Die Chroniken der Seelenwächter - Band 22: Cassandras Fluch - Nicole Böhm - E-Book

Die Chroniken der Seelenwächter - Band 22: Cassandras Fluch E-Book

Nicole Böhm

5,0

Beschreibung

Ein Klick. Eine Hoffnung. Hat Jaydee es wirklich geschafft und Akil von dem Armband befreit? Und war es das Risiko wert? Mit Raphael bringt er Akil zurück nach Arizona, damit sein Bruder sich bei seinem Element erholen kann. Für Jess und Jaydee steht ein weiterer Schritt nach vorne an: Sie haben den Jadestein zurückgeholt, aber was bedeutet das Leuchten? Weiß Ashriel womöglich Rat? Gemeinsam begeben sie sich auf eine erneute Reise in das Theater das Grauens und werden mit Herausforderungen konfrontiert, die sie so nicht erwartet hatten. Dies ist der 22. Roman aus der Reihe "Die Chroniken der Seelenwächter". Bände 1-12 (Staffel 1) Die Archive der Seelenwächter 1 (Spin-Off) Bände 13-24 (Staffel 2) Die Archive der Seelenwächter 2 (Spin-Off) Bände 25-36 (Staffel 3) Bände 37-40 (Staffel 4) Das schwarze Element (die neue Reihe im Seelenwächteruniversum) Bände 1-7

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Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel3

2. Kapitel9

3. Kapitel13

4. Kapitel25

5. Kapitel35

6. Kapitel46

7. Kapitel51

8. Kapitel60

9. Kapitel67

10. Kapitel74

11. Kapitel79

12. Kapitel85

13. Kapitel91

14. Kapitel96

15. Kapitel101

16. Kapitel107

17. Kapitel113

Die Lesereihenfolge von der Serie »Die Chroniken der Seelenwächter«122

Die Fortsetzung der Seelenwächter:123

Impressum124

Die Chroniken der Seelenwächter

Cassandras Fluch

Von Nicole Böhm

1. Kapitel

Andrew trat nach draußen in die klirrende Morgenluft und stülpte den Kragen nach oben. Seine Haare waren noch feucht von der ausgiebigen Dusche, aber das störte ihn nicht. Früher hatte er – um seine Willenskraft zu schulen – in Wannen mit eiskaltem Wasser gesessen, bis er seine Finger und Zehen nicht mehr spürte. Er war barfuß über glühende Kohlen gelaufen, hatte drei Nächte auf Schlaf verzichtet oder sich heiße Haken durch die empfindlichsten Hautstellen treiben lassen und den Schmerz wieder und wieder ausgelöst. Er kannte diese Methode von einem Naturvolk, das er bei seinen vielen Reisen getroffen hatte. Dort gehörte es zu einem heiligen Ritus, weil der Schmerzpegel irgendwann tranceartige Zustände hervorrief. Andrew legte großen Wert darauf, seinen Geist zu beherrschen. Er brauchte die Kontrolle über sein Fleisch. Er wollte kein Sklave seiner Schwächen sein. Und dennoch hatte er eine nie überwinden können: Anna.

Seine wundervolle Frau, an die er sein Herz verloren hatte. Vermutlich lag es an ihrer Gabe, die damals so ausgeprägt gewesen war, dass sie alle um sich herum verzauberte. Ihn eingeschlossen. Sie hatte sich in seine Seele gestohlen und ihn gefangen genommen. Er vergötterte diese Frau, er würde alles für sie tun. Er brauchte sie. Er liebte sie. Und er würde sie zurückholen, denn sie gehörte an seine Seite.

