handgriff abgenommen. Erst recht, seit die Truppen zurückgekehrt waren. Siegreich. Aus einer Schlacht, die sie gar nichts angegangen wäre. Doch manche Dinge ließen sich eben nicht ändern. Somit war Chris froh, dass er die anstehende Feier selbst planen konnte. In dem Punkt ließ er sich weder von den Dämonen noch von den Bediensteten dreinreden und von Decarabia und dessen verrückten Einfällen erst recht nicht. Einer davon hatte darin bestanden, eine Torte in Form von Leichenteilen anfertigen zu lassen. Er hatte den Auftrag schließlich in eine goldene und eine silberschwarze Schwinge umändern lassen. Gelegentlich besaß Decarabia einen beschissenen Geschmack. Aber da musste man drüberstehen. Ansonsten wäre permanenter Streit vorprogrammiert.
»Wie Ihr wünscht. Falls doch …«
»Ihr seid Gast, Jingle. Die Aufgabe eines Gastes ist es, sich wohlzufühlen.«
Seine Stimme klang eine Spur zu scharf. Das machte der Blick aus den grünen Augen deutlich.
Jingle schien es nicht zu passen, wie er mit ihr sprach. Aber das interessierte ihn wenig. Er brauchte nicht noch mehr Vorschläge von anderer Seite. Decarabia und dessen Einfälle genügten ihm.
»Wir werden eine Beschäftigung für Euch finden, Jingle«, schob er ruhiger hinterher.
»Reagan könnte sie ja herumführen«, gab Decarabia unverhofft von sich.
An die Möglichkeit hatte Chris noch gar nicht gedacht. Es behagte ihm aber auch nicht. Der Heerführer würde sich gewiss über ihre Gegenwart freuen. So sehr, dass er Jingle auf der Stelle den Kopf abschlüge und ihren toten Körper auspeitschte. War Decarabia darauf aus, die Frau loszuwerden? Wenn ja, könnte er sich durchaus etwas weniger Auffälliges einfallen lassen.
»Hältst du das für eine gute Idee?«, wollte er deshalb wissen.
»Aber sicher«, antwortete sein Freund überzeugt. »Reagan hat es doch gerne, wenn man ihn berichtigt. Besonders, was die Truppen angeht. Davon ist er bei seinen Vorgesetzten schon ganz begeistert.«
Der abfällige Tonfall war kaum zu überhören. Chris musste sich auf die Zunge beißen, um nicht loszulachen. Reagan war stets angepisst, wenn Decarabia bei ihm auftauchte. Zumeist geschah dies, wenn ein neues Dekret bei den Legionen durchgeführt werden musste. Deshalb übernahm Chris immer häufiger diese Arbeiten. Es minderte den Ärger und den Streit, der damit entstand. Ansonsten gingen sich Reagan und Decarabia irgendwann sicher noch an die Kehle.
»Ja und wie. Erinnerst du dich an den Letzten, der das gewagt hat?«
»Mir ist sein Name entfallen.«
Chris schüttelte ungläubig den Kopf, als er an Jingle gewandt erwiderte: »Haltet Euch besser von Reagan fern. Er ist …«
»Ich verspüre keine Angst. Vor niemandem.«
Chris hob die Augenbrauen. »Schön. Ich lass dann auf Euren Grabstein schreiben: ›Hier liegt die Idiotin, die sich gegen Reagan – den Heerführer des Marquis Decarabia – stellte.‹ Wird mit Sicherheit gut aussehen auf grauem Granit.«
Jingle zuckte unbeeindruckt mit den Schultern. »Eventuell braucht Ihr den Grabstein für diesen Reagan – und einen neuen Heerführer.«
Die Erwiderung brachte Chris’ Mundwinkel zum Zucken. Erstaunlicherweise starrte Decarabia die Frau lediglich an. Anscheinend war seinem Freund das Lachen vergangen. Aber gut. Sie waren auch bereits an der Hofburg angelangt und betraten durch das Schweizertor soeben den Amalienhof.
Geschäftiges Treiben fand rund um den Renaissancebrunnen statt. Einige Händler hatten es sich zur Angewohnheit gemacht, hier ihre Waren feilzubieten. Ausreichend Platz war schließlich vorhanden und die Leute machten ein gutes Geschäft damit.
