Die Chroniken der Seelenwächter - Band 36: Die Suche endet - Nicole Böhm - E-Book

Die Chroniken der Seelenwächter - Band 36: Die Suche endet E-Book

Nicole Böhm

5,0

Beschreibung

Marysol hat sich gezeigt. Nach und nach erfährt Jess, wer von den Seelenwächtern für sie und somit auch für Lilija kämpft. Der Schock darüber sitzt tief, doch sie wehrt sich weiter und versucht sich gegen die alten Mächte der Seelenwächter zu stellen. Wird sie stark genug sein, um sich zu entziehen? Jaydee leidet ebenfalls und kann sich kaum noch gegen den Schmerz stemmen, der ihm zugefügt wird. Sein Geist bricht zum ersten Mal. Er muss die Entscheidung treffen, ob er Lilija folgen will oder nicht. Es kommt zum Showdown der Mächte. Wer wird siegen? Dies ist der 36. Roman aus der Reihe "Die Chroniken der Seelenwächter". Empfohlene Lesereihenfolge: Bände 1-12 (Staffel 1) Die Archive der Seelenwächter 1 (Spin-Off) Bände 13-24 (Staffel 2) Die Archive der Seelenwächter 2 (Spin-Off) Bände 25-36 (Staffel 3) Bände 37-40 (Staffel 4) Das schwarze Element (die neue Reihe im Seelenwächteruniversum) Bände 1-7

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Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel4

2. Kapitel16

3. Kapitel26

4. Kapitel29

5. Kapitel39

6. Kapitel45

7. Kapitel55

8. Kapitel65

9. Kapitel76

10. Kapitel97

11. Kapitel116

12. Kapitel129

13. Kapitel137

14. Kapitel140

15. Kapitel157

16. Kapitel167

17. Kapitel172

18. Kapitel179

19. Kapitel187

20. Kapitel196

21. Kapitel201

22. Kapitel208

23. Kapitel216

24. Kapitel232

25. Kapitel246

26. Kapitel253

27. Kapitel259

28. Kapitel265

29. Kapitel271

30. Kapitel280

31. Kapitel291

32. Kapitel301

Die Lesereihenfolge von der Serie »Die Chroniken der Seelenwächter«315

Die Fortsetzung der Seelenwächter:316

Impressum317

Die Chroniken der Seelenwächter

Die Suche endet

Von Nicole Böhm

1. Kapitel

Jessamine

»Es kommt, wie es kommen muss. Ihr könnt nichts mehr dagegen tun. Gar nichts.«

Marysol war so dicht bei mir, dass sich ihr Körper fast mit meinem verband. Ich wusste nicht genau, wo sie anfing und ich aufhörte. Wir waren aneinandergekettet, was auf der einen Seite unangenehm, auf der anderen beruhigend war, denn sie hielt mich wirklich fest und verhinderte, dass ich mich in dieser Vision verlor.

Und sie war intensiv.

Der Wind rauschte eisig um meine Ohren, rings um mich gab es nur Schnee, so weit das Auge blicken konnte. Einzig das kleine Lagerfeuer und die Felsnische, in der Ikarius Schutz gesucht hatte, boten mir einen Fixpunkt. Er hatte uns natürlich längst bemerkt und sich aufgerichtet. Seine kühlen Augen musterten uns voller Entsetzen.

»Wir haben dir vertraut«, sagte ich zu Marysol. »Wir alle.«

»Ich weiß. Schrecklich, nicht wahr?«

Mein Herz zog sich vor Schmerz zusammen. Ich konnte nicht fassen, dass Marysol wirklich dazu in der Lage war, uns zu hintergehen; dass sie ihre Freunde, ihre Familie, die Menschen, denen sie in den letzten Wochen und Monaten so sehr geholfen hatte, verraten würde.

Doch es entsprach der Wahrheit.

Sie hatte es getan.

Alles an ihr schrie nach Verrat, genau wie bei Derek.

»Ich bin kein bisschen wie er«, zischte sie. »Derek war nur auf seinen Vorteil aus, er hat uns hintergangen und in große Gefahr gestürzt, als er Ananka half, Kedos zu entfesseln. Er war ein Narr. Wir hingegen werden die Welt retten!«

Sie hört also meine Gedanken, interessant.

»Natürlich höre ich sie. Ich bin Luft. Ich bin überall.«

»Jessamine«, erklang Ikarius‘ besorgte Stimme in meinem Kopf. »Was tust du?«

»Ich kann nichts dafür. Sie zwingt mich.« Ich deutete auf Marysol und hätte mir gewünscht, Ikarius mit der Kraft meiner Gedanken alles erklären zu können.

»Ich übernehme das«, sagte Marysol und hob eine Hand. Ikarius zuckte zusammen, als hätte ihn etwas Heftiges getroffen. Er reckte das Kinn und schauderte. Sein Gesicht wurde blasser. Er spannte die Schultern, sah Hilfe suchend nach rechts und links. Sein Blick blieb an dem Bogen hängen, der neben seinem Feuer ruhte.

»Waffen werden dir nichts nutzen«, sagte Marysol. »Es tut mir leid, dass es so kommt, ich brauche nur die Harfe.«

Ikarius zog die Augenbrauen zusammen und schüttelte den Kopf. Er wich einen Schritt zurück, hob nun ebenfalls eine Hand, als könnte er so abwehren, was auf ihn zurollte. »Das kann ich nicht zulassen.«

»Es wird dennoch geschehen«, sagte Marysol und zog mich näher zu ihm.

Der Nebel erschien wieder um mich herum, genau wie die Risse, die alles aufspalteten und mich normalerweise davonzogen. Ich spürte, wie der Dunst nach meinem Innersten griff und mich zu sich holen wollte, aber Marysol hielt Wort und ankerte mich bei sich.

»Wir haben nicht viel Zeit, mein Freund«, sagte Marysol zu Ikarius.

»Das ist eine Vision«, sagte Ikarius und blickte sich um. »Es ist nicht real. Ihr seid nicht wirklich hier.«

»Noch nicht«, sagte Marysol.

Wir kamen näher auf das Lager zu, ich blickte mich automatisch nach der Harfe um. Es war wie ein Urinstinkt, gegen den ich mich nicht wehren konnte. Meine Zellen sehnten sich nach ihr, so wie sich ein Lebewesen nach Sonne oder ein Durstiger nach Wasser sehnte. Ich brauchte sie. Ich brauchte die Magie darin.

»Du sollst sie bekommen, sie ist ganz allein für dich bestimmt«, sagte Marysol. »Aber erst muss ich herausfinden, wo sie steckt.«

»Auf keinen Fall«, sagte Ikarius und griff nun doch seinen Bogen. Als seine Finger den Schaft umschlossen, schrie er jedoch auf und fasste sich an die Stirn.

