Die Chronik der Sperlingsgasse - Wilhelm Raabe - E-Book

Die Chronik der Sperlingsgasse E-Book

Wilhelm Raabe

0,0

Beschreibung

Raabe schreib seinen Roman mit gerade einmal 23 Jahren. Es war sein Erstlingswerk, er selbst ein junger Beobachter der Großstadt Berlin, in der er Mitte des 19. Jahrhunderts lebt. Das Buch - zunächst wenig beachtet, wenn auch von kritikern gelobt - ist heute einer der wichtigsten Berlin-Romane. Es ist ein Buch, dass anhand der überschaubaren Berliner Sperlingsgasse die Probleme und Geschehnisse der damaligen Zeit dokumentiert. Kombiniert mit der Wahl einer ungewöhnlichen bildhaften Schreibform, dem ständigen Wechsel zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit, sowie verschiedenen Ebenen der Rückblende, ist Die Chronik der Sperlingsgasse zunächst ungewohnt zu lesen, bietet aber mikroskopische Blicke auf die Großstadtwerdung Berlins. 100% Sachbuchklassiker: vollständig, kommentiert, relevant.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 256

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Impressum

ISBN 978-3-86408-083-8 (epub) // 978-3-86408-084-5 (pdf)

Digitalisat basiert auf der Ausgabe von 1938 aus der Bibliothek des Vergangenheitsverlags; bibliografische Angaben:

Raabe, Wilhelm, Die Chronik der Sperlingsgasse, Berlin 1938.

Digitalisierung: Vergangenheitsverlag. Herausgeberinnen und Bearbeitung: Imke Högden, Ann-Katrin Leefers, Marie Schubert, Finia Maria Schultz

Die Marke „100% - vollständig, kommentiert, relevant” steht für den hohen Anspruch, mehrfach kontrollierte Digitalisate klassischer Literatur anzubieten, die – anders als auf den Gegenleseportalen unterschiedlicher Digitalisierungsprojekte – exakt der Vorlage entsprechen. Antrieb für unser Digitalisierungsprojekt war die Erfahrung, dass die im Internet verfügbaren Klassiker meist unvollständig und sehr fehlerhaft sind.

Coverabbildung: zweifarbiger Lichtdruck des Bildhauers Prof. Ernst Müller aus dem Jahr 1909; Stadtarchiv Braunschweig, Signatur H XVI: G II 2 Raabe F.2

© Vergangenheitsverlag, 2012 – www.vergangenheitsverlag.de

E-Book-Formate von readbox publishing, Dortmund www.readbox.net

Inhaltsverzeichnis

Wer ist Wilhelm Raabe?

Raabe und seine Zeit

Wilhelm Raabe, Die Chronik der Sperlingsgasse

PRO DOMO

Am 15. November

Am 20. November

Am 30. November

Am 2. Dezember

Am Nachmittag

Am 3. Dezember

Am 5. Dezember

Am 10. Dezember

Am 24. Dezember

Am 1. Januar

Am 5. Januar

Am 10. Januar

Am 11. Januar

Am 12. Januar

Am 25. Januar

Am 10. Februar

Abends 11 Uhr

Am 7. März

Am 14. März

Am Abend

Am 21. März. Abend

Am 15. April

Am 1. Mai. Abend

Herausgeber

Quellen

Wer ist Wilhelm Raabe?1

Am 15. November 1854 nimmt das Leben des gerade einmal dreiundzwanzigjährigen Wilhelm Raabe eine bedeutungsvolle Wendung: Er beginnt in Berlin die Arbeit an seinem Erstlingswerk, der „Chronik der Sperlingsgasse”, das noch unter dem Pseudonym Jakob Corvinus veröffentlicht wird und ist von nun an freier Schriftsteller. Später wird er diesen Tag jedes Jahr als den „Federansetzungstag” zelebrieren. Wie es die Ironie des Schicksals will, stirbt Raabe genau am 56. Jahrestag dieses Ereignisses, nämlich am 15.11.1910, nach längerer Krankheit in Braunschweig. Vor allem die letzten Jahre seines Lebens sind geprägt von zahlreichen Ehrungen und Auszeichnungen um seine Verdienste als Schriftsteller, kurz vor seinem Tode verleiht man ihm sogar die Ehrendoktorwürde der Universität Berlin. Dabei hat Raabe selbst nie studiert: An der Berliner Universität ist er nur als Gasthörer zugelassen, als er im Jahre 1854 von Wolfenbüttel nach Berlin zieht. Er kommt in die Stadt als ein Gescheiterter, der weder die Schule in Wolfenbüttel, noch die Buchhändlerlehre in Magdeburg abgeschlossen hat. Geboren wird er am 8. September 1831 in Eschershausen, seine Kindheit verbringt er in den umliegenden Orten Holzminden und Stadtoldendorf, bevor die Familie nach dem Tod des Vaters nach Wolfenbüttel zieht. Später wird er mit seiner Frau und seinen vier Töchtern unter anderem in Stuttgart und Braunschweig leben – in Berlin aber hält er sich nur für jene zwei Jahre auf, in denen „Die Chronik der Sperlingsgasse” entsteht, das Werk, das ihn von einem Gescheiterten zu einem Gefeierten macht. Jedoch ist Raabes Leben als Schriftsteller nicht immer leicht: Oft ist es von Existenzängsten und finanziellen Nöten geprägt, denn schließlich muss er vom Schreiben seine sechsköpfige Familie ernähren. Hinzu kommen depressive Phasen und später der zunehmende Verlust schriftstellerischer Kreativität. Ab 1902 bricht er das Schreiben endgültig ab und bezeichnet sich als „Schriftsteller a.D.”, doch gleichzeitig steigt der Absatz vor allem seiner frühen Werke und er wird in zahlreichen Zeitungsartikeln gewürdigt; 1907 findet gar die erste akademische Lehrveranstaltung über Wilhelm Raabe statt. Die Wirkung seiner rund 70 Romane und Erzählungen hält bis heute an und besonders „Die Chronik der Sperlingsgasse” findet immer noch große Beachtung. Wilhelm Raabe wird neben Theodor Storm und Theodor Fontane zu den bedeutendsten Schriftstellern des Realismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gezählt.