»Zucker, Seife, Rotwein!«, schrie eine tiefe Stimme.
Für einen Moment hielt Chris inne. Ihm erschien es, als kenne er die Tonlage. Sie hatte Ähnlichkeit mit jener des früheren Händlers Erik Trading. Doch der war bereits vor über sieben Jahrzehnten verstorben. Was Chris nur einmal mehr vor Augen führte, wie lange er bereits auf der Welt wandelte. Wie viele seiner alten Freunde, Bekannten und geliebten Menschen er in dieser Zeit doch verloren hatte. Aber er war immer noch hier. Dieser Mann hingegen – der sich anschickte, die gleichen Waren wie Erik anzubieten – besaß mit selbigem keine Ähnlichkeit. Er war ein junger, hochgewachsener Kerl. Ein Vollbart zierte sein Gesicht und die Augen waren die eines Händlers: unergründlich und stets lächelnd, solange man nicht versuchte, ihn zu betrügen.
»Chris, kommst du?«
Der Ruf ließ ihn zusammenschrecken, aber er fasste sich rasch und schritt zügig an den Ständen vorbei. Die Diener hatten gewiss bereits das Nötigste besorgt. Überhaupt war es erstaunlich, dass zu so später Stunde die Kaufleute hier noch rumstanden. Vermutlich lag es an dem guten Wetter und der Tatsache, dass sie ihre Waren Tag und Nacht verkaufen konnten. Zumindest wenn es nach Decarabia ging, und das belebte die Stadt zusehends. Wobei Chris zugeben musste, dass viele neue Gesichter nach Wien gekommen waren. Als hätten die Leute – während ihres Untertauchens in den alten Widerstandsbehausungen – weitere Menschen angetroffen. Verblüffen würde es ihn nicht, wenn dem so wäre. Doch keiner scherte sich darum, solange sich alle an die Gesetze der Stadt hielten. Im Grunde waren dies wenige. Schlägereien hatten abseits der Hauptstraße stattzufinden und Plünderungen oder Diebstahl wurden mit dem Tod bestraft. Hielt sich jemand nicht daran, sorgte Reagan in solchen Fällen mit einer abartigen Freude dafür, dass die Ordnung bestehen blieb.
In den Heerführer rannte Chris just in dem Augenblick hinein. Der grunzende Laut machte das deutlich. Zugleich starrten ihn die bernsteinfarbenen Augen durchdringend an.
»Habt Ihr Euch verlaufen, Herr?«, wollte die tiefe Stimme erfahren.
»Seh ich so aus?«, gab Chris wütend zurück.
»Nein. Doch Ihr tätet gut daran, nicht ständig alleine durch die Stadt zu rennen. Irgendwann wird Euch eines dieser meuchelnden Dinger ein Messer in den Rücken rammen.«
Da lag das Problem mit Reagan. Der Dämon hielt von Menschen nichts. Erstaunlich war das nicht. Seit dem ersten Tag war er Decarabias Heerführer. Er hatte für seinen Herrn getötet, geschändet und gebrandschatzt. Dabei hatte Reagan einiges verloren. Angefangen bei zwei Fingern an der linken Hand und dann noch ein halbes Ohr. Lediglich die gebrochene Nase hatte er sich bei einer Schlägerei mit einem Dämon eingehandelt. Somit war es ein Wunder, dass Chris noch lebte. Jedes Mal, wenn er Reagan über den Weg lief, überkam ihn eine Gänsehaut. Dabei wäre der Heerführer bereit, für ihn zu sterben. Das hatte selbiger ihm zumindest an jenem Tag geschworen, nachdem der Erzengel Michael getötet worden war.
Chris erinnerte sich an den Schwur allerdings kaum. Konnte an den Kräutertränken liegen, die man ihm gegen die Schmerzen verabreicht hatte. Jedenfalls hatten sowohl Reagan als auch Decarabia darauf gepocht, dass ein solcher Eid abgelegt wurde. An seinem Bett und im Beisein von Vincent. Aber den Engel des Todes hatte er erst recht nie danach fragen wollen. Vermutlich weil ihm sonst bewusst geworden wäre, dass Reagan in Wahrheit ein guter Kerl war. Womit sein Umgang mit dem Heerführer ein anderer wäre, obwohl dies ohnehin nach der Sache mit Beleth der Fall war. Nur keiner von ihnen wollte sich das eingestehen. Immerhin war Reagans Drängen – als die Fallen aufgebaut gewesen waren – unübersehbar gewesen. Also konnte es durchaus wahr sein, dass Reagan geschworen hatte, ihn zu beschützen.
