Die Chroniken von Waldsee - Prequel: Der Stern der Götter - Uschi Zietsch - E-Book
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Die Chroniken von Waldsee - Prequel: Der Stern der Götter E-Book

Uschi Zietsch

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Beschreibung

Ein Roman aus der Welt Waldsee im Träumenden Universum. Eine Geschichte vor den "Chroniken von Waldsee", die über die Herkunft des Zauberers Halrid Falkon berichtet. Während eines Sturms wird ein Neugeborenes auf der Türschwelle gefunden, das anders ist als die Menschen der Insel. Das Kind wächst zu einem geheimnisumwitterten Mann heran, der sich gegen den grausamen Widdergott Shyll erhebt, dafür verflucht wird und sich nach einem langen, qualvollen Weg aus seinem Seelengefängnis befreit, das Rätsel seiner Herkunft löst und sich schließlich der letzten Auseinandersetzung mit dem Gott stellt - und um den Stern der Götter kämpft, ein Zaubermittel, das nahezu unbegrenzte Macht verleiht.

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Seitenzahl: 365

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Uschi Zietsch

Der Stern der Götter

fabEbooks

Ein Roman aus der Welt Waldsee

Über die Autorin

Uschi Zietsch wurde 1961 in München geboren. Sie ist verheiratet und lebt seit Jahren als Schriftstellerin und Verlegerin mit ihrem Mann und vielen Tieren auf einem  kleinen Hof im bayerischen Allgäu.

Ihre erste Veröffentlichung war 1986 der Fantasy-Roman »Sternwolke und Eiszauber« im Heyne-Verlag. Darauf folgten bis heute kontinuierlich über einhundert Veröffentlichungen in den Bereichen der Science Fiction, Fantasy, Kinderbücher, TV-Serien und vielen mehr. Unter dem Künstlernamen »Susan Schwartz« schrieb sie jahrelang als Teamautorin bei »Perry Rhodan«, »Maddrax« und anderen Heftserien mit. Für die exklusiv bei BS-Editionen (Bertelsmann) erschienenen sehr erfolgreichen und beliebten Urban-Fantasy-Serien »Elfenzeit« und »Schattenlord« zeichnet sie für das gesamte Konzept und die Exposés verantwortlich und schrieb die meisten Romane.

Darüber hinaus gibt Uschi Zietsch Schreibseminare und ist Mit-Verlegerin des Fabylon-Verlags.

2008 erhielt sie den Literaturpreis von amnesty international für ihre Kurzgeschichte »Aische« zum Thema Menschenrechte.

Umschlagbild: Klaus Holitzka

© des eBooks 2012 by fabEbooks

ISBN: 978-3-943570-14-4

Die Ereignisse in diesem Band finden zeitlich vor den »Chroniken von Waldsee« statt.

Die Print-Ausgabe (ISBN 978-3-927071-04-9) enthält Illustrationen.

Als eBook erhältlich:

Die Chroniken von Waldsee

Die Chroniken von Waldsee Trilogie (Dämonenblut/Nachtfeuer/Perlmond) (Band 1-3, 1400 Seiten)

Nauraka – Volk der Tiefe (Band 4)

Fyrgar – Volk des Feuers (Band 5)

Der Stern der Götter (Eine Legende aus Waldsee)

Der wahre Schatz (Eine kurze Geschichte aus der Welt Waldsee)

Ferner erhältlich:

Sternwolke und Eiszauber

Wahrscheinlich ist es nur ein Märchen,
vielleicht ist es aber auch ein Tor
zu einer neuen Welt, einem anderen Selbst.
Schließlich, wer weiß das schon.

Inhalt

Im Zeichen des Widders

I Der Prinz der Schweine

II Xav

III Der Weiße Druide

IV Die Versuchung

V Gynvars Buch

VI Deyra

VII Drachenaugen

Im Zeichen des Falken

VIII Die Purpurritter

IX Schwarzes Licht

X Schneetod

XI Morgenlicht

XII Druidenstein

XIII Der Schwarze Drache

XIV Der Verlust

Im Zeichen des Drachen

XV Der Herr von Dunland

XVI Verlorene Schatten

XVII Die Jagd beginnt

XVIII Die Grünäugige Wölfin

XIX Der Rote Falke

XX Der Hässliche Gott

XXI Zu neuen Ufern

Epilog

Anhang

Das Träumende Universum

Die Annatai

Waldsee

Im Zeichen des Widders

I

Der Prinz der Schweine

Der Herbst kam plötzlich und unerwartet an einem Spätsommertag ins Land und brachte im ersten mächtigen Sturm das Kind mit der Falkenklaue ins Dorf. Die vom Platzregen verschlammten Wege waren bereits am frühen Abend leer und verlassen, und durch die Ritzen und Astlöcher der windgebeutelten Hütten huschten vorwitzig warme, funkelnde Feuerblitze, um in der kühlfeuchten Luft zu sterben.

In den Baracken drängten sich die Kinder furchtsam in einer Ecke möglichst nah beim Feuer und beobachteten den Vater mit hungrigen Augen beim Essen. Sie durften nur die Reste erwarten, die er nicht verzehrte, und mussten dann oft noch mit den Hunden darum raufen. Die Mutter war eifrig mit der Zubereitung und dem Abtragen beschäftigt; sie konnte sich ihre Mahlzeit gerade heimlich zwischen Tisch und Herd zusammenstehlen, stets mit schlechtem Gewissen, die flinken Augen ängstlich auf den Mann gerichtet. Es kam nur sehr selten vor, dass dabei einmal das eine oder andere Wort fiel, denn zumeist war es schon Nacht, bis der Mann endlich erschöpft und hungrig nach Hause kam. Heute aber waren die Männer wegen des Sturms früh von der Arbeit gekommen, nicht so müde und schlecht gelaunt wie sonst, und da wagte schon die eine oder andere Frau ein laut ausgesprochenes Wort.

»Es ist selten«, sprach also eine Frau zu ihrem Mann, »dass wir so früh zusammensitzen können. Man kann die Tage in einem Jahr an einem Finger abzählen, an denen so etwas vorkommt.«

»Der Viehtreiber, der sich von uns Verwalter nennen lässt, wurde heute Morgen zum Fürsten auf Xav befohlen und kehrte bis jetzt nicht zurück«, brummte der Mann. »Das Wetter hat uns alle überrascht. Es ist viel zu früh, nicht einmal die Hälfte der Ernte ist eingebracht. Wir versanken innerhalb von wenigen Augenblicken bis zu den Knien im Schlamm und vernichteten mehr, als wir ernten konnten ... aber noch schlimmer waren die Tiere.«

»Warum?«, fragte sie.

»Sie waren außer Rand und Band. Wir konnten sie einfach nicht bändigen, weder Hund noch Gaul noch Vieh. Ich sage dir ... das ist ein schlechtes Zeichen. Der Sturm ... und all das andere«, antwortete er.