Andrew bog nach rechts ab zur Garage, öffnete sie und betrachtete den roten Chevy. Eines der angenehmen Dinge dieser Zeit war definitiv der technische Fortschritt. Hätte er früher ein Gefährt wie dieses besessen, wäre er nicht aufzuhalten gewesen. Er hatte damals Wochen gebraucht, um von England nach Frankreich zu reisen, war monatelang im Sattel gesessen, nur um das Mittelmeer zu erreichen. Und heute? Die Menschen verspotteten diese Distanz. Ananka erst recht. Sie konnte Portale öffnen, mit denen sie ihre Leute rund um den Erdball schickte. Leider tat sie das nur, wenn es ihr zum Vorteil gereichte. Zum Beispiel, als er die Haare von Anna holen sollte, die er damals sorgsam in der Nähe seines Schlosses in einer Truhe verbuddelt hatte. Es war eine der Bedingungen gewesen, die Ananka vor vierhundert Jahren an ihn gestellt hatte, und er hatte sie erfüllt.

Gleichzeitig hatte ihn erst diese Bitte auf seine späteren Pläne gebracht. Ananka hatte ihm unwissentlich in die Hände gespielt und ihm eine Idee geliefert, die ihm heute hoffentlich zunutze war.

Er setzte sich hinters Steuer seines Wagens und strich über seine Brust, wo das Flügelmal erschienen war. Das Zeichen seiner Wiedergeburt. Je besser er sich in diesem Körper zurechtgefunden hatte, umso stärker war es hervorgetreten. Er musste äußerst vorsichtig sein, Jess durfte ihn niemals ohne Shirt sehen; denn er vermutete, dass sie wusste, was es bedeutete – dass er eine Reinkarnation Anankas war.

Das darf ich nicht riskieren. Noch nicht.

Erst musste er noch einige Dinge erledigen, denn sobald die Seelenwächter herausfanden, wer er war, würden sie Jagd auf ihn machen.

Alles zu seiner Zeit.

Er tippte auf das Lenkrad und dachte an den Moment zurück, als Ananka ihn das erste Mal aufgesucht hatte – kurz nachdem er Anna damals im Schweinestall entsorgt hatte. Ananka war eines Abends in seinem Schloss aufgetaucht und hatte die ganze Nacht mit ihm geredet:

»Wenn du es wünschst, werde ich ein Ritual an dir ausführen, das deine Seele konserviert, sobald du gestorben bist. Ich werde sie zu einer späteren Zeit in einen bestimmten Körper zurückholen und dir so ein zweites Leben schenken.«

Das hieß aber noch nicht, dass er unsterblich wurde. Er tauschte lediglich eine Hülle gegen eine andere. »Weiter.«

»Du wirst einen Wirt bekommen, der in seinem Leben Kontakt zu ganz besonderen Wesen erlangen wird. Entweder er selbst trifft auf sie oder jemand, der ihm nahesteht. So genau kann ich das nicht auslesen, aber es ist wichtig, dass ich deine Seele bereits zur Geburt des Wirtes in ihn pflanze. Du wirst erst einmal nichts davon mitbekommen, bis du erweckt wirst.«

»Erweckt?«

»Ja. Einer meiner Gefolgsleute wird es übernehmen. Er wird meine Macht aktivieren, und ab da erlangst du dein Bewusstsein.«

»Und wenn dein Gefolgsmann es vergisst?«

»Das wird er nicht, ich dulde keinen Ungehorsam.«

Da hatten sie beide etwas gemeinsam. »Warum ich?« Nicht, dass er sich beschweren wollte, aber es interessierte ihn.

»Weil ich einen zweiten Plan benötige, falls mein erster scheitert – und weil deine Frau Anna über Wissen verfügt, das ich dann brauchen werde.«

»Wissen, wie ...«

Ananka lächelte ihn an. »Sie hat dir etwas Wertvolles entnommen.«

Andrew wusste sofort, was sie meinte. Anna hatte die Harfe geklaut. Egal wie sehr sie es abstritt, er wusste, dass sie es gewesen war, denn niemand sonst hatte Zugang zu der Kammer gehabt oder wäre an den Schlüssel gekommen. »Tja, dieses Geheimnis hat sie mit ins Grab genommen. Sie ist mittlerweile Schweinefutter.« Zugegeben, eine Kurzschlussreaktion, aber er war so wütend auf sie gewesen.