»Es muss nicht schmerzhaft für dich sein«, sagte Marysol.

Wir standen jetzt fast vor ihm. Er krümmte sich zusammen, schlug blindlings um sich und versuchte sich gegen Marysols Einfluss zu wehren. Sie riss die Arme hoch und ließ sie dann hinunterschnellen. Ikarius schrie erneut, fuhr herum und wollte flüchten, doch Marysol packte ihn von hinten am Kragen und zerrte ihn rücklings zu Boden. Das Ganze vollführte sie, ohne mich auch nur einen Millimeter loszulassen. Sie war überall, als hätte sie ihren Körper und ihre Persönlichkeit ausgedehnt und in jeden Winkel dieser Vision gesteckt. Ich hatte keine Ahnung, wie sie ihn überhaupt anfassen konnte, denn bisher hatten die Visionen sich eher auf der geistigen Ebene vollzogen, aber Marysol nutzte irgendwie meine Verbindung zu Ikarius, um ihn anzugreifen.

Er stürzte wie ein gefällter Baum. Er keuchte erstickt, fasste sich an die Brust und presste die Lippen zusammen. Sein Blick fand meinen, er kniff die Augen zu und ich hörte seine Stimme in meinem Kopf.

»Wehr dich!«

Ich hielt die Luft an, der Nebel waberte stärker um mich herum und kroch an meinen Beinen hinauf. Wenn ich mich gegen Marysol stemmte, könnte ich mich verlieren. Ich könnte in die Tiefen der Vision stürzen, wieder von einer zur nächsten springen und möglicherweise nie mehr zurückfinden.

»Ich hole dich wieder, aber du musst kämpfen!«

»Seid nicht dumm!«, blaffte Marysol. Ich sah Ikarius mitleidig an, doch seine Entschlossenheit wich nicht von ihm. Er wollte kämpfen, er wollte weitermachen, bis es nichts mehr von ihm gab, das kämpfen konnte.

Ich schloss die Augen, nickte nur ganz kurz. Der Nebel waberte stärker und erfasste mich intensiver. Ich hielt die Luft an, fing an herumzappeln.

»Hör doch auf damit«, sagte Marysol. »Du wirst dich verlieren!«

»Dann soll es so sein«, gab ich zurück. Vielleicht wäre es sowieso besser in Visionen zu stürzen, als Marysol zu dienen.

»Sei nicht dumm, Jessamine«, zischte Marysol und lenkte ihre Aufmerksamkeit auf mich. Das wiederum gab Ikarius die Gelegenheit, sich zu bewegen. Er rollte auf den Bauch und robbte nach vorne, um sich wieder seinen Bogen zu holen.

»Ihr Idioten!«, rief Marysol. »Ich will niemandem von euch schaden, ich muss nur wissen, wo die Harfe ist.«

»Nur über meine Leiche!«, schmetterte Ikarius‘ Stimme durch mein Hirn.

»Das möchte ich unter allen Umständen vermeiden«, sagte Marysol. Ich trat nach ihr aus, bekam tatsächlich eine Hand frei und glitt näher an den Nebel heran. Der reagierte sofort und umschloss meine Mitte. Ich verlor das Gefühl für meinen Körper, die Bodenhaftung ebenso. Das würde nicht lange gut gehen, ich würde fallen und fallen und fallen. Die Schneelandschaft flirrte vor meinen Augen, alles verschwamm. Ich zerrte weiter, um mich von Marysol zu befreien, aber sie packte mich wieder am Arm.

»Hiergeblieben!« Ihre Fingernägel bohrten sich schmerzhaft in meine Muskeln, doch genau das vertrieb den Nebel. Marysol wandte all ihre Kraft auf, um mich festzuhalten, was Ikarius die Möglichkeit gab, seinen Bogen zu spannen und auf Marysol zu schießen. Der Pfeil flog einfach durch sie hindurch. Sie schüttelte den Kopf und zischte zornig, dann hob sie die Hand und sandte eine weitere Energiewelle gegen ihn. Ikarius fasste sich an die Stirn und klappte erneut zusammen. Es tat mir in der Seele weh, das mit ansehen zu müssen. Ich wollte so gerne helfen! Diesen ganzen Mist verhindern! Aber ich konnte es nicht.

Mir entglitt die Welt.

Mir entglitt diese Vision.

Ich war nur ein Werkzeug, so wie ich es von Anfang gewesen war.

Ein Instrument, erschaffen, um ein anderes zu spielen.

Eine Seele mit viel zu viel Macht, die nur darauf wartete, entfesselt zu werden.

»Gleich, Nachfahrin. Gleich«, sagte Marysol. Sie packte mich und zerrte mich nach vorne aus dem Nebel heraus. Ich wurde zurück in meinen Körper katapultiert, taumelte, doch Marysol hielt mich aufrecht, während sie gleichzeitig Ikarius beeinflusste. Er krümmte sich vor Schmerzen, Blut lief aus seinen Ohren. Das Rot wirkte wie eine knallige Signalfarbe gegen das Weiß seiner Haare. Ich strampelte ein letztes Mal, aber ich wusste, dass ich keine Chance hatte, ihr zu entgehen. Marysol nahm uns beide auseinander. Sie stülpte ihre Macht über uns und breitete ihre Seele in der Umgebung aus, bis alles nur aus ihr zu bestehen schien.

Es war zu viel.

Von allem.

Ikarius richtete sich ein weiteres Mal auf, doch Marysol trat nach vorne, packte ihn an den Haaren und zerrte ihn näher an sich. Sie kamen auf Augenhöhe, er war nun ganz dicht bei mir, wir konnten uns fast berühren. Er sah kurz zu mir, dann verschloss sich sein Blick und seine Iris wurde schwarz.

»Wo bist du?«, fragte Marysol eindringlich. »Verrate mir, wo du dich versteckt hältst.«

»Nein«, keuchte Ikarius. Dieses Mal nicht in meinem Kopf, sondern in echt. Er nutzte seine Stimme, was er normalerweise nur auf Marysols Anwesen tat. Sie klang brüchig und rau vom vielen Schweigen.

»Verschwinde.« Ikarius spannte die Schultern an, riss die Augen weiter auf und fixierte nun Marysol. Auf einmal traf uns eine Kraftwelle, die nicht nur sie, sondern auch mich von den Füßen riss. Ikarius packte mich allerdings, während er die andere Hand hob und seine Macht gegen Marysol richtete. Sie wurde nach hinten geschleudert, überschlug sich und kam mit einem Aufschrei zu Boden.