»Ja, ja!«, stimmte sie ihm eifrig zu. »Erst heute Morgen sah ich wieder den großen Raben über dem Dorf und ahnte schon Schlimmes. Wie oft in diesem Jahr sagte ich dir, dass ein Fluch über uns liegt! Zuerst sterben fast alle männlichen Neugeborenen, und nun die Ernte, die doch so gut zu werden versprach ...«

Der Mann stöhnte in hilflosem Zorn. »Ich weiß, warum der Verwalter beim Fürsten ist!«, stieß er hervor. »Die Abgaben sind erhöht worden, und wir hätten sie selbst mit einer so guten Ernte kaum aufbringen können! Und nun wird er die Steuern sicherlich erst recht erhöhen müssen, damit sein dickleibiger Hofstaat sich um sein Gewicht nicht sorgen muss!«

»Wir sollten ...«, begann seine Frau und verstummte erschrocken, als die Hunde plötzlich aus dem Schlaf hochfuhren, die Zähne geifernd fletschten und bellend zur Tür stürmten.

»Da, siehst du?«, rief der Mann. »Schon geht es wieder los!«

Auch die anderen Dorfhunde schlugen nun an, selbst die Pferde begannen schrill zu wiehern, Kühe brüllten in heller Panik, und das Trommeln der harten Hufe gegen die Boxen klang dumpf durch die Wände.

»Was sagte ich gerade? Toll sind sie geworden, bei Shyll, befallen von der Seuche des Wahnsinns!« Der Mann sprang auf, griff nach der kurzen Peitsche und schlug auf die Hunde ein, die dadurch nur noch rasender wurden. Ihre Augen waren blutunterlaufen, von den Lefzen troff Schaum, und sie sprangen wild um sich schnappend immer wieder gegen die Tür.

»Mel, ich habe Angst!«, rief die Frau und flüchtete zu den ängstlich weinenden Kindern.

Der Mann fluchte laut; er konnte seine Nachbarn hören, die ebenso wie er mit den Hunden kämpften; irgendwo barsten knallend Bretter, vermutlich von einer Stallwand, und der laute Schmerzensschrei eines verwundeten Tieres gellte durch das lärmende Inferno. »Mel!«, schrie die Frau auf, als die Hunde sich plötzlich gegen ihren Herrn wandten, der hastig nach einem Stuhl und dem Feuerhaken griff, fest entschlossen den Arm hob - als abrupt Stille eintrat.

Von einem Herzschlag zum nächsten verstummten die Hunde, ihre wilden Augen wurden klar, und sie duckten sich winselnd; drinnen wie draußen war es jetzt so ruhig, als wäre der Frieden nie unterbrochen gewesen.

»Da soll doch ...«, presste der Mann zwischen den zusammengebissenen Zähnen hervor und stieß zischend den angehaltenen Atem aus. Langsam entspannte er seine Muskeln und zögerte einen Moment, ehe er den Stuhl fallen ließ und zur Tür sprang. Die Frau, die seine Absicht vorausgeahnt hatte, stürzte ihm rasch nach und fiel ihm in den Arm. »Nein, Mel!«, flehte sie in panischem Schrecken, aber er öffnete schon die Tür.

Der Türgriff wurde ihm augenblicklich aus der Hand gerissen, ein furchtbarer Windstoß brach mit der Gewalt einer Flutwelle herein und schleuderte die beiden Menschen wie wehrloses Spielzeug zurück. Die Tür schlug zweimal heftig auf und zu, bevor sie endgültig krachend im Schloss landete. Mühsam rappelten sich der Mann und die Frau auf, Kopf und Arme waren vom Sturz blutig geschlagen, und sie stützten sich gegenseitig, von Entsetzen gepackt, während der Sturm kichernd die Hütte umbrauste und sie mit seiner schrecklichen Macht zum Erzittern brachte. Mit wachsender Angst lauschten die Menschen dem unnatürlichen Orkan, der ihnen mehr und mehr unheimliche Dinge vorgaukelte, und bald glaubten sie in dem atemberaubenden Rütteln und Pfeifen die dröhnenden Tritte einer gigantischen Bestie und einen markerschütternden, einem Blöken ähnlichen Schrei zu hören.

»Hörst du?«, hauchte die Frau zitternd und mit kreidebleichem Gesicht. »Das ... das ist Shyll ... der Widder ...« Sie begann vor Angst hysterisch zu wimmern und zusammenhanglose Worte zu stammeln. »Aber wir haben doch geopfert ... arbeiten immer ... kann er uns denn nie ... grausam ...«

»Halt den Mund!«, knurrte ihr Mann wütend. »Was schert ein Gott sich um die Gerechtigkeit!«

»Wer denn, wenn nicht ein Gott?«, schrie sie auf.

»Du sagst es«, brummte er, während er die Stühle wieder an ihren richtigen Platz stellte. »Wer denn, wenn nicht ein Gott. Wenn ein Gott sich darum scheren würde, säßen wir nicht in diesem Dreckhaufen.«

Sie hielt sich die Hände an die Ohren. »Hör auf so zu reden!«, kreischte sie. »Das ist Gotteslästerung! Shylls Zorn wird uns dadurch nur noch mehr treffen, der Druide hat uns gewarnt, hörst du, er hat uns gewarnt!«

»Schweig endlich!«, brüllte er, holte aus und schlug sie so heftig ins Gesicht, dass sie das Gleichgewicht verlor und stürzte.

»Mutter ...«, wimmerte eines der Kinder, als die Frau sich schluchzend wieder aufrichtete, »Mutter, so hör doch, der Sturm ... er lässt nach ...«

Der Vater stutzte und neigte lauschend den Kopf. »Wahrhaftig ...«, flüsterte er. Der Wind pfiff noch ums Haus, aber er war bedeutend schwächer. Der Zorn Gottes war weitergezogen. »Es ist vorbei«, sagte er erleichtert.

Die Mutter stand schwankend auf und tastete suchend nach dem Arm des Mannes. »Mel...«, wisperte sie. »Hörst du das auch?«

»Fängst du schon wieder damit an?«, entgegnete er böse und hob erneut die Hand, doch sie wich ihm aus und lief zur Tür.

»Das ist ein Kind!«, rief sie und riss die Tür auf. Ein Windstoß, der ihr fast das Kleid vom Leib riss, raubte ihr für einen kurzen Moment den Atem, aber sie achtete nicht darauf. Auf der Türschwelle lag brüllend, die winzigen Händchen zornig geballt, ein Säugling, nur in Fetzen gehüllt, schon ganz blau von der Kälte. Die Frau hob das Kind hoch und brachte es in die Hütte. Der Mann war für einen Moment sprachlos vor Verblüffung; seine Kinder nutzten die Gelegenheit, huschten aus ihrem Versteck und scharten sich neugierig um die Mutter.

»Vermutlich wurde die Mutter vom Sturm fortgerissen«, murmelte sie.