Raabe und seine Zeit

Mitte des 19. Jahrhunderts, ausgelöst durch den Aufstand der schlesischen Weber, der Hungerkrise und der wirtschaftlichen Krise2, kommt es in Deutschland zu einer Revolution. Zu dieser Zeit ist das Land geprägt durch eine Vielzahl von Einzelstaaten und Fürstentümer, in denen am Beispiel Frankreichs liberale Forderungen erhoben werden, wie der Anspruch auf gleiche Rechte, individuelle Freiheit und eine deutsche Einheit.3 Für ihre Rechte, wie beispielsweise die Aufhebung der Pressezensur,4 eintretend, gehen die Bürger auf die Straßen, wobei es teilweise zu blutigen Auseinandersetzungen kommt. Im Zuge dieser gelingt es der Bürgerschaft in Wien 1848 den Staatskanzler Metternich zu stürzen.5 In Berlin verpflichtet sich, nach ausgearteten Barrikadenkämpfen, denen über 300 Bürger zum Opfer fielen, 6 König Friedrich Wilhelm IV. sich für ein einheitliches Deutschland einzusetzen.7 Unter dem Druck der Revolution kommt es am 18. Mai 1848 zu der ersten gesamtdeutschen Nationalversammlung in der Paulskirche in Frankfurt am Main.8 Sieben Monate später verabschiedet diese das Gesetz über die Grundrechte, welches allerdings mehrere große Staaten nicht anerkennen. Anfang des Jahres 1849 wird die deutsche Reichsverfassung durch die Frankfurter Nationalversammlung angenommen.9 Im Rahmen dieser wird Friedrich Wilhelm IV. zum Kaiser gewählt, ein Amt, das er jedoch ablehnt, da er „die Kaiserkrone [nicht] aus der Hand der Revolution”10 entgegennehmen möchte. Damit ist das das Scheitern der Nationalversammlung beschlossen.11 Die Zerrissenheit nutzend gelingt es den alten Machthabern mithilfe des Militärs wieder zu Einfluss zu gelangen. Nach der fehlgeschlagenen Revolution werden zwar die errungenen Rechtsänderungen kaum angetastet, allerdings wird das Interesse der Bevölkerung an politischen und gesellschaftlichen Bereichen vorerst erstickt. Das Bürgertum gewinnt gleichzeitig an Einfluss durch die nach Deutschland gelangende Industrialisierung und die damit zusammenhängenden wirtschaftlichen Neuerungen. Das Ende der 1850er Jahre ist geprägt von einem großen Wandel sowohl im politischen als auch im sozialen Bereich.

Aus diesen Umwälzungen heraus entsteht ein neues, transnationales Bedürfnis nach Literatur. Der neue realistische Stil zeichnet sich vor allem durch Nüchternheit und Sachlichkeit aus,12 wobei das Faktische wiedergegeben wird. Besonders nach der gescheiterten Revolution wird dieser zum dominierenden Stil. Sowohl Autor als auch Leser wenden ihr Interesse ab von Adel und Hof, hin zu bürgerlichen Figuren und deren, detailgetreu dargestellten, gesellschaftlicher Existenz.13 Dabei wird nicht nur dem Adel der Rücken zugewandt, sondern auch theologischen und revolutionären Themenkomplexen.14 Anstelle der kritischen Vorwürfe der Schriftsteller in der Literatur des Vormärzes, treten nun wieder optimistischere Weltanschauungen und der Wunsch nach bürgerlicher Ästhetik in den Vordergrund.15 Dies schließt allerdings keineswegs eine politische Literatur aus. Ebenso findet ein Wandel auf sprachlicher Ebene statt. Die gehobene Ausdrucksweise wird durch eine leichtverständliche ersetzt. Novellen und Romane bilden sich als bevorzugte Literaturformen des poetischen Realismus heraus, um eine erstarrte Wirklichkeit wiederzugeben.16