»Es sind Menschen, Reagan«, begann er mit einiger Verspätung. »Die …«
»… würden Euch auf jeden Fall umbringen«, unterbrach sein Gegenüber ihn. »Besonders wenn sie merken, dass sich ihre Lage nach der Zeremonie nicht verändert. Dass sie immer noch das sind, was sie sind: Menschen, wie Ihr es nennt.«
Verwirrt blinzelte Chris. »Was sollen sie sich denn erwarten?«
»Freiheit. Mehr an Macht in meinen Reihen. Oder auch einfach mehr zu essen. Was begehrt ein Mensch schon Großartiges im Leben. Vielleicht genau solches? Ewiges Leben?«
»Ich habe den Pakt nicht geschlossen«, verteidigte er sich. Er war diese Diskussion leid. Wäre es möglich, hätte er es rückgängig gemacht. Nicht weil er Decarabia verletzen wollte. Chris war seinem Freund dankbar. Doch das ständige Gerede darüber zerrte an seinen Nerven. Dabei lag es Ewigkeiten zurück.
Reagan zuckte unbeeindruckt mit den Schultern. »Das mag sein, aber die Leute sehen, was sie sehen wollen. Das ist nun mal ein Mann, der bereits im Kampf gegen Salomo dabei war. Der gegen Engel gekämpft hat und der dabei war, als ein König zu Fall gebracht wurde. In den Augen dieser Lackaffen, mögt Ihr einen Helden darstellen, andere verachten Euch womöglich. Ich weiß es nicht. Ist mir gleich. Sorgt nur dafür, dass ich bis zur Zeremonie nicht Eure kalte Leiche aus irgendeiner Gosse zerren muss. Die Heulerei des Marquis würde keiner ertragen, davon könnt Ihr ausgehen.«
Reagan wandte sich ab, ehe Chris etwas erwidern konnte. Die stämmige Gestalt suchte sich einen Weg durch die Menge. Das graue Zottelhaar verursachte, dass man ihn dennoch in der Masse deutlich erkannte.
»Chris?«
Er fuhr herum und blickte Decarabia entgegen. Ein Anflug von Sorge machte sich auf dessen Gesicht breit.
»Ja?«
»Alles in Ordnung? Was wollte Reagan?«
»Nichts«, entgegnete er knapp.
Ihm blieb nicht verborgen, wie Jingle ihn eingehend musterte. Selbst Decarabia schien mit seiner Erklärung wenig zufrieden, aber sein Freund würde jetzt sicher keinen Streit vom Zaun brechen. Dafür kannte Chris ihn zu gut. Nein, Decarabia würde warten und dann nachfragen, wenn schon längst keiner mehr daran dachte. Oder er ginge zu Reagan.
»Ich wollte Jingle gerade ihr Zimmer im westlichen Flügel zeigen. Könntest du das übernehmen? Mir fällt gerade ein, dass ich noch einige Nachrichten zu verfassen habe.«
»Sicher. Gehen wir, Jingle«, sagte er an die Heerführerin gewandt.
Decarabia drückte ihm einen Kuss auf die Stirn, ehe selbiger zum Schweizertrakt schritt. In die gleiche Richtung war Reagan verschwunden.
Von wegen Nachrichten aufsetzen. Decarabia wollte sich mit dem Dämon unterhalten. Sei’s drum. Es war nicht zu ändern. Eventuell wurde sein Gefährte ja aus dem unverständlichen Gerede schlau.
»Seid Ihr sehr wütend, weil ich früher hier aufgetaucht bin?«
Verblüfft starrte Chris die Frau an. »Was? Nein. Verzeiht, wenn es den Eindruck machte, Jingle, aber …«
»Meine Ankunft macht die Sache für Euch realer, nicht wahr?«
Konnte die Frau Gedanken lesen? Chris schüttelte die Vorstellung ab, trotzdem nickte er sachte.