»Ja, und vorher hatte sie noch Zeit, das Kind auf unsere Schwelle zu legen!«, polterte er. »Bist du närrisch? Das ist ein Sturmkind! Willst du uns vollends ins Unglück stürzen?« Er nahm ihr das Kind weg und zerrte die Fetzen beiseite, um es zu betrachten. Für einen Moment herrschte tiefstes Schweigen in der Hütte. »Bei Gott!«, sagte der Mann schließlich betroffen. »Was ist denn das? Selbst Dämonenkinder haben kein solch schreckliches Gesicht.«

»Seht nur, die dunkle Haut ... diese Male«, flüsterten die Kinder durcheinander. »Ja, und diese Augen ... wie schwarze Höhlen ... nicht einmal das Feuer spiegelt sich darin ...«

Auch die Frau beugte sich über den Säugling. »Es ist nur eine Wunde«, erklärte sie. »Es sieht aus, als ob ein Sturmfalke seine Klauen in ihn geschlagen hätte.«

»Also doch ein Sturmkind!«, erwiderte er. »Ich werfe es wieder hinaus. Dieses Wesen ist kein Mensch.«

»Das tust du nicht!«, rief sie in einem ganz ungewohnt festen und autoritären Ton. »Vielleicht ist dies eine Prüfung! Wir dürfen dieses Kind nicht töten, was immer es auch sein mag. Überleg doch einmal, Mel. Es ist ein Knabe, und es sieht sehr kräftig aus. Wir brauchen dieses Kind! Dieses Jahr hat uns schon so viel Unglück gebracht, vielleicht wendet sich jetzt alles zum Guten. Denk an die Steuern: Es ist Gesetz, jeweils einen Sack abzuziehen, wenn im Jahr drei neugeborene Knaben überleben. Dies ist der dritte männliche Neugeborene, und es steht in keinem Gesetz, von wem er geboren werden muss!«

Der Mann überlegte lange; voller Abscheu betrachtete er das winzige Wesen, das abwechselnd rot und blau wurde vor Wut und Kälte; die Wunde an der rechten Wange pochte wie ein blutiges Herz. Abgesehen von dem schrecklichen Gesicht und den leeren Augen war der übrige Körper allerdings wohlgeformt. »Meinetwegen«, meinte er schließlich. »Überlassen wir es diesem Wurm, ob er überleben will. Er soll bekommen, was übrig bleibt, überlebt er, ist es gut, stirbt er, ist es auch gut.«

Die Frau tastete das rechte Ärmchen ab, an dem eine wertlose Spange mit einem dünnen Lederriemen befestigt war. »Da steht etwas drauf«, sagte sie und deutete auf schwache, verwischte Zeichen. Ihr Mann betrachtete die Schrift, er hatte als Jüngling ein wenig lesen gelernt. »H ... a ... l«, entzifferte er mühsam und schwerfällig. »Das heißt Hal. Der Rest ist unlesbar.«

»Hal«, sagte sie zufrieden. »Sturmkinder haben keine eigenen Namen. Vielleicht kommt er von Drüben, jenseits des Meeres.«

»Das ist doch egal«, erwiderte er. »Es ist nicht wichtig. Er mag fremd sein, er mag kräftig sein, vielleicht ist er ein Sturmkind. Jedenfalls ist er noch unbedeutender als wir. Er ist genauso unbedeutend wie sein Name.«

So wuchs das Sturmkind namens Hal in dem armseligen Dorf heran. Zu dieser Zeit war Erytrien fest in der Hand des Druiden, selbst im kleinsten Dorf stand Shylls Tempel und verlangte demütige Unterwerfung und den Tribut seiner sterblichen Untertanen. Erytrien war stets eine reiche Insel gewesen, und zu manchen Zeiten hatte es keine Armen gegeben. Man hatte es das Goldene Zeitalter genannt, das so lange dauerte, bis ein Druide, der mächtigste Schmiedemeister seiner Gilde, den Wert von Eisen entdeckte und damit Metalllegierungen für Waffen und Rüstungen erfand. Der erste Mord aus Habgier war schnell geschehen, und so begannen die Kriege. Am Ende der jahrhundertelangen Schlachten gab es nur noch Krieger und verzweifelte Frauen, die mit ihren Kindern ums Überleben kämpften, und außer Angst und der ständigen Jagd nach Nahrung und einer sicheren Bleibe für die Nacht gab es keine Gedanken. Auf die Kriege folgte die Unterdrückung durch die Sieger, und das waren natürlich die Druiden und die mächtigen Landesherren, die ihre Machtstellung bis heute unangefochten innehatten. Diese Nachfahren der damaligen Edlen und Zaubermeister hatten mit ihren Ahnen nichts mehr gemeinsam, sie hatten das Wissen in den Kriegen vergessen; durch die langen Entbehrungen waren sie nur noch vom Verlangen nach Befriedigung erfüllt, und dazu war ihnen jedes Mittel recht.

Die folgenden Generationen wurden in eine ausgebrannte, verblutete Welt hineingeboren, die vom Aussatz der Tyrannei befallen war und dumpf vor sich hinvegetierte. Liebe und Zärtlichkeit hatten in dem ewigen Kampf gegen Hunger, Ausbeutung, Wetter und Krankheit kaum Platz. Die Kinder wurden nahezu ohne Fürsorge aufgezogen, sodass nur die Stärksten überleben und dem Landesherrn die wertvolle Arbeitskraft erhalten konnten.

Hal, den anfangs manche noch Sturmkind nannten, erwies sich als überaus zäh, denn er hatte es noch schwerer als die anderen. Er verdaute sowohl die Prügel zum Frühstück, das Haferbrot zum Mittagessen und die Wassersuppe am Abend ohne Beschwerden, und seine eiserne Gesundheit konnte durch kein noch so grausames Wetter erschüttert werden. Wenn er nicht anders gewesen wäre, hätte er sicherlich einen festen Platz in der Dorfgemeinschaft finden können. Seine dunkle Haut und die schwarzen Haare wären ihm vielleicht verziehen worden, hätte sich nicht das schreckliche, entstellende Mal auf seiner rechten Wange befunden, das sich wie ein Fluch von Jahr zu Jahr tiefer in sein Antlitz grub. Noch mehr als die Falkenklaue aber fürchteten die Leute seine Augen, die so leer und schwarz wie das Nichts waren. In Hals Blick lag nicht die Spur eines Gefühls, eines Gedankens; es war, als existierte er nicht wirklich, sein Körper war wie eine leere Hülle. Diese Abgekehrtheit von der Welt reizte die Leute erst recht, ihn zu quälen, um ihn zu einer Reaktion zu verleiten. Vor allem die Kinder ließen ihre Angst und ihre Wut an ihm aus; aber er erwiderte keinen Angriff, blieb stets ruhig und gelassen. Da ihm alles so gleichgültig war, erhielt er mit fünf Jahren den niedrigsten aller Posten, nämlich die Schweine zu hüten, und da er sich auch später nie dagegen wehrte, blieb ihm diese Aufgabe zu seinen zusätzlichen Schwerarbeiten erhalten. Statt Sturmkind nannte man ihn jetzt den Prinz der Schweine, und selbst die kleinsten Knirpse lachten ihn aus, denn er war nun fünfzehn Jahre alt und damit eigentlich schon ein Mann. Kein anderer hätte diese Schande ertragen können, aber Hal zeigte sich davon unberührt und verrichtete gleichmütig seine Arbeit.