Auch im Literaturbetrieb findet, hervorgerufen durch die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse, ein Wandel statt. Wirtschaftlich besonders prägend ist der Aufstieg des Kapitalismus, herbeigeführt durch die Industrialisierung. Doch auch im Schul- und Bildungswesen verändert sich Grundlegendes. Der Alphabetisierungsgrad erhöht sich rasant, wodurch ein neues Massenpublikum entsteht.17 Dies geht mit der strengen Befolgung der Schulpflicht einher. Das Gymnasium, welches hauptsächlich Offiziers- und Beamtensöhne besuchen, wird zentraler Ort der Literaturrezeption.18 Somit entwickeln sich die Städte, die durch Urbanisierungsprozesse immer größere Einwohnerzahlen vermerken können, zum zentralen Ort der Literaturverbreitung. Gegenwärtig ist Literatur zudem in Cafés und Salons.19 Durch Neuerungen in der Literaturproduktion wird eine größere und vielfältigere Auswahl geschaffen, welches einen viel umfassenderen Zugriff auf Literatur zum Ergebnis hat. Innovationen im Druckverfahren und neue Rechtslagen, wie etwa ein den Autor begünstigendes neues Urheberrecht, führen nicht nur zu erschwinglicheren Buchpreisen, sondern auch zu einem neu definierten Buchmarkt.20 Darunter fallen Veränderungen im Buchhandel und im Verlagswesen, getrieben durch die Massenproduktion und den vom Kapitalismus verbreiteten Wunsch nach Profitmehrung. Das wachsende Interesse an Literatur in dieser Zeit wird ebenfalls daran deutlich, dass trotz sinkender Buchpreise, die Nutzung von Leihbibliotheken ansteigt.21 Dies weist darauf hin, dass auch die Teile des Bürgertums, denen aufgrund fehlender finanzieller Mittel, Literatur zuvor verwehrt geblieben ist, aktiv nach Möglichkeiten der Literaturaufnahme suchen. Weitere Anzeichen des vermehrten Wunsches nach Bildung sind das Entstehen eines Zeitungswesens, zu welchem ebenfalls andere Massendrucke, wie Familienzeitschriften, Kalender, Pamphlete und Kolportagen zählen. In diesen Zeitungen werden Kurzgeschichten und Novellen abgedruckt,22 die bald ein solches Interesse bei den Lesern hervorrufen, dass die jeweiligen Novellisten den Zeitungsverlagen ihr Gesicht leihen.23

Raabe ist Hausautor einer solchen Zeitschrift, den „Westermanns Monatsheften”, in denen seine Erzählungen kontinuierlich von 1857 bis 1866 abgedruckt werden.24 Diese werden von der Leserschaft positiv aufgenommen, im Gegensatz zu seinem ersten, heute bekanntesten und erfolgreichsten Werk, Die Chronik der Sperlingsgasse, 1856 verfasst. Diese erntet bei den Lesern anfangs vergleichsweise wenig Popularität, obwohl der Roman von den Kritikern mehrheitlich positiv rezipiert wird. Erst nach knapp 20 Jahren, einhergehend mit einem Verlagswechsel 1876 vom Stage- zum Grote-Verlag, können die Absatzzahlen einen Aufschwung vermerken. Bis zum Tod Raabes werden 70.000 Exemplare der Chronik aufgelegt. Bis heute werden die Absatzzahlen auf mehr als 500.000 verkaufte Einzelexemplare eingestuft, wobei allein innerhalb dreier Monate 1931 Die Chronik der Sperlingsgasse, anlässlich Raabes 100. Geburtstages, 120.000-mal verkauft wird.25 Doch warum der anfänglich ausbleibende Erfolg?

Raabes außergewöhnliche Fähigkeit war es, anhand der überschaubaren Berliner Sperlingsgasse die Probleme und Geschehnisse der damaligen Zeit zu dokumentieren. Kombiniert mit der Wahl einer ungewöhnlichen bildhaften Schreibform, dem ständigen Wechsel zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit, sowie verschiedenen Ebenen der Rückblende, die es teilweise erschweren dem Roman zu folgen, muss Die Chronik der Sperlingsgasse für den zeitgenössischen Leser recht ungewohnt gewesen sein.26 Jedoch liegt genau darin Raabes innovative Fähigkeit als Schriftsteller. Gleichzeitig ist darin wahrscheinlich ebenfalls die Begründung seiner anfänglichen Erfolglosigkeit zu finden.

Wilhelm Raabe, Die Chronik der Sperlingsgasse

PRO DOMO

Vorrede des Verfassers

Wenn es gewittert, verkriechen sich die Vögel unter dem Busch. Das wäre fast als ein gutes und warnendes Beispiel auch für dieses kleine Buch zu nehmen; es will sich aber nicht warnen lassen, und vielleicht darf es auch nicht.

Als vor zehn Jahren hinten in der Türkei die Völker aufeinanderschlugen, da regte es zum ersten Male seine Flügel und flatterte unbesorgt aus, wie finster auch der Himmel sein mochte. Mancherlei Wechsel der Zeit erfuhr es, und es wäre kein Wunder, wenn so viele fallende Trümmer es längst mit tausend Genossen unter berghohem Schutt begraben hätten; aber es fand seinen Weg, kam zu vielen Leuten, und sie nahmen es gut auf mit allen seinen Fehlern und Wunderlichkeiten.

Wenn es aber auch nur unter einem Dach eine trübe Stunde verscheucht, eine schwere Stunde sanfter gemacht hätte, wie Herr Hartmann von Aue sagt; wenn es nur ein Lächeln, nur eine Träne hervorgerufen hätte, so wäre sein Wirken und Sein nicht vergeblich gewesen.