Sie beschritten einen langen Gang der Amalienburg. Wenige Diener huschten umher und entzündeten Öllampen. Obwohl die Sonne durch die Fenster hereinfiel, war das Licht hier drinnen dennoch spärlich. Gerade ausreichend, um die Umrisse der Leute und der Türen zu erkennen.
»Habt Ihr Angst?«
Chris zögerte, bevor er leise erwiderte: »Ich habe vor allem Sorge, dass er es irgendwann bereut. Der Schritt ist später nicht rückgängig zu machen, und ich bezweifle, dass mir die Dämonen je folgen. Ganz gleich, was diese Zeremonie bei ihnen bewirken soll. Sie werden es nicht. Es ist an manchen Tagen schon kaum möglich, mit ihnen in einem Raum zu sein, ohne dabei Mordgedanken gegen den einen oder anderen zu hegen.«
»Meint Ihr nicht, es würde helfen, wenn Ihr dies bei Eurem Gefährten vorbringt? Oder beim Truppenführer?«
»Bei Decarabia?«, fragte Chris amüsiert. »Nein, das endet in Mord. Der lässt jeden aufknüpfen, der sich gegen mich stellen könnte. Das hatten wir bereits. Und Reagan mag zwar Heerführer sein, aber ich glaube, das ist er auch nur, weil er sich einen Dreck um irgendwelche Richtlinien schert.«
»Hat er Eure Verbindung zum Marquis je negativ kommentiert?«, fragte Jingle ernst.
»Nein.«
»Hat er Euch persönlich jemals mit dem Tod gedroht?«
Bei der Frage huschte ein Grinsen über sein Gesicht, bevor er erwiderte: »Die letzten sechzig Jahre? Es gab Tage, aber an anderen war er mehr darauf bedacht, Decarabia mit dem Tod zu drohen.«
Jingles Mundwinkel zuckte nicht mal, als sie im gleichen Tonfall fortfuhr: »Würdet Ihr diesem Dämon Euer Leben und das Eurer Liebsten anvertrauen?«
»Jederzeit«, antwortete Chris sofort.
Jingle deutete ein knappes Nicken an, als würde sie es besser als er selbst verstehen.
Vermutlich war das gar nicht so unwahrscheinlich. Jeder begriff eher, was er sagen wollte, als Chris selbst. Es gab Tage, da verstand er sich nicht und in der letzten Zeit hatte sich dieser Umstand gehäuft. Genau genommen, seit er mit der Planung der Feier beschäftigt war. Also konnte es durchaus am Stress liegen.
»Dann habt Ihr Eure Antwort doch längst«, entgegnete sie. »Reagan würde sein Leben für das Eurige geben. Ihr könnt ihm keinen Vorwurf machen, dass er die vorgegebenen Richtlinien in Bezug auf die Truppen anders auslegt. Das ist seine Pflicht. Die Arbeit eines Heerführers erfordert mehr, als katzbuckelnd vor dem Herrscher zu stehen oder zu knien. Wir sind jeden Tag gezwungen, uns gegen das Leben und für den Tod zu entscheiden. Wir sind es, die für die Beschlüsse den Kopf hinhalten. Wir bewahren die Schwachen vor dem Ende und entreißen den Starken deren Dasein. Ihr kennt dieses Spiel. Ihr habt ebenfalls daran teilgenommen. Auf eine andere Art, aber dennoch. Ihr habt geliebt, getötet und gehorcht. Manchmal mit mehr, manchmal mit weniger Eifer. Je nachdem, was die Situation erforderlich gemacht hat. Berichtigt mich, falls ich mich irren sollte.«
Chris schüttelte nur den Kopf. Jingle hatte recht. Er wusste, dass es für Reagan nicht leicht war, sich sowohl für die Dämonen als auch für die Menschen einzusetzen. Und man konnte dem Wesen wahrlich nicht vorwerfen, es hätte je ungerechtfertigt gehandelt. Also warum verspürte er dann an manchen Tagen diese Abneigung gegen diese Kreaturen? Eine Frage, mit der er Jingle jedoch nicht belasten wollte. Zumal sie bereits bei deren Zimmer angelangten.
