Die Chroniken der Seelenwächter - Band 23: Der Weg in die Hölle - Nicole Böhm - E-Book

Die Chroniken der Seelenwächter - Band 23: Der Weg in die Hölle E-Book

Nicole Böhm

5,0

Beschreibung

Jess hat endlich einen großen Teil ihrer Vergangenheit enträtselt: Sie weiß nun, wo ihre Mutter ist. Gemeinsam mit Jaydee sucht sie nach einem Weg, Cassandra zurückzuholen – doch dies wird schwerer, als sie angenommen hatte. Akil und Ben versuchen die Menschen in Sicherheit zu bringen, die er zuvor durch die Visionen gerettet hat. Die beiden lassen sich auf ein wagemutiges Abenteuer ein, das sie mit Gegnern konfrontiert, wie sie sie noch nie erlebt hatten. Ihre Feinde sind bereit alles zu opfern, um den Sieg zu erlangen. Sogar ihr eigenes Leben. Dies ist der 23. Roman aus der Reihe "Die Chroniken der Seelenwächter". Empfohlene Lesereihenfolge: Bände 1-12 (Staffel 1) Die Archive der Seelenwächter 1 (Spin-Off) Bände 13-24 (Staffel 2) Die Archive der Seelenwächter 2 (Spin-Off) Bände 25-36 (Staffel 3) Bände 37-40 (Staffel 4) Das schwarze Element (die neue Reihe im Seelenwächteruniversum) Bände 1-7

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Seitenzahl: 183

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Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel3

2. Kapitel17

3. Kapitel28

4. Kapitel33

5. Kapitel44

6. Kapitel48

7. Kapitel62

8. Kapitel66

9. Kapitel75

10. Kapitel82

11. Kapitel88

12. Kapitel94

13. Kapitel101

14. Kapitel113

Die Lesereihenfolge von der Serie »Die Chroniken der Seelenwächter«123

Die Fortsetzung der Seelenwächter:124

Impressum125

Die Chroniken der Seelenwächter

Der Weg in die Hölle

Von Nicole Böhm

1. Kapitel

Jessamine

»Cassandra ist in einer Hölle. Sprichwörtlich. Und das hier ist nur der Vorhof.«

Katarinas Worte hämmerten in meinen Ohren. Sie sickerten in meinen Kopf und breiteten sich dort wie eine Giftwolke aus, die alles Gute und Schöne, alle Hoffnung und alle Liebe aus mir saugte und zunichtemachte.

Meine Mutter ist in einer Hölle. Sie ist in einer Hölle. Sie ist ...

Ich schnappte nach Luft, kämpfte mit aller Macht die Tränen hinunter, denn ich wollte nicht heulen.

Nicht hier.

Nicht jetzt.

Nur leider sah mein Herz das ganz anders. Es zog sich derart schmerzhaft zusammen, dass ich es nur noch als einzigen großen Klumpen in meiner Brust fühlte. Ich war mir nicht einmal sicher, ob es überhaupt noch Blut durch meine Adern pumpte oder stattdessen das Gift aus Katarinas Worten.

Worte, nach denen ich mich gesehnt hatte.

Worte, die ich hatte hören müssen. Wollen.

Worte, die mich zerhackten und zerstörten, mehr noch als es Jaydees Fäuste je gekonnt hätten.

Nach acht elenden Jahren wusste ich endlich, was mit meiner Mutter passiert war. Ich hatte Gewissheit. Doch statt der erhofften Erleichterung breitete sich die pure Verzweiflung in mir aus. Sie brodelte durch meine Zellen, bereit, mich jeden Moment zu zerreißen.

Ich blickte mich um. Sophias Gestalt waberte nach wie vor über dem Symbol der Seelenwächter. Sie sah mich voller Mitgefühl an, genau wie Jaydee. Er trat näher zu mir, aus dem Augenwinkel bemerkte ich seine Finger dicht vor meinem Kopf. Er wollte mich anfassen, mich berühren, mich trösten, auch wenn es gar keinen Trost gab. Katarina hatte die Worte gesprochen, und sie ließen sich nicht mehr zurücknehmen. Sie waren zu einer Tatsache geworden.

