Die Chroniken der Fae - In Liebe und Hoffnung - Ruth Frances Long - E-Book

Die Chroniken der Fae - In Liebe und Hoffnung E-Book

Ruth Frances Long

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Beschreibung

Im Himmel herrscht Krieg ...

Das Gleichgewicht zwischen Menschen und Fae, Engeln und Dämonen ist aus dem Lot geraten. Und Izzy, die vielleicht die Einzige wäre, die etwas dagegen tun könnte, hat einen Großteil ihres Gedächtnisses verloren. Nur der schmerzliche Verlust von Jinx steht ihr immer noch deutlich vor Augen. Einsam und verwirrt spürt Izzy, wie eine bedrohliche Dunkelheit immer näher kommt. Mithilfe ihrer Freunde zieht sie in den Kampf, um die Welt zu retten – auch wenn sie dabei Himmel und Hölle, die Armee der Sidhe und die Menschheit gegen sich hat …

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Seitenzahl: 539

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DIE AUTORIN

Foto: © Privat

Ruth Frances Long ist schon ihr ganzes Leben lang Fan von Fantasy- und Liebesromanen. Sie studierte am College Englische Literatur, Religionsgeschichte und keltische Kultur und arbeitet jetzt in einer Bibliothek, die auf seltene und außergewöhnliche Bücher spezialisiert ist. Die Bücher sprechen leider nicht so oft mit ihr. Für ihre fantastische Serie »Die Chroniken der Fae« gewann sie den Science Fiction Association Award für Jugendbücher beim Eurocon in St. Petersburg.

Von der Autorin sind ebenfalls bei cbt erschienen:

Die Chroniken der Fae – Aus Papier und Asche(Band 1)

Die Chroniken der Fae – Durch Himmel und Hölle(Band 2)

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Ruth Frances Long

Die Chroniken derFae

In Liebe und Hoffnung

Aus dem Englischen von Karen Gerwig

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

1. Auflage 2017

Deutsche Erstausgabe Mai 2017

© 2016 by Ruth Frances Long

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel

»A Darkness at the End: The shadows know your name« bei The O’Brien Press, Dublin.

© 2017 für die deutschsprachige Ausgabe by cbt Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Aus dem Englischen von Karen Gerwig

Lektorat: Catherine Beck

Umschlaggestaltung und -illustration: © Isabelle Hirtz, Inkcraft unter Verwendung eines von Yuri_Arcurs / Istockphoto und mehrere Bilder von Shutterstock

he ∙ Herstellung: sto

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-19958-6V002

www.cbt-buecher.de

Für Pat, Diarmuid und Emily

Denn das ist die Wahrheit: Alles muss ins Gleichgewicht kommen.

Ordnung und Unordnung, Licht und Dunkel, Wahrheit und Verrat.

Wenn die Saat gesät ist, muss die Ernte eingebracht werden.

Wenn die Nacht hereinbricht, wird die Morgendämmerung kommen.

Wo die Blume blüht, wird auch der Dorn lauern.

Vom Himmel da oben bis zur Hölle da unten, zur Linken und zur Rechten des Pfades zählt nur das Gleichgewicht.

Ein Grigori steht dazwischen und hält diese Balance.

Wenn das Gleichgewicht verlorengeht, ist alles verloren.

Und das Chaos regiert.

Der große Vertrag, Band 13, Kapitel 47, Vers 12–13

Verärgere eher einen Fae als eine Matriarchin.

Verärgere eher eine Matriarchin als einen Dämon.

Verärgere eher einen Dämon als einen Engel.

Verärgere niemals einen Wächter.

Fae-Sprichwort

Die schwarzen Vögel kamen mit der Morgendämmerung. Krähen aller Formen und Größen. Sie saßen auf allen Ästen sämtlicher Bäume, auf Dächern und Kaminen, pickten in den Mülleimern und scharrten in der Erde der makellosen Rasenflächen. Raben kamen auch: Unnahbar und hoheitsvoll saßen sie auf den Pfeilern, die die Einfahrten der ansonsten ganz gewöhnlichen Vorstadthäuser markierten, saßen auf Stromkästen und Gaszählern. Sie allein blieben still, wachten über den lärmenden Morgenchor.

So wachte Izzy jetzt immer auf: von der Kakophonie eines Schwarms Rabenvögel, die auf sie warteten. Alle Arten, bis auf Elstern. Die kamen nicht. Nur ihre Verwandten: die Krähen und Raben, Saatkrähen und Nebelkrähen, Dohlen, sogar ein paar Alpenkrähen mit ihren leuchtend roten Schnäbeln und weit weg von ihrem Zuhause an den Küsten im Westen und Süden. Sie alle waren schwarz wie die Nacht oder mit grauen Krägen.

Sie alle waren Vögel des Todes.

Die ersten paar Male war Mum mit einem Besen hinausgerannt und die Vögel waren in einem Gewirr aus Flügeln und Entrüstung davongeflogen. Doch sie hatten nur einen Bogen aus ihrer Reichweite gemacht und sich dann wieder niedergelassen.

Izzy war inzwischen daran gewöhnt. Jeden Morgen warteten sie auf sie und hinterließen kleine Aufmerksamkeiten: glänzende Kinkerlitzchen, hübsche Steine, Alufolie und Knöpfe. Vergessene, zerbrochene Dinge. Verlorene Dinge. Sie legten sie auf die Türschwellen und Fensterbänke, ausgebreitet wie Opfergaben. Geschenke.

Izzy wusste nicht, wie sie sie davon abbringen sollte. Sie würde es tun, wenn sie nur herausfinden könnte, wie.

An diesem Morgen lagen auf ihrem Fensterbrett auf der Schicht aus glitzerndem Raureif ein glatter Stein, zwei Knöpfe und eine einzelne silberne Creole. Sie war nicht groß und außerdem angelaufen und verfärbt, als hätte sie schon seit Längerem den Elementen trotzen müssen. Aber es war das Erste, von dem ihre Hand angezogen wurde. Zumindest wollte sie danach greifen, erstarrte dann aber, ihre Muskeln verkrampften, die Sehnen waren wie Drähte. Ihr stockte der Atem und ein Schmerz wie reine Säure brannte in ihrer Brust.

Vor ihrem geistigen Auge sah sie ihn wieder. Den Jungen mit den schwarzen Haaren – wie Krähenfedern – und Haut so weiß wie der Schnee auf den Hügeln, mit wirbelnden indigoblauen Tätowierungen, die Augen silbern wie die Piercings, die er trug. Genau wie der silberne Ohrring.

Mit einem Ruck fegte sie die Geschenke von der Fensterbank. Die Vögel erhoben sich in die Luft, schrien ihre Empörung in den Himmel, und Izzy knallte das Fenster zu, drehte sich um und sank zu Boden. Dort saß sie zu einer Kugel zusammengekauert, die Arme um die Knie, und versuchte, das Entsetzen zu verdrängen, den unbekannten Kummer und Schmerz, die Lücken in ihrem Gedächtnis und dieses vertraute Gefühl von Zerstörung, immer alt und immer neu, eine Wunde, die sich niemals schloss. Der ganze Sog von Gefühlen, der sie immer überkam, wenn sie etwas sah, das an ein Bruchstück der Erinnerungen an ihn rührte.

»Jinx«, flüsterte sie schließlich.

In ihrer Erinnerung waren nur noch Fragmente übrig. Er war fort, das wusste sie. Dad sagte, er sei tot – alle sagten, er sei tot –, aber das kam ihr nicht richtig vor. Irgendetwas fehlte dabei. Das Problem war nur, sie hatte keine Ahnung, was.

Mum öffnete die Tür. Obwohl die Blutergüsse von ihrer Entführung verblasst waren, sah sie immer noch schwach aus. In ihrem Blick lag etwas, in den scharfen Linien unter ihren Gesichtszügen. »Izzy, Schatz?«

Ihre Arme sahen nicht stark aus, aber sie umfingen ihre Tochter wie eine undurchdringliche Barriere.

»Es tut mir leid«, sagte Izzy. »Mum, es tut mir leid. Es tut mir so leid.« Wenn sie einmal angefangen hatte, konnte sie diese Litanei nicht aufhalten. Immer wieder sagte sie es, noch mal und noch mal, aber es änderte nichts. Es half nicht.

Mum wiegte sie in den Armen und murmelte beruhigende Worte, flüsterte ihren Namen, bis Izzy sich wieder beruhigte. Es ergab zwar alles keinen Sinn, aber bis der Sturm der Gram vorüberging, konnte man sowieso nichts sagen.

Du bist zusammengebrochen, sagte sich Izzy mit kühler und distanzierter Stimme und beobachtete sich selbst von weit weg. Das half: sich die Dinge zu sagen, die anscheinend zutrafen, wenn sie sich so fühlte, wenn alles um sie herum zusammenbrach. Du hast deinen Freund sterben sehen. Du hast ihn umgebracht.

Aber sie konnte sich nicht daran erinnern. Die anderen hatten es ihr sagen müssen. Niemand schaffte es, ihr in die Augen zu schauen, wenn sie ihr das sagten.

Sie konnte sich nicht an ihn erinnern. Nicht so richtig. Nur in Bruchstücken und Momentaufnahmen. Albträume und unglaubliche Schrecken drifteten an die Oberfläche, wenn sie schlief, manchmal auch, wenn sie wach war. Aber sie ergaben keinen Sinn. Nichts ergab einen Sinn.