Ikarius schloss die Finger um meinen Ellbogen und blickte mich an. »Vielleicht kann ich dich zurückschicken, aber ich garantiere für nichts.«

»Marysol hat mich gefangen genommen. Wenn du mich dorthin bringst, wird sie mich nur wieder in die Vision zerren.«

»Dann versuchen wir einen anderen Ort, vielleicht kann Jonathan dir …«

Weiter kam er nicht, denn die Welt kippte. Marysol hatte sich aufgerichtet und entließ eine derartige Kraft auf Ikarius, dass sogar der Berg, an dessen Fuß er Zuflucht gesucht hatte, erbebte. Ikarius verlor den Halt, knallte gegen den Felsen und wurde dort in der Luft gehalten. Marysol hatte die Hand ausgestreckt und umklammerte ihn mit ihrer unsichtbaren Macht. Er kickte mit den Beinen herum, aber es war vorbei. Sie würde nicht aufgeben, sondern weitermachen – bis sie hatte, was sie wollte. Ikarius war ein mächtiger Luftwächter, sie allerdings war stärker. Sie war im Rat, sie besaß die Urkraft der Seelenwächter und den eisernen Willen zu bekommen, was sie begehrte.

»Wo ist die Harfe?«, rief Marysol und schloss die Faust. Ikarius bäumte sich auf, warf den Kopf in den Nacken und breitete die Arme aus, als würde er auf ein Kreuz gespannt. Er zitterte haltlos, alles an ihm bebte. Er würde in tausend Stücke gerissen werden, wenn Marysol weitermachte. Ich schrie seinen Namen, wollte ihm so gerne helfen, aber ich konnte rein gar nichts für ihn tun.

»Sibirien!«, sagte Marysol schließlich voller Erleichterung. »Endlich hab ich dich gefunden.«

»Nein …«, keuchte Ikarius. »Nein, nein, nein!«

»Keine Angst, wir wenden alles zum Guten.« Marysol entließ Ikarius, der kraftlos zu Boden stürzte und in den Schnee kippte. Fast gleichzeitig fuchtelte Marysol mit dem Finger in der Luft herum, sodass sich die Atmosphäre an der Stelle verdichtete. Der Schnee sammelte sich wie ein kleiner Wirbel. Sie rief ihr Element an, damit es ihr half.

Mein Blick wanderte weiter umher. Ich suchte nach River und der Harfe, doch ich entdeckte sie nicht, obwohl sie hier waren. Je länger ich in der Nähe des Instruments verweilte, desto schlimmer wurde das Drängen in mir, mich ihm zuzuwenden. Mein Blut schien zu kochen, mein Innerstes zog sich zusammen, es tat beinahe weh, weil die Sehnsucht so groß war.

Ikarius zitterte, starrte uns an, und in mir passierte etwas Erstaunliches, das ich nie erwartet hatte: Ein Teil von mir freute sich, dass er kooperierte, denn das bedeutete, dass ich der Harfe näher kam. Er hatte mir das Instrument vorenthalten, obwohl es eigentlich zu mir gehörte.

»Warum tust du das?«, fragte Ikarius.

»Weil es das Richtige ist«, antwortete Marysol. »Es ist die Lösung für Seelenwächter und Menschen. Sobald Lilija zurück ist, wird sie Ordnung herstellen, wo die ganze Zeit das Chaos herrschte. Nun haben wir, was wir benötigen, es hat viel zu lange gedauert.« Sie warf mir einen Blick zu, ich erkannte auf einmal alles, was in ihr vorging.

Sie hatten auf mich gewartet. Ich war diejenige, die sie gebraucht hatten. Nicht Anna oder Ashriel oder eine der anderen Nachfahren mit der Gabe. Nur ich. Weil Jaydee bei mir war. Weil er und ich zusammengehörten. All die Jahrtausende, in denen Lilija gefangen gewesen war, in denen Coco versucht hatte, an die Nachfahren mit der Gabe zu kommen, waren im Grunde umsonst gewesen, denn sie hatten Jaydee nicht gehabt.

»Niemand ist so stark wie ihr«, flüsterte Marysol und deutete mit einem Kopfnicken nach links. »Es geht los. Die anderen kommen.«

»Marysol, bitte nicht«, versuchte es Ikarius noch einmal. Er lag gefangen am Boden, verzog das Gesicht. Um uns herum blitzten plötzlich zig Portale auf. Es knallte aus allen Richtungen, und durch die Lichtkegel kamen sie zu uns.

Mehr Seelenwächter.

Ein weiteres Mal blieb mir die Luft weg, denn mir wurde schlagartig das Ausmaß des Verrats klar. Wie viele auf Marysols Seite standen …

Ich zuckte zusammen, wollte am liebsten schreien oder weglaufen oder irgendetwas tun, um diesem Wahnsinn zu entgehen, doch ich musste der Realität ins Auge blicken.

Ein Seelenwächter nach dem anderen trat aus einem Portal. Ich blickte zur ersten in der Gruppe: Storm.

Sie hatte mit Akil gegen Kedos im Flughafen gekämpft.

Mein Mund klappte auf, formte die Frage nach dem Warum, aber ich brachte sie nicht heraus, stattdessen sah ich nach rechts zur nächsten Wächterin: Tashi. Das neue Ratsmitglied, das ich nur kurz gesehen hatte.

Sie nickte mir zu, ihre Miene blieb starr, ich erkannte weder Freude noch Genugtuung über diesen Moment, dennoch fühlte ich mich, als würden jene Leute mir die Eingeweide herauszerren und mich in meine Bestandteile zerlegen.

Alles brach unter mir weg!

Drei weitere Wächter kamen, zwei Männer, eine Frau. Ich kannte die drei nicht, was mich auf eine gewisse Art beruhigte, obwohl es nur schlimmer wurde.

Ein letzter Lichtkegel flammte auf, und mir wurde fast schwarz vor Augen, als ich sie erkannte. Ich schluckte heftig, gab einen komischen Laut zwischen Entsetzen und Panik von mir. Ich fing an zu zittern, die Luft flirrte vor meinen Augen, ich konnte kaum atmen.

Nein, nein, nicht sie auch!

Meine Stimme bebte, als ich ihren Namen aussprach und sie offen ansah: »Kendra.«

Sie senkte den Blick nur kurz, als wäre es ihr unangenehm, dass ich sie erkannt hatte.

»Warum?«, fragte ich sie. »Warum tust du das?«

»Weil ich keine andere Zukunft mehr habe als diese.« Ihre Stimme kam gepresst. Wurde sie möglicherweise dazu gezwungen? Oder war das nur mein Wunschdenken?

»Aber du, … wir …« Ja, was? Waren Freunde? Vertraute? Keine Ahnung. Kendra war nichts als unhöflich zu mir gewesen und hatte mich bei jeder Gelegenheit bloßgestellt. Der eine kurze Moment ihrer Schwäche war eine Ausnahme gewesen, auf der ich mich nicht ausruhen durfte.