So viele Jahre, so viel Hoffnung, so viel Glaube. In meinen Fantasien hatte ich Mum meist irgendwo an einem weiten Strand gesehen. Sie war in ein fremdes Land gereist, hatte sich dort niedergelassen und nie jemandem erzählt, wer sie war. Sie lebte in einer kleinen Hütte, ganz nah am Meer, und jeden Morgen trat sie hinaus, inhalierte die frische Seeluft und dachte an ihre Tochter, die Tausende von Kilometern entfernt in Kanada nach ihr suchte. So oft hatte ich probiert, mir einen Reim auf alles zu machen, ich hatte gehofft, dass sie einen guten Grund gehabt hatte, mich zu verlassen, dass sie keine andere Wahl gehabt hatte, so wie es in Filmen häufig vorkam.

Ich hätte ihr verziehen! Sie hätte nur zurückkommen und mich in die Arme schließen müssen, und dann hätte ich alles vergessen, was ich in den Jahren ihretwegen erduldet hatte.

»Sie ist in einer Hölle.« Je öfter ich es sagte, umso schlimmer wurde es, als würden die Worte nur noch mehr Gewicht erlangen. »Jaydee.«

»Ganz ruhig.« Er sah mich durchdringend an. Seine silbergrauen Augen ruhten fest auf meinen, ich fühlte die Glocke, die sich langsam um uns zog; er wollte mich schützen, alles Schlechte und Grausame, das dieser Ort für uns bereitgehalten hatte, von mir abschirmen, aber das würde er nicht können. Es war nicht seine Aufgabe, mich wegzusperren, genauso wenig wie ich mich nun verkriechen durfte. Ich musste Mum finden. Für sie. Und für mich.

»Wie können wir sie von dort wegholen?«, fragte ich Katarina. »Und wie genau muss ich mir diese Welt überhaupt vorstellen?«

»Das kann ich dir nicht beantworten.« Sie blickte zu Sophia, als ob sie die Antwort darauf geben konnte.

Der Engel atmete tief ein und ließ die Luft mit einem Seufzen wieder aus. »Die vier Welten sind unserer nicht unähnlich. Dort existieren ein Himmel, eine Erde, Luft zum Atmen; Nahrung, wenn man sie findet. Aber es ist ein Land voller Dürre und Pein, je nachdem, um welche Welt es sich handelt.«

»Also könnte Mum dort theoretisch überleben? Sie kann dort Essen finden, schlafen, existieren?«

»Theoretisch. Ud-dáva ist ein Raum zwischen den Gedanken, eine Welt voller Schmerzen und gleichzeitig voller Freuden. Sie ist Wonne und Qual. Genuss und Kummer. Ud-dáva ist die Gauklerin unter den vier Welten.«

»Sie ist nicht die schlimmste von allen?«

»Nein, gewiss nicht.« Sophia setzte erneut zum Sprechen an, doch sie behielt ihre Worte für sich.

»Was?«, fragte ich und trat näher. »Was gibt es noch darüber?«

»Du solltest deine Seele nicht damit belasten.«

»Bitte, sag es mir!« Ich musste es wissen, sonst würde mein Verstand ein Schreckensszenario nach dem nächsten aufbauen.

»Ich ...«

»Rede!«, sagte nun auch Jaydee. »Es ist wichtig für sie. Für uns.«

Sophia nickte traurig und senkte den Kopf. Sie sprach so leise, dass ich sie kaum verstand: »Ud-dáva frisst den menschlichen Geist. Sie nährt sich von den Gedanken, die die Menschen je dachten, so lange, bis alles vergessen ist.«

Großer Gott. Ich schlug die Hand vor den Mund. Was hatte Mum da getan?

»Immer weiteratmen«, sagte Jaydee leise und trat dichter an mich heran. Ich wollte mich so gerne an ihn lehnen, ich brauchte seinen Arm um mich, seine Wärme, seine Nähe, seinen Geruch.

»Noch etwas?«, fragte ich zaghaft, dabei wollte ich es gar nicht hören. Ich konnte nicht noch mehr ertragen, und gleichzeitig musste ich es.

»Wenn deine Mutter stark genug ist, kann sie dort überleben, aber es gibt natürlich keine Garantie.«

Mir wurde speiübel bei Sophias Worten.