An einem Tag braute sich das Unglück schon sehr früh über Hal zusammen; als er auf dem Weg zum Koben war, konnte er gerade noch sehen, wie zwei Jungen kichernd wegrannten. Im selben Moment wie er erkannte auch der mächtige Eber, ein wertvolles Zuchtschwein, das offene Gatter. In seinen tückischen kleinen Augen blitzte ein Licht auf, und er stieß einen durchdringenden Schrei aus, der sofort die ganze Rotte auf die Beine brachte. Der Junge warf sich dem schwarzen Biest entgegen, wurde jedoch von dem schweren Tier mühelos beiseite geschleudert, und er landete mit einem dumpfen Schlag kopfüber im Schlamm, während die Schweineschar mit grotesken Sprüngen hinaus auf die Weiden flüchtete.

Die Jungen betrachteten das Schauspiel aus sicherer Entfernung johlend und pfeifend. »Oh, zu Hilfe, herbei! Aufstand, Aufstand! Die Untertanen Seiner Hoheit sind entflohen! He, Hal, erlauchter Prinz der Schweine! Meinst du, dass deine Untergebenen dich mehr lieben, wenn du dich mit ihnen im Schlamm wälzt?«

Hal rappelte sich schweigend auf und griff nach seinem Stock; er beachtete die Jungen nicht und wäre fast mit dem Verwalter zusammengestoßen, der mit halb entrollter Peitsche und schweren Schritten auf ihn zustapfte.

»Verdammter Bastard!«, fluchte er. »Selbst zum Sauhüten bist du zu dumm!«

»Ich kann nichts dafür«, murmelte Hal. Er hatte eine für sein Alter erstaunlich tiefe Stimme, die sanft und ausdruckslos zugleich klang. »Das Gatter war offen, bevor ich hinkam.« Es war eine Feststellung, keine Verteidigung, aber den Verwalter interessierte das nicht. Er schlug dem Jungen mit geballter Faust ins Gesicht, und Hal stürzte ein zweites Mal rücklings in den Schlamm.

»Werde nicht auch noch frech, du hässliche Kreatur!«, zischte der Verwalter. Hinter ihm lärmten die Kinder laut; ihre Freude darüber, nicht selbst die Gequälten zu sein, kannte keine Grenzen. Der Verwalter wirbelte herum und ließ die Peitsche über ihre Köpfe zischen. »Packt euch!«, schrie er, und da sie nicht schnell genug flüchteten, setzte er ihnen mit großen Schritten nach.

Hal stand inzwischen langsam auf, wischte das Blut aus dem Gesicht und reinigte notdürftig seinen Kittel von dem stinkenden Schlamm. Er warf einen kurzen Blick zum Himmel, an dem der erste dämmrige Silberstreif erschien. Zu dieser frühen Stunde waren heute die meisten Leute schon auf, denn es war Handelstag, und die Arbeit musste getan sein, bevor der Landser erwachte. Einige Frauen, die am Schweinekoben vorbeikamen, blieben stehen und schüttelten missbilligend die Köpfe. »Bei allem Respekt, Herr«, sprach die Älteste den Verwalter an, als er zurückkam, »wirklich, das geht zu weit. Heute ist Markttag, und Ihr könnt Euch ja wohl denken, was der Baron sagen wird, wenn er das hier sieht.«

»Man muss sich schämen!«, mischte sich eine andere Frau mit schriller Stimme ein. »Für andere schämen, jawohl!«

»Ja, schon recht«, knurrte der Verwalter, der selbst wusste, was zu tun war. »Ich regle das schon, ihr braven Frauen (ihr Schwatzdrosseln, dachte er, haltet bloß euer Maul und mischt euch nicht in Dinge ein, die euch nichts angehen). Erledigt ihr nur eure Arbeit.« Er starrte den Jungen zornerfüllt an, der seinen Blick reglos und unbeeindruckt erwiderte. »Du hast es ja gehört«, fuhr er streng fort. »Am liebsten würde ich dich fortjagen, aber solange du deine Schuld bei uns nicht abbezahlt hast, lasse ich dich nicht gehen.«

»Ich habe euch nicht darum gebeten, mich aufzuziehen«, erwiderte Hal ruhig. »Ihr hofftet auf meine Arbeitskraft, und die habe ich euch gegeben. Ich schulde euch nichts.«

Dem Verwalter blieb für einen Moment die Luft weg, sein Gesicht lief dunkelrot an, und dann brüllte er: »Und dafür haben wir dich aufgezogen, du undankbares Tier!« Die Faust schon erhoben, besann er sich doch anders. »Nun gut«, fauchte er. »Das sollst du mir büßen, Junge, das verspreche ich dir. Heute Abend sehen wir uns, und dann werde ich dich Benehmen lehren!«

Hal schwieg. Der Verwalter entspannte seine verkrampften Muskeln und atmete einige Male tief durch, um sich zu beruhigen; sein scharfes Gehör hatte den ungeduldigen Ruf des Landsers bereits vernommen, und er wusste, dass er sich beeilen musste. »Los, fang die Schweine wieder ein und bring sie her! Sie sollen heute verkauft werden, und wenn du nicht selbst mit verkauft werden willst, solltest du dich verdammt sputen!«

Hal drehte sich augenblicklich um und folgte langsam der Spur der Schweine. Als er die Dorfgrenze hinter sich ließ, lief er schneller; er wusste genau, wo er die Schweine suchen musste. Im Gegensatz zu ihm waren die Tiere gut gefüttert und kamen nie weiter als über einen Hügel. Hal hatte nicht die Absicht, dem Gebot des Verwalters zu folgen, er kannte den Ablauf des Markttages zu gut, und er war der Ansicht, diesen Tag besser zu verbringen. Unbarmherzig jagte er die empört quiekenden Schweine über die Felsenhügel zu den Almweiden hinauf; die fetten Tiere wurden schnell müde, keuchten und schnaubten und grunzten vor Wut, aber es half ihnen nichts. »Ihr solltet mir dankbar sein!«, rief Hal. »Ich rette euch vor dem Kochtopf!«

Als sie in den Morgendunst hinaufkamen, blieb Hal stehen, denn dieser Platz war gut, für ihn wie für die Schweine. Einige fielen erschöpft um, die anderen prusteten und standen kopfhängend und schlappohrig da. Der schwarze Eber jedoch wühlte tatkräftig das feuchte Erdreich auf und wälzte sich mit behaglichem Grunzen.

Hal stützte sich auf seinen Stab und schaute über das Land. Dies war einer der wenigen Augenblicke, in dem Leben in seine Augen trat, Aufmerksamkeit und Teilnahme; nichts konnte ihn aufhalten, wenn er das Leben in sich spürte und einen guten Tag vor sich sah.

