Die Cogheart-Abenteuer: Das Mondamulett - Peter Bunzl - E-Book

Die Cogheart-Abenteuer: Das Mondamulett E-Book

Peter Bunzl

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Beschreibung

Kaum haben sich Lily, Robert und Malkin von ihrem letzten Abenteuer erholt, gibt es neue Aufregung. Der berüchtigte Dieb Jack Door ist aus dem Gefängnis entwischt und auf der Suche nach dem rätselhaften Mondamulett. Doch das ist nicht das Einzige, hinter dem Jack her ist – finstere Geheimnisse aus Roberts Vergangenheit verdunkeln den Horizont und schon bald schweben die Freunde in tödlicher Gefahr. Werden sie Jack überlisten und die Wahrheit ans Licht bringen? Der zweite Band der spannenden Cogheart-Reihe hält bis zur letzten Seite in Atem und entführt die Leser in den Glanz einer vergangenen und geheimnisvollen Welt!

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Seitenzahl: 386

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DIE COGHEART-ABENTEUER

PETER BUNZL

DAS MONDAMULETT

DIE COGHEART-ABENTEUER

DAS MONDAMULETT

Eine mysteriöse Geschichte voller Gefahren und rätselhafter Geheimnisse

PETER BUNZL

LAGO

FÜR HANNAH, DIE ES ZUERST GELESEN HAT.

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen

[email protected]

1. Auflage 2021

© 2021 by LAGO, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Türkenstraße 89

80799 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Die englische Originalausgabe erschien 2017 bei Usborne Publishing Ltd., Usborne House, 83-85 Saffron Hill, London EC1N 8RT, England unter dem Titel Moonlocket.

Text © Peter Bunzl, 2017

Photo of Peter Bunzl © Thomas Butler

Cover and inside illustrations, including map by Becca Stadtlander © Usborne Publishing, 2017

Extra artwork for map by Antonia Miller © Usborne Publishing, 2017

Fir trees silhouettes © ok-sana / Thinkstock; Key © VasilyKovalek / Thinkstock; Brick wall © forrest9 / Thinkstock; Wind-up Key © jgroup / Thinkstock; Clock © Vasilius / Shutterstock; Hand drawn border © Lena Pan / Shutterstock; Exposed clockwork © Jelena Aloskina / Shutterstock; Metallic texture © mysondanube / Thinkstock; Plaque © Andrey_Kuzmin / Thinkstock; Burned paper © bdspn / Thinkstock; Crumpled paper © muangsatun / Thinkstock; Newspaper © kraphix / Thinkstock; Old paper © StudioM1 / Thinkstock; Coffee ring stains © Kumer / Thinkstock / Bikes © Ferdiperdozniy / Thinkstock; Picture frame © hayatikayhan / Thinkstock; Playing card © Maystra / Thinkstock; Back of playing card © Maystra / Thinkstock; Wood texture © NatchaS / Thinkstock; Swirl floral retro frames © milkal / Thinkstock; Jack of Diamonds © Teacept / Thinkstock; Wax seal © bmelofo / Thinkstock; Unicorn shield silhouettes © randy-lillegaard / Thinkstock

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Übersetzung: Christiane Bernhardt, Gisela Fichtl

Redaktion: Christiane Geldmacher

Umschlaggestaltung: Manuela Amode

Umschlagabbildung: vom Original übernommen

Layout: vom Original übernommen

Satz: Röser MEDIA GmbH & Co. KG, Karlsruhe

Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

eBook by tool-e-byte

ISBN Print 978-3-95761-207-6

ISBN E-Book (PDF) 978-3-95762-296-9

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-95762-297-6

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.lago-verlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de

INHALT

VORGESCHICHTE

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

KAPITEL 24

KAPITEL 25

KAPITEL 26

EIN LEXIKON MERKWÜRDIGER WÖRTER

DANK

VORGESCHICHTE

Jack trat durch den Spalt in die Nacht hinaus. Der Hof war still und der Mond hinter dicken dunklen Wolken verborgen.

Neben der Tür ging er in die Hocke und schaufelte mit seinen Händen Schlamm aus einer Pfütze, den er sich auf sein weißes Haar strich. Übel riechende Matschklumpen liefen an seinem vernarbten Gesicht hinunter und sickerten in seine Augen, seine Nase und seinen Mund; er hätte würgen mögen.

Ein Suchscheinwerfer fegte vorbei und ließ den Umriss der vergitterten Fenster aufscheinen. Jack kauerte sich tief hinunter auf den Boden und ließ seinen Blick über die Umgebung schweifen. Der Gefängnishof, die Zellen, der Wachturm, der hohe Einfassungszaun, das Pförtnerhaus, die Eisentore, die hohe, mit Eisenstacheln gespickte Steinmauer: alles unerreichbar. Während seiner langen, glorreichen Geschichte war kein Gefangener je aus dem Gefängnis Pentonville entkommen ...

Er hatte jedoch bereits schwierigere Situationen gemeistert. Es war ein Fehler gewesen, ihn nach fünfzehn Jahren in Hochsicherheitsverwahrung unter ständiger Überwachung hierher ins Ville in eine gewöhnliche Zelle zu verlegen. Die Wärter hatten ihn in den vergangenen Wochen kaum beachtet; sie hatten ihn sogar rausgelassen, um sich Bewegung zu verschaffen. Sie hätten es besser wissen sollen. Aufgrund ihrer Dummheit wäre er bald schon der berüchtigtste Ausbrecher der Welt und ihr größter Entfesselungskünstler!

Er kroch in Richtung des Zauns und zog sich an dem Drahtgeflecht nach oben, kletterte hinauf, schwang sich flink hinüber und ließ sich auf die andere Seite fallen. Mit einem schmatzenden Geräusch landete er und raste auf das Haupttor und die Außenmauern zu.

Am Pförtnerhäuschen zog sich eine Regenrinne empor. Jack streifte seine schmutzigen Hände an seiner Brust ab, nahm einen tiefen Atemzug und fing an zu klettern.

Als er oben angekommen war, zog er sich an der Rinne auf das glitschige Dach und über ein Flickwerk aus Teer und Ziegeln. Über ihm in der Dunkelheit zeichnete sich die Außenmauer ab. In den Fugen sammelten sich Blätter und grüne Mooskügelchen, ein perfektes Versteck für kleine Gegenstände, die jemand sicher verwahrt wissen wollte.

Jack wühlte in einer solchen Fuge und zog ein teerverschmiertes Wirrwarr an Tauen daraus hervor. Er hatte sie im Lauf der vorherigen sieben Tage vor der Werg-Hütte gegen andere Ware eingetauscht. Sie waren ein Bestandteil seiner geheimen Fluchtausrüstung.

Er begann, sie aneinanderzuknüpfen, überprüfte dabei sorgfältig jeden Knoten und zog sie gut fest.

Vor langer Zeit hatte er Fin das beigebracht. Ein guter Knoten könne den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten, hatte er dem Jungen erklärt. Insbesondere für einen Entfesselungskünstler oder einen zum Tod durch Hängen Verurteilten. Bisher war er vom finalen Strick zum Glück verschont geblieben.

Seine Gedanken an die alten Zeiten führten Jack zur Erinnerung an seine Frau und zu dem Plan, den sie vor langer Zeit ausgeheckt hatten, um seinen größten Schatz zu verstecken – den Blutmonddiamanten. Artemisia war vielleicht nicht mehr am Leben, aber bald, sehr bald, würde der große schöne Stein wieder ihm gehören. Und, oh, was für ein diamantener Tag würde das sein!