»Alles wird gut, Izzy«, sagte Mum. »Wir machen alles wieder gut, ich verspreche es dir. Dad bringt das in Ordnung.«

In Ordnung bringen? Dad glaubte, er könne das in Ordnung bringen? Er konnte kaum die Friedensgespräche zwischen den Engeln und den Dämonen aufrechterhalten, ganz zu schweigen davon, sie dazu zu bringen, die Sídhe mit einzubeziehen. Mum hatte mehr Vertrauen zu ihm als Izzy. Wie wollte er überhaupt die Zeit finden für seinen Versuch, das in Ordnung zu bringen? Und wie konnte man es in Ordnung bringen?

Nein, das musste er nicht in Ordnung bringen. Sie war das Problem. Sie war zerbrochen und wusste nicht, wie und warum.

In die Schule ging sie nur unregelmäßig. Die meiste Zeit schaffte sie es einfach nicht. Und zu einem normalen Arzt konnte sie wegen ihres Gedächtnisverlusts und der Depressionen auch nicht gehen, nicht, wenn der Auslöser Magie war. Nicht, wenn man es mit normalen Mitteln nicht in den Griff bekam. Und was bedeutete normal denn schon noch? Ihr ganzes Leben war alles andere als normal. Die einzigen Freunde, die sie noch hatte, waren Dylan, Clodagh und Ash. Und sie versuchten zu helfen, wirklich, aber sie hatten auch ein eigenes Leben.

Und sie verstanden es nicht. Sie wussten nichts von den leeren Stellen in ihr.

Irgendwann versiegten die Tränen. Sie starrte an die Wand über Mums Schulter und wünschte sich, die Wand würde einfach verschwinden, oder besser noch, sie könnte einfach selbst verschwinden. Gran klopfte an die Tür und warf Mum einen von ihren vielsagenden Blicken zu.

Izzys Großmutter war streng und elegant; sie war bei ihnen eingezogen, um ihnen während ihrer »schwierigen Phase« zu helfen. Sie sprach nicht viel. Im Allgemeinen hatte Izzy nur den Eindruck, sie sei eine schreckliche Enttäuschung für Isolde Gregory, die einen Grigori geheiratet und als seine rechte Hand gedient hatte, während sie den nächsten großzog. Pflicht, Wissen, Ehre … diese Dinge waren ihrer Großmutter wichtig. Kein hysterisches, depressives, gebrochenes Kind.

Mum legte Izzy den Überwurf von ihrem Bett um die Schultern. Er war weich und tröstlich und roch nach zu Hause und Schlaf. Dann folgte sie Gran nach draußen. Sie schloss die Tür nicht ganz hinter ihnen, so waren ihre Stimmen, wenn auch leise, trotzdem noch zu hören.

»David hat angerufen. Sie gehen heute. Jetzt.« Gran klang nicht glücklich darüber. Was auch immer es war. Offensichtlich hatten sie nicht vor, es Izzy zu erzählen. Sie war nicht befugt für derlei Erklärungen.

»Ich sollte auch mitgehen.«

»Du wirst hier gebraucht. Bei dem Mädchen. Sie ist im Moment zu anfällig.«

»Glaubt er wirklich, es wird funktionieren?«

Gran seufzte schwer. »Es ist unsere letzte Hoffnung. Nicht einmal ihre Mutter könnte …«

»Ich bin ihre Mutter.« Mums Stimme klang messerscharf.

»Natürlich. Du weißt, was ich meine.«

»Sie hat es nicht mal versucht.«

»Doch, das hat sie. Das weißt du auch, Rachel. Isabel ist ihr wichtig, so wichtig wie eine von uns für eine von ihnen sein kann. Du hast ihr nicht genug Zeit gegeben. Du musst das Mädchen zu ihr zurückschicken.«

»Nein!« Die Wildheit in Mums Stimme ließ Izzy erschrocken zusammenzucken. »Nein«, sagte sie dann ein wenig ruhiger. »Noch nicht. Wir werden einen Weg finden. Das müssen wir. Seit Jinx’ Tod …«

Jinx … der Name stach wie ein Stachel in Izzys Brust. Jinx war tot, das sagten alle. Aber es kam ihr nicht wahr vor. Es kam ihr nicht richtig vor. Und in dem Raum zwischen dem, was man ihr sagte, und dem, was sie fühlte – an diesem Ort, wo all ihre Erinnerungen ein Haufen zersplittertes Glas waren –, na ja, dort zerriss es sie.

»Es ist das reinste Chaos«, sagte Isolde mit Abscheu in der Stimme, während sie die Treppe hinuntermarschierte. »Was hat sie sich bloß dabei gedacht? Eine Grigori, die ihren Verstand aufs Spiel setzt, indem sie das Buch der Geschichtenerzählerin liest, um einen Jungen zu finden – und dann auch noch einen Hund! –, sollte nicht überrascht sein, wenn sie dann Lücken im Gedächtnis hat. Selbst wenn in diesem Durcheinander aus gestohlenen Erinnerungen aus allen Zeitaltern etwas gewesen wäre, das womöglich hätte helfen können, hätte sie wissen müssen, dass so viel Magie auf einmal sie überfordern und nach hinten losgehen würde. Dieses ganze dumme, kindische Verhalten – so etwas habe ich noch nie erlebt. Und dieses endlose Trübsalblasen …«

Ihre Stimme verklang, aber die Tirade ging zweifellos weiter.

Endloses Trübsalblasen. So dachte ihre Großmutter also über sie. Ihr Vater wahrscheinlich auch. Ein Dummchen, eine Närrin, die das Zauberbuch der Geschichtenerzählerin gelesen hatte – die Quelle ihrer Macht, die sich aus gestohlenen Erinnerungen zahlloser anderer speiste – und erwartete, dass sie irgendwie damit durchkommen würde. Und das alles für jemanden, an den sie sich gar nicht mehr erinnerte, jemand, der nichts mehr als ein klaffendes Loch in ihrer Erinnerung war. Denn das war die Wirkung des Buchs. Und sie hatte das gewusst, als sie es hochnahm. Wie hatte sie annehmen können, unbeschadet zu überleben? Selbst ihr kam es inzwischen idiotisch vor.

Izzy drehte sich wieder zum Fenster. Die Krähen waren immer noch da und beobachteten sie. Sie waren immer da. Auf jedem Baum, jedem Dach, jeder Mauer. Und warteten.

Aber worauf, das wusste sie nicht.

Sie schloss die Augen und wünschte sie fort, doch als sie hinschaute, waren sie immer noch da. Izzy wich ins Zimmer zurück. Ihr Rucksack – jetzt ramponiert und mit Schlamm- und Grasflecken übersät – lag neben dem Bett auf dem Boden. Sie ließ ihn nie aus den Augen. Das konnte sie nicht.

Sie setzte sich wieder, krempelte den Ärmel hoch und holte das Messer heraus, das sie Pie abgenommen hatte. Genauer gesagt das Eisenmesser, das sie aus einem … aus einem Körper gezogen hatte, in dem Pie es stecken lassen hatte. Aber wessen Körper? Das war die Frage. Die Lücken in ihrer Erinnerung konnten ihr das nicht sagen, aber sie erinnerte sich an das Gefühl des Messers in ihrer Hand. Kaltes Eisen, altes Eisen, mit einem Griff aus Knochen. Sie hatte es benutzt, um zu töten. Das wusste sie. Nicht wen oder warum. Sie erinnerte sich an Feuer und den drohenden Schatten einer Ruine, an heiße Tränen auf ihren Wangen und daran, wie sie ihr Messer in einen lebenden, atmenden Körper gerammt und das Leben hatte herausrinnen lassen. Und an dieses Messer. Dieses Stück Eisen.

Schwingungen kräuselten sich daran entlang, wenn sie es berührte, und das Feuer in ihrem Blut antwortete. Das Schwert, das schneidet, wirbelte durch ihre Adern. Keine richtige Klinge, nicht wie die in ihren Händen. Es war Magie: mächtig und schrecklich.

Sie hatte damit Eochaid getötet, den König der Fear. Sie hatte es nicht gewollt, aber es war ihr aus der Hand geglitten, oder vielleicht hatte sie es auch losgelassen, damit es nach seinem eigenen Willen handeln konnte. Und danach – nach noch einer Lücke in ihrer Erinnerung, die sie nicht füllen konnte – war sie ins Reich der Toten zurückgegangen. Sie hatte versucht, es Donn zurückzugeben, aber er war schon tot gewesen, und es hatte sich an sie gebunden, war wieder in sie geflossen. Jetzt füllte es sie aus und sie konnte es nicht kontrollieren. Na ja, fast. Ihr Eisenmesser konnte das Feuer des Schwerts unterdrücken. Wenigstens das hatte sie. Ihre Hand zitterte, aber ob vor Angst oder Erwartung, das wusste sie nicht.

Sie wollte es auch gar nicht wissen.

Sie ließ das Messer über ihre Haut gleiten, schnitt mühelos hinein, bis die dünne Linie aus Blut erschien und der stechende Schmerz seinen Höhepunkt erreichte. Keuchend wartete sie den Schmerz ab, spürte ihn bewusst, wie sie seit Tagen nichts mehr gefühlt hatte. Nicht seit dem letzten Mal, seit sie das getan hatte. Klarheit legte sich über sie, rein und eiskalt, und sie beobachtete das glänzende Blut auf ihrer blassen Haut, das eine neue Linie zu denen auf ihren Armen hinzufügte – manche noch leuchtend rot, andere als blasse, geisterhafte Narben.

Ihre Erinnerungen lagen in Trümmern, sie selbst war gebrochen, doch sie wusste, was sie zu tun hatte.