So weit das Auge reichte, erstreckten sich terrassenförmig blühende Almweiden bis zu den Felsregionen der Berge. Ungezählte Rauchsäulen stiegen aus den Dörfern im Tal in den Himmel hinauf; Hal konnte in der Talsenke unter sich gerade noch sein Dorf erkennen, in dem sich Menschen und Tiere wie Ameisen bewegten. Hier oben gerieten alle Sorgen in Vergessenheit, die Luft roch würzig nach Kräutern und Blumen, Vögel zwitscherten unbeschwert. Man konnte sogar den Hunger vergessen, der sonst stets in den Eingeweiden wühlte. Im Osten erschien jetzt am Rand des Horizonts ein riesiger flammender Feuerbogen, der seine Glut rasch über den Himmel ausbreitete und ihn rot und gelb färbte; der Morgendunst verging in der Hitze, die letzten Streifen zogen sich flüchtend durch den Äther, und die Wiesen leuchteten frisch und tauglitzernd auf. Die scheuen Nachttiere warteten noch jenen kurzen Moment der Wärme ab, ehe das starke Licht sie vertrieb; und während sie flohen, schwangen sich die ersten Singvögel bereits jubelnd in die Luft. Die Schweine hatten für eine solche Euphorie keinen Sinn; kaum wieder zu Atem gekommen, freuten sie sich nun auf eine frische Mahlzeit und gruben leise quiekend nach Pilzen und Wurzeln. In den Untiefen von Hals Augen leuchtete ein seltsamer rötlicher Funke, als er so dastand und beobachtete. Langsam trat er über in eine andere Wirklichkeit, die ebenso ein Traum sein konnte, und der Gedanke kam ihm, dass es irgendwo ein anderes Leben, einen anderen Frieden oder eine andere Wahrheit geben konnte. Er konnte den Ruf des Bergadlers hören, vernahm das warnende Husten der Pipas; die aggressive Kraft des Greifs umwehte ihn wie ein Windstoß, er spürte die Angst der kleinen Nager in ihren Höhlen, und das Mal an seiner Wange begann zu brennen und im Takt mit den Tierherzen zu pochen. Ihm war, als begänne er aufzusteigen: Leichtigkeit, Schwerelosigkeit, ein seltsamer Auftrieb erfüllte sein Innerstes, und er sah vor sich den Falken, körperlos wie ein Sturm, der seine Schwingen ausbreitete und aufstieg, höher noch als der Adler, hinauf in andere Sphären; und er flog rasend schnell wie ein Blitz und jagte wie kein anderer Greif das Leben.

Hal öffnete die Augen, als er das Pfeifen hörte, und sah über sich den Falken. Sein Gefieder schimmerte blutrot, die großen runden Augen waren gelb wie die Sonne, die mächtigen Fänge schwarz wie die Nacht. Ruhig und elegant kreiste der Greif vor dem azurblauen Himmel und rief mit gelbem Schnabel, und Hal versuchte seinen Gesang zu verstehen. Langsam, bittend, streckte er die Hände aus; sein Geist forderte den Falken zu sich herab, damit er ihn aufnahm und fortflog mit ihm ...

Der Raubvogel schrie jedoch nur, voller Verachtung und Hohn, und drehte stolz ab. Er zog immer weitere und größere Kreise, bis er rüttelnd verhielt – und plötzlich wie ein Pfeil, mit angelegten Schwingen herabschoss. Leuchtend und zuckend stürzte er wie eine brennende Fackel auf den Jungen herab, die scharfen Fänge zum Stoß bereit.

Hal erschrak. Der schrille Schrei des Falken schmerzte in seinen Ohren; er verstand den Angriff nicht: Dieser Falke war sein, war er selbst, sein eigener Traum! Abwehrend hielt er die Hände vor sein schutzloses gezeichnetes Gesicht, Worte drängten sich in seiner Kehle, die er unbewusst hervorstieß; rückwärts taumelnd wollte er die Flucht ergreifen, glitt aus und stürzte zu Boden. Das wirbelnde Rot des Falken hüllte ihn ein, und er fühlte einen furchtbaren Stoß, in seinen Ohren explodierte etwas mit einem lauten Knall, und während sein Bewusstsein schwand, hörte er einen wütenden Schrei, der nicht aus seiner eigenen Kehle kam.

Er wusste nicht, wie lange er ohnmächtig gewesen war, als er wieder zu sich kam und vorsichtig die Augenlider hob. Sein Körper schmerzte überall, als hätte er einen großen Kampf gefochten, und vor seinem rechten Auge war ein undurchsichtiger roter Schleier. Unwillkürlich betastete er seine Wange und zuckte zusammen. Nachdenklich starrte er auf das Blut an seinen Fingern, das purpurfarben wie das Gefieder des Falken schimmerte. Mühsam stand er auf, taumelte zu einem kleinen Wasserloch und beugte sich darüber. Das Mal war aufgeplatzt, und aus den Furchen lief das Blut in warmen Strömen über die Wange hinab. Es sah mehr denn je wie eine Falkenklaue aus, und für einen kurzen Moment schauderte es Hal vor sich selbst. Er fuhr zusammen, als neben ihm im Wasserspiegel plötzlich der borstige schwarze Schädel des Ebers auftauchte, der sein übelriechendes Maul öffnete und die mächtigen gelben Hauer wie zu einem Grinsen entblößte.

»Na bitte!«, redete er in der Menschensprache. »Das kommt davon!«

Hal, der fest glaubte, immer noch zu träumen, fragte in das Wasser hinein: »Was kommt wovon?«

»Mach dich nicht lustig über mich!«, schnaubte der Eber und wackelte mit einem Ohr. »Glaube nicht, dass du dich so leicht herausreden kannst. Immer, wenn sich ein Mensch damit abgibt, passiert ein Unglück, darum haben sie es auch verboten. Ganz abgesehen davon, dass die Druiden außerhalb ihrer Gilde keine Zauberei dulden können.«

»Zauberei?« keuchte Hal. »Willst du etwa behaupten, dass ich gezaubert hätte?«

»Bei meinen Borsten!«, quiekte der Eber aufgebracht. »Wie würdest du das denn sonst nennen, was du getan hast?«

»Ich ... weiß es nicht«, gestand Hal zögernd.

»Jungchen, aber dir ist doch sicherlich aufgefallen, dass du mich plötzlich verstehen kannst, nicht wahr?«

Hal nickte.

»Nun siehst du, Sohn eines Hundeflohs, du hast geträumt und dabei dein Gesicht zerfleischt, und aus dem Blut formtest du den Falken, und, bei meiner Speckschwarte, das war wirklich prachtvoll anzuschauen!« Der Eber wackelte mit seinem Rüssel. »Soweit alles verstanden?«

»Ja. Aber weshalb wandte der Falke sich gegen mich?«

»Das war natürlich die Magie, die sich gegen dich wandte. Wer die Zauberei nicht beherrscht, gegen den wendet sie sich mit der Stärke, wie sie hervorgerufen wurde. Das ist ähnlich wie beim Feuer und allen wilden Tieren: Was nicht gezähmt ist, überwältigt dich – doch selbst wenn du es kontrollierst, kannst du vor der Unberechenbarkeit alles Freien und Wilden nie ganz sicher sein.«

»Habe ich es besiegt?«

»Du hast dich erfolgreich gewehrt, könnte man sagen, und die Magie abgelenkt, zum Teil auf mich. Ich verzeihe dir, denn das ist mir nicht das erste Mal passiert.«

Hal schüttelte den Kopf. »Ich verstehe das alles immer noch nicht. Und weshalb kann ich mit dir sprechen?«

»Reste der Magie«, antwortete der Eber. »Bald wirst du wieder glauben, dass ich nur grunzen kann. Aber das liegt daran, dass ihr Narren seid.«

»Und du bist wohl das kluge Schwein«, sagte Hal spöttisch.