Jack prüfte den letzten Knoten und band einen schweren Stein ans Ende des Taus. Dann stand er auf und begann, es um seinen Kopf kreisen zu lassen wie ein Lasso. Er gab immer mehr Taulänge dazu, bis der Stein an Geschwindigkeit gewann. Als er schließlich in einem weiten Bogen über seinem Kopf schwirrte, lockerte Jack seinen Griff.

Der Stein flog durch die Luft und in hohem Bogen über die Außenwand hinüber. Einen Moment lang zuckte das Tau und versuchte, sich freizuwinden, doch Jack hielt es gut an seinem Ende fest, und so fiel der Stein auf der anderen Seite der Mauer mit einem dumpfen Schlag auf die Erde.

Einen Moment lang wartete er lauschend ab ...

Uhuuu! Uhuuu!

Ein Käuzchen-Ruf – das Signal, dass die Luft rein war.

Wieder kam ein Suchscheinwerfer rasch näher.

Jack ließ sich bäuchlings auf das Ziegeldach fallen, sprang auf, als er über ihn geschweift war, zog das Tau straff und stemmte sich mit seinem Körpergewicht dagegen.

Die Knoten hielten – hatte er es doch gewusst.

Für besseren Halt zerkratzte er die Sohlen seiner Stiefel auf dem Teerbelag des Dachs.

Dann begann er zu klettern.

Die Fugen zwischen den Steinen boten ihm einen guten Halt. Die Oberseite der Mauer lag etwa fünf Meter über ihm, doch er brauchte nur wenige Sekunden, um dorthin zu gelangen und geschickt über eine Reihe von Metallspitzen zu hüpfen, die den Mauerwall sicherten. Dann machte er sich daran, sich auf der anderen Seite auf die Straße herabzulassen.

Finlo stand unten und trug eine ramponierte Melone. Er war ein bisschen größer als sein Vater, wobei das nicht sonderlich viel hieß – alle Doors waren eher klein geraten. Als fünfzehnjähriger Teenager war er ein mageres, bedauernswertes Bürschchen gewesen. Allerdings hatte er seitdem ein paar Zentimeter draufgelegt und war zum Mann herangewachsen. Vielleicht, dachte Jack, wäre er bei dieser Mission doch noch zu etwas Nutze.

Jack kam auf dem Gehsteig neben seinem Sohn auf und umarmte ihn. Schnüffelnd reckte er seine Nase in die Luft. »Riech doch mal diesen pfeffrigen Duft, Fin. Den habe ich seit fünfzehn Jahren nicht mehr empfunden!«

Finlo nahm einen tiefen Atemzug. »Was meinst du?«

»Freiheit!«

Mit seinem von Narben entstellten Gesicht lächelte er ihn an. Als er auf den Gefängniseingang zuschritt, in ein paar Metern Entfernung entlang der Mauer, begann eine laute Sirene zu heulen.

»Dad, bitte«, rief Finlo leise. »Wir müssen hier weg.«

»Leise! Ich habe noch ein Ass im Ärmel ...« Jack zauberte eine Spielkarte hervor und befestigte sie am Gefängnistor.

Als er seinen Arm sinken ließ, sah Finlo, welche Karte es war: der Karobube.

»Und jetzt«, sagte Jack, während er in die Dunkelheit glitt, »verschwinden wir.«

KAPITEL 1

Im Lauf ihres kurzen Lebens war Lily Hartman nicht nur einmal, nein, gleich zweimal von den Toten wiederwacht. Keines der beiden Male war sonderlich angenehm gewesen. An das erste Mal dachte sie nicht gerne zurück; das zweite Mal vergessen zu können wünschte sie sich jeden Tag von Neuem.

Ihr erstes Nahtoderlebnis hatte sie im Alter von sechs Jahren gehabt. Damals war sie in einen schrecklichen Dampf-Automobil-Unfall verwickelt gewesen, bei dem ihre Mutter getötet und sie lebensgefährlich verletzt wurde.

Ihre zweite Nahtoderfahrung hatte sich letzten Winter zugetragen - kaum drei Monate nach ihrem dreizehnten Geburtstag. An diesem kalten Novembertag war Lily von jemandem angeschossen worden, dem sie von ganzem Herzen vertraute; und nur dank der Unerschrockenheit ihrer Freunde Robert und Malkin und der gewaltigen Kraft des Ewigen Herzens - einer großartigen Erfindung ihres Vaters - hatte sie überlebt.

Auch wenn es sie zurück ins Leben gebracht hatte, hatte das Ewige Herz Lily verändert. Sie war jetzt ein Hybrid mit einem Uhrwerk-Herz, das vielleicht für immer ticken würde. Ein Mädchen mit ungeahnten Geheimnissen – denn wem konnte sie davon erzählen, wenn doch alle außerhalb ihrer Familie Hybriden und Mechaner für weniger wert hielten als Menschen?

Nicht, dass Lily gerne bei solchen Gedanken verweilt hätte. An diesem Morgen fühlte es sich so an, als lägen ihre Schwierigkeiten ganz und gar hinter ihr. Sie lag auf dem Rücken auf der sich erwärmenden Erde, erfreute sich am kribbeligen Gefühl, lebendig zu sein, und ließ ihre Gedanken zu den Verheißungen des langen Sommers schweifen, der vor ihr lag.

Malkin, ihr mechanischer Hausfuchs, lag zusammengerollt neben ihr, eines seiner schwarzen Knopfaugen wachsam geöffnet.

»Sollten wir nicht drinnen sein?«, meckerte er und nagte verächtlich an einem seiner mit Kletten übersäten Beine. »Es ist gleich Zeit, zu frühstücken.«

»Du frühstückst doch gar nicht, Malkin«, sagte eine zweite Stimme. Robert, Lilys anderer bester Freund auf der ganzen weiten Welt, pflückte ein paar Meter entfernt Pusteblumen. Eine steckte er sich ins Knopfloch. Das sah fast so gut aus wie die Gänseblümchenkrone, die Lilys flammendrotes Haar schmückte. Fast, aber nicht ganz.

Mit einem Geräusch wie eine fehlzündende Maschine spuckte Malkin einen ekligen Haarballen aus. »Aber ich kann das Frühstück förmlich riechen«, beharrte er. »Vor allem Mrs Rusts klumpiges Porridge. Es ist die wichtigste Mahlzeit des Tages – die wollt ihr doch nicht etwa verpassen.«

Wahrscheinlich würden sie es verpassen, weil sie früh aufgestanden waren, um draußen nach dem Post-Zep auf seinem Morgenflug von London Ausschau zu halten, wie sie es so oft taten. Wenn er so gegen halb acht über Brackenbridge hinwegschwebte, wusste Lily, dass mit der Welt alles in Ordnung war. Dann rannten sie und Robert zu ihren Fahrrädern, sausten kreuz und quer durchs Dorf, über Berg und Tal, bis zum Flughafen, wo sie Papas Post abholten.

An diesem Morgen jedoch war die Nachtpost wirklich äußerst spät dran. Sie saßen jetzt bereits gut fünfundvierzig Minuten auf dem unteren Feld und warteten auf die Ankunft des Zeps.

Lily nahm einen Groschen aus ihrer Tasche und drehte ihn in ihrer Hand hin und her. »Bei Kopf bleiben wir. Bei Zahl gehen wir.«

Sie warf die Münze in die Luft und ließ sie in ihren Schoß fallen. »Kopf. Wir bleiben.«

»Du hast mich gar nicht nachsehen lassen«, stänkerte Malkin. Es hätte so oder so ausgehen können.«

»Tja, aber rein zufällig war es so, wie ich wollte.«

»Wie immer«, schnaubte er.