»Das ist es«, erklärte er. »Decarabia und ich haben ein Zimmer unter diesem. Im Zeremoniensaal wird bei Sonnenuntergang das Essen aufgetragen. Ich hoffe, Ihr werdet anwesend sein. Eine Dienerin wird Euch sogleich heißes Wasser bringen. Falls Ihr Euch genauer umsehen wollt, so empfehle ich, dies morgen nachzuholen. Da lohnt sich ein Besuch im Burggarten. Wenn Ihr möchtet, kann ich Euch später den Weg beschreiben.«
»Habt Dank …«
»Chris, genügt. Auf einen Titel konnten wir uns noch nicht einigen.«
Jingle nickte andächtig. Chris öffnete für sie die Tür und schloss selbige schließlich wieder. Tief durchatmend wandte er sich ab und schritt den Gang zurück. Er müsste noch einmal in die Bibliothek. Vielleicht fand er doch noch eine Aufzeichnung zu den alten Zeremonien. Wobei er daran allmählich zu zweifeln begann.
»Was die Engel und Dämonen uns aufbürden, ist zu ertragen.« So hatte Constanza die Worte ihrer Mutter noch in Erinnerung. Gerade wäre es ihr lieber gewesen, sie hätte all dies nicht länger hinnehmen müssen.
Den Schlag hatte sie erwartet. Er war keine Überraschung. Zudem vermochte es ihr Erschaffer als Einziger, sie in Geisterform zu berühren. Die Kraft dahinter riss sie jedenfalls von den Beinen. Haltlos taumelte sie gegen die Wand. Die Fähigkeit, von sich aus, einen festen Körper anzunehmen, fehlte ihr gerade. Es lag am Hunger, der Müdigkeit und an den Schmerzen. Alles zugefügt von einem hohen Wesen. Einem, dem sie ihr Dasein verschrieben hatte. Weil sie der irrsinnigen Hoffnung erlegen war, damit ihre Sünden abzulegen. Sie hätte das Fegefeuer wählen sollen. Doch nun war es zu spät. Ein Zurück gab es nicht mehr.
»Du wirst mich nie wieder hinterfragen!«, tobte Ezekiel.
Er ballte eine Hand zur Faust und schlug ihr in den Magen, wodurch die Haut an dieser Stelle spürbar wurde. Würgend ging Constanza in die Knie. Jetzt hatte er sie genau da, wo er sie haben wollte. Vor sich auf dem Boden. Fehlte nur noch der Moment, wo sie um Gnade flehte. Aber heute würde sie es nicht so weit kommen lassen. Jedenfalls nicht gleich. Irgendwo in sich verspürte Constanza den letzten Funken Hoffnung. Darauf, dass sie jemand aus dieser Hölle befreite.
»Steh auf.«
Sie konnte dem Befehl nicht folgen. Genau genommen wollte sie es auch nicht. Aber wenn sie es unterließ? Was würde dann geschehen? In eine derartige Lage hatte sich Constanza bisher nie gebracht. Somit war schwer einzuschätzen, wie Ezekiels Reaktion ausfallen mochte.
Die Antwort bekam sie keinen Herzschlag später serviert. Ein Tritt mit der Stiefelspitze folgte.
Die erneute Berührung durch Ezekiel reichte aus, um ihrem Leib endgültig eine festere Form zu schenken. Die Sehnen und das Muskelgewebe formten sich aus, gaben Constanza eine plastische Erscheinung. Sie zitterte. Ezekiel ließ sich nur selten dazu herab, sie in diese Hülle zu zwingen. Es handelte sich um eine milde Gabe seinerseits, die er ihr jederzeit verwehren konnte. In dem Punkt war Constanza bereits früh klar geworden, dass sie den Launen des Erzengels auf diese Weise ausgeliefert war.
Ihr Körper krümmte sich unter dem Schmerz. Es verging keine Sekunde, bevor sie das Gewicht auf sich spürte. Ezekiels Schuh, der auf ihrem Rücken stand. Er zwang sie damit, auf dem staubigen Boden zu liegen. Den Geruch von getrocknetem Blut und Erde einzuatmen. Alles verbunden mit dem metallischen Geschmack, der sich in ihrem Mund ausbreitete. Vermutlich hatte sie sich auf die Zunge gebissen.