Der Eber bleckte seine Hauer. »Natürlich bin ich das. Ich bin nicht so blöd wie du oder die anderen Schweine. Die Natur hat mich in diesem Leben zum Sklaven gemacht, und dennoch geht es mir besser als dir.«

»Bis du geschlachtet wirst.«

»Ich doch nicht, o nein, nicht ich«, rief der Eber. »Kleiner, ich kenne die Magie beinahe ebenso gut wie die Druiden. Ich bin ein Verfluchter, der die Erinnerung an alle seine früheren Leben besitzt und seine vierhundertjährige Strafe für alle Vergehen in dieser Gestalt bezahlen muss. Ha, es ist nicht zu ändern. Ich habe mich längst daran gewöhnt: Ich habe stets genug zu fressen und so viele Weiber, wie ich sie mir nur wünschen kann. Vor dem Schlachtbeil weiß ich mich schon seit mehr als dreihundert Jahren zu schützen. Ja, ich bin schlau, aber darüber hinaus bin ich auch noch immer voller Hass, der in all den Jahren eher noch gewachsen ist. Mein Hass gilt den Druiden! Sie sind schuld an meinem Zustand. Ich war einst ein sehr mächtiger Fürst, und ich kannte Erytrien noch ohne den Knüppel des Goldenen Widders, und ich habe meine früheren Leben und all die Zeit als Schwein damit verbracht, Pläne zu schmieden, um die Macht der Druiden zu brechen. Und als du mit dem Sturm ins Dorf kamst, wusste ich, dass meine Sehnsucht endlich Erfüllung finden würde.«

»Was habe ich damit zu tun?«

»Du stammst aus irgendeinem fremden Land dieser verteufelt riesigen Welt, die man Waldsee nennt. Du kommst von jenseits des Meeres, du hast Magie in dir in Form eines Traumes und bist gezeichnet durch irgendein Geheimnis deiner Abstammung. Du bist anders als die Menschen von Erytrien, und du kannst für mich und alle anderen Erschlagenen Rache nehmen.«

»Du bist verrückt! Warum sollte ausgerechnet ich, ein Fremder, Ausgestoßener, eure Rache ausüben?«

»Hal!«, stieß der Eber eindringlich hervor. »Unsere Rache wird auch dir nützlich sein: Nur so kannst du das Geheimnis deiner Herkunft erfahren, nur so wirst du jemals wissen, wer du bist, und deine Magie beherrschen können, und nicht nur von ihr träumen!«

»Aber daran liegt mir doch gar nichts!«

»Hal, denk an deinen Traum, erinnere dich an den Purpurfalken! Das Leben hast du da gespürt, dein Leben! Willst du behaupten, dass dich das nicht berührt?«

»Sei endlich still!«, rief Hal verzweifelt und bedeckte seine Augen, die seltsam aufflackerten.

»Du musst Chaqong ausschalten! Er ist das Oberhaupt aller Druiden und der wahre Herrscher von Erytrien! Er hat die Magie im Druidenstein gesammelt, im Meteor vom Blauen Stern, dort findest du seine Macht! Doch damit ist es nicht getan, für die absolute Herrschaft hat er ein anderes Machtmittel, das er gestohlen hat. Nimm es ihm weg, und alle Rätsel werden gelöst sein und seine Herrschaft beendet!«

»Wovon sprichst du nur?«, schrie Hal völlig verwirrt.

»Ich kann den Namen nicht aussprechen, quiek«, klagte der Eber, »es ist ... es ist ...« Er bebte vor Anstrengung, den Namen herauszubringen, und in einer letzten Kraftanstrengung stieß er das Wort Stern hervor; Hal bedrängte ihn, weiterzusprechen, aber ihm antwortete nur noch das schrille Grunzen eines schwarzen Schweines.

II

Xav

Am Nachmittag fuhr Hal aus tiefem Schlaf hoch; er wusste nicht mehr, wann er eingeschlafen war, und blickte suchend um sich. Die Wunde an seiner Wange hatte sich geschlossen, als wäre sie nie aufgeplatzt, und das Gespräch mit dem sprechenden Schwein hatte sich so tief in sein Innerstes zurückgezogen, während er geschlafen hatte, dass er sich auch daran nicht erinnern konnte. Im Augenblick wusste er nur, dass er den Markt verschlafen und den Verwalter vermutlich zur Raserei gebracht hatte. Langsam stand er auf, gähnte und streckte sich und trieb die Schweine dann die Hügel hinab. Die Strahlen der untergehenden Sonne warfen kupferne Lichter auf den Schotter der Straße, die verspielt vor Hals nackten Füßen tanzten, aber der Junge achtete nicht darauf. Er hatte nie gespielt, und die Träume hatten sich mit dem Betreten der Straße tief in ihn zurückgezogen und das Leben in seinen Augen gelöscht. Er lief rasch und leichtfüßig, ohne auf seine Umgebung zu achten, und die Schweine trotteten leise quiekend neben und hinter ihm. Am Scheideweg zum Dorf hörte er Hufgetrappel und das ratternde Holpern von Wagen, und er klopfte mit einer Hand leicht an seinen Schenkel, um die Tiere beisammenzuhalten. Er lief mit gesenktem Kopf dicht am Wegesrand weiter; sein Mund verzog sich leicht, als der scharfe Geruch von schweißnassen Pferden in die Nase drang. Die Schweine grunzten und liefen aufgeregt durcheinander, als sich dampfende Reitpferde und schwere Karrenrösser wiehernd und schnaubend an ihnen vorbeidrängten. Der aufwirbelnde Staub zwang Hal, stehen zu bleiben, und er rieb sich hustend Nase und Augen.

»Nanu«, erklang eine belustigte Stimme über ihm. »Was haben wir denn da für ein Bürschlein?«

Hal blickte blinzelnd auf ein mächtiges braunes Ross, auf dem ein prächtig gekleideter Mann mit einem gut geschnittenen, aber grausamen Gesicht saß und zu ihm herablächelte. »Nun?«, fuhr der Baron mit jener gefährlichen Freundlichkeit fort, die die Aristokraten dem gemeinen Volk vor dem Todesstoß entgegenbringen. »Wer bist du?«

Die Gefolgsleute des Barons, zumeist Schlächter genannt, hatten ebenfalls angehalten und musterten den Jungen mit boshaft funkelnden Augen. Sie waren große, schwer gebaute Männer, schmutzig und verwahrlost bis tief in die Herzen; nur ihre Augen und die Waffen glänzten und blitzten klar und scharf. Der Baron nahm sich schön und leuchtend neben ihnen aus, dabei war er noch grausamer und bösartiger als sie.