»Malkin«, sagte Robert, »du lässt dich so leicht aufziehen.«

Lily lachte. »Ja, man könnte glatt meinen, in dir wäre ein Uhrwerk!«

Sie lehnte sich auf ihre Ellbogen zurück und machte es sich bequem. Der Himmel über dem Haus war nun in sanftes Rot getaucht, und sie konnte Sonne und Mond gleichzeitig sehen. Blickte sie über ihre rechte Schulter, war da die Sonne, die langsam aufging, und zu ihrer linken Seite war da der Mond. Da ein Großteil seines geisterhaft weißen Gesichts im Schatten lag, sah er aus wie ein verbogener Penny in einem Wunschbrunnen. Lily hielt ihren Groschen vor den Mond und kniff die Augen zusammen. Schon hatte sie eine Mondfinsternis heraufbeschworen.

»Der Mann im Mond sieht Victoria heute schrecklich ähnlich.«

»Er sollte dann also wohl besser Frau im Mond genannt werden.«

Robert luchste Lily den Groschen ab und machte es ihr nach.

»Die Münz-Königin hat eine größere Nase«, erklärte er gedankenverloren.

Lily kaute auf einem Grashalm. »Aber du musst zugeben, dass sie sich ähnlich sehen.«

»Woher willst du das wissen?« Malkin war noch immer ziemlich sauer und nagte jetzt an seiner anderen Pfote. »Du hast die Queen doch noch gar nie gesehen.«

Robert gab Lily die Münze zurück, die sie in die Tasche ihres Schürzenkleids legte, zu ihrer Taschenuhr und einem kleinen Stein mit einem Ammonit im Inneren. Ein Geschenk ihrer Mutter, das sie immer bei sich trug. »Wusstest du«, fragte sie, »dass die Queen zwei Geburtstage hat, so wie ich. Wie findet ihr das?«

»Du hast nicht zwei Geburtstage«, fauchte Malkin.

»Doch, hab ich wohl.« Lily rückte ihre Gänseblümchenkrone wieder zurecht, die auf einer Seite heruntergerutscht war. »Meinen echten und den an dem Tag, an dem mich Papa von den Toten zurückgeholt hat. Drei, wenn ihr den Tag mitzählt, an dem ich angeschossen wurde. Ich bin etwas ganz Besonderes.«

»So funktioniert das mit Geburtstagen nicht«, sagte Robert. »Noch nicht einmal, wenn du ...«, er flüsterte, »... ein Hybrid bist.«

Unwillkürlich hob Lily ihre Hand an ihre Brust und tastete nach ihren Narben.

»Bitte nenn mich nicht so.«

»Warum nicht?«

»Ich mag es nicht.«

Ein Grashüpfer machte es sich auf dem Saum ihres Kleids gemütlich. Sie betrachtete ihn regungslos. Er schien so real und zugleich doch so mechanisch – genau wie sie. Sie hasste das Wort »Hybrid«; alles, was sie sein wollte, war normal.

Malkin schnappte nach dem Insekt, und es hüpfte zwischen den Kornähren davon.

»Warum hast du das getan?«, schrie Lily.

»Du denkst zu viel nach«, grummelte er. »Außerdem habe ich es verfehlt, oder etwa nicht?«

»Weil du nicht schnell genug bist.« Robert pflückte eine weitere Pusteblume.

»Und, ist das schnell?« Malkin schnippte die flauschigen Schirmchen der Pusteblumen an und die Samen verteilten sich.

»Hey!«, rief Robert wütend. »Warum hörst du nicht ...«

Bevor er seinen Satz zu Ende bringen konnte, wurde er vom lauten Tuck-tuck-tuck sich drehender Propeller unterbrochen. Ein riesiger Zeppelin, der mit dem Wahrzeichen der Königlichen Luftschifffahrtsgesellschaft geschmückt war, wippte über ihren Köpfen.

»Die Nachtpost! Endlich!«, jauchzte Lily über den Lärm hinweg. »Ich wusste, dass er kommen würde!« Sie nahm ihre Taschenuhr und klappte sie auf, um nachzusehen, wie viel Uhr es war. »Eine Stunde Verspätung.«

»Lieber spät als nie!«, sagte Robert und schob sich seine Mütze auf den Kopf. »Los, begrüßen wir ihn.« Er schnappte sich sein Fahrrad, das in der Nähe in einem Kreis aus flach gedrücktem Getreide lag, und schob es an den Rand des Feldes.

»Auf die Beine, Malkin.« Lily klopfte sich die Erde vom Kleid.

»Wenn du darauf bestehst.« Der Fuchs sprang auf und schüttelte die Kletten aus seinem Fell, während er Lily dabei zusah, wie sie ihr Fahrrad holte.

Die beiden trotteten durch das hohe Gras. Als sie das Tor erreichten, hatte Robert es bereits aufgestoßen und wartete auf seinem Sattel sitzend auf der Straße.

Das Dorf Brackenbridge war voller Menschen auf dem Weg zur Arbeit; Straßenhändler, Kaufleute und jede Menge Einkaufende mit Weidenkörben standen tratschend in den Straßen und tauschten sich über das Neueste des Tages aus. Ein paar Mech-Diener, die den Menschen in den eleganteren Häusern gehörten, liefen im Rinnstein an der Straße entlang, um die Menschen nicht zu stören.

Robert und Lily rasten um die Ecke zur High Street, wo ein Laternenanzünder zur Vorbereitung des Thronjubiläums der Queen in vier Tagen die Laternenpfosten mit bunten Bändern schmückte.

Sie schlängelten sich an seiner Leiter vorbei, holperten nebeneinander über die Pflastersteine und schwirrten dann über die Planter Lane und Brackenbridge Hill ab.

Malkin sprang zwischen den beiden mit. Ja, vielleicht war er nur ein Mechantier, aber er konnte zweimal so schnell rennen wie ein echter Fuchs und hatte keinerlei Probleme, mitzuhalten. Das Uhrwerk in seinem Inneren zischte vor Vergnügen und hielt mit dem Rattern der Speichen von Roberts und Lilys Fahrrädern Takt. Hechelnd und mit heraushängender Zunge zwickte er sie beim Versuch, sie über den Hügelkamm zu jagen, in die Fersen.

Als sie am Flughafen ankamen, drehte der Post-Zep bereits ab und warf einen langen Schatten über das Landefeld. Die Piloten standen auf den Propellerplattformen, lösten einen Seilzug und ließen drei rote Fahnen herab.

»Das ist das Signal«, sagte Robert, »gleich werfen sie die Post runter.«

Ein schnaufendes Dampf-Fuhrwerk kam in der Mitte der Landebahn ruckartig zum Stehen und ein gedrungener Mechan-Gepäckträger sprang von seinem Bock hinunter. Der Zep ließ ein Seil herab und Lily sah dabei zu, wie der Mechaner es am Hinterteil des Fuhrwerks befestigte. Dann gab er ein kurzes Signal mit der Hand und schon zischten ihm vier Postsäcke entgegen. Der Gepäckträger fing sie blitzschnell einzeln auf und warf sie in den Laderaum des Fuhrwerks. Am Ende machte er das Luftschiff wieder los, das wegschwebte und hinter schaumigen Buttermilchwolken verschwand.

Der Gepäckträger kletterte wieder auf sein Dampf-Fuhrwerk und fuhr zum hinteren Teil des Flughafens. Malkin, der ihm die ganze Zeit hinterhergelaufen war, galoppierte los und strich an den hölzernen Rädern der Kutsche entlang.