»Hast du das verstanden? Nie wieder wirst du mich hinterfragen.«
Der Atem des untersetzten Engels ging schwer. Constanza konnte sich vorstellen, wie seine gelbgrünen Augen auf ihr ruhten. Darauf wartend, dass sie die richtigen Worte sprach. Aber heute konnte sie es nicht. Irgendwas hielt sie davon ab. Der Grund war nicht schwer auszumachen. Sie hätte sich ein solches Verhalten niemals von einem Erzengel erwartet. Doch konnte man es Ezekiel verübeln? Er saß seit dem Kampf gegen Beleths Legionen in Rom fest. Gott ließ die Verräter schmoren. Der Schöpfer ignorierte die täglichen Gebete, und dann besaß Ezekiel auch noch eine Dienerin wie sie. Aufmüpfig. Anders konnte man es nicht bezeichnen. Wenn der Meister Rotwein zu seinem Essen wünschte, hatte man selbigen zu beschaffen. Niemand wollte in so einem Fall hören, dass kein Wein vorhanden sei. Genauso wenig hörte man gerne, dass das Mahl lediglich aus einer dünnen Suppe bestand. Erst recht nicht, wenn man die niedrigsten Engel unter seinem Dach bewirten wollte. Aber genau das hatte Constanza gewagt. Sie hatte sich trotzig gegen ihren Herrn gezeigt und nun folgte die Strafe dafür. Man konnte Ezekiel zugutehalten, dass er gewartet hatte, bis alle verschwunden waren, bevor er sie hinunter in die Kellergewölbe gezerrt hatte. Nur machte das die Sache besser?
Ein weiterer Tritt folgte. Sie zog scharf die Luft ein. Zugleich wurde ihr bewusst, dass sie noch nicht geantwortet hatte.
»Ja, Gebieter«, brachte sie mühsam hervor.
Stand sie tatsächlich zehn Jahre bereits in seinem Dienst? Es kam ihr in solchen Sekunden viel länger vor. Ihr war ohnehin unbegreiflich, wie sie derartige Schmerzen empfinden konnte. Sie war ein Geistwesen. Eine leere Hülle, die überhaupt keine Empfindungen besitzen sollte. Aber sie getraute sich auch nicht, Ezekiel danach zu fragen. Überhaupt wusste sie nicht, warum er ihrem Anliegen einst zugestimmt hatte. Immerhin hatte Constanza Verrat an ihrem Glauben getätigt. Oder musste sie aus diesem Grund dieses Leid ertragen? Als Strafe?
Die Antwort war ihr im Moment gleich. Sie versuchte lediglich, die Tränen zurückzuhalten. Ezekiel mochte es nicht, wenn sie weinte. Er meinte, ihre braunen Augen nähmen dann die Farbe der Nacht an. Was auch immer das heißen mochte. Constanza verstand es nicht. Sie hatte das Gerede des Erzengels schon bei der Schließung des Pakts nicht nachvollziehen können. Sie wusste jedoch, dass sie ihren Namen auf einen schmierigen Zettel gesetzt hatte und dass sie dabei von Evy beobachtet worden war. Die Frau hatte es ihr versucht auszureden. Sie war dabei sogar in einen Streit mit Ezekiel geraten. Constanza hatte den Mut der toten Frau – die sich die Leiden der Verstorbenen anhörte – bewundert. Sie war weder als Lebende noch als Tote je so beherzt gewesen.
»Du legst deine Zukunft, dein weiteres Dasein, in die Hände eines Verrückten. Eines Mörders, Constanza.« Die Stimme hallte gerade durch ihren Kopf. Evys Warnung, als sie den Vertrag unterzeichnet hatte. Blind, wie Constanza hinzufügen musste. Lesen hatte sie nie gelernt. Sie konnte gerade ihren Namen schreiben. Mehr nicht.
»Nie wieder wirst du mich so vor meinen Gästen blamieren«, zischte Ezekiels Stimme in ihre Gedanken hinein.
Seine Finger langten in ihr langes, schwarzes Haar, hoben ihren Kopf an, sodass man ihr Äußeres erkennen konnte. Die braunen Augen, die sonnengebräunte Haut und die spröden Lippen.
»Ja, Meister.« Ihre Stimme hallte von den hohen Wänden der Engelsburg zurück.