Nun hängen wieder die Wolken drohend herab; der Krieg schlägt mit gewappneter Faust dröhnend an die Pforten unseres eigenen Volkes, und es ist niemand, so hoch oder niedrig ihn das Leben gestellt habe, der sagen kann, welch ein Schicksal ihm die nächste Stunde bringen werde. Es steht zu keiner Zeit ein Glück so fest, dass es nicht von einem Windhauch oder dem Hauch eines Kindes umgestürzt werden könnte; wie viel weniger jetzt! In solcher Zeit ständen die Menschen am liebsten mit leeren, müßigen Händen, horchend und wartend; aber das ist nicht das Rechte. Es soll niemand sein Handwerksgerät, die Waffen, mit welchen er das Leben bezwingt, in dumpfer Betäubung fallen lassen. Ein Geschlecht gebe seine Arbeit an das folgende ab, und, gottlob, jener Epochen, in welchen die Menschheit ihre Mühen ganz von neuem aufnehmen musste, weil die Sturmflut alles vorige fortgespült hatte, sind wenige.

Auch in diesem Sinne ist nichts zu hoch und nichts zu gering, und in diesem Sinne finden auch diese Blätter die Berechtigung, ihren Flug durch die stürmische Welt abermals vertrauensvoll zu beginnen. Mögen sie neue Freunde zu den alten gewonnen haben, wenn wieder zehn Jahre ihres flüchtigen Daseins dahingegangen sind!

Stuttgart, im Februar 1864

Der Verfasser

Am 15. November

Es ist eigentlich eine böse Zeit! Das Lachen ist teuer geworden in der Welt, Stirnrunzeln und Seufzen gar wohlfeil. Auf der Ferne liegen blutig dunkel die Donnerwolken des Krieges, und über die Nähe haben Krankheit, Hunger und Not ihren unheimlichen Schleier gelegt — es ist eine böse Zeit! Dazu ist’s Herbst, trauriger, melancholischer Herbst, und ein feiner kalter Vorwinterregen rieselt schon wochenlang herab auf die große Stadt — es ist eine böse Zeit! Die Menschen haben lange Gesichter und schwere Herzen, und wenn sich zwei Bekannte begegnen, zucken sie die Achsel und eilen fast ohne Gruß aneinander vorüber — es ist eine böse Zeit! — Missmutig hatte ich die Zeitung weggeworfen, eine frische Pfeife gestopft und ein Buch herabgenommen und aufgeschlagen. Es war ein einfaches altes Buch, in welches Meister Daniel Chodowiecki gar hübsche Bilder gezeichnet hatte: Asmus omnia sua secum portans, der prächtige „Wandsbecker Bote” des alten Matthias Claudius, weiland Homme de lettres zu Wandsbeck, und recht ein Tag war’s, darin zu blättern. Der Regen, das Brummen und Poltern des Feuers im Ofen, der Widerschein desselben auf dem Boden und an den Wänden — alles trug dazu bei, mich die Welt da draußen ganz vergessen zu machen und mich ganz in die Welt von Herz und Gemüt auf den Blättern vor mir zu versenken.

Aufs Geratewohl schlug ich eine Seite auf: Sieh! — Da ist der herbstliche Garten zu Wandsbeck. Es ist ebenso neblig und trübe wie heute; leise sinken die gelben Blätter zur Erde, als breche eine unsichtbare Hand sie ab, eins nach dem andern. Wer kommt da den Gang herauf im geblümten bunten Schlafrock, die weiße Zipfelmütze über dem Ohr? — Er ist’s: Matthias Claudius, der wackere Asmus selbst! — Bedächtiglich schreitet er einher, von Zeit zu Zeit stehenbleibend; jetzt ein welkes Blatt aufnehmend und das zierliche Geäder desselben betrachtend; jetzt in die nebelige Luft hinaufschauend. Er scheint in Gedanken versunken zu sein. Denkt er vielleicht an den Vetter oder den Freund Hein, an den Invaliden Görgel mit der Pudelmütze und dem neuen Stelzbein; denkt er an die neue Kanone oder an das Ohr des schuftigen Hofmarschalls Albiboghoi? Wer weiß! — Sieh! Wieder bleibt er stehen. Was fällt ihm ein?! Lustig wirft er die weiße Zipfelmütze in die Luft und tut einen kleinen Sprung: ein großer Gedanke ist ihm „aufs Herz geschossen” — das große neue Fest der Herbstling ist erfunden — der Herbstling, so anmutig zu feiern, wenn der erste Schnee fällt, mit Kinderjubel und Bratäpfeln und Lächeln auf den Gesichtern von jung und alt! —

Wenn der erste Schnee fällt — wie ich in diesem Augenblick wieder einmal einen Blick zur grauen Himmelsdecke hinaufwerfe, da kommt er herunter — wirklich herunter, der erste Schnee!

Schnee! Schnee! Der erste Schnee!

In großen wässrigen Flocken, dem Regen untermischt, schlägt er an die Scheiben, grüßend wie ein alter Bekannter, der aus weiter Ferne nach langer Abwesenheit zurückkommt. Schnell springe ich auf und ans Fenster. Welche Veränderung da draußen! Die Leute, die eben noch mürrisch und unzufrieden mit sich und der Welt umherschlichen, sehen jetzt ganz anders aus. Gegen den Regen suchte sich jeder durch Mäntel und Schirme auf alle Weise zu schützen, dem Schnee aber kehrt man lustig und verwegen das Gesicht zu.