Wir hatten keine Verbindung.

Jetzt bekam ich den Beweis.

Ich blickte zwischen all diesen Seelenwächtern hin und her. Ikarius stöhnte. Wenn das für mich schon schwer zu begreifen war, wie war es erst für ihn? Marysol war seine Familie, sie hatte ihn in die Welt der Seelenwächter geholt, er hatte bei ihr gewohnt, hatte an ihrer Seite gekämpft. Jahr um Jahr um Jahr.

»Sie kommen mich holen«, sagte er nur.

»Richtig«, antwortete Marysol. Sie lehnte sich zu mir. »Das, was du siehst, passiert in der Realität in diesem Moment. Wir beide sind nicht wirklich dort, sondern stecken noch in der Vision, aber nicht mehr lange. Unsere Arbeit ist getan, wir kehren zurück. Die anderen holen die Harfe.«

»Nein«, sagte ich resigniert, denn das war alles, was ich fühlte, dachte oder was mich ausmachte: Nein. Eine einzige große und schmerzende Ablehnung gegen das, was mit uns geschah. Ein Aufbäumen, wo es nichts mehr zu kämpfen gab, ein Widerstand, der brach, ehe er sich manifestiert hatte.

Marysol wandte sich mit mir ab. Ich blickte über ihre Schulter und sah, wie die anderen Ikarius umzingelten. Er war völlig unterlegen, konnte nichts gegen seine eigenen Leute ausrichten.

Mir brach das Herz.

Es tat unendlich weh.

Tränen stiegen mir in die Augen, aber ich fühlte sie kaum, so wie ich meinen Körper kaum fühlte.

»Es wird alles gut«, flüsterte Marysol und umschloss mich fester. »Wir gehen nach Hause.«

Und dann riss sie mich zurück.

2. Kapitel

Jaxon stand frisch angezogen und geduscht in seinem schäbigen Appartement und betrachtete alles. Er wusste, dass er nie mehr zurückkehren würde. Sobald er zur Tür hinaustrat, würde er sein altes Leben hinter sich lassen und sich Neuem zuwenden. Ab heute würde sich alles verändern.

Er atmete ein letztes Mal die stickige Luft ein und dachte an die grausigen Momente zurück, die er dort drüben auf seinem Bett verbracht hatte. Schwitzend. Leidend. Zugedröhnt mit all dem chemischen Scheiß. Er sehnte sich auch jetzt danach. Obwohl er wusste, was es mit ihm anrichtete, wollte er liebend gerne nach der Pillendose auf dem Nachttisch greifen und den Inhalt mit dem billigen Fusel, der in seinem Bad stand, hinunterspülen.

Aber er konnte Alon nur folgen, wenn er nüchtern blieb. Es gab keinen anderen Weg, das hatte der Typ klar und deutlich gesagt. Jaxons Geist wusste das, aber seinen Körper interessierte es einen Scheiß. Seine Haut juckte bereits, die Unruhe in ihm wuchs. Die Dunkelheit kroch in ihm hoch und würde ihn holen, so wie an jedem verdammten Tag, den er auf dieser Erde zubrachte. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Jaxon nicht mehr klar denken konnte und dieser elende Nebel auftauchte, um seinen Verstand zu verwirren. Und mit dem Nebel kamen die Stimmen, die Angst, die Zerrissenheit. Jaxon kannte das zur Genüge.

Er schloss für einen Moment die Augen und dachte darüber nach, sich diesem inneren Drängen doch hinzugeben. Er könnte den Tag im Bett verbringen und alles andere abprallen lassen. Er könnte Alon und diesen ganzen Müll über Nachfahren, die Harfe und König Saul abprallen lassen.

Zerstöre die Harfe, und du bist frei.

Alons Worte rauschten durch seinen Kopf, genau wie seine Gedanken an die Drogen. Jaxon musste nur dieses dämliche Instrument auseinandernehmen, dann wäre alles vorüber. Dann könnte er wieder das fühlen, was er in den letzten acht Jahren gefühlt hatte. Der Nebel wäre verschwunden und er wäre … glücklich? Vielleicht. Ihm war klar, dass es an ihm lag. Beim ersten Mal hatte er die Stille nicht zu würdigen gewusst. Jaxon hatte weitergemacht, als wäre er für immer geheilt, aber nun wusste er, wie fragil dieser Frieden gewesen war. Er war wieder zurück in die Schatten getreten und gefallen und gefallen und gefallen.

Ich muss hier raus.

Jaxon atmete einmal tief durch, versuchte das Jucken und Brennen in seinem Inneren zu ignorieren und schnappte sich seine Motorradjacke. Mit schnellen Schritten verließ er seine Wohnung, ehe er es sich doch noch anders überlegte und blieb.

Als er die Tür hinter sich schloss, fühlte er kaum etwas. Keinen Trennungsschmerz, keine Wehmut. Jaxon war nicht die Art von Mann, der sich an Dinge klammerte. Weder an materielle noch an menschliche.

Er lief die Treppen hinunter, die Stufen knarrten bei fast jedem seiner Schritte. Jaxon stieg über einen Typen, der mitten im Weg lag. Die Spritze steckte noch in seinem Arm, er stöhnte leise. Jaxon ignorierte ihn, denn das war hier Alltag. Er ignorierte auch die verschmierten Wände, die anderen Bewohner, die sich entweder stritten, rammelten oder deren Fernseher dröhnte. Dieser Ort spiegelte genau das wider, was in Jaxons Seele passierte. Er war ebenso am Ende wie dieses Gebäude.

Endlich erreichte er die Vordertür und stieß sie auf. Das grelle Licht der Mittagssonne blendete ihn. Jaxon ging für gewöhnlich nicht um diese Uhrzeit vor die Tür, sondern schlief seinen Rausch aus, so lange er nur konnte. Die Luft fühlte sich erstaunlich warm und angenehm an. Winter wurden in L.A. nie sonderlich kalt. Nach einem kurzen Rundumblick fand er Alon auf der gegenüberliegenden Straßenseite an einer Hausmauer lehnend. Mit seinen merkwürdigen Klamotten wirkte er völlig fehl am Platz, als wäre er ein reicher Beduinenkönig, der sich aus der Wüste versehentlich in die Stadt verirrt hatte. Der Kerl hatte Glück, dass ihn noch niemand ausgeraubt hatte. Die Goldfäden in seiner Kleidung waren vermutlich mehr wert, als mancher hier in einer Woche verdiente. Aber Alon wirkte nicht im Geringsten beunruhigt.

Jaxon zog den Kragen seiner Jacke glatt und überquerte die Straße. Alon begrüßte ihn mit einem Kopfnicken, dann wies er mit der Hand nach rechts und bat ihn, ihm zu folgen.