Sie hatte keine Vorstellung vom Himmel. Nie hatte sie einen Fuß aus Ezekiels Behausung im Paradies gesetzt, weil er ihr Leben nicht gefährden wollte. Das war seine Erklärung gewesen. Wahrscheinlicher war, dass er sie mit keinem der anderen Cherubs teilen hatte wollen. Denn mehr als einmal hatte er Constanza in sein Bett geholt. Aber gab es nicht Gerüchte vom heiligsten Ort, an dem Gott selbst wohnte? Dass es dort den ganzen Tag über nur Gesang gebe? Dass die Seelen der Toten ihren Frieden fanden? Doch was war dann mit all dem anderen, das man sich erzählte? Über die Engelsburg, die sich im Paradies befand? Darüber wurde lediglich unter den Dienern der Cherubs getuschelt. Man erzählte sich, dass Gabriel in einem solchen Raum sein Ende gefunden hatte. War die Nähe Gottes deshalb für die Engel hier allgegenwärtig? Und war dies der Grund, warum die Dämonenfürsten diesen Ort mieden? Weil er vom Schöpfer durchdrungen war? Es gab keine andere Erklärung für Constanza.
Sie konnte hören, wie sich Ezekiel bewegte. Das Gewicht verschwand von ihrem Rücken. Sie riskierte einen raschen Blick über ihre Schulter. Das blonde Haar war von einigen braunen Strähnen durchsetzt und hing in Strähnen herab. Schweiß stand auf der sonnengebräunten Haut des Erzengels. Sie sah die verschlungenen Tätowierungen auf seinen Armen. Unter den Dienern wurde gemunkelt, dass diese Ezekiels wahre Macht demonstrierten. Seine Verbundenheit zu Gott. Dass es sich dabei um lateinische Schriftzeichen handeln sollte, die den Namen des Schöpfers symbolisierten. Constanza konnte dies nicht mit Gewissheit sagen. Genauso wenig wie sie hätte bezeugen können, dass die gesamte Haut der Himmelsmacht damit überzogen war. Wenn Ezekiel sie in sein Bett holte, verband er ihr stets die Augen. Weil er ihren gebrochenen Blick nicht ertragen würde, das behauptete er zumindest. Vielleicht wollte er sich nur nicht eingestehen, dass er mit einem Geistwesen schlief. Einem der höchsten Schöpfungen Gottes, so bezeichnete man zumindest ihre Gattung unter den Menschen.
»Ich will dich heute nicht mehr sehen«, ertönte es in ihrem Rücken.
Constanza wartete, bis die Schritte sich entfernten. Eine Tür wurde zugeschlagen und von außen versperrt.
Keuchend rollte sie sich auf die Seite. Ihre Finger gruben sich in die lose Erde. Stumm vergoss sie Tränen. Wenn Ezekiel sie hörte, käme er zurück. Und wer wusste, was er ihr dann für Qualen zufügte.
Sie schluckte schwer und starrte zu der Fackel hinüber. Wie immer hatte Ezekiel ihr eine gelassen. Ihr Licht reichte nicht, um die Ecke auszuleuchten, in der selbige steckte. Aber was machte das schon? Ratten gab es hier ohnehin nicht. Nichts schien in der Engelsburg überleben zu können, außer den Cherubs und ihren heiligen Dienern.
Kaum zu glauben, dass Gestalten wie Ezekiel dem Himmel angehörten. Hätte sie es nicht besser gewusst, wäre sie überzeugt, in der Hölle zu sein. Wo sich die Dämonen und Luzifer einen Spaß daraus machten, sich als himmlische Boten auszugeben, damit sie ungestraft die Toten quälen konnten. Evy hatte recht gehabt, sie hatte die falsche Wahl getroffen. Die Hölle hätte nicht schlimmer sein können.