»Anna ist nicht tot.«

»Wie meinst du das?«

»Deine Frau wurde gerettet. Sie hat sich mächtigen Wesen angeschlossen und ist sogar selbst zu einem geworden: Sie ist nun eine Seelenwächterin und kämpft für das Wohl der Menschen.«

»Eine bitte was?«

»Die Details erkläre ich dir später, doch ich habe in deinem Schicksal gesehen, dass sie für deinen Tod verantwortlich sein wird. Sie wird dich umbringen.«

»Das ist vollkommener Schwachsinn.« Das traute er ihr nicht zu. Dazu war sie viel zu feige.

»Unterschätze sie nicht, sie wird stärker werden, als du ahnst, und es wird so kommen, wie ich es gesehen habe. Ich kann dir helfen weiterzuleben. Du erhältst eine zweite Chance und du wirst erneut auf Anna treffen, wenn du alles so ausführst, wie ich es dir sage. Es wäre eine Schande, wenn du verrotten würdest. Männer wie du sind schwer zu finden.«

Andrew war klar, dass sie ihm nur schmeichelte, dass das nicht der wahre Grund war. »Ich stimme zu, aber nur unter zwei Bedingungen.«

»Ich denke nicht, dass du in einer guten Verhandlungsposition bist.«

»Oh, doch. Ich glaube das sehr wohl. Du brauchst mich.«

Ihr Auge zuckte, er hatte also recht.

»Erstens möchte ich die Kontrolle über meine Seele behalten. Ich werde dir nicht hörig werden wie deine anderen Reinkarnationen.«

»Das lässt sich einrichten.«

»Zweitens will ich freie Hand, wenn ich auf Anna treffe. Du funkst mir nicht dazwischen und hältst mich nicht auf.«

Sie nickte. »Hauptsache, ich bekomme die Harfe, alles andere ist mir egal.«

»Dann haben wir einen Deal.«

»Du hast ja keine Ahnung, was du dir mit mir aufgehalst hast.« Andrew sah sich selbst im Spiegel in die Augen. Das Treffen mit Ananka hatte ihn sehr an seine Begegnung mit Coco erinnert. Auch sie war eines Tages vor seinem Schloss gestanden; angelockt von seiner einzigartigen Frau. Wie sich herausstellte, brauchte Coco Anna, um ihre alte Freundin zu erwecken. Und nicht nur das: Auch sie benötigte diese Harfe.

Immer dreht sich alles um dieses verfluchte Instrument.

Coco und er arbeiteten schließlich miteinander. Es war ein perfekter Deal gewesen: Er half ihr, Lilija zu befreien, und die wiederum würde ihn dafür unsterblich machen, so wie Coco es auch war.

Nur leider hatte Coco vergessen zu erwähnen, dass die Gabe in Anna zerstört werden konnte. Sie hatte durch Andrew so sehr gelitten, dass alle Magie in ihr versiegte. Andrew hatte seine einzigartige Frau verloren und kurz darauf auch die Harfe. Sie war ihm gestohlen worden. Und er hatte nie herausfinden können, was daran so besonders war. Dabei hatte er fünf Jahre seines Lebens aufgewandt, um sie überhaupt zu bergen. Er hatte gemordet, gefoltert, gemeuchelt und gute Männer geopfert, nur um wieder mit leeren Händen dazustehen.

Am Ende hatte Coco Andrew sitzen lassen und ihm den Rücken gekehrt. Er war ein Narr gewesen. So jung. So unwissend. So unbedarft. Das sollte ihm kein zweites Mal passieren, deshalb hatte er Vorkehrungen getroffen. Zunächst hatte er Anankas Warnung ernst genommen, dass Anna ihn töten konnte. Er hatte Wachen aufgestellt, tagelang nicht geschlafen und war darauf gefasst gewesen. Dennoch hatte sie es geschafft. Andrew vermutete heute, dass sie ihre Fähigkeiten als Seelenwächterin genutzt hatte und so bei ihm eindringen konnte.