Als Katarina enthüllt hatte, wo Mum war, war mir klar gewesen, dass es nicht gut war. Aber das? Ein Ort, der den menschlichen Geist frisst? Selbst wenn sie das überlebt hatte: Wie viel war noch von meiner Mutter übrig? Wie viel Cassandra? Ich drehte mich zu Katarina und funkelte sie an.

»Wie konntest du nur?«, zischte ich. »Wie konntest du ihr diesen Zauber überlassen? Wie konntest du zulassen, dass Mum sich selbst und mir so etwas antut? Wie konntest du mein Leben zerstören?«

»Ich habe nicht gewusst, was genau in Ud-dáva passiert, und ich hatte keine andere Möglichkeit, ihr zu helfen.«

»Das ist doch Mistkram!«, brüllte ich. »Du hättest sie überall hinschicken können, ihr jeden anderen Zauber überreichen können, aber in eine Höllendimension?!«

»Es tut mir leid, ich kannte keinen anderen Weg.« Katarina wich einen Schritt zurück und hob die Hände. Es war erstaunlich, wie viel weicher sie in ihrer menschlichen Gestalt wirkte, wie viel netter. Sie wollte sich nicht mit uns anlegen. Sie war des Kämpfens müde, ich genauso, aber ich spürte die Wut in mir hochkochen. Sie rumorte ganz tief in meinen Eingeweiden. Sie wollte raus. Nur raus und irgendetwas zerstören, in Stücke hacken, ich ... Ich schloss die Augen und konzentrierte mich auf meinen Atem. Das war Jaydees Weg. Er schlug zu, ich nicht. Ich war nicht so.

»Wie können wir sie retten?«, fragte ich mit noch immer geschlossenen Augen.

»Jemand muss zu ihr und ihr den Weg weisen«, antwortete Katarina leise. »Denn sie hat mittlerweile vergessen, wer sie ist.«

»Wie?«, fragte Jaydee. »Wie gelangt man dorthin?«

Man ... Mir war klar, dass er damit sich selbst meinte, denn so war er. Jaydee würde alles daransetzen, meine Mutter von diesem Ort zurückzuholen, aber ich konnte nicht verantworten, ihn das allein machen zu lassen.

»Ich kann dir das nicht erzählen«, sagte Katarina.

»Können oder wollen?«

»Du verstehst nicht, was hier auf dem Spiel steht.« Katarina sah Sophia eindringlich an. Der Engel hatte eine ganze Weile geschwiegen und uns nur beobachtet. Nun fochten die beiden einen stummen Dialog aus, den wir anderen definitiv nicht nachvollziehen konnten.

»Es ist ein Dilemma«, sagte Sophia schließlich. »Auf der einen Seite brauchst du deine Gabe wieder, um Jaydee zu ankern, auf der anderen läufst du Gefahr, Lilija zu befreien.«

»Vielleicht solltet ihr endlich alle aufhören, über meinen Kopf zu entscheiden und mich bestimmen lassen, was mit mir passiert«, sagte ich. »Abgesehen davon: Wäre es wirklich so schrecklich, wenn Lilija freikommt?« Natürlich war mir klar, dass sie Jaydee für ihre Zwecke benutzen wollte – und das durfte auf keinen Fall passieren; aber was wäre so gefährlich daran, wenn die vier Elemente vereint waren? Wenn die Seelenwächter auf alle Fähigkeiten zugreifen konnten, statt jeweils nur auf eine. Sophia straffte die Schultern, ein trüber Schleier zog über ihr Gesicht, sie schloss die Augen, als müsste sie in alten Erinnerungen kramen, um diese Frage zu beantworten.

»Ja«, antwortete sie ganz leise. »Lilija war besessen von ihren eigenen Wünschen, von ihren Plänen, doch sie sah nicht, dass sie damit die Gesetze der Natur ausgehebelt hätte.«

»Aber das muss sie doch erkannt haben«, sagte ich. »Wenn sie die Natur vernichtet, vernichtet sie auch sich selbst. Das ergibt keinen Sinn. Sie lebt auch in dieser Welt, warum sollte sie dann das Chaos ausbrechen lassen?«

»Ihr ahnt nicht, was alles in ihrem Geschöpf schlummert.«

In Jaydee.