Dylan scharrte mit den Füßen und stellte den Mantelkragen wieder auf. Dicke Wolle brachte es bei diesen Temperaturen einfach nicht. Er wünschte sich schon etwas Wärmeres. Und mit der Sonnenbrille sah er nur aus wie ein Schwachkopf, wie irgendein Möchtegern.

Clodagh stieß ihn mit dem Ellbogen an. »Komm.«

In der langsamsten Schlange der Weltgeschichte rückten sie ein wenig näher an die Tür heran.

»Wir hätten online reservieren sollen«, sagte er.

Hinter sich konnte er die Stimmen jetzt nicht mehr überhören.

»Er ist es.«

»Na, dann frag ihn!«

»Nein, frag du ihn! Ich frage ihn nicht.«

»Bist du dir ganz sicher? Und wenn er es nicht ist?«

Clodagh erstarrte und biss die Zähne zusammen.

»Nicht«, murmelte Dylan.

»Ich kann jemandem sagen, er soll die Klappe halten und sich um seinen eigenen Kram kümmern, wann ich will.«

»Das stimmt, aber damit bestätigst du denjenigen. Dann ist es innerhalb von Sekunden überall im Internet.«

Dann hörte er das Klicken, als Fotos gemacht wurden, und eine Welle schlecht unterdrückten Kicherns.

»Ich sag’s dir nicht gern, Dylan, aber es ist schon überall im Internet«, sagte Chlodagh trocken.

Natürlich hatte sie recht. So war es immer. Es war nur ein kleiner Schritt von hier zum nächsten Ding.

»Hey, Mister«, sagte die keckste dieser eifrigen Stimmen. »Mister, Sie sind es, oder?«

Die anderen zischelten und wichen peinlich berührt zurück. Doch sie gingen nicht. Sie bemühten sich, es so aussehen zu lassen, aber sie zogen sich nicht zurück. Die Sünde bestand darin, diese Wand zwischen einer Person des öffentlichen Lebens und allen anderen einzureißen. Nicht darin, dabei zuzuschauen und davon zu profitieren.

Was, wenn ich nein sagen würde, dachte er. Was, wenn ich dieses eine Mal einfach so täte, als wäre ich es nicht?

Es würde nicht funktionieren. Dann wäre er »arrogant« und »eingebildet«.

Also schluckte Dylan ein Seufzen hinunter, damit sie es wie immer nicht zu Gesicht bekamen, drehte sich um und ging genauso damit um, wie Silver es ihm beigebracht hatte.

Liebe sie, hatte sie gesagt. Egal, was passiert. Egal, ob du dich scheiße fühlst, ungeduldig bist, die Nase voll hast – das müssen sie nicht wissen. Für sie bist du toll. Also sei es. Gib ihnen, was sie wollen. Sie werden dich dafür lieben.

Dylan zog die Sonnenbrille ein Stück die Nase herunter, damit er scheu, aber gefühlvoll darüber wegspähen konnte. Und er setzte sein strahlendstes Lächeln auf, bevor er den Finger an die Lippen hob.

Die Mädchen, von denen keine über fünfzehn war, bekamen große Augen und kicherten noch mehr.

»Ich bin eigentlich inkognito hier, Ladys«, neckte er sie.

»Inkog-wie?«, fragte die am nächsten Stehende, während ihre Freundinnen lachten und tuschelten.

»Undercover«, sagte er, und das arme Ding wurde puterrot.

Ihre Worte sprudelten in einem Schwall atemloser Aufregung heraus: »Können wir ein Selfie mit dir machen, Dylan?«

Dylan verzog die Lippen zu seinem professionellsten Lächeln. »Klar könnt ihr«, sagte er. »Aber wir müssen uns beeilen. Ich muss rein.« Er nickte zur Tür und der ungeduldigen Clodagh hinüber, die dort wartete und dabei genervt mit dem Fuß tippte.

Innerhalb von Mikrosekunden hatten sie alle ihre Handys bereit.

Clodagh beobachtete das alles mit ausdruckslosem Gesicht, auch wenn ihm bewusst war, dass ihr Geduldsfaden äußerst dünn war. Er gab Autogramme auf Papierfetzen und dann waren sie wieder weg.

Grim hielt ihm die Tür auf.

»Ihr solltet reinkommen«, sagte der Bodach. »Da draußen sieht es gefährlich aus.«

Dylan war sich nicht ganz sicher, ob er wirklich scherzte.

Als sie das Reich der Geschichtenerzählerin betraten, fühlte Dylan das Zittern in der Luft, das ihm verriet, dass sie von Dublin und seiner Welt nach Dubh Linn und in dessen Welt wechselten. Oder vielleicht war es jetzt auch seine Welt. Mit so viel von Silvers Macht in seinem Körper war das schwierig zu sagen. Davon durfte er sich aber jetzt nicht stören lassen. Er hatte eine Aufgabe zu erledigen.

Grim führte sie direkt durch die äußeren Säle, wo Teile des Leprechaun-Museums von Dublin mit einem weit älteren und ursprünglicheren Ort verschwammen. Echos des Giant’s Causeway säumten den Durchgang, Stein verwischte mit Holz und umgekehrt. Mit Bronze überzogene Wände und Decken spiegelten andere Zeiten wider, so viele verlorene Geschichten. Er streckte die Hand aus und spürte, wie die von Clodagh hineinglitt; ihre Finger waren sehr kalt und dünn, wie morsche Zweige. Er konnte ihre Angst spüren. Hoffte nur, dass es sonst keiner tat. Mensch zu sein, machte sie hier unten von selbst zu einer Zielscheibe. Ein verängstigter Mensch war wie ein Leuchtfeuer. In Gedanken baute er einen Schild um sie beide herum und spürte, wie ihre Anspannung etwas nachließ. Silvers Lektionen zahlten sich so langsam wirklich aus. Da die Magie anscheinend sowieso auf die eine oder andere Art aus ihm herausfließen wollte, hatte sie ihm erklärt, sei es besser, dass sie es zu seinen Bedingungen täte. Dass er sie nutzte, um nicht von ihr benutzt zu werden. Oder, Gott bewahre, dass jemand anders sie benutzte.

Das hieß allerdings immer noch nicht, dass er die volle Kontrolle darüber hatte. Aber wer hatte die schon?

Die Geschichtenerzählerin erwartete sie in dem dunklen Wald im Herzen ihrer Höhle. Manchmal, das wusste er, sah sie aus wie Pappaufsteller von Bäumen und Weihnachtsbeleuchtung, wie die Kulisse bei einer Schulaufführung. Heute aber nicht. So wie sich die Bäume in einer Brise wiegten und knarrten, die er weder riechen noch spüren konnte, wie sie sich dicht aneinanderdrängten, als wollten sie die Unachtsamen fortstehlen, bestand kein Zweifel an ihrer Echtheit. Es war der dunkle Wald aus jedem Märchen, jedem Albtraum, in dem man sich verirrte und nie wieder nach Hause fand, wo Monster in den Schatten lauerten und die Geschichten geboren wurden. Lichter hingen zwischen Ästen, in die Wurzeln verwickelt, Lichter, die sich bewegten und tanzten und einen so weit vom Pfad weglockten, dass der Pfad zu einem Traum dessen wurde, was war. Sheeries hatte Silver sie genannt, oder Irrlichter, die von Magie angezogen wurden und denen man niemals trauen durfte. Ignorier sie, hatte sie gesagt. Das war leichter gesagt als getan. Sie fielen ins Auge: bezaubernde, glitzernde kleine Wesen.

Die Kammer war voll von ihnen, sie blinkten in der Dunkelheit wie zahllose leuchtende Augen. Clodagh drängte sich näher an Dylan, und er hatte Mühe, sich seine eigene Nervosität nicht anmerken zu lassen.

»Komm näher, Dylan O’Neill«, sagte die melodische Stimme der Geschichtenerzählerin. Sie saß gebeugt an ihrer schimmernden Quelle, eine Haube verbarg ihr Gesicht, die Hände hatte sie im Schoß verschränkt. »Wir haben dich erwartet. Allerdings …« – sie unterbrach sich und drehte den Kopf leicht zu Clodagh – »… nicht deine kleine Freundin.« Dylan war froh, dass er Clodaghs Gesichtsausdruck nicht sehen konnte.

»Clodagh ist mit mir hier«, erwiderte er fest.

»Das sehe ich. Nun denn, kommt zu mir, du und Clodagh.« Sie sagte den Namen, als koste sie einen guten Wein, der ihr Schauer über den Rücken jagte. Unterschätze sie nie, hatte Silver gemahnt. Und er hatte ihr gerade Clodaghs Namen gesagt. »Setzt euch, dann reden wir. Deshalb hat dich Lady Silver doch geschickt, oder? Um zu reden?«

Tja, das war das Problem. Dylan rührte sich nicht.

»Silver hat mich nicht geschickt.« Silver wusste nicht einmal, dass er hier war, denn wenn sie es wüsste, würde sie komplett ausflippen. Aber das durfte die Geschichtenerzählerin nicht wissen. »Wir sind wegen einer Freundin hier.«

»Eine Freundin? Ehrlich?« Sie schnurrte beim Reden, entzückt von dem Ränkespiel, genau wie er gehofft hatte. »Und welche Freundin wäre das?«

»Isabel Gregory.«

Plötzlich waren alle Sheeries verschwunden. Das einzige verbleibende Licht, das blaue Leuchten aus den Tiefen der Quelle, tauchte die Kammer in düsteres und schreckliches Licht.