Zum Glück hatte er Gareth vor seinem Tod sämtliche Verfügungsgewalt übertragen. Er hatte alles von ihm geerbt: seine Ländereien, sein Vermögen, sein Wissen. Gareth sollte so viele Informationen wie möglich sammeln. Er musste die Zeit nutzen, die er hatte, und Andrews Augen und Ohren werden.

Denn Informationen waren wertvoll. Sie waren die beste Währung, auf die er setzen konnte, und sie gingen über die Jahre nicht verloren.

Natürlich lebte Gareth schon lange nicht mehr. Er war nur ein Mensch gewesen, einer seiner treuesten Gefolgsleute, aber wenn alles geklappt hatte, dann wartete in einer Kirche in Annecy in Frankreich auf Andrew etwas Großes. Er würde es noch heute Nacht erfahren. Sein Flieger ging in zwei Stunden.

Er war aufgeregt, plante diese Reise schon seit Wochen unter dem Radar von Tobias, was nicht ganz so einfach gewesen war, denn der Mistkerl hielt stets ein wachsames Auge auf Andrew. Doch er hatte das Spiel mitgemacht, sich geradezu mustergültig verhalten und so das Vertrauen verdient, das er heute genoss. Da er mit Jess alles so brav vorbereitet hatte, stand er hoch im Kurs. Er hatte keine Ahnung, warum sie ihre Emotionen von dem See hatte lösen sollen, es war ihm auch egal. Er freute sich einfach auf die verblüfften Gesichter, wenn alle begriffen, dass es nur einen gab, dem Andrew diente: sich selbst.

Andrew liebte Macht. Er brauchte sie wie die Luft zum Atmen. Das erste Mal hatte er diesen Rausch gespürt, als er ein Messer an die Kehle seiner Mutter setzte und der Alten ein Ende bereitete. Das war einer der schönsten Momente seines damals zehnjährigen Lebens gewesen. Er hatte extra die Klinge erhitzt und in einem bestimmten Winkel zugestochen, damit sie nicht so viel blutete. Den Kniff hatte er von Majan, dem Dorfmetzger, abgeschaut – und es hatte geklappt. Seine Mutter war umgestürzt wie eine morsche Eiche, gefallen in seinen Armen, gestorben in seinem Schoß.

»Und genauso wird es allen ergehen, die mir in die Quere kommen.« Aber erst wollte er sich um seine schöne Frau kümmern. Er strich an den Punkt über seinem Herzen, wo ihre Waffe in ihn eingedrungen war und ihn getötet hatte; im Schlaf, weil sie zu feige gewesen war, es zu tun, während er wach war. Natürlich musste sie dafür büßen, doch danach würde er ihr verzeihen. Er war nicht nachtragend, auch wenn sie das vermutlich von ihm dachte.

Er grinste, stellte den Motor an und fuhr aus der Garage.

2. Kapitel

Jaydee

Klick.

Konnte es so einfach sein? War es das gewesen?

Ich schluckte und lauschte nach Akils Atem. Er kam abgehackt und schwach. Raphael und Skyler schwiegen, genau wie alles andere um mich herum. Ich hörte nicht einmal mehr die Straße oder die Herzschläge der Menschen in diesem Gebäude. Dabei pulsierte mein Innerstes vor Energie, und meine Sinne waren überdreht von Akils Fähigkeiten. Sie rauschten durch meine Zellen, meine Adern, pumpten das pure Leben in mein Herz und erfüllten mich bei jedem neuen Atemzug mit Stärke. Am liebsten hätte ich weiter meine Hände auf ihn gelegt und ihn bis zum letzten Quäntchen seiner Kraft leergesaugt. Der Jäger seufzte vor Wonne über die ganze Energie, die ich soeben von Akil gezogen hatte. Es war seine Nahrung, seine Befriedigung, und wenn es nach ihm ginge, bräuchte er noch viel mehr davon.

Ich füttere den Wolf.

Doch ich war mir sicher, dass Abe nicht diese Art von Futter gemeint hatte.

»Was hast du getan?«, stammelte Raphael.