Mir lief es eiskalt den Rücken hinunter, denn der Unterton in Sophias Stimme war so voller Ehrfurcht und Respekt, dass ich mich fragte, was einen ehemaligen Engel wohl noch beeindrucken konnte. Was war Jaydee wirklich, wenn er erst vollkommen entfesselt wurde?

Er presste die Kiefer aufeinander, bis die Sehnen an seinen Wangen scharf hervortraten. Seit er aus dem Feuer zurückgekehrt war, war er eindeutig mächtiger. Er hatte neue Fähigkeiten entwickelt, die ich sogar verstärken konnte. Ein wenig machte er mir tatsächlich auch Angst, aber vielleicht mussten wir uns alle erst daran gewöhnen.

»Also ist nicht Lilija so gefährlich, sondern eigentlich Jaydee?« Er zuckte zusammen bei meinen Worten, es sollte nicht so hart klingen, wie es herüberkam.

»Ich bin immer noch ich«, sagte er. »Und ich werde mich gewiss nicht diesem Miststück beugen, sollte es je ausbrechen.«

»Du wirst keine Wahl haben«, sagte Sophia. »Solange eure Verbindung besteht, bist du ihr Diener.«

Jaydee schnaubte. »Die wir ja lösen würden, wenn wir Jess‘ Gabe zurückhätten, verflucht noch mal!«

»Wir drehen uns im Kreis«, sagte ich, denn es war so. Ich brauchte meine Gabe, um Jaydee zu ankern, und gleichzeitig konnte ich dadurch Lilija befreien und das Chaos erst lostreten. Egal, wie herum wir die ganze Sache betrachteten: Wir stießen in jeder Richtung gegen eine Wand.

»Wir holen Cassandra zurück«, sagte Jaydee. »Und danach werden wir alles tun, um Jess vor Coco zu beschützen. Sie muss nicht zu ihrem Instrument werden. Sie hat immerhin uns an ihrer Seite.«

Die Seelenwächter. Eine Unterstützung, die Mum sicherlich gut hätte brauchen können.

»Danke«, sagte ich leise, doch er ging nicht darauf ein.

»Was müssen wir tun, damit Jess dann ihre Gabe wiedererhält? Brauchen wir ein Ritual?«

»Cassandra hat von mir ein Gefäß bekommen«, sagte Katarina. »Die Gabe ist dortdrinnen aufbewahrt. Ihr müsst sie nur öffnen, und der getrennte Seelenanteil wird zu Jess zurückfinden.«

Ich fuhr über mein Herz und schluckte.

»Gut«, sagte Jaydee. »Wie können wir nach Ud-dáva?«

Katarina seufzte lange und tief. »Um die Pforte zu öffnen, müsst ihr sehr große Energien heraufbeschwören. Was Cassandra getan hat, könnt ihr nicht wiederholen. So leid es mir tut, aber ich sehe keine Chance. Cassandra hat dir einen Teil deiner Seele genommen: deine Gabe. Es war alles Bestandteil des Rituals, das ich ihr gegeben habe. Um erneut diese Mächte zu entfesseln, bräuchtet ihr wieder eine Nachfahrin mit dieser Fähigkeit. Ihr müsstet wieder in ihre Seele eingreifen, wieder die Gabe entfernen und so weiter.«

Und außer mir gab es nur noch Anna, aber die besaß ihr Talent schon lange nicht mehr. Selbst wenn es so gewesen wäre: Es wäre nicht infrage gekommen. Wir hatten ja auch keine Ahnung, was solche Magie mit einer Seelenwächterin machen würde.

Jaydee wandte sich an Sophia. »Wenn du die Welten erschaffen hast, kannst du uns auch einen Weg öffnen, oder?«

»Ich bin schon lange nicht mehr so mächtig, wie ich es einst war. Ich lebe nur noch in den Archiven, das Errichten der Welten hat all meine Kräfte gekostet. Als ich dann menschlich wurde, hatte ich viel mit der Umstellung zu kämpfen. Ilai und vor allen Dingen Nadira halfen mir. Sie ... Sie nahm mir einen Teil meiner Vergangenheit.«

»Sie hat deine Erinnerungen entzogen?«, fragte Jaydee.