»Ich bin Hal«, antwortete der Junge schließlich und blickte ruhig zu dem Edelmann hoch, dessen beringte Finger nachlässig mit der Peitsche spielten. Seine blauen Augen blitzten auf, als sie den schwarzen Untiefen im Blick des Jungen begegneten.

»Und wo kommst du her?«, fragte der Baron, als würde es ihn wirklich interessieren.

»Aus dem Dorf da hinten«, erwiderte Hal und wies mit seinem Stab auf die Häuser.

»Herr!«, brüllte der Baron.

»Herr«, fügte Hal hinzu.

»Bist du dort etwa geboren?«, fuhr der Baron fort und beantwortete seine Frage gleich selbst: »Nein, natürlich nicht. Du bist ein Bastard, vom Himmel gefallen vermutlich. Ausgesetzt, wie?«

»Ja, Herr.«

Der Baron zeigte mit der Peitsche auf die Schweine, die sich um den Jungen scharten. »Und diese da«, sagte er leise, »die sind wohl auch vom Himmel gefallen, gerade eben?«

»Sie waren ausgebrochen, Herr.«

Einer der Männer lachte lauthals. »Die haben geahnt, dass sie heute als Braten enden sollten!«

Der Baron achtete nicht auf den Einwurf, sondern fixierte den Jungen zornig. »Eine zu leichte Antwort, Hal. Du hattest nicht zufällig Ahnung davon, dass heute Markttag war und ich unter anderem eine beträchtliche Anzahl Schweine kaufen wollte?«

Hal schwieg. Der Baron schwieg ebenfalls; er schien zu überlegen. In dem Gefolge entstand Unruhe, als ein anderer Mann, der sich bis jetzt still und unbemerkt im Hintergrund gehalten hatte, sein Pferd neben den Baron lenkte. Er trug die Kleidung und die Waffen eines Kriegers, seine Statur war mächtig, und sein scharf geschnittenes bartloses Gesicht wirkte hart, aber nicht böse. Er besaß eine ungewöhnliche, autoritäre Ausstrahlung und einen direkten, durchdringenden Blick. Man konnte sofort spüren, dass dieser Mann nicht der Befehlsgewalt des Barons unterstand, denn er wirkte sehr selbstsicher.

»Haltet Euch nicht auf, Herr«, sprach er respektvoll mit tiefer, grollender Stimme. »Wir müssen vor Einbruch der Nacht in Xav sein.«

»Ja, Hetman. Gleich«, entgegnete der Baron scharf. »Ich muss erst diese Sache hier entscheiden.«

Der Hetman hob seine buschigen Brauen. »Entscheiden, Herr, in welche Wagen die Schweine verladen werden sollen? Ich halte das für nicht so wichtig. Die Hauptsache ist doch, dass wir die Tiere umsonst bekommen haben und uns das Handeln ersparen konnten.«

Der Baron sah überrascht zu ihm, dann lachte er schallend. »Ein Glücksfall, fürwahr, und ich will gern Gnade vor Recht ergehen lassen. Vermutlich haben sie dem Jungen eingebleut, nicht vor Sonnenuntergang heimzukommen, aber er hat es trotzdem nicht verstanden.« Er beugte sich im Sattel vor und betrachtete Hal mit gierigen Blicken. »Er ist irgendwie kurios. Und so wundervoll hässlich. Wir sollten ihn ebenfalls mitnehmen, vielleicht eignet er sich ja als Hofnarr.«

Der Hetman musterte Hal mit ruhigen grünen Augen. »Dafür ist er zu plump, Herr«, erwiderte er und lachte rau. »Aber ich will verdammt sein, wenn er nicht einen guten Ersatz für unseren Stallknecht abgeben wird! Der Fürst wird seine helle Freude haben, wenn er das erfährt.«

Der Baron gab ein Zeichen, und zwei Männer sprangen von ihren Pferden und packten Hal. Er leistete keinen Widerstand, ganz im Gegensatz zu den Schweinen, die fluchtartig in alle Richtungen davonstoben. Sie wurden jedoch schnell eingefangen; nur der schwarze Eber entkam, der die Häscher einfach umwarf und erstaunlich schnell davonrannte. Hal glaubte, ihn lachen zu hören, ehe er hinter den Hügeln entschwand. »Lauf, Schwarzer«, murmelte er. Die Männer zerrten ihn grob zu einem Karren und warfen ihn hinein. Der Trupp setzte sich inzwischen in Bewegung, und Hal wurde hilflos zwischen durcheinanderfallenden Käfigen und Truhen umhergeschleudert und schlug sich an Kopf, Armen und Beinen an, bis er endlich sein Gleichgewicht wiederfand und sich einen halbwegs sicheren Platz im hinteren Teil des Wagens erobern konnte. Er fühlte, wie sein Magen wütend gegen das Gerüttel rebellierte, und schnappte gierig nach der frischen Luft, die durch die auf- und zuschlagenden Planen hereingeschubst wurde; hie und da konnte er noch einen Blick auf sein Dorf erhaschen. Er wusste, dass er es nie wiedersehen würde, aber er fühlte kein Bedauern.

Der Baron ritt an der Spitze des Trosses neben dem Hetman. »Hetman, Ihr sollt nicht denken, dass ich auf Eure geschickten Bemerkungen hereinfalle. Aber ich bin Euch dennoch dankbar für Eure zweimalige Einmischung, denn Euer Verstand arbeitet kühl und scharf, während meiner von zu vielen Nebensächlichkeiten und Begierden verwirrt wird«, erklärte er nicht unfreundlich.

Der Hetman lächelte. »Herr, an Eurer Klugheit habe ich nie gezweifelt, aber Ihr würdet mir respektlose Zurechtweisungen und plumpe Reden nie verzeihen, darum denke ich, wir sollten bei unserem Spiel bleiben. Ihr wisst, wie ich es meine.«

Der Baron nickte. »Hetman, von all den Menschen, die mir bisher begegnet sind, seid Ihr außer dem Fürsten der einzige Mensch, dem ich wirklich Achtung entgegenbringe. Ich weiß, dass Ihr von dieser Auszeichnung nichts haltet, ebenso wenig wie Ihr mit meiner Art zu leben einverstanden seid, aber für mich ist diese Tatsache so bemerkenswert, dass ich sie einmal erwähnen muss.«

Der Hetman warf ihm einen kurzen Blick zu. »Ihr irrt Euch«, widersprach er. »Eure Worte ehren mich sehr, denn wenn ich ehrlich bin, verstehe ich nicht, weshalb ein Mann wie ich überhaupt die Stellung eines Hetman an einem solchen Hofe erhalten kann.«

»Nun, das ist leicht erklärt«, antwortete der Baron. »Für die Stellung eines Hetman braucht man eine wirklich vertrauenswürdige Person, die nicht nur bei der Herrschaft, sondern auch bei den einfachen Leuten beliebt ist. Man findet unter Tausend höchstens einen, der alle diese Voraussetzungen erfüllt. Ihr habt aus Eurer närrischen, sentimentalen Einstellung von Gleichberechtigung und all diesem Unsinn nie einen Hehl gemacht, und darum wissen wir, dass Ihr uns nie verraten oder hinterrücks ermorden werdet. So etwas ist mehr wert als hundert Totschläger, glaubt mir das.«

Der Hetman drehte sich im Sattel um und warf einen Blick auf die nachfolgenden Wagen; er hatte einen Blick gespürt, zwei schwarze Augen, die ihn durch eine Plane hindurch beobachteten. Für einen Moment kreuzten sich ihre Blicke, dann richtete der Hetman sein Augenmerk wieder nach vorn.