Der erste Schnee! Der erste Schnee!

An den Fenstern erscheinen lachende Kindergesichter, kleine Händchen klatschen fröhlich zusammen: welche Gedanken an weiße Dächer und grüne funkelnde Tannenbäume! Wie phantastisch die Sperlingsgasse in dem wirbelnden weißen Gestöber aussieht! Wie die wasserholenden Dienstmädchen am Brunnen kichern! Der fatale Wind!

„Gehorsamster Diener, Herr Professor Niepeguk! Auch im ersten Schnee?”

„Ärztliche Verordnung!” brummt der Weise und lächelt herauf zu mir, so gut es Würde und Hypochondrie erlauben.

Auf der Sophienkirche schlägt’s jetzt! — Erst vier? Und schon fast Nacht! — „Vier!” wiederholen die Glocken dumpf über die ganze Stadt. Jetzt sind die Schulen zu Ende! Hurra — hinaus in den beginnenden Winter! Die Buben wild und unbändig, die Mädchen ängstlich und trippelnd, sich dicht an den Häuserwänden hinwindend.

Hier und dort blitzt nun schon in einem dunklen Laden ein Licht auf, immer geisterhafter wird das Aussehen der Sperlingsgasse.

Da kommt der Lehrer selbst, seine Bücher unter dem Arm; aufmerksam betrachtet er das Zerschmelzen einer Flocke auf seinem fadenscheinigen schwarzen Rockärmel. Jetzt ist die Zeit für einen Märchenerzähler, für einen Dichter. — Ganz aufgeregt schritt ich hin und her, vergessen war die böse Zeit; auch mir war, wie weiland dem ehrlichen Matthias, ein großer Gedanke „aufs Herz geschossen”. — „Ich führe ihn aus, ich führe ihn aus!” brummte ich vor mich hin, während ich auf und ab lief; wie verwundert mich auch alle meine Quartanten und Folianten von den Büchergestellen anglotzten, wie spöttisch auch das Allongeperückengesicht auf dem Titelblatt der dort aufgeschlagenen Schwarte hergrinste!

„Ein Bilderbuch der Sperlingsgasse!”

„Eine C h r o n i k d e r S p e r l i n g s g a s s e ! “

Ein Kinderkopf drückt sich drüben im Hause gegen die Scheibe, und der Lampenschirm dahinter wirft den runden Schatten über die Gasse in mein dunkles Fenster und über die Büchergestelle an der entgegengesetzten Wand. Ein gutes, ein glückliches Omen! Grinst nur, ihr Meister in Folio und Quarto, ihr Aldinen und Elzeviere! Ein Bilderbuch der Sperlingsgasse, eine Chronik der Sperlingsgasse! Ich musste mich wirklich setzen, so arg war mir die Aufregung in die alten Beine gefahren, und benutzte das gleich, um ein Buch Papier zu falzen für meinen großen Gedanken und einen letzten Blick hinauszuwerfen in den ersten Schnee. Bah! — Wo war er geblieben? Wie ein guter Diener war er, nachdem er die Ankunft seines Meisters, des gestrengen Herrn Winters, verkündet hatte, zurückgekehrt, ohne eine Spur zu hinterlassen.

Ich bin ein einsamer alter Mann geworden! Die bunten, ewig wechselnden, ewig neuen Bilder dieses großen Bilderbuches, Welt genannt, werden meinen alten Augen dunkler und dunkler; mehr und mehr schwimmen sie, mehr und mehr fließen sie ineinander. Ich bin mit meinem Leben da angelangt, wo, wie in jenem Übergang vom Wachen zum Schlaf, die Erlebnisse des Tages sich noch dumpf im Gehirn des Müden kreuzen, wo aber bereits die dunkle traum- und geistervolle Nacht über alles, Gutes und Böses, ihren Schleier breitet. Ich bin alt und müde; es ist die Zeit, wo die Erinnerung an die Stelle der Hoffnung tritt.

Schaue ich auf aus meinen Träumen, so sehe ich zwar das gleiche Lächeln, das gleiche Schmerzenszucken auf den Menschengesichtern um mich her wie vor langen, blühenderen Jahren. Aber wenn auch Freude und Leid die gleichen geblieben sind auf der alten Mutter Erde: die Gesichter sind mir fremd — ich bin allein! — Allein — und doch nicht allein. Aus der dämmerigen Nacht des Vergessens taucht es auf und klingt es; Gestalten, Töne, Stimmen, die ich kannte, die ich vernahm, die ich einst gern sah und hörte in vergangenen bösen und guten Tagen, werden wieder wach und lebendig; tote, begrabene Frühlinge fangen wieder an zu grünen und zu blühen; vergessener Kindermärchen entsinne ich mich; ich werde jung und — fahre auf und — erwache!