»Sie ist hier nicht willkommen. Sie wird hier nie wieder willkommen sein. Nur über meine Leiche wird sie diese Höhle betreten!« Die Geschichtenerzählerin sprang auf, ihr langer Umhang und das Kleid wogten um sie herum.

In der folgenden Stille öffnete Clodagh ihre Handtasche und holte eine Schachtel heraus. Sie war handbemalt, rosa mit kleinen weißen Blumen.

Die Geschichtenerzählerin starrte sie mit misstrauisch zusammengekniffenen Augen an.

»Wir haben ein Geschenk«, sagte Clodagh ohne das leiseste Beben in der Stimme. »Aber wir müssen das Buch sehen.«

»Nein«, knurrte die Geschichtenerzählerin, rührte sich aber nicht und rief auch nicht nach ihren Dienern. Ihre ganze Aufmerksamkeit war auf die Schachtel konzentriert. Langsam, als enthüllte sie etwas Großes in einem Theaterstück, öffnete Clodagh sie.

Klimpernde Musik erfüllte die Kammer und in der Schachtel begann eine winzige Ballerina eine zarte Pirouette. Clodagh lächelte schweigend.

»Was ist das?«, fragte die Matriarchin schließlich.

»Das ist eine Spieldose. Und sie gehört dir, wenn wir das Buch sehen dürfen.«

Die alte Sídhe zuckte, eindeutig hin und her gerissen zwischen ihrem Verlangen nach der Schachtel und dem Bedürfnis, ihr Buch zu beschützen.

»Nur anschauen«, hauchte sie schließlich.

»Ja«, sagte Clodagh. »Anschauen, vielleicht in der Hand halten und …«

»Ihr werdet es nicht lesen. Ihr werdet es nicht mal öffnen. Und er wird es auch nicht anfassen.« Sie richtete den abnorm langen Finger auf Dylan. »Ich weiß von dir, von der Macht in dir. Ich weiß, wozu du fähig bist, Junge.«

Ach ja? Das war Dylan neu, der sich nicht mal selbst sicher war, was die Macht in ihm ausrichten konnte, ganz zu schweigen davon, sie ganz im Zaum zu halten.

»Es ist Clodaghs Show«, sagte er ruhig, obwohl ihm das Herz vor Angst in der Brust hämmerte. Clodaghs Show, ihre Idee, ihre Katastrophe, wenn alles schiefging. Nein, eine Katastrophe für sie alle.

»Izzys Erinnerung ist nicht mehr in Ordnung«, sagte das Mädchen. »Wir wollen versuchen, ihr zu helfen.«

»Das stimmt«, sagte die Geschichtenerzählerin listig. »Denn sie hat mein Vertrauen missbraucht. Sie las das Buch, zu viel davon, riss es an sich und …«

»Sie hat einen schrecklichen Fehler gemacht, der ihr zutiefst leidtut«, unterbrach sie Dylan. »Wir wollen versuchen, es wieder in Ordnung zu bringen.«

»Mit meinem Buch? Niemals. Solange ich lebe, wird sie nie wieder in mein Reich kommen.«

»Aber wenn wir es einfach …«, begann Clodagh. Die Sídhe-Matriarchin unterbrach sie. »Sehen? Anfassen? Warum nicht, aber ihr dürft es nicht öffnen. Es wird euch nichts nützen. Aber ich könnte euch sehen lassen, wie nah ihr seid.«

»Habe ich dein Wort?«, fragte Clodagh.

»Für diese hübsche Schachtel? Ja, mein Wort. Aber wenn du das Buch lesen würdest, bräuchte ich mehr. Viel mehr.«

Clodagh blinzelte sie an wie ein Kaninchen im Scheinwerferlicht. »Was zum Beispiel?«

Die Geschichtenerzählerin schob die Kapuze nach hinten und enthüllte ihr Gesicht. Ihre dunkle Haut bildete einen Kontrast zu dem leuchtenden Gold ihrer Augen. Sie lächelte. Ihre Zähne waren scharf und sehr weiß. »Deine Augen vielleicht? Ich könnte dir das Sehvermögen nehmen und dich in dauerhafte Dunkelheit schicken. Die Schachtel gehört dir, nicht wahr? Sie ist alt. Ein Schatz aus der Kindheit. Hast du vom Tanzen geträumt? Ich könnte dich hierbehalten, damit du zur Musik deiner Spieldose für mich tanzt.«

»Lass es uns zuerst sehen.«

Damit kam sie der Gefahr zu nah. Das durfte er nicht riskieren. »Clodagh, nein!«, sagte Dylan, aber sie winkte ab und ging auf die Matriarchin zu. Sie wirkte merkwürdig furchtlos, als wüsste sie nicht, wie gefährlich das alles hier war. Oder es war ihr egal.

»Kommen wir ins Geschäft?«, fragte Clodagh.

»Ja«, sagte die Geschichtenerzählerin, und ihre Augen leuchteten vor Gier. »Holt das Buch«, knurrte sie ihre wartenden Diener an. »Sofort!«

Clodagh sagte nichts, wartete jetzt, ihre Miene verriet nichts. Wenigstens wusste sie, dass sie keine Angst zeigen durfte.

»Clo«, sagte Dylan. »Das ist echt keine gute Idee.«

Ihre Lippen verzogen sich kurz zu einem Lächeln, das aber fast augenblicklich wieder verschwand. Was tat sie? Das war nicht der Plan. Sie sollte alles ihm überlassen. Er würde das Reden übernehmen, die Überzeugungsarbeit. Obwohl sie beide wussten, dass es niemals funktionieren würde.

Bevor er noch mehr sagen konnte, kamen die Leprechauns in wilder Geschäftigkeit wieder. Das Buch war blass und bedrohlich, die Art, wie die Geschichtenerzählerin mit den Händen über den Einband strich, zutiefst beunruhigend, und Dylan spürte, wie er Gänsehaut bekam.

Clodagh streckte die Hände aus. »Du hast es versprochen.«

»Du auch. Wenn du es öffnest …«

Das Mädchen nahm ihr das Buch ab, legte die Arme darum, und ihr Lächeln kam wieder, strahlend und schrecklich.

»Oh, ich werde es nicht öffnen.«

»Er?« Ihr Blick ging wieder zu Dylan und das gierige Leuchten darin loderte doppelt so hell. Oh, sie wollte an Dylan heran. Wie alle Aes Sídhe. Sie kannten die Macht, die in ihm eingeschlossen war, und sie wollten sie, die Großen und die Niederen, die gern groß wären. Es machte ihn so krank.

»Er auch nicht.«

Clodagh hob den Blick zur Decke, erhob die Stimme und sprach Worte, die das ganze Gebäude erschütterten. »Ash? Ich bin so weit. Komm rein.«

Ein Wirbelsturm fegte durch die Kammer. Die Geschichtenerzählerin kreischte vor Schreck und Wut auf, als eine Gestalt hinter Clodagh und Dylan erschien, hell wie ein Nachbild auf geschlossenen Augenlidern, die schwarzen Schwingen weit ausgebreitet. Ihre äußeren Federn, so lang wie sein Arm, bogen sich um die beiden Menschen. Mit einer raschen Bewegung packte Ash mit einer Hand Dylan an der Schulter und mit der anderen Clodagh, und innerhalb eines Augenblicks und mit einem verwirrenden Dreh der Wirklichkeit, der ihm den Magen umdrehte, war die Höhle um sie herum weg.

Dylan taumelte aus ihrem Griff und prallte gegen das Metallgeländer. Unter ihm floss gurgelnd und wirbelnd der dunkle Fluss dahin. Sie befanden sich am Ufer des Liffey, auf der Promenade direkt oberhalb der Ha’penny Bridge. Er drückte sich vom Geländer ab und versuchte zu erkennen, wie weit sie vom Leprechaun-Museum entfernt waren. Ormond Quay. Nicht weit genug. Als er sich umdrehte, sah er, wie der Engel auf den Holzbohlen auf die Knie sank, die Flügel waren jetzt unsichtbar. Alle Farbe war aus Ashs Gesicht gewichen, ihre Hände zitterten, und ihre Arme hatten Mühe, sie davon abzuhalten, vollends zu fallen. Sie sah aus, als müsste sie sich übergeben oder ohnmächtig werden, vielleicht auch beides.

»Was hast du getan?«, schrie Dylan aufgebracht. Sie hatten sämtliche Regeln gebrochen, die es gab, vielleicht sogar den großen Vertrag selbst. Sie hatten alles gebrochen!

»Hab das Buch«, sagte Clodagh, und sie hatte in ihrem ganzen Leben noch nie so zufrieden mit sich ausgesehen.

Es gab Momente, in denen es so ruhig war, dass Jinx nichts als seinen eigenen Atem und das Rauschen seines Bluts hören konnte, wie es durch seinen Körper flutete. Sein Herzschlag war ein starker, unerbittlicher Rhythmus und er hasste ihn dafür. Er sollte still sein. Sein Körper sollte tot sein und Jinx mit ihm. Er konnte seinen Herzschlag nicht dazu bringen aufzuhören. Er konnte das Ganze nicht einmal in die eigenen Hände nehmen. Dafür sorgte sie. Silber- und Eisenfesseln banden ihn, Metall, das sich in seine Haut brannte, und ein Halsband, das ihn würgte. Vom Rufen und Schreien war er heiser.