»Holt uns ein Auto ab und bringt uns zum Flughafen?«, fragte Jaxon. »Ich kann auch selbst fahren, ich habe eine Maschine.«

»Nichts davon wird nötig sein, wir fliegen nicht, ich will nur von der Straße herunter.«

»Und wie sollen wir nach Asien kommen? Hoffentlich nicht per Schiff.« Sie wären Wochen unterwegs, abgesehen davon legte Jaxon keinen Wert darauf, auf einem Kahn zu hocken und das Meer zu überqueren.

»Auch das nicht. Du wirst es gleich sehen. Wir müssen allerdings erst noch einen Zwischenstopp einlegen. Jemand möchte vorher mit dir sprechen.«

»Wer?«

»Gleich.«

Jaxon zögerte einen Moment und überlegte, ob er nicht doch besser abhauen sollte. Noch war die Gelegenheit dazu. Er kannte die Gegend, es wäre für ihn ein Leichtes, Alon abzuhängen. Er kratzte sich über die Hand und schluckte. Seine Kehle war staubtrocken, ihm war leicht schwindelig.

»Ich werde dir helfen, die nächsten Stunden durchzustehen«, sagte Alon. »Ich weiß, dass es schlimm für dich ist, wenn dich die Dunkelheit holt, aber du kannst trainieren, dich ihr zu widersetzen. Es wird nur ein wenig dauern.«

Jaxon brummte als Antwort. »Diese Jessamine Harris – geht es ihr auch so schlecht damit?«

»Nein und ja. Sie leidet auf andere Weise als du, aber die Gabe hat ihr viel Kummer und Verlust gebracht. Die Magie, die ihr in euch tragt, wurde nie dafür gemacht, um sie den Menschen zu geben, doch nun ist es so, und wir müssen alle das Beste daraus machen.«

»Du sagtest, dass sie am selben Tag geboren ist wie ich.«

»Das ist korrekt. Das erste Mal in der Reihe der Nachfahren, dass das Helle und das Dunkle genau gleich alt sind. Gerade das macht euch so besonders.«

»Leben ihre Eltern noch? Ging es ihr wie mir?«

»Mitunter. Es ist kompliziert.«

»Ich will alles darüber wissen. Du erwähntest noch andere Wesen. Die Seelenwächter?«

»Korrekt. Du wirst es verstehen, wenn wir unsere Reise antreten. Ich werde dafür sorgen, dass das Wissen in deinen Geist kommt.«

»Was?« Jaxon zuckte zurück und starrte ihn an. »Wie?«

Alon legte eine Hand auf Jaxons Schulter und drückte sanft zu. Die Berührung war eigentlich angenehm, dennoch blieb Jaxon angespannt. »Was genau hast du mit mir vor? Wie reisen wir?«

»Ich kann es dir schlecht mit Worten erklären, du wirst es erleben müssen, aber ich kann dir garantieren, dass dir nichts passieren wird. Im Gegenteil. So wie ich dich einschätze, könntest du vielleicht sogar Spaß daran haben.«

Jaxon wollte etwas erwidern, doch da bemerkte er eine Bewegung im Augenwinkel. Er drehte herum, aber da war niemand. Nur ein Schaudern, das über sein Rückgrat glitt.

»So geht es los«, sagte er leise. »Bald sehe ich den Nebel, bald kommt die Dunkelheit.«

»Ich werde alles tun, damit du nicht fällst. Ich weiß nicht, ob ich es komplett von dir abwenden kann, aber ich kann es zumindest erträglicher gestalten. Hier sollte es gehen.« Alon deutete auf eine leere und abgelegene Gasse. Jaxon blieb sofort stehen.

»Du glaubst nicht im Ernst, dass ich dir da rein folge.«

»Wenn ich dir schaden wollte, hätte ich das vorhin bereits getan, als du noch geschlafen hast. Ich saß zwei Stunden an deinem Bett und habe gewartet, bis du wach wirst.«

Jaxon knirschte mit den Zähnen. Der Kerl hatte natürlich recht, aber all seine Instinkte stellten sich dagegen, in diese Gasse zu gehen.

»Es muss sein, wir kommen sonst nicht weg«, sagte Alon geduldig.

Jaxon schüttelte sich, sah nach rechts und links und folgte ihm schließlich langsam. Mit jedem Schritt wurde er angespannter. Alon mochte bisher vertrauensselig gewirkt haben, aber es lag nicht in Jaxons Natur, anderen blind zu folgen. Während sie zwischen den Häuserwänden hindurchschritten, wurde Jaxons Sichtfeld dunkler, ihm wurde übel und er schauderte. Er zog die Jacke enger an sich, aber das half nichts. Die Kälte kam von innen und würde ihn auch von dort aus beherrschen.

»Hier sollte es gehen«, sagte Alon und sah sich um. »Du kannst gerne schreien, wenn du magst.«

»Was?« Jaxon machte einen Satz nach hinten und ballte die Hände zu Fäusten. »Willst du mich verarschen?«

»Mitnichten, mein Junge. Mitnichten, aber es könnte dich ein wenig … erschrecken. Hier sollten dich nicht so viele Leute hören.«

Alon hob die Hand nach Jaxon, der wich ihm aus, drehte herum und wollte schon losrennen und sich in Sicherheit bringen, aber Alon war viel schneller. Jaxon spürte seine Finger auf den Schultern und ein Rucken, das durch seinen ganzen Körper rauschte. Er schlug nach Alon aus, aber er konnte nicht mehr tun. Ein komischer Sog erfasste ihn und verursachte einen Schwindel in Jaxon, wie er ihn nie zuvor gespürt hatte.

Plötzlich verschwamm die Umgebung vor ihm, alles drehte sich, die Hauswände schienen auf ihn niederzukrachen.

»Hab keine Angst«, sagte Alon. »Das ist ein normaler Prozess.«

»Nein! Lass mich los!« Jaxon wollte nach Alon schlagen, aber er wusste nicht einmal, wo der Mann stand. Hinter ihm? Vor ihm? Auf der Seite? Er verlor das Körpergefühl und alles, was ihn ausmachte.

»Entspann dich, so gut es geht«, sagte Alon, doch Jaxon konnte nicht.

Das hier war unnatürlich und nicht von dieser Welt. Auf Jaxon schien alles auf einmal einzustürzen. Gerüche, Geräusche, Emotionen. Er taumelte, stieß gegen etwas Hartes, ohne zu wissen, was es war. Der Nebel erfasste ihn erneut. Um Jaxon wurde alles dunkel, und er wusste, dass er verlieren würde. Alon schien ihn direkt in die Finsternis zu katapultieren. Die Finsternis, der Jaxon eigentlich ausweichen wollte.