»Was um alles in der Welt hat er vor?«, rief Lily, und sie und Robert sprangen auf ihre Räder und traten kräftig in die Pedale, um Schritt zu halten.

Als sie um die Ecke bogen, sahen sie, dass das Dampf-Fuhrwerk bereits vor dem Briefzentrum parkte. Neben dem Dampf-Fuhrwerk stand Malkin und bellte den Mech-Gepäckträger an, der verzweifelt versuchte, seine Postsäcke abzuladen.

»Ksch!«, brüllte er und fuchtelte mit einem dicken Bündel Umschläge in Richtung des Fuchses.

Ein paar Briefe lösten sich und flogen über den Hof.

»Selber ksch!«, knurrte und schnaubte Malkin.

»Malkin, hör auf damit, den Mechaner zu belästigen!«, rief Robert.

»Gehört dieses Geschöpf etwa Ihnen, Sir?« Der Tacho des Mech-Gepäckträgers zuckte empört. »Rufen Sie ihn augenblicklich zurück!«

»Malkin, du verdammter Idiot!«, schrie Lily. »Es reicht!«

»Er riecht komisch«, zischte Malkin.

Mit ihren Armen versuchte Lily, den Fuchs schnell von dem Gepäckträger wegzuscheuchen.

»Es tut mir schrecklich leid, Sir. Ich hoffe, wir können das wiedergutmachen?«

»Ich denke schon!« Der mechanische Mann begann, seine Briefe aufzusammeln.

Als Lily sich zu ihm hinunterbeugte, um ihm zu helfen, fiel ihr Blick auf ein Messingschild, das auf seinen Unterarm geschraubt war:

Der Gepäckträger war eine von Papas Erfindungen! Sie überreichte ihm die Briefe und sah sich sein Metallgesicht genauer an. Sie war sich sicher, ihn schon einmal irgendwo gesehen zu haben ...

»Waren Sie letztes Jahr nicht auch an Bord des Luftschiffs aus Manchester?«, fragte sie.

Das Gesicht des Gepäckträgers leuchtete auf. »Ach, du meine Schräubchen! Ja, war ich. Ich mag zwar leicht eingerostet sein, aber ich kann mich an Sie erinnern. Miss Grantham, richtig?«

»Eigentlich Miss Hartman.«

»Natürlich ... die Tochter des Professors!« Er nahm ihre Hand und schüttelte sie so enthusiastisch, dass Robert dachte, ihr Arm würde gleich abfallen.

»Sie haben damals einen dunklen Tag ein wenig heller für mich gemacht«, sagte Lily.

»Darf ich mich nach Ihrem Namen erkundigen?«

Der mechanische Mann stieß einen tiefen Seufzer aus. »Ach, leider habe ich keinen, nur meine Seriennummer: Sieben-Sechs-Fünf-G-B-J-Vier-Null-Sieben. Ein ziemlicher Zungenbrecher, daher nennen mich ein paar der Piloten Brassnose, wegen, nun ja ... wegen meiner Messingnase.« Stolz polierte er sie so lange mit dem Ärmel seiner Jacke, bis die Sonne von ihrer kupferfarbenen Oberfläche blitzte. »Wollen Sie vielleicht so freundlich sein, mir ihre Freunde vorzustellen, Miss Hartman?«

»Natürlich, Mr Brassnose, das sind Robert und Malkin.«

Robert zog seine Kappe und Malkin ließ ein unverbindliches Grunzen verlauten.

»Ich habe euch schon ziemlich oft am Flughafen gesehen«, sagte Mr Brassnose.

»Ich bin kein Freund von Zeps, wenn es das ist, worauf Sie hinauswollen«, fauchte Malkin. »Ich selbst kann Luftschiffe nicht ausstehen – solche geschmacklosen Fahrzeuge! Die beiden da sind die Zep-Fans. Robert hier kennt jede Flugbahn. Er hat sogar ein Buch voller Zep-Zulassungen. Zeig es ihm, Robert.«

»Habe ich nicht«, sträubte sich Robert. »Außerdem«, sagte er zu Mr Brassnose, »so oft sind wir auch wieder nicht hier, nur einoder zweimal pro Woche.«

»Warum ist das Post-Schiff heute so spät gewesen?«, fragte Lily und versuchte, das Thema zu wechseln.

»Das könnte an allem Möglichen gelegen haben ...«, sagte Mr Brassnose. »Aber man munkelt, dass die Druckpressen der Zeitungen für eine wichtige Eilmeldung gestoppt wurden. Und weil die Fleet Street, in der die Londoner Zeitungsverlage sitzen, einen Großteil des Kabinenraums für die Auslieferung aufkauft, verspätet sich der Flug öfter mal.«

Er zerrte den letzten der Postsäcke von der Ladefläche des Dampf-Fuhrwerks, und Robert sah, dass darauf das Logo des Zahnradkuriers aufgeprägt war. »Muss wohl eine Mords-Story sein, dass sich der Zep um eine Stunde verspätet«, sagte Mr Brassnose, öffnete den Sack und reichte Lily eine Zeitung. »Was steht dort?«

Lily las die Überschrift vor und lächelte, da der Artikel von einer Freundin von ihr und Robert verfasst worden war.

Lily hörte auf zu lesen und schürzte ihre Lippen. »Sie wissen über all das Bescheid und können dennoch keinen einzigen Hinweis darauf finden, wo er steckt ... Ist das denn zu fassen?« Malkin schüttelte den Kopf. »Ich fasse es auch nicht.« »Ich auch nicht«, sagte Robert. »Was steht sonst noch da?«

Lily ging den restlichen Artikel durch. »Der höchst respektierte Chefinspektor Fisk der Londoner Polizei, New Scotland Yard, ist der Meinung, dass der Verurteilte bei seiner Flucht Hilfe von einer dritten Person hatte und dass er oder sie möglicherweise die Stadt verlassen haben. Bürgerinnen und Bürgern wird geraten, sich Mr Door nicht zu nähern, da er bewaffnet und gefährlich sein könnte. Stattdessen sollten sie seinen Aufenthaltsort notieren und unverzüglich die örtliche Gendarmerie verständigen.«

»Gibt es heute auch Briefe für uns?«, unterbrach Malkin sie. »Ich hoffe, wir sind nicht den ganzen Weg hierher gefahren, nur um dir dabei zuzuhören, wie du uns willkürliche Ausschnitte aus den Nachrichten vorliest. Hartgesottene Verbrecher hin oder her, wir verdienen unsere Post.«

»Mal sehen.« Mr Brassnose blätterte sich durch die Briefstapel in einem der anderen Säcke und überprüfte die Adressen. »Euch ist schon klar, dass wir die Post zustellen?«, sagte er.

»Ich weiß«, sagte Lily, »aber wir waren gerade in der Gegend ...«

»Und ihr wolltet die Ankunft des Luftschiffs beobachten. Ich verstehe!« Mr Brassnose hielt inne und zog einen cremefarbenen Umschlag aus dem Postsack. »Ihr habt Glück, der hier ist für euren Vater.«

Lily nahm den Umschlag. Er war in schnörkeliger Schönschrift an: Professor John Hartman, Esquire, Gut Brackenbridge adressiert. Danach folgte eine lange geschwungene Schleife – als hätte jemand ein edles Schwert durch die Luft zischen lassen –, die für ein solches Flattern in ihrer Magengegend sorgte, dass sich Lily von ganzem Herzen wünschte, der Brief wäre an sie gerichtet.