Er wusste nicht, wie lange er schon hier war. Sein ganzes Leben, schien es ihm. Oder vielleicht fühlte sich so ein Sklave. Er erinnerte sich an eine Zeit davor, einen kurzen, leuchtenden Augenblick der Hoffnung, der Liebe. An eine Zeit mit Izzy. Das war jetzt alles vorbei. Verschlungen von Schmerz und Dunkelheit. Von dem Moment an, als Holly ihn aus den Schatten des Todes zurückgeholt hatte, ihn hier heruntergeschleppt und sein Protestieren und Flehen ignoriert hatte.

Er war tot gewesen. Er hatte Frieden gehabt. Nur einen Moment lang. Und dann hatte ihn Holly ins Licht zurückgezerrt, zurück in ihre Leibeigenschaft, und ihn wieder zu ihrem Gefangenen gemacht.

Wenigstens war er in der Dunkelheit relativ sicher. Sie brachten Licht. Und wenn Holly kam, war das Licht am hellsten.

Und furchtbarer als alles andere.

Das Geräusch des Schlüssels im Schloss erschreckte ihn, seine Nackenhaare sträubten sich, der Körper zuckte im vergeblichen Versuch, seine Hundegestalt anzunehmen. Die Fesseln und das Halsband verhinderten das. Er sank wieder in sich zusammen, sich seiner Verletzlichkeit schrecklich bewusst. Das Schloss öffnete sich knirschend und die Tür quietschte. Sie schien sich in Zeitlupe zu bewegen, während er versuchte, sie mit Gedankenkraft daran zu hindern. Aber das funktionierte nie.

Osprey füllte den Raum aus, wo sich die Tür befunden hatte, eine furchterregende Silhouette. Sein gefiederter Umhang raschelte flüsternd um ihn herum, und auch wenn Jinx das Gesicht seines Peinigers nicht sehen konnte, wusste er, dass der Mörder grinste. Häme färbte seine Stimme.

»Sie hat nach dir gefragt.«

Jinx entschlüpften die Worte, bevor er sie zurückhalten konnte: »Osprey, bitte …«

»Bitte?« Aus dem Wort troff Hohn. »Was für ein Fae-Krieger bist du denn? Steh auf, Junge, oder ich schleife dich hin.«

Er wollte ungehorsam sein, aber sein Körper bewegte sich gegen seinen Willen. Osprey hatte recht. Er hatte keine Wahl. Mühsam stand er auf; die Ketten behinderten seine Bewegungen. Osprey machte keine Anstalten, ihm zu helfen, was auch besser war – Ospreys Hilfe war nicht nett.

»Beeil dich, du erbärmlicher Köter. Sie ist viel zu nachsichtig mit dir.«

Der Schlag traf ihn seitlich im Gesicht und streckte ihn mit klingelnden Ohren und verschwommener Sicht nieder.

»Das kannst du nicht tun. Ich bin Silvers Abgesandter!«

»Du bist ein toter Verräter. Beeil dich!«

Das hatten sie schon hundert Mal durchexerziert. Wahrscheinlich öfter. Jinx wusste, was passieren würde, aber er konnte nicht anders. Was für eine Rolle spielte es noch?

»Ich bin trotzdem Silvers Abgesandter.«

Stur bis zum Letzten. Er hatte von den Besten gelernt. Hätte auch gar nicht gewusst, was er sonst tun sollte. Er wusste nicht, wie man aufhörte, sich zu wehren. Es wäre einfacher, wenn er es wüsste …

Der Tritt in die Magengrube schleuderte ihn rückwärts an die Wand, wo er atemlos zusammensackte und sich vor Schmerzen wand. Es würden noch schlimmere kommen, das wusste er, aber wenn sie ihn wieder vor Holly schleifen wollten, würden sie ihn wirklich schleifen müssen.

Es würde sie wütend machen … falls sie sich überhaupt die Mühe machte, es zu bemerken. Manchmal wirkte sie abwesend, als wanderte ihr Geist auf weit entfernten Pfaden, während ihr Körper anwesend war.

Die Zeit verging mit Hammerschlägen und dem Ringen nach Luft. Osprey hatte irgendwann genug von Jinx als seinem persönlichen Sandsack und rief zwei der Aes-Sídhe-Diener, um ihn zu stützen. Coal, ein rachsüchtiger kleiner Mistkerl mit toten Augen, der neu in Hollys Diensten war, seit er Reaper für sie ermordet hatte – nachdem Reaper ihre Drecksarbeit getan hatte. Der andere, mit dem lustigen Namen Hope, schaute am allerliebsten zu. Jinx kannte sie beide gut und hatte ihre Namen auf eine Liste in seinem Hinterkopf gesetzt.

Es war eine lange Liste, die ständig länger wurde.

Boxhiebe und Tritte regneten auf ihn herab. Selbst wenn er die Freiheit besessen hätte, sich zu wehren, hätte er es nicht gekonnt. Als sie schließlich jeden Widerstand aus ihm herausgeprügelt hatten, schleppten sie ihn durch die Korridore von Hollys neuem Reich.

Auf den schuttübersäten, staubigen Bodendielen sah man immer noch seine Blutspur und die vielen Flecken diverser Körperflüssigkeiten von anderen. Wer wusste, wie viele es waren? Wen interessierte es? Sie hatte eine verlassene Villa übernommen, ein Monster von einem Haus, während des Booms vergessen, jetzt voller echter Monster. Er konnte den Verkehr draußen hören, eine Sirene, rufende Stimmen – alle weit weg, aber doch da. Dann waren sie in der Menschenwelt. Das Haus lag im alten Herzen der Stadt – ein weitgehend vergessener Ort, der abwechselnd Nighttown, Monto und World’s End genannt wurde. Das Gebäude selbst war trostlos und abweisend, ein rauer Ort, auf drei Seiten von Efeu verschluckt, mit einem modernen Anbau, der wie ein Parasit an der vierten Seite hing. Es war die Rede von Sanierung gewesen, von Menschen, die es kaufen und wieder zum Leben erwecken wollten, aber seit sie eingezogen war, wagte das niemand mehr, ob sie wussten, warum, oder nicht. Unglücke geschahen, seltsame Unfälle, finanzielles Pech – sie suchten jeden heim, der versuchte, sich in Hollys Angelegenheiten einzumischen. Und Holly herrschte uneingeschränkt in diesem verfallenen Palast mit den bröckelnden Ecken. Hier tat sie, was sie wollte. Alles, was sie wollte.

In einer anderen Zeit war der Raum wahrscheinlich ein Ballsaal gewesen. Doch jetzt gehörte er ihr. Er war überwiegend leer. Niemand hielt sich gern hier auf, wenn es sich vermeiden ließ. Diejenigen, die sie auserwählt hatte, ihr zu dienen, diejenigen, die sie wirklich bestrafen wollte, warteten in der Nähe, versuchten, sich in die Wände zu drücken, so unsichtbar wie möglich zu sein.

Blut war auf dem Boden verschmiert, hastig aufgewischt, und es gab überall Brandflecken, Asche und versengte Stellen, wo vielleicht einmal Leute gestanden hatten. Einst.

Große Schiebefenster dominierten die gegenüberliegende Wand, das Licht, das durch ihre schmutzigen Scheiben fiel, blendete ihn. Staub glitzerte und tanzte träge in der Luft, Tapetenstreifen hingen in fahlen Schlaufen von den Wänden und der Putz hatte Risse. Er versuchte, überall hinzuschauen, nur nicht geradeaus. Doch er konnte die Silhouette nicht ignorieren, der er gegenüberstand.

Seine Entführer blieben vor ihrem Thron stehen. Keine der anderen Matriarchinnen besaß einen Thron. Holly hatte immer gesagt, Matriarchinnen brauchten keinen Thron. Genauso wenig wie andere Requisiten des Königtums. Wenn eine Matriarchin solche Stützen brauchte, um ihre Macht zu erhalten, war sie keine Matriarchin.

Sie hatte ihre Meinung geändert. Sehr viel hatte sich verändert.

Holly hatte jetzt, was sie wollte. Alles.

»Osprey?« Ihre Stimme, immer noch schön, hatte einen träumerischen, halb abwesenden Ton angenommen, und sie hallte in seiner Brust wider, wie sie es früher nicht getan hatte. Jinx hielt den Kopf gesenkt, denn es war nicht gut, ihr ins Gesicht zu blicken. Das war natürlich noch nie gut gewesen, sie hatte es als Herausforderung betrachtet, und sie musste jeden demütigen, der sie herausforderte. Oder wenigstens hatte sie das früher getan.

Jetzt war es anders. Alles war anders.

Jetzt war es viel schlimmer.

»Ich habe ihn hergebracht, Mylady.« Sogar Osprey war ehrerbietiger als früher. Weil er musste. Ihrer aller Leben balancierte auf der rasiermesserscharfen Kante ihrer schwankenden Stimmung.

Die beiden, die Jinx stützten, ließen ihn fallen, und er sackte zu Boden. Schmerz schoss durch seinen Körper, in jeden Zentimeter. Ihm entfuhr ein Schluchzen. Er konnte nichts dagegen tun.

Und alles wurde sehr still. Er hörte, wie sie aufstand, das Rascheln ihrer Kleider, das Klackern ihrer Absätze auf den bloßen Dielen. Das Geräusch hörte vor ihm auf. Dann kam nichts mehr, als hielten alle den Atem an. Er presste die Augen nur noch fester zu.

Holly kauerte sich nieder und berührte ihn am Kopf, im Gesicht. Ihre prüfenden Fingerspitzen kribbelten auf seiner Haut, warm und wie elektrisch aufgeladen.