Stimmen rauschten in seinen Ohren. Es war nur ein Flüstern, dennoch klang es eindringlich und intensiv. Jaxon schrie, schlug, trat um sich, aber es half nichts.

Er hatte einen Fehler gemacht.

Er hätte Alon sofort rauswerfen sollen, als er wach geworden war. Vielleicht war der Mann nicht mal real und nur eine Ausgeburt von Jaxons Geist. Vielleicht war das die nächste Stufe des Wahnsinns. Seine Mutter hatte auch immer behauptet, dass sie Stimmen hörte und Geflüster. Jaxon hatte es bestimmt von ihr geerbt und würde ebenso durchdrehen wie sie.

»Du wirst nicht verrückt«, sagte Alon. »Du hörst nur, was geschehen ist. Du hörst die anderen. Die Vergangenheit, die Gegenwart. Es ist nur am Anfang so intensiv, bis sich dein Körper an den Übergang gewöhnt hat. Keine Sorge.«

Das beruhigte Jaxon kein bisschen, aber er konnte auch nichts mehr tun, als sich fallen zu lassen. Es war intensiver als jeder Rausch, den er erlebt hatte. Er fiel und schwebte gleichzeitig. Er löste sich auf und setzte sich neu zusammen.

»Gleich kommt der Übergang«, hörte er Alon sagen. »Gleich wird es besser.«

»Nein!«, schrie Jaxon. Seine Stimme klang nicht mehr wie er. Es war, als würden andere durch ihn sprechen, als würde Jaxon all das Leid, das sie hatten ertragen müssen, für sie in die Welt schreien. Er sah mehr Leute wie ihn. Männer meist, nur eine Frau war unter ihnen.

»Liem. Marcius. Andrew. König Saul«, sagte Alon. »Sie waren ähnlich wie du, sie hatten in der Dunkelheit gelebt und sie auf ihre eigene Weise verarbeitet. Saul war der Erste gewesen, genau wie David«, sagte Alon. »Sie hatten beide die Gabe, und Davids größter Wunsch war es, Saul zu helfen, ehe er sich verlor. Nur aus diesem Grund hatte er die Harfe gebaut und damit alles schlimmer gemacht.«

Die Worte drangen tief in Jaxons Geist und so auch die Bilder, die damit zusammenhingen. Jaxon sah alles, was Alon ihm erklärte. Er sah die Geschehnisse von damals, all die Menschen, die dadurch gestorben waren. Er sah fremde Wesen. Seelenwächter. Sapier. Schattendämonen. Schützer. Vernichter. Das Wissen rauschte in ihn hinein, türmte sich übereinander und wurde fast zu viel für ihn. Jaxon schrie weiter, er hörte sich selbst, und auch wenn seine Stimme heiser wurde, konnte er nicht still sein.

»Wir haben es gleich geschafft«, sagte Alon. »Wir sind gleich da.«

Jaxon bohrte die Fingernägel fester in seine Handinnenflächen. Er flog über die Welt und durch den Kosmos, er wurde eins mit allem und tauchte in Gefilde ein, wie er sie nicht einmal in seinen Rauschzuständen erreichte. Er war alles und nichts. Auf der einen Seite machte es ihn fast wahnsinnig, auf der anderen öffnete sich etwas in ihm dafür.

Es war erst ein kleines wohliges Kribbeln, doch je mehr Jaxon sich fallen ließ, desto leichter schien es zu werden. Die Bilder von Jaxons Geburt tauchten auf. Genau wie die seines Gegenparts Jessamine. Auf einmal lief beides parallel in ihm ab. Er sah Jessamine, er sah sich selbst. Sie kamen beide auf die Welt und vereinten so die Gabe in ihrer stärksten Form. Jaxon hatte sich dieses Schicksal nicht ausgesucht, aber sie genauso wenig. Sie waren beide hineingeworfen worden, von wem auch immer dafür auserwählt, dies alles zu ertragen.

»Warum? Warum ich?«

»Weil es irgendwen treffen musste. Dich. Einen anderen. Es spielte keine Rolle. Du wurdest im selben Moment geboren wie Jessamine. In der selben Minute.«

»Aber das wurden Tausende von anderen auch.« Bei Milliarden von Menschen auf dieser Erde musste es doch mehr gegeben haben.

»Nicht in dieser Sekunde, nicht in diesem Moment. Der gehörte nur euch. Ihr seid besonders.«

Einen Scheiß war er. In Jaxon krampfte alles zusammen. Wäre es ihm möglich gewesen, hätte er dem Schicksal in den Arsch getreten, aber die Wahl war auf ihn gefallen und er musste sich damit abfinden.

Alles wurde so klar.

Alles wurde so logisch.

Jaxon fing an zu verstehen. Er sah die Welt mit anderen Augen, er sah die magischen Wesen, die hier lebten, und spürte, dass es viel mehr gab, was er nicht kennengelernt hatte.

Jaxons Leben hatte von Anfang an unter einem dunklen Stern gestanden. Sich nun dagegen zu wehren, wäre gewesen wie mit dem Atmen aufzuhören. Sinnlos und unmöglich. Ihm blieb nur eins zu tun: es anzunehmen und das Beste daraus zu machen.

»Ja«, sagte Alon leise. »Jetzt hast du es begriffen.«

3. Kapitel

Jessamine

Ich stürzte auf die Knie und bekam kaum Luft. Mein Brustkorb wurde zusammengequetscht, sämtlicher Sauerstoff entwich meinem Körper. Ich röchelte, versuchte mich zu beruhigen, aber die Nachwirkungen der Vision hingen an mir. Mein Geist bemühte sich, alle Eindrücke zu verarbeiten, doch er würde scheitern, denn es war nicht zu begreifen, was in diesem Moment passierte.

Marysol und etliche andere Seelenwächter stellten sich gegen uns. Gegen ihre eigene Gemeinschaft.

Das war zu viel für mich. Das war einfach viel zu viel …

»Ich …«

»Atme«, sagte Marysol dicht bei mir und strich mir übers Haar. Ich schlug ihre Hand weg, denn Trost war das Letzte, was ich von dieser Person wollte. Aber sie ließ nicht locker, streichelte mich wieder und wieder und redete weiter und weiter.

Tatsächlich wurde ich ruhiger. Mein Körper reagierte auf ihre Magie. Anscheinend war ihm noch nicht klar, dass sie die Verräterin war.