Sie drehte ihn um. Auf der anderen Seite befand sich ein rotes Siegel, auf das ein Löwe und ein Einhorn aufgeprägt waren, die sich auf ihren Hinterläufen auf einem großen geschmückten Schild gegenüberstanden, über dem eine Krone schwebte. Unter ihren Füßen standen in Wachs gedrückt die Worte: DIEU ET MON DROIT.

»Sieht wichtig aus«, sagte Robert und spähte über ihre Schulter.

»Sehr wichtig.« Die Augen von Mr Brassnose glänzten. »Am besten bringt ihr den gleich zu Professor Hartmann. Das ist das Siegel der Queen - ihr habt königliche Post!«

Lily steckte den Brief in die Tasche ihres Schürzenkleids. Malkin trug die Zeitung im Maul, und so eilten die drei nach Hause. Als sie durchs Dorf radelten, machte Robert langsam und ließ die anderen vorauspreschen. Es gab da noch etwas, was er tun wollte.

Als sie sich am Ende der High Street der Bridge Road näherten, nahm er einen Umweg über den Dorfplatz, am Friedhof und der grauen Steinkirche vorbei, wo letztes Jahr sein Dad begraben worden war. Die Erde unter ihren Fußsohlen war dermaßen fest zugefroren gewesen, dass es sich angefühlt hatte, als würde sie nie wieder tauen.

Plötzlich überkam ihn ein unbehagliches Gefühl, und er drückte auf die Bremsen seines Fahrrads, um anzuhalten, aber dies hier war nicht sein Ziel. Stattdessen rollte er um die Ecke und die Straße entlang, bis zu Townsends Uhrmacherei.

Einst der Stolz und die Freude seines Vaters, glich der Uhrmacherladen jetzt eher einem verfaulenden Zahn in Brackenbridge – war eine abgebrannte Hülle seiner selbst, die Fenster verrammelt, das Glas der Vordertür zerbrochen. Der Zustand versetzte Robert einen Stich in die Brust. Und doch zog ihn die halb zerfallene Ruine an wie ein Magnet, bis er bemerkte, dass er sich wie ein verlorener Welpe nach seinem Dad und nach seinem früheren Leben sehnte, das er in dem Feuer verloren hatte.

Manchmal stellte er sich vor, er würde nur so lange bei den Hartmans leben, bis sein Dad zurückkehrte. Er tat so, als wäre Thaddeus mal kurz für einen Besuch weggefahren und würde bald wiederkommen. Erst im Angesicht der offenkundigen Wirklichkeit wurde ihm bewusst, dass dem nicht so war.

So oft schon war er hergekommen, um sich den ausgebrannten Laden anzusehen, doch den Mut, hineinzugehen, hatte er bisher nicht gefasst. Professor Hartman hatte ihm geraten, ihn nicht zu betreten. Das Gebäude war nicht sicher. Ohnehin hatten ihm die Flammen alles genommen, was er wollte. Diese Trümmer gehörten seiner Mum, wo immer sie auch sein mochte.

Selena. In den zehn Jahren, seitdem sie fortgegangen war, hatte sie sich nicht die Mühe gemacht, auch nur eine Karte oder ein Telegramm zu schicken, noch nicht einmal zu seinen Geburtstagen. Wahrscheinlich hatte sie nichts von Dads Tod mitbekommen – so wenig kümmerte es sie. Und doch war sie im Testament zur Besitzerin des Ladens ernannt worden ... Als Robert sechs Monate zuvor zum ersten Mal von dieser überraschenden Nachricht gehört hatte, hatte er darauf gewartet, dass sie zurückkehren und die Dinge klären würde. Doch sie war nicht aufgetaucht, die Uhrmacherei blieb unbewohnt und er bei den Hartmans. Nun, er hatte genug. Er wollte nicht länger warten. Er würde seine Vergangenheit hinter sich lassen.

Als er schon gehen wollte, fiel ihm etwas in seinem ehemaligen Schlafzimmerfenster auf, was sein Herz höher schlagen ließ.

Hinter der verrußten Scheibe hatte sich etwas bewegt. Ein Umriss in der Dunkelheit ...

Er sah genauer hin.

Es gab keinen Zweifel. Da war jemand. Jemand, der direkt zu ihm zurückblickte.

Sein Gesicht war blass und mondförmig, mit einer flach gedrückten Nase, grauem Haar und stechenden, dunklen Augen. Dad? War das möglich?

Er ging auf die Gestalt zu, doch sie verschwand so schnell, wie sie aufgetaucht war, als wäre sie ein Geist.

Einen Augenblick lang erwartete Robert, dass sie in der Tür im Erdgeschoss erscheinen und ihn herbeiwinken würde, er möge den Laden aufschließen. Er wartete, doch sie kam nicht.

Dafür kam neben ihm plötzlich Malkin rutschend zum Halten, und nur wenige Sekunden später hielt Lily mit quietschenden Bremsen neben ihm auf ihrem Fahrrad an.

»Wo warst du?«, frage sie ihn ganz außer Atem.

»Wir waren auf dem Nachhauseweg, aber als wir uns umgedreht haben, warst du nicht mehr hinter uns.«

»Ich war hier«, erwiderte Robert. Ich war auch auf dem Nachhauseweg, wollte er ergänzen. Das ist mein Zuhause.

Es lag ihm auf der Zunge, ihr von dem Geist zu erzählen, aber er ließ es bleiben. Weil es sicher eine Wunschvorstellung war, eine Fantasie. Hatte er nicht gerade an Dad gedacht? Vielleicht hatte er das Bild von ihm heraufbeschworen, wie er zu ihm hinunterblickte ...

»Was ist los?«, fragte Lily. »Du wirkst, als wärst du ganz woanders.«

»Nein, bin ich nicht«, antwortete er. »Aber ich ... ich hatte eine Erscheinung.

»Eine Erinnerung?«, hielt sie ihm entgegen.

»Vielleicht.«

War es das gewesen?

Lily nickte in Richtung des Hauses. »Wenn du vorhast, reinzugehen ...«

Malkin ließ die Zeitung auf die Straße fallen. »Nein, nein, nein«, bellte er laut. »John hat gesagt, das Haus könnte jeden Moment einstürzen. Auf jetzt.« Er stupste ihre Beine mit seiner trockenen Schnauze an. »Lasst uns zurück zu Gut Brackenbridge sausen. Das Frühstück wartet dort auf uns. Leckeres Porridge! Außerdem müssen wir immer noch den Brief der Queen abliefern.« »Den hatte ich fast vergessen.« Robert rang sich ein Lächeln ab und sah zu, wie Malkin die Zeitung aufhob.

Doch als sie losradelten, konnte er nicht anders, als noch einmal kurz über seine Schulter zu blicken. Er hätte schwören können, dort im Dämmerlicht des Schaufensters wieder das Gesicht seines Dads zu sehen, das sie hinter der rußbefleckten Scheibe beobachtete.

KAPITEL 2

Lily und Robert bogen in die Auffahrt von Gut Brackenbridge ein, und Malkin flitzte hinter ihnen her. Sie dirigierten ihre Fahrräder geschickt durch die offenen Türen des Stallgebäudes, bis sie darin schließlich klappernd zum Stehen kamen.

Malkin lief aufgeregt herum und schnüffelte neugierig an einem Paar Füße, die unter der Vorderseite eines Dampf-Fuhrwerks hervorlugten.