»Armer Hund«, schnurrte sie. In ihrer Stimme schwang immer noch überirdische Musik mit. »Schau mich an. Der Schmerz wird aufhören.«

Aber er konnte nicht. Er konnte einfach nicht. »Ich bin Silvers Abgesandter.« Er schaffte es einigermaßen, die Worte herauszupressen. Sie wollten nicht kommen. »Ich bin durch den Vertrag geschützt.«

Ein leises Lachen hallte durch den riesigen Raum. Hollys Lachen. Oder eher des Wesens, das einst Holly gewesen war. Er wusste nicht, was sie war.

»Der Vertrag wurde gebrochen, Cú Sídhe. Er liegt in Schutt und Asche, wie die, die kamen, um mich zu bitten, ihn zu befolgen. Er bedeutet mir nichts. Sein Hüter hat keine Macht über mich. Ohne das ganze Getue hat sich ihre Schwäche gezeigt.« Sie legte ihm die Hand unters Kinn und hob sein Gesicht an. Wieder spürte er ihre Wärme auf der Haut, sah den Tanz des Lichts durch seine Augenlider. »Schau mich an, Jinx von Jasper. Ich kann dir die Schmerzen nehmen. Na komm, tu, was ich dir sage.«

Er konnte nichts dagegen tun. Wenn diese Stimme sprach, musste er gehorchen. In ihrer Gegenwart, wenn sie ihn berührte, war er verloren.

Jinx öffnete die Augen, um in ihre Herrlichkeit zu blicken. Und es war herrlich. Der Leuchtende in Hollys Gestalt lächelte, und es stimmte: Der ganze Schmerz fiel von ihm ab. Wunden schlossen sich von selbst. Die Echos der Folter verblassten zu Geistern. Muskeln, angespannt und schmerzend vor Entsetzen, entspannten sich mit unerwarteter Erleichterung.

»Meine Herrin«, murmelte er gebannt. Er hasste dieses Wort und er wusste es. Aber er musste es benutzen. Für sie. Nach so vielen Jahren, wenn ihn nicht einmal der Tod erlöste, hatte er alle Hoffnung auf Erlösung aufgegeben. Es war besser, sie zu besänftigen, zu tun, was sie wollte. Denn sonst …

»Na, siehst du? Du gehörst zu mir. Das war schon immer so. Hier in der Dunkelheit.« Sie sprach sanft. »Heile und sei wieder mein.«

Das konnte er aber auch nicht. Seine klägliche Unterwürfigkeit hing an einer halben Erinnerung. Das war unmöglich. Er musste weg von ihr. Zurück zu Izzy. Er musste Izzy finden.

Holly spürte seinen Widerstand; ihr Griff wurde fester, Finger gruben sich wie Stahl in seinen Kiefer.

»Jinx …« Dieser warnende Tonfall verhieß nie etwas Gutes. »Muss ich dich wieder bestrafen?«

»Nein«, flüsterte er. Angst stahl ihm die Stimme. Angst vor ihr, vor dem, was sie tun konnte. »Bitte.«

Aber es war schon zu spät. Sie ließ ihn los, eine Bewegung, so plötzlich und erschreckend, dass er aufschrie. Der ganze Schmerz flutete auf einen Schlag in ihn zurück. Welle um Welle der Pein, alles, was er unterdrücken oder erdulden hatte können, alles, was ihm in den Monaten seiner Gefangenschaft, im Lauf seines erbärmlichen Lebens zuteilgeworden war. Alles auf einmal.

Izzys Messer versenkte sich wieder in seiner Brust, das kalte Eisen brannte in ihm. Jinx warf den Kopf zurück und heulte. Tränen strömten ihm übers Gesicht. Seine eigene Galle würgte ihn.

Holly schaute zu, ohne den glühenden Blick abzuwenden, während er heulte und heulte. Als seine Stimme schließlich zu einem erstickten Schluchzen brach und er zusammenklappte, ein Häufchen Elend auf dem Boden, da lächelte sie.

»Wir werden es wieder versuchen«, sagte sie, während ein gequältes Schweigen von ihm Besitz ergriff. »Vielleicht kann der Hund besser dressiert werden, was meinst du? Irgendwann werden wir so weit sein. Gemeinsam, Jinx. Und dein Schmerz wird gehen. Das Feuer wird ihn aus dir herausbrennen. Du wirst sehen. Du wirst mir dienen, wie du es einst getan hast. Besser. Und mit Freuden.«

Sie streckte die Hand aus und strich ihm über den geneigten Kopf. »Verwandle dich für mich, Jinx.«

Er konnte nicht anders: Sein Körper handelte gegen seinen Willen und ihre Magie floss durch ihn. Sein Körper verwandelte sich, zerriss sich, um ihr zu gehorchen, um trotz der Zauber und Silberpiercings, die es zu einer Qual machten, das Tier zu werden. Oder vielleicht gerade deswegen, denn es waren ihre Zauber. Alles an ihm gehörte ihr und er war nur eine Kreatur, ihre Kreatur, und ihm blieb nicht einmal sein freier Wille.

Izzy wartete, bis es dunkel war, um aus dem Haus zu schleichen. Darauf musste sie im Dezember nicht lange warten. Als die Dämmerung hereinbrach, überkam sie eine merkwürdige Ruhe, und sie wusste, was zu tun war. Es hatte Zeiten gegeben, da wäre sie nie ohne Erlaubnis gegangen oder ohne wenigstens ihre Eltern zu fragen. Jetzt war alles anders. Seit dem Engel. Seit sie alles über ihr geheimes Leben erfahren hatte. Und es war seit Oktober beileibe nicht das erste Mal, dass sie sich heimlich davonstahl. Sie öffnete ihr Zimmerfenster und floh in die Dunkelheit.

Es war noch nicht mal spät, aber so kurz vor Weihnachten brach die Nacht schon am frühen Nachmittag herein. Autos mit eingeschalteten Scheinwerfern, gelb und orangefarben leuchtende Straßenlaternen und viele Häuser mit Lichterketten und Weihnachtsdekoration – alles erleuchtete die winterliche Dunkelheit mit grellem Trotz.

Die Krähen warteten am Ende der Straße, versammelt auf Telefonleitungen und den Wänden zwischen den Häusern. Schwarze Knopfaugen beobachteten ihr Näherkommen. Als sie sich knapp verneigte, ruckten sie zur Antwort mit den Köpfen.

»Was wollt ihr?«, fragte sie vorsichtig. Aber die Vögel antworteten wie immer nicht. Sie krächzten, der Laut ein Vorwurf. Sie müsste wissen, was sie wollten, schienen sie zu sagen. Doch sie wusste es nicht. Ob es an den Lücken in ihrem Gedächtnis lag oder ob sie es nie gewusst hatte – das war reine Vermutung.

Izzy wandte sich mit einem Achselzucken von ihnen ab, ging durch die Nacht, unter den Weihnachtsbeleuchtungen hindurch, die blinkten und glitzerten; die kahlen Bäume mit Sternen geschmückt statt mit Blättern. Sie fand die Elster am Fuß des Hügels auf einer niedrigen Mauer. Sie ruckte zur Begrüßung mit dem Kopf, wie es die anderen taten, und Izzy neigte ihren zur Antwort.

»Guten Abend, liebe Elster«, sagte sie leise, und der Kinderreim spulte sich in ihrem Kopf ab. One for sorrow, two for joy. »Ich brauche sie.«

Der schwarz-weiße Vogel erhob sich in die Luft und sie folgte ihm. Die Krähen folgten ihr den ganzen Weg bis zur Küste, doch als sie in die schmale Einbahnstraße einbog, die zu dem felsigen Strand in Sandycove führte, blieben sie zurück. Zwei Gestalten warteten am anderen Ende. Gekleidet in makelloses Schwarz-Weiß, blickten sie ihr mit identisch grausamen Augen entgegen.

»Hab gehört, du willst uns sprechen«, sagte Pie mit seinem boshaften Grinsen. Er spielte mit dem langen Messer mit dem Knochengriff, das gleiche wie das, das sie in ihrem Rucksack bei sich trug. Ein vertrautes Gewicht.

»Ja, ein kleines Vögelchen hat es uns erzählt«, sprach sein Bruder Mags weiter. »Was heckst du nun wieder aus, kleine Grigori?«

»Ich brauche Informationen.«

»Klar, was wissen wir?« Pie lachte. »Und was willst du dafür zahlen?« Sein Grinsen wurde anzüglich. Izzy sah ihn böse an.

Ja, was? Sie wollte es sich nicht vorstellen. Sie hüllte sich weiter in die eiskalte Ruhe und erwiderte ruhig ihre Blicke, nicht bereit, irgendetwas zu verraten.

»Ich frage nicht euch.«

»Was sind wir dann? Deine moralische Unterstützung?« Pie lachte gackernd über seinen Witz, aber Mags lächelte nicht einmal. Er war der Schlaue von den beiden, der mit der wirklich schrecklichen Fantasie.

»An euch beiden ist nichts moralisch«, erwiderte sie. »Amadáns Angebot steht noch, oder?«

»Natürlich. Bis er es sich anders überlegt«, sagte Mags. »Und warum sind wir hier?«

»Ich brauche ein paar Antworten. Und die Unterstützung ist weniger moralisch als vielmehr rohe Gewalt.«

»Wie üblich«, sagte Mags.

Das Meer rauschte an den Felsen, riesigen Steinblöcken und flachen Becken, während sie sich zielsicher zum größten Felsblock vorarbeitete, der am weitesten draußen lag. Hier befand sich das feste Tor nach Dubh Linn. Jeder, der das Orakel befragen wollte, hatte die Gelegenheit, wenn er mutig genug war und den Preis bezahlte.