Sophia nickte. »Ich wäre fast durchgedreht in dem Wissen, was ich aufgegeben habe, das Vergessen linderte meinen Schmerz. Und dann natürlich Leander. Mein Ehemann.«

»Was ist mit Nadira passiert? Ilai sagte mir nur, dass sie und auch Jason verloren gegangen seien.«

Und was Jason getan hatte, wussten wir mittlerweile – dass er den Ring an sich genommen hatte. Nadira war die vierte Seelenwächterin, die neben Ilai, Lilija und Jason von Damia erschaffen worden war.

»Diese Frage kann ich dir ebenfalls nicht beantworten«, sagte Sophia. »Als ich in die Archive ging, war sie noch bei den Seelenwächtern.«

Jaydee brummte und ging ein paar Schritte. »Wo ist das Gefängnis von Lilija? Also, an welchem Ort? Wo habt ihr es aufgebaut? Womöglich finden wir dort mehr Informationen.«

Ich war mir für einen Moment nicht sicher, ob er dahin wollte, um mehr über die vier Welten herauszufinden oder um näher an Lilija zu sein. Vielleicht erhoffte er sich kluge Erkenntnisse daraus?

Sophia zuckte mit den Schultern. »Ich ...«

Jaydee fluchte und kickte einen kleinen Stein weg, der in zehn Metern gegen eine Wand krachte.

»Es tut mir leid«, fuhr Sophia fort. »Ich würde, wenn ich könnte, aber auch dies entfernte Nadira aus meinen Erinnerungen.«

»Weißt du es?«, fragte er Katarina, doch sie schüttelte ebenfalls den Kopf.

»Warte mal! Ilai hat etwas dazu aufgeschrieben«, sagte ich. »Will hat seine Notizen untersucht, und es fehlten einige Seiten.«

»Daran erinnere ich mich«, sagte Katarina. »Cem hatte mir davon erzählt, also, wenn er gerade klar im Kopf gewesen ist. Er hatte, gemeinsam mit Ilai, damals viel über die vier Welten notiert. Als er später immer tiefer in den Wahn verfiel, wollte er vernichten, was mit ihnen zusammenhing, auch Ilais Aufzeichnungen. Er konnte gerade noch verhindern, dass Cem alles zerstörte.«

»Erzähl mir mehr von Cem«, sagte Jaydee. »Wie war er gewesen?«

»Besessen. Anders kann ich ihn nicht beschreiben. Nachdem er mein Dorf niedergemetzelt hatte, sperrte er mich ein. Jede Nacht musste ich für ihn singen oder tanzen. Immer wieder. Es half ihm, klar in seinem Kopf zu werden und die Schleier zu lichten, die sein Denken trübten. Irgendwann erkannte ich, dass er mit dem Dolch verbunden war. Er saß oft draußen im Garten und strich zärtlich über die Klinge, als würde er eine Frau liebkosen. Wenn ich ihn darauf ansprach, wich er aus, er hütete diese Waffe wie sein eigenes Fleisch.«

Ich blickte zu dem Dolch, der noch immer im Zentrum der liegenden Achten steckte. Die Klinge vibrierte leicht. Sophia hatte gesagt, sie konnte dem Druck nicht ewig standhalten, und sobald er gelöst war, kehrte hier das Chaos zurück.

»Also hast du ihn damit ermordet«, sagte Jaydee.

»Ja. Ich konnte nicht mehr anders. Ich wollte nicht länger seine Gefangene sein. Was ich allerdings nicht wusste: Cem war verloren in der Magie des Dolches und in der Welt, die er symbolisierte: Ud-dáva. Sie hatte ihn alles vergessen lassen, was er je gewesen war, denn genau das ist es, worauf sie aufbaut. Ich hatte keine Ahnung, dass sie mich genauso beeinflussen sollte. Ich verließ Cems Heim und floh weit weg. Aus Carina wurde Katarina. Ich fand eine Anstellung am Hofe von Ancus, aber schon bald wurde seine Frau misstrauisch mir gegenüber. Vielleicht spürte sie die dunkle Energie, die mich begleitete, denn der Dolch war seither mein treuer Gefährte gewesen.«

»Warte mal«, sagte Jaydee und drehte sich zu Sophia: »Du meintest doch, dass ihr die Sachen Cem wieder abgenommen habt. Warum hat er den Dolch noch besessen?«

Das stimmte. Sophia hatte uns erklärt, dass sie die vier Gegenstände aufgeteilt hatten. An Jason, Izad und sie. Aber sie hatte nicht erwähnt, was mit dem Dolch geschehen war.