»Weg da!« Captain Springer rollte sich unter dem Fahrgestell hervor. Sein metallenes Gesicht war ölverschmiert, nicht ungewöhnlich für einen mechanischen Mechaniker. Er warf einen Schraubenschlüssel in seinen großen blechernen Werkzeugkasten und wühlte auf der Suche nach etwas anderem darin herum.

»Dein Vater sucht euch«, sagte er zu Lily. »Ihr seid wieder spät dran mit frühstücken.« Er machte ein Geräusch wie eine tickende Uhr. »Ein Motor läuft nicht ohne Treibstoff, das solltet ihr Knirpse wissen.«

»Wissen wir schon«, erklärte Lily. Sie und Robert lehnten ihre Fahrräder in einer leeren Box an die Mauer und liefen rasch durch den Hof ins Haus.

Als sie im Esszimmer ankamen, saß Papa schon am Tisch und machte sich gerade über einen Teller mit Bücklingen her.

»Ah, unsere Ausflügler sind zurück!«, rief er. »Zeps beobachten, liege ich richtig?«

Malkin sprang auf einen Stuhl und ließ den Zahnradkurier auf den Tisch gleiten. »Nur die Zeitung holen. Bitte sehr – sie ist auch fast nicht zerfleddert.«

Papa strich die zerknitterten Seiten glatt. Lily hatte eher erwartet, er würde sich gleich auf die Sensationsmeldung über den Gefängnisausbruch stürzen, doch stattdessen blätterte er zu den Wissenschaftsseiten, nahm seine Lesebrille mit den Halbmondgläsern und ließ seinen Blick über die in kleinster Schrift gedruckten Artikel schweifen.

»Liest du die Schlagzeilen gar nicht?«, fragte sie, griff hinüber und schnappte sich selbst die losen Seiten.

»Das hier ist viel interessanter«, murmelte Papa gedankenverloren über der Zeitung.

Lily seufzte tief; sie war viel zu hungrig, um Einwände zu erheben. Außerdem wusste sie, dass er ja ohnehin nicht zuhören würde. Er war völlig versunken in die Berichte über neue Erfindungen in Großbritannien.

Mr Wingnut, der mechanische Butler, eilte geschäftig herein. Er hatte die Metall-Augenbrauen vor Konzentration zusammengezogen, als er das silberne Tablett absetzte und ihnen beiden ein Schüsselchen Porridge und einen Teller mit Speck, Eiern und Toast reichte.

Es war mal wieder viel zu viel. Mrs Rust, die Köchin, hatte den Dreh mit den Mengen nie so ganz raus und übertrieb es deshalb in der Küche ein wenig. Lily war das heute mehr als recht. Sie setzte sich an ihren Platz und langte gleich ordentlich zu. Nach der vielen Radelei war sie so hungrig, als würde in ihrer Magengrube eine ganze Armee herummarschieren und nach etwas zu essen verlangen.

Sie verschlang abwechselnd Porridge, Toast, Speck und Eier und schaute über den Tisch hinweg zu Robert. Der schenkte ihr ein mattes Lächeln. Er sah schrecklich blass aus und aß so gut wie nichts. Lily war es zuvor gar nicht aufgefallen, aber unter seinen müden Augen hatten sich graue Schatten gebildet.

Sie war überzeugt, dass der Abstecher zum Laden daran schuld war. Seit einer Weile hatte sie den Verdacht, dass Robert regelmäßig heimlich Ausflüge dorthin machte. Er verschwand immer mal wieder zu merkwürdigen Zeiten, wenn er davon ausging, dass es keiner merkte. Doch Lily merkte es sehr wohl. Sie wusste immer, wo er war – als hätte sie dafür ein extra feines Gespür. Ihn heute vor dem Townsends zu finden hatte sie in ihrer Vermutung bestärkt: Er sehnte sich schmerzlich nach seinem alten Leben. Sie wusste, wie das war, doch zu sehr an der Vergangenheit zu hängen, machte einen nur traurig. Es tat ihr so schrecklich leid für ihn.

Auch Lily vermisste ihre Mutter Tag für Tag. Manchmal war es ein Schmerz in ihrer Brust, als wäre ein Seil gerissen, das sie einst miteinander verknüpft hatte, manchmal das kaum noch spürbare Jucken einer Erinnerung. Fast vergessene Umarmungen, verblasste Gespräche – sie geisterten in ihr herum und nahmen manchmal Gestalt an, wie der leise Hauch eines Duftes, den man nicht recht zuordnen konnte.

Für Robert musste der Schmerz über den Verlust seines Vaters weit schlimmer sein, schließlich war er noch neu und heftig. Es gab wahrscheinlich keine einzige Stunde am Tag, in der er nicht an ihn dachte. Und vielleicht hatte er das Gefühl, es wäre besser, nichts davon zu erzählen, oder er hatte Sorge, sie oder Papa empfänden ihn als undankbar. Dabei war es dumm von Robert, sich einzubilden, er könnte ihnen gegenüber nicht ehrlich sein.

»Hört euch das mal an.« Papa schüttelte die Zeitung zurecht. »Das Parlament stimmte heute für den Bau eines neuen Elektrizitätswerks an der Lots Road im Londoner Stadtteil Kensington und Chelsea. Damit verbunden sind Pläne, die Elektrifizierung der gesamten Untergrund-Bahn und West Londons voranzutreiben.«

»Das ist doch uninteressant«, sagte Lily.

Papa rückte seine Brille zurecht, die ihm schief auf die Nase gerutscht war. »Aber nein, Lily, das ist durchaus interessant. Elektrizität ist die Zukunft. Weißt du, seit Edison vor fünfzehn Jahren die ersten Straßenlaternen auf dem Holborn Viaduct zum Leuchten brachte, versuchen Ingenieure in London, größere und bessere Kraftwerke zu schaffen, die die Elektrizität wirksam in die gesamte Stadt bringen und eines Tages dann ins ganze Land.«

Er begann, die Gewürzstreuer auf dem Tisch zu verteilen. »Ich meine, stell dir mal vor, der Pfefferstreuer ist das Elektrizitätswerk und diese Gabel eine Bahnlinie oder besser noch dieses Messer.«

»Das ist mein Messer!«, rief Lily. »Gib das sofort zurück! Ich will essen!«

Papa wedelte damit in ihre Richtung. »Hör doch mal zu, Lily ... das ist wichtig. Zu euren Lebzeiten wird es irgendwann keine Uhrwerksmotoren oder Dampf-Fuhrwerke mehr geben. Tatsache ist, dass bald alles nur noch elektrisch betrieben werden wird.«

Lily schnappte sich ihr Messer wieder und schnitt ein Stück Speck ab.

»Dann«, fuhr Papa fort, »haben Mechanisten wie ich keine Arbeit mehr. Mechaner auch nicht. Dann werden elektrische Geräte ihren Platz einnehmen.«

Im Hintergrund krachte es. Mr Wingnut hatte sein Silbertablett fallen lassen, und ein Teller mit Bücklingen war auf dem Boden gelandet.

»Entschuldigung!«, murmelte er, und Lily hörte wie er »Was für ein klappriger Unsinn« vor sich hin brummelte und eilig die winzigen Fischgräten aus dem Teppich klaubte.