Diesmal zahlte Izzy nicht mit Tränen. Als sie schon einmal hier gewesen war, hatten die Merrows sie fast unter Wasser gezogen – sie beide, korrigierte sie sich. Mörderische, fleischfressende Meerwesen, die sie beide fast getötet hätten. Auch wenn sie sich nicht an Jinx erinnern konnte, denn da war eine Lücke. Immer eine Lücke. Ein Loch in Form von Jinx in ihrer Erinnerung. Sie konnte es fast zusammensetzen. Damals hatte sie ihren silbernen Lachs des Wissens – noch eine Lücke in ihrer Erinnerung von einem früheren Besuch beim Buch der Geschichtenerzählerin – geopfert, um die Merrows zu vertreiben, und sie hatte für das Orakel geweint. Was auch immer sie zum Weinen gebracht hatte – es hatte so wehgetan. Sie glaubte, es zu wissen, oder konnte es erraten.

Jetzt gab es keine Tränen. Sie hielt den Silberreif über das Wasser und beschwor das Orakel, genau wie es in den Büchern ihres Dads beschrieben war. Sie war nicht untätig gewesen, sondern hatte versucht, alles herauszufinden, das ihr helfen konnte, ihre Erinnerungen zurückzubekommen.

Ihn zurückzubekommen.

Es war ein geflüstertes Eingeständnis, denn sie hatte Angst, es laut zu sagen. Also studierte sie, las und füllte die Lücken mit neuem Wissen.

Sie hätte für ihr Abschlusszeugnis lernen sollen, nicht Beschwörungsformeln und überliefertes übernatürliches Wissen auswendig. Das Leben war ungerecht. Sie hasste ihr Leben mehr als alles, was sie sich vorstellen konnte. Aber es war besser, ein Leben zu haben, das sie leben konnte. Die Alternativen, die sich ihr präsentierten, waren nicht verlockend.

Während sie sprach, spürte sie, wie die Magpies sie beobachteten, sie beurteilten. Natürlich würden sie Amadán alles berichten, aber sie brauchte Muskelkraft, die nicht zu viele Fragen stellte, wenn es schiefging. Wer wäre also besser geeignet?

Sie fühlte sich innen ganz kalt, als wäre sie in Stücke zerbrochen und mit Stahl repariert worden. Das musste sie nutzen. Sie konzentrierte sich darauf, sprach die letzten Worte und ließ das Feuer in ihrem Blut nach draußen strömen.

Das Wasser stieg um den Felsen herum unheilverkündend an, schnitt sie vom Land ab, und ein Seehund mit funkelnden dunkelbraunen Augen streckte den Kopf heraus. Er war jung, viel zu jung, um der zu sein, den sie suchte. Kurz darauf verschwand er wieder, und ein anderer nahm seinen Platz ein, um dann ebenfalls wieder abzutauchen.

Beim dritten Mal erschien ein Männerkopf mit sehr dunklen Augen und nass glänzenden Haaren. Sie erinnerte sich an ihn. Das war eine Erleichterung. Sie hatte befürchtet, er könnte eine der vielen Erinnerungen sein, die das Buch aus ihr herausgesaugt hatte. Und seinem Stirnrunzeln nach zu urteilen, erkannte er sie auch.

»Isabel Gregory«, sagte das Orakel. »Was willst du hier?«

»Fragen stellen. Wirst du antworten?«

Misstrauisch beäugte er den Silberreif und streckte dann die Hand danach aus. Sie ließ los, und er fing ihn geschickt auf, untersuchte ihn mit geübtem Blick, bevor er ihn ins Meer hinauswarf. Izzy sah, wie er im Mondlicht glitzerte, und gerade bevor er die Wellen erreichte, sprang eine kleine Gestalt hoch und schnappte ihn aus der Luft. Ein Kind. Der Selkie, dessen Seehundgestalt sie eben schon gesehen hatte, wie sie annahm. Sie schaute zu, wie zwei andere junge Seehunde ein Stück weiter aus dem Wasser auftauchten und dann genauso schnell wieder verschwanden. Gelächter kräuselte das Wasser.

Das Orakel hatte also eine Familie. Sie wandte ihm wieder ihre Aufmerksamkeit zu. Er beobachtete die Magpies.

»Du pflegst immer noch miese Gesellschaft.«

»Es muss sein«, murmelte sie. »Ich muss Jinx von Jasper finden.«

Das Orakel seufzte. »Was hat er jetzt wieder angestellt?«

Izzy hätte fast geächzt. Er hatte diesen Ton. Ein echtes Elterntier.

»Er ist gestorben.«

»Ah, dann müsstest du ihn in Donns Höhle suchen.«

Sie schüttelte den Kopf. »Da war ich schon. Jemand hat ihn mitgenommen und Donn umgebracht. Also, wo ist er?«

Das Orakel runzelte die Stirn. »Donn ist tot?«

Niemand hatte es ihm gesagt. Und er wusste es nicht. Orakel des Meeres, am Arsch, dachte sie, und es durchfuhr sie wie Eis. Die Worte klangen schrecklich vertraut, aber sie wusste nicht, warum.

Sie schüttelte das Gefühl ab, ließ die Kälte sich in der Tätowierung in ihrem Nacken sammeln, ließ zu, dass sie sich in sie vergrub wie das Messer, dass sie ihren Verstand klar und hart machte.

»Sehr tot«, antwortete sie. »Müsstest du das nicht alles wissen?«

»So läuft das nicht. Ich sehe nicht alles und habe auch nicht ständig Zugang zu dem, was kommt. Ich strecke meine Fühler in die Zukunft aus, um die Dinge zu sehen, die ich sehen werde. Wenn du möchtest, dass ich das tue …«

Sie versuchte, ihn nicht finster anzublicken. Warum sonst war sie wohl hier? »Bitte«, sagte sie knapp.

Er schloss die Augen, das Wasser bewegte sich in hypnotischen Wellen um ihn herum. Sie konnte den Blick nicht davon abwenden. Wie sich das Wasser bewegte, war nicht natürlich, ebenso wenig wie der Klang seiner Stimme. Fern, widerhallend, als stünde er in einer weitläufigen Höhle und nicht im Freien.

»Der Tod weilt in den Hallen der Toten. Betrete sie vorsichtig. Es werden verschlungene Pläne gesponnen.«

Oh, gut, dachte sie – Rätsel. Sie streckte den Rücken durch und warf ihm einen finsteren Blick zu. »Jinx von Jasper«, wiederholte sie. »Wo ist er?«

»Er wird zu dir kommen.«

»Das hilft mir nicht.«

»Mehr Hilfe kann ich dir nicht bieten. Du hast dich verändert, Grigori.«

»Mehr, als du dir vorstellen kannst. Wo ist er?« Sie zog das Messer aus Eisen und Knochen aus seinem Versteck und fixierte ihn mit einem bedeutungsvollen Blick. »Ich möchte nicht noch einmal fragen müssen.«

Misstrauisch und wachsam schwamm er rückwärts ein Stück von ihr weg. »Du kannst mir drohen, aber ich habe mein Schicksal gesehen. Ja, nicht einmal ich konnte diesem Wissen widerstehen. Jinx von Jasper wird dich suchen kommen … er kommt jetzt schon. Geh nicht auf die Insel, Isabel Gregory. Du darfst keinen Fuß auf die Insel setzen.«

»Welche Insel?«

Er schüttelte den Kopf, als wollte er Kopfschmerzen loswerden. »Wir sehen uns dort. Und du … du wirst die Welt verbrennen.«

»Ich muss ihn finden.« Mehr noch, sie musste sich selbst finden, ihre Erinnerungen wiederbekommen. Und er war der erste Schritt auf diesem Weg. Das wusste sie. Oder wenigstens meinte sie es zu wissen. Was konnte sie auch sonst tun? Die Welt verbrennen? Sie verhärtete ihre Gedanken, hielt ihre Ängste fest. Sie meinte es ernst. Ein dunkler Teil von ihr würde tun, was getan werden musste. Das wusste sie inzwischen. Dieselbe Dunkelheit, die sie dazu getrieben hatte, in die Höhle der Geschichtenerzählerin einzudringen und das Buch zu lesen.

»Und würdest du ihn erkennen, wenn du ihn sehen würdest? Das werden wir sehen, Grigori. Du solltest jetzt gehen. Ich kann dir nicht mehr sagen.«

»Doch, das kannst du, verdammt noch mal«, knurrte sie ihn an. »Wo ist diese Insel? Ist er schon dort? Wird er gefangen gehalten? Du weißt doch angeblich alles. Sag mir …«

»Izzy!«, schrie Pie vom felsigen Ufer aus. »Besuch!«

Sie wirbelte herum, um zu schauen, was er meinte, und sah, dass er nicht gelogen hatte. Eine Truppe Sídhe näherte sich über den anderen Weg, an dem Martello-Turm und den schicken Ufervillen vorbei. Vorn ging eine Gestalt, die sie unmöglich nicht erkennen konnte.

Golden und schön, leuchtend vor Macht – Holly.

Aus welchem Loch war sie gekrochen? Und was wollte sie? Okay, Letzteres konnte sich Izzy vorstellen und es war nicht angenehm.

»Mist«, murmelte sie vor sich hin und konzentrierte sich darauf, über die Felsen zu den Magpies zurückzuklettern. Das letzte Stück sprang sie über offenes Wasser. »Wir müssen hier weg«, sagte sie zu ihnen.