Ich hatte sie beide zusehen lassen, wie ich meinen besten Freund seiner Fähigkeiten beraubt, wie ich tief in ihn hineingegriffen hatte, nur in der Hoffnung, dass ich ihn von dem Armband befreien konnte.

Das Armband ...

Ich traute mich kaum hinzusehen, was dieser Klick bedeutet hatte, denn sollte ich versagt haben, wäre alles umsonst gewesen: meine Reise ins Feuer, das Risiko, die Schmerzen. Wozu das alles, wenn ich ihm doch nicht helfen konnte?

Ich hielt die Luft an und blickte nach unten.

Das Metallband stand offen!

Verflucht, es hatte geklappt! Es hatte wirklich geklappt!

Ich blinzelte, nur um sicherzugehen, dass ich nicht halluzinierte, aber das tat ich nicht. Das Armband war ab, wartete nur darauf, dass es von seinem Besitzer getrennt wurde.

Mir schwirrte der Schädel, die Energie bebte in mir. Raphael ging neben mir in die Hocke, sah von mir zu Akil und wieder zurück. »Jaydee. Mann, ernsthaft. Was hast du getan?«

Er wollte mich wegschieben, doch ich hielt dagegen, genau wie vorhin. Das hier war eine Sache zwischen Akil und mir. Ich hatte es angefangen, ich musste es beenden, denn wir waren noch nicht fertig.

»Warte«, sagte ich und löste vorsichtig das Armband von Akil. Die Haut darunter war heller als der Rest, der von der Sonne gebräunt worden war. Akil seufzte tief. Die Zellen in seinem Inneren atmeten ebenfalls durch. Seine Seele bäumte sich auf, eine gigantische Last glitt von ihm ab, und die Magie des Armbandes floss aus ihm heraus, als ob ich die Verbindung zwischen ihnen mit einer Schere durchtrennt hätte.

Ich drehte das Metall herum, betrachtete es von allen Seiten. Es fühlte sich wärmer an als eben noch. Die Oberfläche war glatt, ohne Verzierungen, ohne Schnörkel, noch nicht einmal einen Kratzer hatte das Armband, als hätte es nicht die letzten Monate an Akils Handgelenk verbracht und Kämpfe mit ihm durchgestanden.

Ich drückte es Raphael in die Hand. Zuerst musste ich mich um Akil kümmern.

Anders als beim letzten Mal, als ich ihm seine Energie entzogen hatte, würde ich es diesmal rückgängig machen. Ich hatte ihm versprochen zu lernen, mit dieser Fähigkeit umzugehen. Es musste einfach klappen!

Ich beugte mich über ihn, legte eine Hand auf seine Stirn. Sofort vibrierte meine Handfläche und sandte mir ein geistiges Abbild seines Zustandes. Es sah aus wie ein Ultraschallbild, das mir eine exakte Rückmeldung von seinem Inneren lieferte. War es immer so, wenn Erdwächter andere heilten?

Ich schloss die Augen, gab mich voll und ganz diesen Empfindungen hin und lauschte in ihn hinein. Er glühte. In ihm tobte ein Sturm, sein Körper suchte nach dem, was ich ihm entzogen hatte. Ich legte meine Hand fester auf, konzentrierte mich darauf, die Energie zurückzusenden, in der Hoffnung, ich könnte ihm so seine Fähigkeiten wiedergeben. Ich biss den Kiefer fest zusammen, fokussierte mich auf Akil, auf sein Herz, auf seine Seele.

Nimm sie wieder, nimm sie wieder. Bitte!

Meine Haut verschmolz fast mit der seinen, ich verlor das Gefühl für meine eigenen Grenzen, hatte keinen Anfang und kein Ende. Unsere beider Seelen vereinten sich und teilten für einen winzigen Moment die Fähigkeiten des Elementes Erde.