»Bis dahin«, sagte Lily und tippte frustriert mit ihrer eigelbverschmierten Gabel auf die Titelseite der Zeitung, »übersiehst du die aufregendste Meldung des Jahres direkt vor deiner Nase. Der tollkühne Ausbruch eines üblen Verbrechers namens Jack Door, verfasst von unserer Freundin Anna.«

Papa starrte auf die Schlagzeile mit den Flecken unter der Großüberschrift. »Nun, nun, ich sehe, sie ist inzwischen die Chefreporterin. Eine weibliche Führungskraft, was kommt als Nächstes!«

Lily hielt dagegen. »Viele Frauen sind Chefreporter, Papa. Hast du etwa noch nie von Nellie Bly oder Elizabeth Bisland gehört?«

»Meine Güte, ja, natürlich habe ich das!« Papa blickte auf den Artikel. »Aber wer ist dieser Jack? Er hat die Queen bestohlen, steht hier ...«

»Ja«, antwortete Lily. »Er hat lebenslänglich bekommen. Und dann hat er im Gefängnis ein Buch geschrieben The Notorious Jack Door: Escapologist and Thief Extraordinaire »Der berüchtigte Jack Door: Entfesselungskünstler und Meisterdieb«. Es wurde als Serie von Groschenheften herausgegeben, aber ich habe es letztes Jahr als Buch gelesen. Es ist großartig!«

»Klingt eher skandalös als großartig«, meinte Malkin.

»Und ein bisschen furchterregend, wenn man Annas Artikel Glauben schenkt«, fügte Robert hinzu. »Wie hat er überhaupt einen Roman aus dem Gefängnis geschmuggelt, wenn er im Hochsicherheitstrakt einsaß?«

Lily biss kräftig in ihren Toast. »Das weiß niemand. Aber irgendwie hat er es hingekriegt – wenn man Entfesselungskünstler ist, besitzt man wohl solche Fähigkeiten.«

Robert schob seinen Teller beiseite, er hatte nicht viel gegessen. Er war viel zu sehr mit dem Gedanken an den Geist am Fenster beschäftigt. Lilys Geschichte lenkte ihn immerhin ab. »Wovon handelt Jacks Buch?«, fragte er. »Von seinen berühmten Tricks und Diebstählen?«

»Nicht wirklich«, sagte Lily und Toast-Krümel fielen auf ihren Teller. »Es ist vor allem eine Anleitung, wie man Schlösser knackt. Und auch, wie man todsichere Ketten sprengt ... ach ja, und wie man unlösbare Knoten macht.«

»Wozu in aller Welt musst du das alles wissen?«, fragte Papa.

Lily schleckte ihre Fingerkuppe an und pickte damit jedes einzelne Krümelchen auf. »Als wir dich befreit haben, war das recht nützlich, oder etwa nicht?«

»Wenn ich mich recht erinnere«, brummte eine Stimme unter dem Tisch, »war ich derjenige, der den größten Part bei der Rettungsaktion gespielt hat.«

Lily hörte nicht auf Malkin und konzentrierte sich auf Seite zwei der Zeitung. »Hier steht noch etwas mehr über Jacks Geschichte ... Früher hatte er mit seiner Familie eine Show im Westend. Seine Frau war Spiritistin und er eine Art Zauberer. Und vor allem Entfesselungskünstler. Als ihm das zu langweilig wurde, begann er, seine Fähigkeiten zu nutzen, um in Gutshäuser einzubrechen – das war, bevor er den Diamanten der Königin stahl.«

»Woher wollen sie wissen, dass er es war, der diese anderen Diebstähle begangen hat?«, fragte Robert. »Das hätte doch jeder sein können.«

»Ah.« Lily lächelte. »Er hinterließ seine Visitenkarte. In jedem Haus, in das er eingebrochen war, heftete er eine Spielkarte, einen Karobuben, auch Jack of Diamonds genannt, an die Mauer. Am Ende haben sie ihn deswegen gekriegt. Deswegen, und weil jemand der Polizei verraten hatte, wo er gerade war.«

»Was für eine vertickt bescheuerte Art, sich selbst zu belasten!«, rief Malkin.

»Stimmt«, bestätigte Lily. »Er hat sogar eine Visitenkarte an den Schwanz der Elephanta gebunden, als er den Blutmonddiamanten vor aller Augen entwendete. Die Polizei musste noch nicht einmal ihre neue Fingerabdruck-Technik einsetzen, um seine Schuld zu beweisen. Sie konnten ihn aufgrund dieser Visitenkarten lebenslänglich einsperren.« Lily las den letzten Absatz des Artikels. »Anna hat seinen Ausbruch als den kühnsten bezeichnet, den es je gab.«

»Bei allen Zeppelinen und Zootropen!«, sagte Mrs Rust, die mit einem Teller Muffins hereingekommen war und zugehört hatte. »Hoffen wir mal, dass er sich nicht bei uns herumtreibt. Dieser Gauner stürzt sich doch bestimmt gleich wieder ins Geschäft.« Auf ihrem Weg zurück in die Küche blieb sie stehen und half Mr Wingnut die heruntergefallenen Bücklinge aufzusammeln.

»An Erfindungen hat er kein Interesse, Rusty. Er hat nur Juwelen gestohlen, und davon haben wir keine.«

»Hahnenfuß- und Fischgrätmuster! Ich denke nicht«, polterte Mrs Rust.

»Und Tock sei Dank dafür!«, fügte Mr Wingnut hinzu.

»Da ist noch mehr«, sagte Papa. Inzwischen hatte ihn die Geschichte auch in den Bann gezogen, und er hatte den Artikel selbst durchgelesen. »Es heißt, der Diamant sei nie wieder aufgetaucht trotz einer Belohnung von zehntausend Pfund. Und während seines fünfzehnjährigen Gefängnisaufenthalts hat der Karobube auch nie dessen Verbleib verraten.«

»Das ist sein Spitzname«, flüsterte Lily Robert zu. »Wegen der Visitenkarten.«

Papa räusperte sich geräuschvoll, denn er war noch nicht fertig mit seiner Lektüre. »Zusätzlich zu der ursprünglichen Belohnung für das Wiederauffinden des Diamanten werden für Informationen, die zur erneuten Verhaftung von Jack führen, weitere fünftausend Pfund ausgesetzt.« Er schob die Zeitung zur Seite und biss nachdenklich in seinen Toast. »Von dem Geld könnten wir selbst auch etwas gebrauchen!«

Lily begriff, dass er damit wohl recht hatte. Auch wenn Papa versuchte, es zu verbergen, war doch alles ein wenig sparsamer geworden. Vielleicht lag es daran, dass Madame Verdigris und Mr Sunder im letzten Jahr mit Papas wertvollen Patentbriefen abgehauen waren, die sie noch immer nicht zurückgegeben hatten.

Das mit dem Geld schien Papa wachzurütteln, sodass er gleich aufstand und sich die Zeitung unter den Arm klemmte.

»Genug davon«, sagte er. »Ich muss an die Arbeit. Ich muss die Reparatur an Miss Tock noch fertig machen.«

Normalerweise hatten Lily und Robert nach dem Frühstück im Kinderzimmer unter der Aufsicht von Mrs Rust Unterricht, doch nach der Hälfte einer besonders langweiligen Leseverständnis-Aufgabe war das Uhrwerk der Mechanerin abgelaufen und die beiden packten die Gelegenheit beim Schopf, sich davonzumachen und nachzusehen, was Papa gerade trieb.

Der Blitz an der Werkstatttür sollte eigentlich Gefahr symbolisieren, aber Lily stellte sich gern vor, dass er für die inspirierenden Dinge stand, die Papas Werkstatt füllten. Sie drehte den Türknauf, und die beiden traten ein.