Versunken ist dann die Welt der Erinnerung, mich fröstelt in der kalten traurigen Gegenwart, drückender fühle ich meine Einsamkeit, und weder meine Folianten noch meine andern mühsam aufgestapelten gelehrten Schätze vermögen es, die aufsteigenden Kobolde und Quälgeister des Greisenalters zu verscheuchen. Sie zu bannen, schreibe ich die folgenden Blätter, und ich schreibe, wie das Alter schwatzt. Für einen Freund will ich diese Bogen ansehen, für einen Freund, mit dem ich plaudere, der Geduld mit mir hat und nicht spöttelt über Wiederholungen — ach, das Alter wiederholt ja so gern! —, der nicht zum Aufbruch treibt, wo die vertrocknete Blume irgendeiner süßen Erinnerung mich fesselt, der nicht zum Bleiben nötigt, wo ein trübes Angedenken unter der Asche der Vergessenheit noch leise fortglimmt. Eine “Chronik” aber nenne ich diese Bogen, weil ihr Inhalt, was den Zusammenhang betrifft, gar sehr jenen alten naiven Aufzeichnungen gleichen wird, welche in bunter Folge die Begebenheiten aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erzählen; die jetzt eine Schlacht mitliefern, jetzt das Erscheinen eines wundersamen Himmelszeichens beobachten, die bald über den nahen Weltuntergang predigen, bald wieder sich über ein Stachelschwein, welches die deutsche Kaiserin im Klostergarten vorführen lässt, wundern und freuen. Und wie die alten Mönche hier und da zwischen die Pergamentblätter ihrer Historien und Messbücher hübsche, farbige, zierlich ausgeschnittene Heiligenbilder legten, so will ich ähnliche Blätter entflechten und durch die eintönigen farblosen Aufzeichnungen meiner alten Tage frischere, blütenvollere Ranken schlingen.

Ich, der Greis — der zweiten Kindheit nahe, will von einem Kinde erzählen, dessen Leben durch das meinige ging wie ein Sonnenstrahl, den an einem Regentage Wind und Wolken über die Fluren jagen, der im Vorbeigleiten Blumen und Steine küsst und in derselben Minute das glückliche Gesicht der Mutter über der Wiege, die heiße Stirn des Denkers über seinem Buche und die bleichen Züge des Sterbenden streifen kann. Ich schreibe keinen Roman und kann mich wenig um den schriftstellerischen Kontrapunkt bekümmern; was mir die Vergangenheit gebracht hat, was mir die Gegenwart gibt, will ich hier, in hübsche Rahmen gefasst, zusammenheften, und bin ich müde — nun, so schlage ich dieses Heft zu, wühle weiter in meiner schweinsledernen Gelehrsamkeit und kompiliere lustig fort an meinem wichtigen Werke „De vanitate hominum”, einem ausnehmend — dicken Gegenstande.

Am 20. November

Ich liebe in großen Städten diese ältern Stadtteile mit ihren engen, krummen dunklen Gassen, in welche der Sonnenschein nur verstohlen hineinzublicken wagt; ich liebe sie mit ihren Giebelhäusern und wundersamen Dachtraufen, mit ihren alten Kartaunen und Feldschlangen, welche man als Prellsteine an die Ecken gesetzt hat. Ich liebe diesen Mittelpunkt einer vergangenen Zeit, um welchen sich ein neues Leben in liniengraden, parademäßig aufmarschierten Straßen und Plätzen angesetzt hat, und nie kann ich um die Ecke meiner Sperlingsgasse biegen, ohne den alten Geschützlauf mit der Jahreszahl 1589, der dort lehnt, liebkosend mit der Hand zu berühren. Selbst die Bewohner des ältern Stadtteils scheinen noch ein originelleres, sonderbareres Völkchen zu sein als die Leute der modernen Viertel. Hier in diesen winkligen Gassen wohnt das Volk des Leichtsinns dicht neben dem der Arbeit und des Ernstes, und der zusammengedrängtere Verkehr reibt die Menschen in tolleren, ergötzlicheren Szenen aneinander als in den vornehmeren, aber auch öderen Straßen. Hier gibt es noch die alten Patrizierhäuser — die Geschlechter selbst sind freilich meistens lange dahin —, welche nach einer Eigentümlichkeit ihrer Bauart oder sonst einem Wahrzeichen unter irgendeiner naiven merkwürdigen Benennung im Munde des Volkes fortleben. Hier sind die dunklen verrauchten Kontore der alten gewichtigen Handelsfirmen, hier ist das wahre Reich der Keller- und Dachwohnungen. Die Dämmerung, die Nacht produzieren hier wundersamere Beleuchtungen durch Lampenlicht und Mondschein, seltsamere Töne als anderswo. Das Klirren und Ächzen der verrosteten Wetterfahnen, das Klappern des Windes mit den Dachziegeln, das Weinen der Kinder, das Miauen der Katzen, das Gekeif der Weiber, wo klingt es passender — man möchte sagen dem Ort angemessener — als hier in diesen engen Gassen, zwischen diesen hohen Häusern, wo jeder Winkel, jede Ecke, jeder Vorsprung den Ton auffängt, bricht und verändert zurückwirft!