Ich spürte seine Liebe, seine Kraft, seine unendliche Leidenschaft, sah Bilder aus seinem Leben, die vielen Jahrtausende, die an ihm vorbeigezogen waren. Ich hielt daran fest, fokussierte mich darauf, wie der Strom zurück in Akils Körper floss, wie er seine Macht zurückerlangte und sie in mir verebbte. Ein Schauer rann durch mich hindurch und löste ein Ziehen in mir aus. Es wanderte von meinem Magen nach oben bis in meinen Kopf, wo es sich verdichtete. Der Jäger protestierte, er wollte nicht, dass ich das alles wieder losließ, aber ich musste. Meine Hand zitterte, ich hatte Mühe, das deutlich zu sehen, dennoch fuhr ich fort. Wir verschmolzen miteinander. Zwei Brüder. Verwandt im Geiste, nicht im Blute.

Für immer.

Plötzlich bäumte Akil sich auf, schnappte nach Luft und legte seine Hand um meine Kehle. Ich wehrte ihn nicht ab, kämpfte nicht gegen ihn. Wir starrten uns an. Mir wurde übel, meine Lebenskraft schien aus mir zu rinnen wie das Wasser aus einer Wanne, aus der der Stöpsel gezogen worden war.

»Du ...« Akil drückte fester zu. Ich blinzelte benommen, das Blut rauschte in meinem Schädel. Ich legte die Hand auf seinen Arm, bohrte meine Finger in seine Haut und versuchte, ihn nun doch von mir wegzuziehen. Es war zu viel. Viel zu viel.

»Akil ...«, keuchte ich.

Er schluckte hart, schüttelte sich, als ob er eine Trance loswerden musste.

Auf einmal riss er seine Hand weg und starrte mich entsetzt an. Ich taumelte nach hinten, verlor den Halt, weil ich keine Kraft mehr in meinem Körper hatte. Akil hatte alles von mir bekommen.

»Jay!«, rief Akil noch, aber ich hörte ihn kaum. Jemand entzog mir den Boden unter den Füßen, ich fiel, konnte es nicht mehr aufhalten.

»Hab ihn«, sagte Raphael, aber ich fühlte seine Hände nicht. Ich stürzte noch immer.

Tiefer und tiefer und tiefer, bis mich die Ohnmacht umarmte und mir ihre bleierne Schwere schenkte.

3. Kapitel

»Wo ist die verdammte Harfe?« Andrews Stimme hallte in Annas Kopf wider. Sie presste die Hände auf die Ohren, wollte ihn so gerne ausschließen, aber es gelang ihr nicht.

»Ich weiß es nicht!«

Er packte sie an den Haaren und zerrte sie so nahe an sich, dass sie den Alkohol in seinem Atem roch. Es war nicht gut, dass er getrunken hatte, dann verlor er noch schneller die Fassung.

»Du weißt es also nicht«, wiederholte er und legte seine Finger unter ihr Kinn. Sie waren schwielig vom vielen Training, das er mit seinen Männern absolvierte. Andrew wollte immer der Beste, der Schnellste, der Stärkste sein.

Sie schüttelte den Kopf, wohl wissend, dass ihr das nur weiteren Ärger einbrachte. Aber sie hatte wirklich keine Ahnung, sonst hätte sie es ihm längst gesagt und sich jede Menge Qualen erspart.

»Oh, meine schöne dumme Anna. Bist du denn nicht mein Eheweib?«

»Doch.« Ihre Stimme bebte, Tränen schossen ihr in die Augen. Wie gerne hätte sie sich von ihm befreit, aber er war dreimal so stark wie sie. Sie hatte noch nie eine Chance gegen ihn gehabt.

»Und ist es, als mein Weib, nicht deine Pflicht zu wissen, was hier im Schloss passiert?«

»Ja.«

»Solltest du nicht über meine Sachen wachen, als wären es die deinen? Hast du nicht geschworen, mir zu dienen und mich zu lieben?«

»Das habe ich.« Ihr Eid zur Hochzeit. Anna erinnerte sich an jedes verhängnisvolle Wort und die anschließende Tortur in der ersten Nacht.