»Da hast du verdammt recht«, sagte Mags und blieb dann stehen, um die Gruppe eindringlich anzustarren wie ein Raubtier vor dem Sprung. »Scheiße, siehst du das?«

»Was?«, fragte sie, während sie zurückwich.

Holly war stehen geblieben, ihr brennender Blick ruhte auf ihnen. Osprey stand hinter ihr, sein gefiederter Umhang blähte sich schimmernd. Doch die Magpies starrten nicht ihn an. Zu Hollys Füßen kauerte ein riesiger gestreifter Hund, der jetzt die Schnauze hob, um in die Luft zu schnüffeln. Er sah tödlich aus, nur harte Muskeln und drahtige Schnelligkeit. Um den Hals hatte er ein Silberhalsband und Silber durchbohrte seine langen, luchsartigen Ohren und den Körper. Er sah aus wie ein Cú Sídhe, muskulös und schmal, mit grünen und schwarzen Streifen im Fell, aber die Augen schimmerten golden. Nein, kein Cú Sídhe, so einen hatte sie noch nie gesehen. Das war etwas anderes, auch wenn es sehr ähnlich aussah. Alles daran schrie Gefahr. In ihrem Inneren fielen die Grigori-Instinkte, auf die sie sich sonst verließ, völlig aus.

»Was ist das?«, fragte sie mit trockenem Mund; das Herz schlug ihr bis zum Hals.

»Weißt du das nicht?« Pie klang total verängstigt.

Mist. Dann war es schlimm. Was auch immer es war. Wirklich schlimm. »Antworte mir einfach.«

»Es ist gefährlich, das ist es. Es ist ein verdammter Púca. Und die bedeuten nie was Gutes. Wir müssen verschwinden, Mädchen!«

Sie wichen zurück, und sie folgte ihnen, ohne die Gruppe aus den Augen zu lassen. Die Aes Sídhe, die ihr folgten, zeigten mit dem Finger auf sie, lachten und amüsierten sich über ihren Rückzug. Todesfeen beobachteten sie auch, aber ohne Heiterkeit. Sie waren Kämpferinnen. Sie hielten nichts von Rückzug.

»Willst du schon gehen?«, rief Holly. Sie klang belustigt, was nie etwas Gutes bedeutete. »Aber ich wollte dir mein Haustier vorstellen. Er will nur spielen.« Sie lachte laut auf, ein Anflug von Hysterie in der Stimme ließ sie wirr klingen. Bevor Izzy wusste, wie ihr geschah, war die Bestie von der Leine und hetzte über die Wiese direkt auf sie zu. Als sie mit funkensprühenden Krallen den Abhang zu den Felsen herabschlitterte, knurrte sie. Das Wesen war riesig, stark gebaut und schnell, viel zu schnell. Muskelpakete wölbten sich, als es zum Sprung auf sie ansetzte, und sie duckte sich und rollte sich auf dem Betonweg ab.

Kies spritzte auf, während der Púca schwer landete und sich zu ihr umdrehte, als sie gerade das Messer hob. Kaltes Eisen, altes Eisen. Verlässlich. Wenigstens das hatte sie. So kalt wie das grelle Eis des Tattoos in ihrem Nacken. Dann erfüllte sie das Feuer des Schwerts und blendete alle Gedanken außer die an Kampf und Überleben aus. Die Kreatur beobachtete sie, drehte sich und tigerte auf und ab, musterte sie voll scharfer Intelligenz. Sie suchte nach einem Angriffspunkt.

»Also komm schon«, knurrte sie die Bestie an.

»Grigori«, flüsterte Mags mit einer Stimme, die sorgfältig so gewählt war, dass sie das Tier nicht verärgerte. »Tu das nicht. Lass es. Wir müssen hier weg.«

Sie ignorierte ihn. Irgendetwas stieg in ihr auf, etwas Tiefes und Ursprüngliches. Sie musste das Ding töten. Das wusste sie mit derselben Gewissheit, mit der sie wusste, dass sie eine Grigori war, eine Wächterin, eine Hüterin der Orte zwischen Menschen und Sídhe, zwischen Himmel und Hölle. Und dieses Ding hatte keinen Platz in ihrer Welt. Es war überflutet von wilder Magie. Hollys Macht wirbelte um es herum, durch es hindurch, kontrollierte es und stachelte es auf, aber dennoch – sie konnte das eigenartige Wesen der Kreatur spüren. Chaotisch. Sämtliche geschärften Sinne, auf die zu vertrauen sie gelernt hatte, sagten ihr, dass sie das Ding töten musste.

»Komm her, du Monster«, lockte sie es, während sie das Gewicht des Messers in ihrer Hand wie eine Fortsetzung der Magie des Schwerts spürte. »Versuch’s doch.«

Der Hund stürzte sich mit aller Gewalt auf sie, und einen Augenblick lang dachte sie, es wäre eine tödliche Fehleinschätzung gewesen. Er schnappte, sein Kiefer verfehlte sie, und ihr Messer ritzte an seiner Flanke entlang. Als das Eisen mit Fae-Fleisch in Berührung kam, schrie die Kreatur.

»Nein!«, brüllte Holly; echtes Entsetzen ließ ihr die Farbe aus dem Gesicht weichen. Sie wollte diese Kreatur nicht verlieren, weshalb Izzy sie nur umso dringender töten wollte. »Komm sofort hierher!«

Die Bestie schreckte zusammen, als hätte ihr die Stimme einen zweiten Messerstich versetzt. Sie knurrte; Schmerz und Wut machten sie wild, aber sie drehte sich trotzdem um und jagte zu ihr zurück. Als sie sich neben Holly fallen ließ, bebte sie und blutete aus der Wunde an der Flanke. Ihre Brust hob und senkte sich bei jedem mühsamen Atemzug.

Wie hatte die Bestie sie verfehlen können? Sie hätte ihr die Kehle zerfetzen müssen, das wusste sie.

Aber sie hatte es nicht getan. Hätte sie es nicht besser gewusst, sie hätte gesagt, es war Absicht gewesen.

Starke Arme ergriffen sie, ein Magpie an jeder Seite, und hoben sie von den Füßen, um mit ihr so schnell wie möglich in die andere Richtung zu laufen, zurück hinauf zur Straße und weg von hier. Sie schrie sie an, sie loszulassen, aber sie reagierten nicht. Sie zögerten nicht einmal, trugen sie einfach fort.

»Scheiße, ich hätte nicht gedacht, dass du das Mistvieh wirklich angreifst«, keuchte Mags, als sie schließlich langsamer wurden. Sie waren am kunstvoll verzierten Tor der Privatschule vorbei und auf halbem Weg nach Hause.

Izzy schüttelte sie ab, am ganzen Körper zitternd vor Wut.

»Was sollte das, verdammt?«, schimpfte sie. »Ich hatte die Bestie! Ich hätte sie töten können!«

Eine Lüge … vermutlich. Das Tier hatte sie nicht töten wollen. Da war sie sicher. Es hatte sie verfehlt. Warum? Und warum hatte sie solch ein Bedürfnis verspürt, es zu töten? Das sah ihr überhaupt nicht ähnlich.

»Ich weiß. Wir haben es gesehen«, erwiderte Pie. »Aber das …«

»Es gehört Holly«, unterbrach ihn Mags. »Und du bist noch nicht so weit, ihr ans Bein zu pissen, indem du ihr Lieblingstier umbringst. Nicht schon wieder.«

Sie drehte sich nach ihm um. »Was meinst du damit?«

Sein Gesicht erstarrte und er rang nach Worten.

»Sie hatte … Pläne für Jinx, ja? Aber die hast du zunichtegemacht.«

Es war wie eine eiskalte Dusche. Sie machte einen Schritt rückwärts und stopfte das Messer in den Rucksack.

»Sie hat es geschickt, um mich zu töten, dieses … dieses … wie habt ihr es genannt?«

»Ein Púca«, sagte Pie langsam. Dann wiederholte er es und zog das Wort dabei in die Länge. »Puu-kaa. Ein Gestaltwandler wie ein Cú Sídhe, nur schlimmer. Viel schlimmer.« Er grinste, als wäre das alles nur ein großer Witz, den sie nicht kapierte. Das Wort klang vertraut. War ein Púca nicht eine Art Geist? Sie schauderte wieder, und ihr krampfte sich der Magen zusammen. Vielleicht eine Erinnerung, die sie verloren hatte? Oder etwas anderes. Es war, als wüsste ihr Körper etwas, das sie nicht wusste, etwas, das sie übersah. Ein Grigori-Ding, sagt Dad. Sie hasste dieses Gefühl.

»Na gut. Von mir aus. Ein Púca. Und das Orakel war nutzlos.«

»Nicht völlig nutzlos«, sagte Pie, aber Mags grub ihm den Ellbogen in die Rippen. Sie brüllten beide vor Lachen.

Na großartig. Eine Nahtoderfahrung mit einem Monster und Holly und keinerlei neue Erkenntnisse. Und sie saß hier mit den albernen Brüdern fest. Sie hasste sie, aber der Amadán hatte ihr Hilfe versprochen.

Eine schöne Hilfe waren sie.

»Scheiße, haut einfach ab.« Sie ließ sie stehen und marschierte die Straße hinauf zu der kleinen Brücke über die Eisenbahnlinie und in Richtung der schmalen Gassen, die man die Metals nannte, die direkt zu dem Steinbruch auf dem Hügel hinaufführten. Von dort aus war es zu Fuß nicht weit zu Brís Höhle.