Horch, wie in dem Augenblick, wo ich dieses niederschreibe, drunten in jenem gewölbten Torwege die Drehorgel beginnt; wie sie ihre klagenden, an diesem Ort wahrhaftigmelodischen Tonwogen über das dumpfe Murren und Rollen der Arbeit hinwälzt! — Die Stimme Gottes spricht zwar vernehmlich genug im Rauschen des Windes, im Brausen der Wellen und im Donner; aber nicht vernehmlicher als in diesen unbestimmten Tönen, welche das Getriebe der Menschenwelt hervorbringt. Ich behaupte, ein angehender Dichter oder Maler — ein Musiker, das ist freilich eine andre Sache — dürfe nirgends anders wohnen als hier! Und fragst du auch, wo die frischesten, originellsten Schöpfungen in allen Künsten entstanden sind, so wird meistens die Antwort sein: in einer Dachstube! — In einer Dachstube im Wineoffice Court war es, wo Oliver Goldsmith, von seiner Wirtin wegen der rückständigen Miete eingesperrt, dem Dr. Johnson unter alten Papieren, abgetragenen Röcken, geleerten Madeiraflaschen und Plunder aller Art ein besudeltes Manuskript hervorsuchte mit der Überschrift: Der Landprediger von Wakefield.

In einer Dachstube schrieb Jean Jacques Rousseau seine glühendsten, erschütterndsten Bücher. In einer Dachstube lernte Jean Paul den Armenadvokat Siebenkäs zeichnen und das Schulmeisterlein Wuz und das Leben Fibels!

Die Sperlingsgasse ist ein kurzer, enger Durchgang, welcher die Kronenstraße mit einem Ufer des Flusses verknüpft, der in vielen Armen und Kanälen die große Stadt durchwindet. Sie ist bevölkert und lebendig genug, einen mit nervösem Kopfweh Behafteten wahnsinnig zu machen und ihn im Irrenhause enden zu lassen; mir aber ist sie seit vielen Jahren eine unschätzbare Bühne des Weltlebens, wo Krieg und Friede, Elend und Glück, Hunger und Überfluss, alle Antinomien des Daseins sich widerspiegeln.

„In der Natur liegt alles ins Unendliche auseinander, im Geist konzentriert sich das Universum in einem Punkt”, dozierte einst mein alter Professor der Logik. Ich schrieb das damals zwar gewissenhaft nach in meinem Heft, bekümmerte mich aber nicht viel um die Wahrheit dieses Satzes. Damals war ich jung, und Marie, die niedliche kleine Putzmacherin, wohnte mir gegenüber und nähte gewöhnlich am Fenster, während ich, Kants Kritik der reinen Vernunft vor der Nase, die Augen — nur bei ihr hatte. Sehr kurzsichtig und zu arm, mir für diese Fensterstudien eine Brille, ein Fernglas oder einen Operngucker zuzulegen, war ich in Verzweiflung. Ich begriff, was es heißt: „Alles liegt ins Unendliche auseinander.”

Da stand ich eines schönen Nachmittags wie gewöhnlich am Fenster, die Nase gegen die Scheibe drückend, und drüben unter Blumen, in einem lustigen, hellen Sonnenstrahl, saß meine in Wahrheit „ombra adorata”. Was hätte ich darum gegeben, zu wissen, ob sie herüberlächele!

Auf einmal fiel mein Blick auf eines jener kleinen Bläschen, die sich oft in den Glasscheiben finden. Zufällig schaute ich hindurch, nach meiner kleinen Putzmacherin, und — ich begriff, dass das Universum sich in einem Punkt konzentrieren kann.

So ist es auch mit diesem Traum- und Bilderbuch der Sperlingsgasse. Die Bühne ist klein, der darauf Erscheinenden sind wenig, und doch können sie eine Welt von Interesse in sich begreifen für den Schreiber und eine Welt von Langeweile für den Fremden, den Unberufenen, welchem einmal diese Blätter in die Hände fallen sollten.

Am 30. November

Der Regen schlägt leise an meine Scheiben. Was und wer der sonderbare lange Gesell ist, der vorgestern da drüben in Nr. 11 eingezogen ist, in jene Wohnung, wo auch ich einmal hauste, wo einst auch der Doktor Wimmer sein Wesen trieb, hab’ ich noch nicht herausgebracht. — Es ist recht eine Zeit, zu träumen. Ich sitze, den Kopf auf die Hand gestützt, am Fenster und lasse mich allmählich immer mehr einlullen von der monotonen Musik des Regens da draußen, bis ich endlich der Gegenwart vollständig entrückt bin. Ein Bild nach dem andern zieht wie in einer Laterna magica an mir vorbei, verschwindend, wenn ich mich bestrebe, es festzuhalten. Oh, es ist wahrlich nicht das, was mich am meisten fesselt und hinreißt, was ich auf das Papier festbannen kann! Ein ganz anderer Maler müsste ich sein, um das zu vermögen.

Das verschlingt sich, um sich zu lösen, das verdichtet sich, um zu verwehen, das leuchtet auf, um zu verfliegen, und jeder nächste Augenblick bringt etwas anderes. Oft ertappe ich mich auf Gedanken, welche, aufgeschrieben, kindisch, albern, trivial erscheinen würden, die aber mir, dem alten Mann, in ihrem flüchtigen Vorübergehen so süß, so heimlich, so beseligend sind, dass ich um keinen Preis mich ihnen entreißen könnte.

Nur das Konkreteste vermag ich dann und wann festzuhalten, und diesmal sind es Bilder aus meinem eigenen Leben, welche ich hier dem Papier anvertraue.