»Und habe ich nicht ebenso geschworen, dir zu dienen?«

»Ja.«

»Ich bin da draußen, wache über unseren Hof, über unser Land, über unsere Leute. Ich riskiere mein Leben. Jeden Tag. Ich kämpfe, ich blute, ich sorge mich. Das alles, damit du sicher bist, damit jeder, der hier lebt, sicher ist.«

Sie presste die Lippen zusammen und nickte. Andrew wischte eine ihrer Tränen weg, tätschelte ihre Wange, wie bei einem Kind, das beruhigt werden musste. Er drehte ihr Kinn, sodass sie auf die Kammer blicken musste, die an ihr Schlafzimmer grenzte. Die Tür stand einen Spalt offen, normalerweise war der kleine Raum abgeschlossen.

»Dann erkläre mir doch bitte, was das soll.«

»Ich weiß es nicht.« Oder doch? Da war etwas am Rande ihres Bewusstseins. Eine Erinnerung, so tief begraben, dass sie kaum darankam. Aber etwas hallte in ihr beim Anblick der leeren Kammer nach.

»Du weißt es nicht ...« Andrew lachte. Es klang höhnisch und bitter. Er glaubte ihr kein Wort. Er warf sie vor sich auf den Boden, packte ihre Haare und zerrte sie mit sich. Anna schrie, hielt schützend ihre Hand auf ihren Skalp, um so den Zug zu verringern.

»Muss ich dir auf die Sprünge helfen, damit du dich erinnerst?«

»Nein.«

»Da!« Andrew schmiss sie nach vorne, sie knallte mit dem Bauch auf den Boden. »Was siehst du?«

Sie blickte hoch, die Tränen verschleierten ihre Sicht. »Da ist nichts.«

»Und was sollte da sein?«

»Die ... Die Harfe.« Natürlich wusste Anna von dem Instrument. Andrew hatte es von einer seiner vielen Reisen mitgebracht und hier verwahrt. Aber er hatte jedem verboten, die Kammer auch nur zu betreten, und was er befahl, das wurde befolgt. Immer.

»Ich frage mich, wo sie sein könnte, hast du eine Idee?«

»Nein.« Das hatte sie wirklich nicht. Sie hatte erst vor Kurzem eine Fehlgeburt gehabt und ihr Baby unter dem Magnolienbaum begraben. Kurz darauf war auch die Harfe verschwunden. Als hätte sie sich in Luft aufgelöst.

»Ich habe so dermaßen die Schnauze voll von deinen Lügen!« Er trat sie in die Seite. Anna rollte sich instinktiv zusammen, spannte die wenigen Muskeln an, die sie hatte. Der Tritt hallte durch ihren Körper, raubte ihr die Luft zum Atmen. Sie hustete, zwang sich gleichzeitig zur Ruhe. Es wurde nur schlimmer, je mehr Angst sie zeigte.

»Sag mir, wo die Harfe ist!«

»Ich weiß es doch nicht.«

Der nächste Tritt. Härter. Er wurde wütend. Anna hustete und spuckte dabei Blut aus. Sie rollte herum, robbte von Andrew weg, doch er stoppte sie, indem er ihr einen Fuß zwischen die Schulterblätter stellte und sie in den Boden drückte. Anna keuchte, stemmte sich gegen ihn. Er lehnte sich mit seinem gesamten Gewicht darauf. Sie atmete, so flach es ging, versuchte, Sauerstoff in ihre Lunge zu pumpen. Ihre Sicht verschwamm. Ihre Rippen schmerzten. Sie hörte, wie er die Gürtelschnalle öffnete, das Leder durch die Riemen zog. Anna schloss die Augen, machte sich auf die Hiebe bereit.

Doch sie kamen nicht.

Stattdessen warf er den Gürtel neben sie und beugte sich tiefer über ihren Körper, bis er sie komplett beschwerte. Er pustete ihr ins Ohr, ganz sachte. Sie zuckte vor Schreck zusammen.

»Nicht doch, Liebes. Du musst keine Angst vor mir haben.«