»So ist‘s gut, Jess«, sagte sie. »Es wird alles gut. Du kannst dich jetzt ausruhen. Wir holen die Harfe für dich, es wird bald soweit sein.«

»Nein«, sagte ich nur, mehr konnte ich nicht von mir geben. Marysol half mir auf, nahm mich zärtlich bei den Schultern und dirigierte mich in die Richtung, in der sie mich haben wollte. Ich hatte das Bedürfnis, mich an sie zu schmiegen, ihre angenehme Kühle in mich aufzunehmen und in der Wohltat eines Seelenwächters zur ruhen. Marysol verströmte nach wie vor diese Geborgenheit. Sie war ein Halt, den ich gar nicht wollte.

»Wir bekommen das hin, Jess. Wir biegen alles gerade, was schiefgegangen ist.«

Marysol führte mich zu einem Bett. Es war dunkel in dem Raum, aber ich erkannte genug. Das Laken war frisch und duftete nach Sandelholz. Auf dem Beistelltisch warteten ein frischer Krug mit Wasser und eine kleine Mahlzeit mit Brot und Obst.

»Sorgt dafür, dass sie alles hat, was sie braucht«, sagte Marysol zu jemandem. Ich hatte meine Augen nur auf das Bett gerichtet, das mich auf einmal rief. Marysol strich mir über den Kopf, nahm meine Haare kurz zwischen die Finger und ließ sie langsam hindurchgleiten.

»Du machst das gut, Jess. Du wirst dich hinlegen und einschlafen, und wenn du wach wirst, darfst du das tun, was du dir am meisten ersehnst. Du darfst auf der Harfe spielen.«

»Ja«, sagte ich nur und ließ mich auf das Bett sinken.

Gott, war das gut.

Weich und gleichzeitig fest.

Flauschig und warm.

Marysol setzte sich zu mir auf die Bettkante und streichelte mich weiter. Ich stellte es nicht mehr infrage, denn es war so schön und beruhigend, dass sie meinetwegen für immer weitermachen konnte.

»Bald, mein Kind«, sagte sie und beugte sich zu mir, um mir einen sanften Kuss auf die Haare zu hauchen. »Du hast so viel gekämpft und gelitten. Bald hast du es geschafft, dann darfst du dich endlich ausruhen und alles loslassen.«

»Das klingt gut«, sagte ich und schloss die Augen. Mein Körper driftete davon, ohne dass ich es verhindern konnte. Ich wurde auf einer sanften Woge aus Ruhe und Frieden getragen und ließ es zu. Meine Glieder sanken in die Matratze, Marysols Worte begleiteten mich ins Reich der Träume. Sie suggerierte mir Stille, Wärme, Harmonie. Sie redete davon, wie wir alles ins Gute wenden würden, wie bald die Kämpfe ein Ende hätten und die Welt in Frieden leben könnte.

Es hörte sich gut an und es fühlte sich gut an.

Mit einem Seufzen glitt ich ins Reich der Träume und gab mich Marysols schönen Worten hin.

4. Kapitel

Nachdem Jess endlich eingeschlafen war, verließ Marysol den Raum und lehnte sich an die nächste Wand. Ihre Knie zitterten, in ihrer Brust stauten sich all die Gefühle, die sie in den letzten Tagen und Wochen bei sich behalten hatte. Sie atmete bebend ein, blickte nach rechts und links, um sicherzugehen, dass sie allein war, und ließ schließlich los.

Die Dämme brachen, sie sank in die Knie, umarmte sich selbst und hielt nichts mehr zurück. Die Tränen kamen von ganz allein. Ihre Schluchzer hallten von den Höhlenwänden wider, aber sie hatte sichergestellt, dass sie niemand hören konnte.

Die ganze Zeit über hatte sie sich zusammenreißen können, nun aber brach es aus ihr heraus. Auf einmal war ihr die volle Tragweite ihrer Handlungen bewusst geworden. Auf einmal hatte sie erkannt, was sie anrichtete.

Natürlich hatte sie das alles vorher gewusst, denn sie hatte sich freiwillig auf diesen Pfad begeben; aber ihre Familie zu verraten, Jess zu zwingen diesen Weg zu gehen – das alles hatte Marysol derart mitgerissen wie noch nie etwas zuvor. Nicht mal ihre Wandlung als Seelenwächterin hatte sie derart aus der Bahn geworfen. Marysol war von Anfang an mit ihrem Herzen und ihrer Seele dabei gewesen und hatte sich in ihre Aufgabe als Wächterin fallen lassen. Es war ihr höchstes Ziel gewesen, andere zu beschützen und gleichzeitig ihre Menschlichkeit zu bewahren.

»Und nun verrate ich all das.«

Oder?

War es wirklich Verrat?

Tat sie das Falsche?

Sie wollte niemandem schaden, sie wollte helfen. Sie wollte, dass dieses Ungleichgewicht auf der Welt beseitigt wurde. Sie wollte, dass sie eine Chance gegen die Schattendämonen hatten, sie wollte, dass die Seelenwächter stärker wurden – und Lilija konnte ihnen das geben.

Marysol wusste es. Oder hoffte sie es nur und redete sich alles andere schön? War ihr Geist ebenfalls verschleiert? Tat sie das Falsche oder das Richtige, und spielte das überhaupt noch eine Rolle, jetzt, da alle Masken gefallen waren?

»Es gibt kein Zurück mehr.«

Ihre Stimme klang rau und kratzig, aber es beruhigte sie, wenn sie mit sich selbst sprach. Außerdem half es ihr, die Gedanken zu sammeln, die ihr als Luftwächterin manchmal zu wirr und abstrus wurden, als dass sie sie noch greifen konnte.

Marysol kauerte sich enger zusammen und lehnte den Kopf gegen die kühle Steinwand hinter sich. Ihre Schluchzer waren leiser geworden, das Gefühl der Enge in der Brust ein wenig besser. Dennoch lasteten ihre Taten schwer auf ihrer Seele. Sie hatte den finalen Schritt getan und alles ins Rollen gebracht.

Marysol erinnerte sich genau an den Moment, als sie die Richtung gewechselt hatte. Der erste Gedanke hierzu war ihr vor knapp dreihundert Jahren gekommen, als Ikarius einen Brief erhalten hatte. Er war von seiner Schwester River gewesen, die ihm berichtete, dass sie die Harfe, die Andrew für Anna gestohlen hatte, mit anderen Sapiern versteckt hätte. Marysol hätte dem Ganzen vermutlich nicht viel Bedeutung beigemessen, aber Ikarius war danach so aufgewühlt gewesen, dass er tagelang teilnahmslos gewirkt hatte. Sie hatten viel geredet, und er hatte ihr ausführlich von der Zeit mit Jonathan und River erzählt, wie sie alle am Hofe Sauls gedient hatten und dabei gewesen waren, als die Harfe erbaut worden war.