Was ist das für eine kleine Stadt zwischen den grünen buchenbewachsenen Bergen? Die roten Dächer schimmern in der Abendsonne; da und dort laufen die Kornfelder an den Berghalden hinauf; aus einem Tal kommt rauschend und plätschernd ein klarer Bach, der mitten durch die Stadt hüpft, einen kleinen Teich bildet, bedeckt am Rande mit Binsen und gelben Wasserlilien, und in einem andern Tal verschwindet. Ich kenne das alles, ich kann die Bewohner der meisten Häuser mit Namen nennen, ich weiß, wie es klingen wird, wenn man in dem spitzen schiefergedeckten Turm jener hübschen alten Kirche anfangen wird zu läuten. Habe ich nicht oft genug mich von den Glockenseilen hin und her schwingen lassen?

Das ist Ulfelden, die Stadt meiner Kindheit — das ist meine Vaterstadt!

Und schau, dort oben in dem Garten, der sich von jenem zerbröckelnden, noch stehenden Teil der Stadtmauer aus den Berg hinanzieht, gelagert unter einem blühenden Holunderstrauch die drei Kinder. Da sitzt ein kleines Mädchen mit großen, glänzenden Augen, dem wilden Franz aus dem Walde zuhörend. Franz Ralff, aufgewachsen im Wald und jetzt in der Zucht bei dem Vater der kleinen Marie, dem strengen lateinischen Stadtrektor Volkmann, erzählt, ein gewaltiges angebissenes Butterbrot in der Hand, kauend und zugleich durch seinen eigenen Vortrag gerührt, eine seiner wunderbaren Geschichten, die er aus der Waldeinsamkeit mitgebracht hat und mit denen er uns kleines Volk stets zum „Gruseln” brachte oder zu bringen versuchte.

Und nun sieh da, im Grase ausgestreckt, da bin auch ich, der kleine Hans Wachholder, der Sohn aus dem Pfarrhause; blinzelnd zu dem blauen Himmel hinaufschauend und den kleinen weißen „Schäfchen” in der reinen Luft nachträumend.

Die Glocken der heimkehrenden Herden erklingen zwischen den Bergen, ringsumher summt und tönt unendliches Leben, im Gras, in den Bäumen, in der Luft, und das Kinderherz versteht alles, es ist ja noch eins mit der Natur, eins mit — Gott!

Aber warum öffnet sich nicht dort unten die braune Tür, die aus dem hübschen, vom Weinstock übersponnenen Hause mit den hellglänzenden Fenstern in den Garten führt?

Wo ist der alte Mann mit den ehrwürdigen grauen Haaren, welcher da allabendlich seine Blumen zu begießen pflegt?

Wo ist — wo ist meine Mutter? Meine Mutter!

Keine freundliche Stimme antwortet! Ich selbst habe ja graue Haare. Vater und Mutter schlummern lange in ihren vergessenen, eingesunkenen Gräbern auf dem kleinen Stadtkirchhof zu Ulfelden. Jüngere Geschlechter sind seitdem hinabgegangen.

Plötzlich verändert sich das sonnige, sommerliche Bild.

Da ist schon die große Stadt! Diesmal ist es nicht Frühling, nicht blühender Sommer, sondern eine stürmische, dunkle Herbstnacht — vielleicht wird eine ähnliche auf den heutigen Tag folgen. — In dieser Nacht sitzt hoch oben in einem kleinen, mehr drei- als viereckigen Dachstübchen ein Student vor einem gewaltigen schweinsledernen Folianten, über welchen er hinwegstarrt. Wo wandern seine Gedanken? Draußen jagt der Wind die Wolken vor dem Monde her, rüttelt an den Dachziegeln, schüttelt den zerlumpten Schlafrock, welchen der erfinderische Musensohn, um sich und seine Studien ganz von der Außenwelt abzusperren, vor dem Fensterkreuz festgenagelt hat — kurz, gebärdet sich so unbändig, wie nur ein Wind, der den Auftrag hat, das letzte Laub von den Bäumen in Gärten und Wäldern zu reißen, sich gebärden kann. Lange hat der Musensohn in tiefe Gedanken versunken dagesessen; jetzt springt er plötzlich auf und dreht mir das Gesicht zu — das bin ich wieder: Johannes Wachholder, ein Student der Philosophie in der großen Haupt- und Universitätsstadt. Sehr aufgeregt scheint der Doppelgänger meiner Jugend zu sein; mit so gewaltigen Schritten, als das enge, wunderlich ausstaffierte Gemach nur erlaubt, rennt er auf und ab.

Plötzlich springt er auf das Fenster zu, reißt den improvisierten Vorhang herunter und lässt einen prächtigen Mondstrahl, welcher in diesem Augenblick durch die zerrissenen Wolken fällt, herein.

„Marie! Marie!” flüstert mein Schattenbild, leise, die Arme gegen ein schwach erleuchtetes Fenster drüben ausstreckend, gegen dessen herabgelassene Gardine der kaum bemerkbare Schatten einer menschlichen Gestalt fällt, und...

Es ist eine gefährliche Sache, in den Momenten ungewöhnlicher Aufregung — sei es Freude oder Schmerz, Hass oder Liebe — sich dem klaren weißen Licht des Mondes auszusetzen. Das Volk sagt: „Man wird dumm davon.” Wirklich, wunderliche Gedanken bringt dieser reine Schein mit sich; allerlei tolles Zeug gewinnt Macht, sich des Geistes zu bemächtigen