»Cem wollte ihn nicht herausrücken. Ich wurde zu der Zeit bereits an die Archive gebunden und habe nichts mehr davon mitbekommen, aber einige Seelenwächter verfolgten ihn, um ihm die Waffe zu entreißen.«

»Einer von ihnen war Markus gewesen«, sagte Katarina.

»Dein Erschaffer«, sagte Jaydee.

Markus war das Oberhaupt einer Seelenwächterfamilie und hatte hier auf dem Anwesen in Sizilien gelebt.

»Wir nahmen den Dolch bei uns in Verwahrung. Ich wurde eine von ihnen. Markus, Nell, Olivia. Wir lebten hier glücklich. Wir kämpften, wir töteten Dämonen, und wir erkannten zu spät, dass der Dolch immer noch Macht über mich hatte. Ich verlor mich jeden Tag ein Stückchen mehr, und ich zog meine Familie mit in den Abgrund. Irgendwann stand ich selbst an der Schwelle des Wahnsinns, genau wie Cem einst. Markus sah die Veränderung in mir und begriff, dass der Dolch gebannt werden musste. Und so opferten wir alles dafür. Wir nutzten unser Anwesen als Zentrum des Zaubers, Markus band die Energie des Dolches in diese Wände, und der Rest meiner Familie gab ihr Leben; ihre Seelen. Sie verschmolzen miteinander und wurden zu dem, das ihr als Horatio kennengelernt habt.«

»Was?«, sagte ich. »Markus ist Horatio?«

»Genau wie Nell und Olivia. Ihre Seelen vereinen sich in ihm.«

»Daher konnte er sich auch aufteilen«, sagte ich. Als ich vorhin mit Horatio gekämpft hatte, war er auf einmal doppelt vorhanden gewesen.

»Kannst du deshalb auch Magie wirken?«, fragte Jaydee. »Weil du durch die Verbindung Zugriff auf die anderen Elemente hast?«

»Ja, das Theater ist unsere Scheinwelt. Es hilft uns, einen Teil von uns selbst zu bewahren, ansonsten hätte ich mich sicherlich komplett vergessen. Seither leben wir jeden Tag mit der Bürde, die der Dolch uns auferlegt hat.«

»Bis du ihn meiner Mutter gegeben hast.«

»Und dennoch ist seine Macht über mich nicht gebannt. Das wird erst geschehen, sobald du mich damit ermordest.«

So wie sie Cem getötet hatte ... Zum Glück hatte ich bei unserem ersten Besuch im Theater Jaydees Dolch verwendet und nicht meinen, um Ashriel zu köpfen. Diese Waffe besaß mehr Kraft, als uns allen klar war. »Werde ich deshalb nicht von ihr beeinflusst so wie du, weil du noch an sie gebunden bist?«

»Solange ich und all das hier existieren, bist du sicher.« Katarina blickte zu mir. Ihre braunen Augen wirkten so menschlich und beruhigend, dass ich Gänsehaut bekam. Kaum zu glauben, dass sie sich vor Kurzem erst in aggressive Bestien verwandelt hatte. Was mich daran erinnerte, dass sie auch noch die Stimmgabel besaß. Sie hatte sie vorhin heruntergeschluckt.

Auf einmal ging ein dunkles Grollen durch die Erde. Ich sah mich verwirrt um. Der Dolch wackelte bedrohlich, Sophias Gestalt flackerte.

»Er wird nicht mehr lange halten«, sagte sie.