Die Burg Xav des Fürsten Rheys erhob sich auf einem gewaltigen Felsen inmitten eines Waldes an der Meeresküste. Sie war nur von einer Seite auf einer breiten Straße zugänglich; mächtige stachelbewehrte Mauern mit gut bewachten Zinnen und Türmen beschützten die großen Häuser, Höfe und Gärten im Innern. Das Hauptgebäude war schlossartig mit vielen Erkern und Türmchen aufgebaut; das Felsgestein war grau und großporig und gab Xav einen rauen, verwildert wirkenden Eindruck. Hier lebten viele Menschen, Diener und Höflinge, die einen so elend und ausgebrannt wie die anderen wohlgenährt und gelangweilt. Hier konnte nur der überleben, der zuerst zuschlug und sich seinen Platz in der Hierarchie sicherte. Fürst Rheys war im Grunde ein recht kluger und verständiger Mann, aber er sah keine Notwendigkeit darin, die Dinge zu ändern, solange er dabei immer reicher wurde und in Frieden leben konnte. Er wusste, dass es einmal eine andere Zeit gegeben hatte, bevor die Magie in den Druidenstein gebannt worden war und den Druiden dazu diente, ihre Machtstellung zu behaupten. Zu jener Zeit waren noch Menschen und Unsterbliche Freunde gewesen und hatten gemeinsam Lieder gesungen; Rheys besaß sogar noch einige Abschriften der alten Legenden, in denen von Schiffen berichtet wurde, die die Länder jenseits des Meeres besucht hatten. Dies alles war nahezu in Vergessenheit geraten, als die Kriege begonnen hatten. Es waren nicht nur die Menschen gewesen, die gegeneinander gekämpft hatten, sondern auch die Druiden und die Unsterblichen hatten eine gewaltige Schlacht um Macht und Magie ausgetragen, in deren Verlauf Shyll, der Hässliche Gott, selbst eingegriffen hatte und die Unsterblichen zum ewigen Schlaf in die Hügel der Schneeäpfel verbannte. Rheys wusste, dass es keine weltliche, religiös ungebundene Macht mehr geben konnte, bis die Herrschaft der Druiden ein Ende fand; dennoch träumte er hin und wieder von anderen Tagen. »Einer von uns«, pflegte er manchmal zu sich selbst zu sagen, »einer von uns würde dann Hochkönig werden über die Insel und einen Rat bilden mit den Landesherren ... aber dazu kann es nie kommen, solange Shyll seine grausame Hand über uns hält. Er fordert Opfer, und wir geben sie ihm.« Er verhielt kurz nachdenklich und schüttelte dann den Kopf. »Ein seltsamer Gott, der davon lebt, dass sein Volk ihn hasst«, murmelte er. »Aber vielleicht ist gerade das seine Stärke. Im Grunde hält er uns doch nur den Spiegel unserer Seele vor: Die Burgen sind reich, das Volk arm, wie es sich gehört. Der große Fisch frisst den kleinen Fisch, das ist schon ein Naturgesetz.«

»So ist es, mein edler Herr«, erklang die Stimme des Barons im Eingang der Halle. »Darum wollen wir uns auch weiterhin gut mästen, damit wir nicht plötzlich schrumpfen und zu einem kleinen Fisch werden.«

»Tyreyd«, murmelte der Fürst und hasste sich für einen Moment selbst, weil er einen so schrecklichen Mann in seiner Nähe duldete und seine Geschäfte machen ließ. Ich bilde mir ein, besser als er zu sein, weil ich ihn die schmutzige Arbeit machen lasse. Ich verabscheue es, wie er seine Arbeit tut, aber das Ergebnis ist mir angenehm und lässt alles davor vergessen, dachte er voller Selbstironie.

Der Baron goss zwei Becher voll Wein und trat neben den Fürsten. »Herr, ihr denkt zu viel«, meinte er belustigt. »Das schadet noch Eurer Verdauung. Trinkt, das lenkt ab.«

Rheys wandte ihm das hagere Gesicht mit den funkelnden grauen Augen zu. Er war kleiner als der Baron und schmaler gebaut, aber er besaß mehr Ausstrahlung. »Tyreyd, ich bin nicht wie Ihr. Mir genügt Grausamkeit nicht.«

»Ach herrje, das ist nun wirklich ein Problem. Ich habe schon alles ausprobiert, und ich muss sagen, dass die Grausamkeit in der Tat das Einzige ist, was stets Abwechslung und Vergnügen bietet. Wenn ich mir den Kopf über das schlechte Leben zerbreche, werde ich melancholisch und mache mich vor allen lächerlich; wenn ich heiter, lieb und freundlich bin, werde ich von allen nur betrogen und wiederum ausgelacht; bin ich dagegen grausam, so fürchten und hassen sie mich und nehmen mich ernst, und denken immer an mich. Ihre Angst vor mir ist heute größer als ihr Mut, und so kann ich ruhig schlafen und fühle Frieden in mir, da ich alles habe, was ich will. Ich brauche weder die Freundschaft noch die Gunst eines anderen, um anerkannt und geachtet zu sein und als schlauer Kopf zu gelten.«

»Gewiss seid Ihr kein Narr, Tyreyd, aber Eure Methoden sind nicht unbedingt die richtigen, wenn Ihr ein gewisses Alter erreichen wollt.«

»Alter?« Der Baron lachte. »Wozu alt werden, wenn ich bereits alles ausgekostet habe? Was nützt mir Alter, Herr, wenn ich irgendwo sabbernd und gebrechlich in einem Stuhl sitze und auf die Fürsorge der anderen angewiesen bin, von ihnen bespuckt und beschimpft werde?« Er machte eine weit ausladende Geste. »Mein Fürst, das Leben gehört mir jetzt, nicht morgen, und ich kann zukünftig keine Schonung erwarten, nur weil ich einst freundlich gewesen bin. Ihr sprecht von Träumen, irgendwelchen Idealen in Euren langen Sitzungen in der Bibliothek, aber ich frage Euch: Habt Ihr irgendwo in Euren gelehrten Schriften Gerechtigkeit gefunden? Ich habe immer nur erkannt, dass derjenige, der Gutes tut, auch noch mit Füßen getreten wird, und das ist, bei Shyll, nicht mein Lebensziel, sonst wäre ich als Hund auf die Welt gekommen.«