»Gott«, flüsterte sie in den dunklen Raum hinein, »wenn du mich noch nicht vergessen hast, so schick mir ein Zeichen. Eines, das deine Liebe zu mir zeigt. Bitte.«
Ihre Stimme brach. War es das wert gewesen? Hatte es sich ausgezahlt, für einen Mann in den Tod zu gehen, der sie verschmäht hatte? So wie ihre Eltern sie verschmäht hatten? Alle waren sie fort. Keinen aus ihrer Familie hatte Constanza je kennengelernt. Rückblickend betrachtet wusste sie, dass ihre Entscheidung ein Fehler gewesen war. Doch an jenem Tag war es ihr wie das Vernünftigste auf der Welt erschienen. Die Qualen – die ihr Herz zu dem Zeitpunkt verspürt hatte – waren jedoch nicht mit dem zu vergleichen, das sie nun Tag für Tag erlebte. Dabei hatte sie sich so sehr eine Familie gewünscht. Warum hatte sie nicht einfach auf einen anderen Mann gewartet? Den Richtigen? Sie war doch ein freier Mensch gewesen. Mehr oder weniger zumindest. Da mochte Großfürst Naberius mit seinem Präsidenten noch so sehr darauf geachtet haben, dass es keine Sklaverei mehr gab. In den kleinen Dörfern hatte sich keiner darum geschert und die Schergen der Dämonenfürsten erst recht nicht. Dennoch war es ein besseres Leben gewesen als ihr jetziges. Verblüffend, dass sie sich dies eingestand.
Constanza fuhr jäh zusammen, als vor ihrer Kammer Stimmen ertönten. Sie klangen wütend. Als wäre jemand im Streit. Angespannt lauschte sie und versuchte zu erfahren, was sich auf dem Gang zutrug.
»Sie gehört mir!«, schrie Ezekiel plötzlich.
»Euch? Ihr werdet verzeihen, wenn ich das so sage, aber es ist noch nicht mal sicher, was Ihr eigentlich noch seid, Ezekiel. Ihr habt Euch immerhin gegen Gott gestellt. Auf die Seite eines Verräters.«
»Ich handelte nach gutem Gewissen. Ich habe mein Leben für diesen Scheiß aufgegeben. Jetzt kommt mir nicht so, Ihr …«
»Hütet Eure Zunge, wenn Ihr jemals ins Himmelreich zurückkehren wollt«, unterbrach die hohe Stimme ihren Meister sogleich.
Der Laut kratzte in Constanzas Ohren. Sie kniff die Augen zusammen. Das Gespräch wurde leiser. Es war nur mehr ein Flüstern. Undefinierbare Laute ertönten. Ab und an konnte sie Wortfetzen verstehen. Es wurde vom Himmel gesprochen. Davon, dass jemand zurückkehren könnte. Wer, was oder wohin war ihr jedoch unbegreiflich. Dazu hätte sie sich näher an die Tür heranschieben müssen. Aber Constanza getraute sich nicht. Das Geräusch hätte gewiss die Aufmerksamkeit der beiden Gestalten erweckt.
Als ein Schlüssel im Schloss herumgedreht wurde, fuhr sie erneut zusammen. Ängstlich starrte sie zur Tür. Ein Lichtstrahl ließ sie heftig blinzeln. Schritte ertönten. Ezekiels schwere Stiefel und ein paar leichtere Schuhe. Auf dem unebenen Boden knirschten sie deutlich.
Hatte Ezekiel sich vielleicht Hilfe geholt, um ihren Geist endgültig zu brechen? Aber was hatte es dann mit dem Gespräch auf sich? Oder betraf es gar nicht sie? Höchstwahrscheinlich. Warum sollte sie jemand haben wollen? Weshalb sollte sich Ezekiel von ihr trennen? Sie hatte bis auf wenige Male ihre Arbeit stets gut gemacht, soweit man das als Geistwesen eben vermochte.
»Sie ist in einem erbärmlichen Zustand, Ezekiel. Es hätte Euch nicht umgebracht, sie besser zu behandeln. Jetzt verzögert sich alles. Einschließlich Eurer Rückkehr. Wobei ich hoffe, dass sie in der Tat so gut ist, wie Ihr behauptet«, sagte die hohe Stimme gleichgültig.
»Das ist sie. Und wie ich mit ihr umgehe, kann Euch gleich sein.«
Constanza unterdrückte den Impuls, zu zittern. Sie wollte keine Angst demonstrieren. Sie war ein Geistwesen. Geliebt von Gott – mehr oder weniger. Geschätzt von den Erzengeln – mehr oder weniger. Und von den Leidenden in der Hölle beneidet. Wobei Constanza überzeugt war, dass sie wohl eher die Anhängerschaft Luzifers beneiden sollte. Aber den Gedanken schüttelte sie sogleich ab. Womöglich sah man es ihr sonst an und das würde ihr Ende bedeuten.