Es war ein imposanter Raum, größer als die alte Werkstatt von Roberts Dad mit noch mehr Uhrwerken als im Inneren des Big Ben. Dafür fehlte ihm aber auch die Behaglichkeit. So wie dem gesamten Gut Brackenbridge, fand Robert - ein bisschen zu groß und ein bisschen zu eindrucksvoll. Es fühlte sich nie ganz wie zu Hause an, weil alle so weit voneinander entfernt waren.

»Seid ihr schon fertig mit der Schule?« Papa blickte auf, und Malkin, der unter seinem Stuhl lag, schnappte nach seinen Schnürsenkeln. Er schob den Fuchs weg, stand auf und winkte die beiden heran. »Kommt und schaut mal, ein richtiges Uhrwerks-Gehirn!«

Er zeigte auf Miss Tock, das mechanische Dienstmädchen, das mit abgelaufenem Uhrwerk auf der Werkbank saß. Ihre Beine baumelten unter ihr, an der Vorderseite ihres Schädels stand eine Verkleidung offen. Sie hatte sich beim Staubwischen und ihrer Hausarbeit den Kopf angeschlagen, dabei hatte sich ein Zahnrad gelockert, das herumklapperte. Seitdem verhielt sie sich seltsam.

Papa fischte das lästige Zahnrad heraus und fuchtelte damit herum. »Diese Zahnräder stellen die Verbindungen her, so ähnlich wie die Synapsen in unseren Köpfen. Ihre Bewegung ermöglicht es den Gedanken, durch das Bewusstsein zu wandern. Wenn nur eines davon nicht mehr an Ort und Stelle ist, kann sie sich schon nicht mehr erinnern, welcher Tag es ist!«

Papas Vortrag über das Uhrwerk lenkte Lilys Gedanken auf ihre eigenen Uhrwerk-Innereien und -Sorgen. Das Gefühl, nicht dazuzupassen, ein quadratischer Dübel in einem runden Loch. Es war nicht allein ihr Cogheart, das Ewige Herz, das mit jedem mechanischen Herzschlag das Blut in ihren Körper pumpte, was ihr dieses Gefühl vermittelte. Schon bevor sie überhaupt wusste, dass sie ein Perpetuum mobile als Herz in sich trug, hatte sie sich anders gefühlt als die anderen Mädchen. Doch seit sie erfahren hatte, dass sie wohl ewig leben würde, empfand sie sich noch weniger im Gleichklang mit der Welt. Sie schaute zu Robert, doch auch er schien nicht bei der Sache zu sein.

Das Problem war, dass ihm das Bild seines Vaters am Fenster nicht mehr aus dem Kopf ging. Konnte das tatsächlich ein Geist gewesen sein? Einen Moment lang überlegte Robert, ob er Professor Hartman fragen sollte, aber er entschied sich dagegen. Er wollte ihn nicht übermäßig in Sorge versetzen. Er würde wahrscheinlich sagen, er bilde sich da etwas ein oder er verliere den Verstand. Er versuchte stattdessen, sich darauf zu konzentrieren, was John sagte, aber das viele Reden über Uhrwerke erinnerte ihn erst recht an sein altes Leben als Lehrling bei seinem Dad, was dazu führte, dass er Thaddeus umso mehr vermisste.

»So.« John setzte die letzten Zahnrädchen wieder ein. »Damit sind die letzten Schwierigkeiten behoben. Jetzt sollte sie in kürzester Zeit wieder ticken wie eine Königin.«

»Um Gottes willen! Das hab ich ja ganz vergessen!« Lily zog mit solchem Schwung ihren Beutel aus der Schürzentasche, dass der Brief, der Ammonit, ihre Uhr und ihr Kleingeld herausflogen und über den Tisch kullerten. Sie sammelte ihre Sachen wieder ein und reichte Papa den Brief. »Der hat uns mit der Post erreicht – Mr Brassnose vom Flughafen hat gesagt, er sei von der Queen?«

»Du hast einen Brief der Queen vergessen?«, fragte John ungläubig.

»Ich ...« Lily guckte peinlich berührt. »Diese Ausbruchsgeschichte hat mich so aufgewühlt, dass es mir einfach durchgerutscht ist.«

»Na ja, nicht so wild.« John legte den Brief auf die Werkbank neben Miss Tock und schraubte vorsichtig weiter die Verkleidung an ihrem Kopf fest.

»Wie«, rief Lily, »du machst ihn gar nicht auf?«

»Ich kann ihn öffnen, wenn ihr wollt ...« Robert griff nach dem Brief.

»Gleich.« John stützte die Ellbogen auf die Werkbank und legte die Hände ineinander, wie immer, wenn er versuchte, seine Lehren zu erteilen. »Geduld ist eine Tugend, wisst ihr? Zuerst müssen wir mal Miss Tock fertig reparieren.«

»Ach, Papa, das ist doch jetzt wirklich nicht der Moment dafür.« Lily trat auf ihn zu, sodass sie nah genug war, um sich den Brief anzusehen.

»Genau«, sagte Robert. »Bitte, lassen Sie uns nachschauen, was drinsteht.«

John seufzte und nahm den Umschlag. Mit seinem Schraubenzieher brach er das Siegel und schlitzte den Brief auf.

Lily und Robert drückten sich eng an ihn heran. Sogar Malkin – der sonst so tat, als bekäme er jeden Tag Briefe von ihrer Majestät – sprang auf die Werkbank, damit er sehen konnte, was vor sich ging.

John legte den Schraubenzieher zur Seite und zog, mit großer Geste für sein Publikum, den Brief aus dem Umschlag – ein dicker Stapel cremefarbenen Papiers.

Er entfaltete die Seiten vorsichtig, doch als er anfing zu lesen, schwand sein Lächeln. »Großer Gott!«, murmelte er.

»Was steht da?«, fragte Robert. »Was ist los?«

»Sag schon!«, rief Lily.

John räusperte sich. »Die Queen möchte, dass ich zur Mechanisten-Gilde nach London komme und die Elephanta repariere.«

»Sie meinen das Mechantier, von dem Jack den Diamanten gestohlen hat?«, fragte Robert.

»Ja, genau.« John nickte. »Das war das erste mechanische Tier, das je geschaffen wurde. Prinz Albert hatte es ihr für die Krönungszeremonie anfertigen lassen. Der fehlende Blutmonddiamant hatte die Elephanta mit Energie versorgt. Die Queen scheint zu glauben, als berühmter Mechanist und Mechantier-Bauer könnte ich den Elefanten reparieren und eine Lösung finden, wie man ihn wieder zum Leben erweckt, damit er am Thronjubiläum teilnehmen kann.«

Robert war fassungslos. »Aber das ist doch schon in vier Tagen! Das ist eine unmögliche Aufgabe!«

»Nicht für Papa«, sagte Lily. »Wenn jemand die Elephanta reparieren kann, dann er.«

»Ich weiß nicht, Lily ...«, entgegnete Papa.

»Natürlich kannst du das. Du bist der größte Erfinder des Landes. Und wenn die Königin dich anfordert, scheint sie das genauso zu sehen.« Lily überlegte, ob ihr Mut reichte, einen Vorschlag anzubringen. »Aber wenn nur so wenig Zeit bleibt, musst du uns mit nach London nehmen, damit wir dir bei der Arbeit helfen können.«

Papa schüttelte den Kopf. »Nein, Lily, du und Robert, ihr bleibt zu Hause. Ich will euch nicht wieder in Schwierigkeiten hineinziehen. Ich werde in London unter meinem wirklichen Namen auftreten und ich will keine Aufmerksamkeit auf uns lenken. Außerdem habt ihr hier doch alles, was man sich nur wünschen kann, oder nicht?«

»Aber, Papa ...«