Da hatte Marysol Feuer für diese Geschichte gefangen. Natürlich kannte jeder Seelenwächter die Hintergründe um Lilija und ihre Gefangenschaft, aber jeder dachte, sie wäre die Böse gewesen, die die Welt hatte ins Unheil stürzen wollen. Marysol hatte alle Ressourcen, die sie zur Verfügung gehabt hatte, zusammengesucht und recherchiert. Es war ihr damals noch nicht möglich gewesen, in die Ratsbibliothek zu gehen, aber sie hatte andere Seelenwächterfamilien gefragt, ob sie Aufzeichnungen über diese Zeiten hatten. Sie war auch bei Ilai gewesen, dem einzigen Zeitzeugen. Er war offen ihr gegenüber gewesen, aber er hatte ihr nie alles gesagt oder gezeigt, das hatte Marysol stets gespürt. Sie hatte gewusst, dass sie – wenn sie mehr erfahren wollte – anders vorgehen musste. Subtiler. So hatte sie nach außen hin ihre Arbeit als Seelenwächterin verrichtet und im Geheimen weitergeforscht, doch sie war bald in Sackgassen gelangt, denn niemand sprach gerne über dieses Thema. Bis sie eines Tages selbst einen ominösen Brief erhalten hatte. Er stammte von einem Seelenwächter, dem Marysol nie persönlich begegnet war, denn er hatte lange vor ihrer Zeit gelebt. Eigentlich hatte Marysol geglaubt, er wäre tot, doch offenbar war er das nicht.

Er war nur verloren gewesen.

Der Mann hatte sich von der Gemeinschaft abgewandt, war in die Schatten getreten, ähnlich wie Ashriel einst. Doch im Gegensatz zu Ashriel war er bei Verstand geblieben.

Das war der Anfang der Zusammenarbeit gewesen. Ab da war alles ins Rollen gekommen, und Marysol wurde nach und nach auf diese alte Seite der Seelenwächter gezogen. In die Fraktion, die sich seit Lilijas Gefangennahme zurückgezogen hatte, weil ihnen keine andere Wahl geblieben war. Weil sie nur so hatten überleben können. Weil sie Angst gehabt hatten.

Es war nur eine Handvoll Seelenwächter gewesen, die es damals geschafft hatten unterzutauchen, aber es hatte genügt, um zu überleben und andere von ihren Plänen zu überzeugen: Marysol, Storm und Kendra, Jesper, Tasha, Rajan, Eko, Dawa und welche, die Marysol noch nicht kennengelernt hatte. Sie waren nicht viele, aber es musste genügen.

Marysol atmete ein paarmal tief ein und aus und richtete sich schließlich auf. Die Zeit war bald gekommen. Dann käme Lilija frei und alle fänden an ihr Ziel. Nur noch eine Sache musste sie erledigen, ehe sie sich wieder Jess widmen konnte: Coco.

Mittlerweile sollte sie in alles eingeweiht worden sein, aber niemand konnte einschätzen, wie sie reagieren würde. Coco konnte ausrasten und alle anbrüllen oder es gelassen hinnehmen. Sie war ein unberechenbarer Faktor in diesem Spiel.

Ein Teil von Marysol wünschte sich, Jaydee hätte sie auf Oeno Island befreit. Das hätte zwar nicht viel an den kommenden Ereignissen geändert, denn sie hätten sich ihn und Jess so oder so geholt. Aber dann wäre Coco eventuell zugänglicher gewesen, weil sie mit ihrem Bruder zusammen war. Abgesehen davon hätte es alles für Jaydee einfacher gemacht. Er hätte sich nur Lilija zuwenden sollen, statt sich gegen sie zu stellen, und die ganzen Qualen, die er im Moment litt, wären unnötig gewesen. Marysol hasste es, was mit ihm passierte. Sie verstand, dass seine Gefügigkeit wichtig war, aber ihn so zu foltern, war unverantwortlich. Wieder stieg die Übelkeit in ihr auf.

»Reiß dich zusammen, Herrgott!« Sie war doch so weit gekommen – warum ging es ihr auf einmal so schlecht damit?

Weil es ernst wird.

Weil es kein Zurück mehr gibt.

Weil es alles oder nichts heißt.

»Weil ich auch Ikarius verraten habe.« Ihre Familie. Als sie ihm gewaltsam den Standort der Harfe aus dem Hirn gezogen hatte, wäre ihr Herz fast zerbrochen. Sie liebte diesen Mann, so wie sie jeden in ihrer Familie liebte. Sie wollte nicht, dass er litt, aber sie hatte keine andere Wahl gehabt.

Wirklich nicht.

Er und River waren eingesperrt, genau wie Kjell und Akil. Es war schrecklich, doch notwendig. Kjell war auf sein Anwesen gebracht worden, wo er mit Diandra festgesetzt war, denn Jesper und Storm kämpften an Marysols Seite, und Akil hockte in einer Gefängniszelle im Ratstempel. Hätte er noch ein eigenes Anwesen gehabt, wäre er dort, aber so ging es auch.

Sie alle mussten nur ausharren, bis es vorüber war. Es dauerte nicht mehr lange. Marysol rieb sich über den Bauch und ermahnte sich ein weiteres Mal zur Ruhe.

»Ich schaffe das, ich schaffe das, ich schaffe das.«

Sobald alles vorüber war, würde sie auch für Ikarius‘ und Rivers Wohlergehen sorgen. Sie hatte Christin und Haley genaue Anweisungen hinterlassen. Vorerst hatte sie die beiden auf eine Mission geschickt, damit sie beschäftigt waren, doch irgendwann kämen sie zurück, und dann wäre alles vorüber. Die beiden hatten keine Ahnung von Marysols Verrat, und sie wollte auch nicht, dass sie mit hineingezogen wurden.

Marysol richtete ihre Haare, ihre Kleidung, strich sich noch mal übers Gesicht, dann ging sie weiter zu der Zelle, in der Coco festgehalten wurde. Es war an der Zeit, den Teufel von den Ketten zu lassen. Mit jedem Schritt straffte sie ihre Schultern mehr und legte die Schwäche ab, die sie eben noch zugelassen hatte. Marysol würde die Fassade wahren. Sie würde eisern und stark sein, denn alles andere kam nicht mehr infrage.

Mit wackeligen Knien schritt sie schließlich in den Flur, der zu Cocos Zelle führte. Der Seelenwächter wartete dort bereits. Er lehnte an der Wand, den Rücken Marysol zugekehrt, aber sicherlich spürte er, dass sie sich näherte. Ihm konnte sie nichts vormachen, dazu war er zu alt und zu mächtig. Je näher Marysol kam, desto stärker wurde der Geruch nach frischer Erde und nassem Gras. Das Element hatte sich im gesamten Areal ausgebreitet, aus den Fugen der Wände wuchsen sogar kleine Knospen.

Seine Macht ist immens.