»Also gut«, sagte Jaydee. »Du hast schon einmal ein Ritual erschaffen, dass die Pforte nach Ud-dáva öffnete. Was könnte uns noch helfen? Es muss eine Alternative geben. Was ist mit diesem Angler? Jess erzählte, dass er Cassandra auf sein Boot mitgenommen hat. Können wir den kontaktieren?«

»Was ihr den Angler nennt, ist das Bindeglied zwischen den Welten«, erklärte Katarina. »Wie eine Art Fremdenführer. Er ist pure Energie und kann mit einem Fuß in unsere Realität kommen, genauso wie er die vier Welten betreten kann.«

»Okay, und wie rufen wir diesen Knilch?«

Katarina holte tief Luft. »Ich weiß es nicht, er kam, weil Cassandra die entsprechenden Mächte gebündelt hatte.«

Ich sah zu Sophia, doch sie schüttelte ebenfalls den Kopf.

»Warum will er meinen Jadestein?«, fragte Jaydee. »Und vor allen Dingen: Wie kam Cassandra damals an den Stein heran?«

»Sie hat ihn dir weggenommen.«

»Hat sie gewiss nicht!«, sagte Jaydee.

»Du kannst dich nur nicht erinnern, Silberjunge.«

Und das war mehr als ungewöhnlich. Er vergaß nie etwas.

»Es geschah kurz vor dem Brand in der Kirche. Ich hatte Cassandra eine Tinktur gemischt, die sie dir ins Gesicht sprühen musste. Danach würdest du alles vergessen.«

»Das hat sie ganz sicher nicht, ich ... An so etwas hätte ich mich erinnert.«

Katarina lachte leise. »Meine Mittel sind sehr wirksam. Sie tauschte den Stein gegen das Duplikat, und du hast nie davon erfahren. Meine Kopie war so konstruiert, dass sie – sobald sie mit dem Original zusammenkam – die Form übernahm und so eine perfekte Abbildung darstellte. Er war wie echt.«

»Unglaublich«, sagte ich.

Jaydee griff an seinen Stein und zog ihn durch die Finger. »Warum will der Angler ihn haben?«

»Sophia hat ein wahres Meisterwerk vollbracht, als sie die vier Welten geschaffen und sie an das Gefängnis von Lilija gebunden hat. Die Mauern sind aus Jade konstruiert, der Stein trägt einen Teil dieser ganzen Energie in sich, und dem Angler wiederum gefällt das. Er kann davon zehren, sich ernähren – wie auch immer ihr es bezeichnen mögt. Gebt ihm etwas Vergleichbares, und er wird euer Diener sein.«

»Müssen wir, um nach Ud-dáva zu kommen, wieder über den See?«

»Du kannst auch ein anderes Element wählen. Cassandra hat den See genommen, weil er ein guter Kraftplatz ist. Sie war emotional sehr mit ihm verbunden, genau wie Jess.«

Jetzt nicht mehr. Ich wollte das ergänzen, doch Jaydee schüttelte den Kopf.

»Wenn wir ...«

Plötzlich kehrte das Beben wieder. Der Dolch erstrahlte in einem grellen Lichtblitz, Sophia riss die Hände hoch, wie um sich zu schützen, doch ihre Gestalt flackerte bereits.

»Ihr müsst zusammenhalten«, sagte sie. »Jess: Folge deiner Bestimmung, vertraue deinem Herzen und ...« Der Rest ging im Grollen unter. Sie rief noch einmal meinen Namen – und dann war sie weg.

»Der Dolch hält nicht länger stand«, sagte Katarina und wich langsam davor zurück. »Sobald er den Bann unterbricht und alles zum Alten wird, werde ich mich nicht mehr bremsen können. Ich werde mich zurückverwandeln und euch mit mir ins Theater nach New York ziehen. Ich werde wieder zu Ashriel und euch nicht mehr gehen lassen. Ihr müsst vorher verschwinden.«

»Wie?«, fragte Jaydee. »Wie kommen wir zurück. Du hast die Stimmgabel.«

Katarina fuhr sich über den Magen. »Ja, wenn ich ...« Sämtliche Farbe wich aus ihrem Gesicht, sie zitterte, verzog ihre Miene vor Schmerzen. »Ich ...« Sie kippte vornüber und stürzte auf die Knie.

Jaydee fluchte, half ihr auf, doch ihre Hände verwandelten sich bereits in Klauen und bohrten sich tief in seine Muskeln.

»Wie kommen wir zurück?«, fragte er erneut – doch es war zu spät.